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**Dunkle Schatten breiten sich aus ...** Trotz der schockierenden Wahrheit über Derecks Identität kann Danielle nicht leugnen, dass er immer noch tiefe Gefühle in ihr weckt. Doch zugleich weiß sie, dass sie keine Ruhe finden wird, wenn er ihr nicht wenigstens einige der drängenden Antworten liefert. So bleibt sie im Dorf zurück, während Dereck sich auf eine Reise begibt, um endlich Ordnung in sein Leben zu bringen. Aber auch Danielle wird erneut aus ihrem mühsam wieder aufgebauten Alltag gerissen, als ein berittener Bote des Königs im Dorf auftaucht. Seine Forderungen stellen nicht nur die gesamte Dorfgemeinschaft auf eine dramatische Probe, sondern erschüttern erneut Danielles Gefühle für Dereck … Leser*innen über die Fantasy-Buchreihe »Sturmwanderer«: »Atmosphärisch und einfach zum Verlieben.« »Ein wahnsinnig starkes Buch.« »Freue mich schon auf die Fortsetzung.« ///Alle Bände der magischen Fantasy-Reihe bei Impress: -- Verfolgt von Sturm und Macht (Sturmwanderer 1) -- Gefangen zwischen Liebe und Thron (Sturmwanderer 2) -- Gejagt von Schicksal und Verrat (Sturmwanderer 3) -- Gekrönt von Blut und Göttern (Sturmwanderer 4) -- Sturmwanderer. Alle Bände der romantischen Fantasy-Reihe in einem Bundle!// Diese Reihe ist abgeschlossen.
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Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
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July Winter
Gejagt von Schicksal und Verrat (Sturmwanderer 3)
**Dunkle Schatten breiten sich aus …**Trotz der schockierenden Wahrheit über Derecks Identität kann Danielle nicht leugnen, dass er immer noch tiefe Gefühle in ihr weckt. Doch zugleich weiß sie, dass sie keine Ruhe finden wird, wenn er ihr nicht wenigstens einige der drängenden Antworten liefert. So bleibt sie im Dorf zurück, während Dereck sich auf eine Reise begibt, um endlich Ordnung in sein Leben zu bringen. Aber auch Danielle wird erneut aus ihrem mühsam wieder aufgebauten Alltag gerissen, als ein berittener Bote des Königs im Dorf auftaucht. Seine Forderungen stellen nicht nur die gesamte Dorfgemeinschaft auf eine dramatische Probe, sondern erschüttern erneut Danielles Gefühle für Dereck …
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Vita
Danksagung
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© privat
July Winter liebte schon als Kind mythologische Geschichten mit tapferen Helden und verfasste bereits im Alter von acht Jahren ihre ersten kleinen Kurzgeschichten. Während des Studiums der Europäischen Literaturen entwickelte sie die ersten Ideen für ihren eigenen Roman und schuf ihre ganz eigene Fantasywelt – unterstützt von Freunden und Familie sowie epischen Soundtracks und einem großen Pott Kaffee. July Winter lebt mit ihrem Partner in der Nähe von Berlin.
Für Thomas
Weil du mir gezeigt hast, dass wahre Liebe nicht nur in Märchenbüchern existiert.
Cliffhall, 13 Monate zuvor
Die kalte Meeresluft wehte über sein Gesicht hinweg und erinnerte Varian an jene sanfte Berührung, die er schon seit seiner Kindheit kannte und liebte. Für einen kurzen Augenblick senkte er die Lider, sog die frische Luft in seine Lunge und schmeckte das Salz des Meeres auf seinen Lippen.
Als er die Augen erneut öffnete, wandte er den Blick nach links und erblickte das clarisische Meer, dessen Wellen sich kraftvoll an den Klippen der Steilküste zerschlugen.
Tosend schäumte die Gischt auf, peitschte das kalte Wasser über den nackten Felsen und ließ dabei Klänge verlauten, die dem Donner eines mächtigen Gewitters glichen.
Noch Stunden hätte Varian damit zubringen können, jenes Naturschauspiel von seinem hohen Fenster aus zu beobachten. Schon als Knabe war er heimlich auf die steinernen Türme Stormarcs geschlichen, um von hier aus das wilde Meer zu betrachten, das Ende des Horizonts zu suchen und seine Träume mit den Wellen auf eine Reise zu schicken.
Diese Zeiten waren jedoch längst vorbei. Es gab keine Träume mehr, denen er still und heimlich nachhängen konnte.
Es blieb nur das Hier und Jetzt. Eine Realität, der er nur zu gern entfliehen wollte.
All seine Träume, Hoffnungen und Wünsche hatten sich längst in Gischt verwandelt, in Meeresschaum, den er nicht mit Händen greifen konnte.
Langsam, fast wehmütig, löste Varian sein Augenmerk von den grauen Wellen und schaute nach rechts. Von seiner Position aus konnte er beinahe die gesamte Festung überblicken. Vom breiten Innenhof über die bunten Fenster des anschließenden Thronsaals bis hin zu den mächtigen Außentürmen, welche durch massive Steinmauern miteinander verbunden waren.
Stormarc wurde vor vielen Jahrhunderten auf dem höchsten Punkt einer mächtigen Klippe errichtet. Ein geschickter Schachzug, denn von hier aus erhielt man nicht nur einen unbegrenzten Blick über das clarisische Meer, sondern auch über die weiten, von sanften Hügeln und rosafarbenen Heidekraut gezeichneten Ebenen, die sich über den gesamten Klippenrücken erstreckten. Kein Feind konnte sich ungesehen der Festung nähern, niemand konnte Stormarc aus dem Hinterhalt angreifen.
Ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, ließ Varian seine Augen über die raue Landschaft schweifen, bis sein Blick schließlich an einem nahegelegenen Dorf hängen blieb.
Sanfte Rauchschwaden stiegen aus den einzelnen Schornsteinen empor und verliehen der morgendlichen Szenerie einen malerischen, gänzlich friedvollen Eindruck. Beinahe alle Bediensteten, die sich tagtäglich um das Wohl der Königsfamilie und die Instandhaltung der Festung kümmerten, lebten in dieser winzigen Ortschaft. An jedem Morgen ihres einfachen Daseins kamen sie über einen schmalen Weg zur Festung hinauf und gingen erst, wenn die Nacht bereits über dem Meer hereinbrach.
Varian stieß ein leises Schnauben aus und lehnte den Kopf an die kalte Steinmauer. Er konnte und wollte sich solch ein Leben nicht einmal ansatzweise vorstellen.
Er begriff nicht, wie jene Menschen trotz all der Eintönigkeit und der niemals enden wollenden Arbeit zufrieden, wenn nicht gar glücklich sein konnten.
Doch wahrscheinlich ging der Ursprung aller Zufriedenheit aus jenen Lebensumständen hervor, in die man hineingeboren wurde. Ein Knecht heiratete für gewöhnlich eine Magd und zeugte einen Nachkommen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls in den Stand eines Bediensteten trat. So zeugte der Fischer einen weiteren Fischer, der Bauer einen weiteren Bauern und der König einen weiteren …
Ein wohlbekannter Klang riss Varian aus seinen Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit hinunter in den Innenhof der Festung. Er sah, wie sein Bruder Damian, König von Rokarien, gefolgt von seinen beiden Söhnen aus einer Seitentür des Thronsaals trat und anschließend das Wort an den Älteren richtete.
Er konnte aus dieser Höhe nicht verstehen, was Damian seinem Sohn im Einzelnen anvertraute, doch er vernahm den stolzen Klang seiner tiefen Stimme, die von den hohen Steinmauern bis hinauf zum Turmfenster hallte. Als der König Dereck schließlich in eine väterliche Umarmung schloss und ihm anschließend zuversichtlich auf die stählernen Schulterplatten klopfte, verspürte Varian einen seltsamen Druck in der Brust.
Ein beklemmendes Gefühl, das selbst die kalte Meeresluft nicht verdrängen konnte.
Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war unverkennbar. Damian und Dereck besaßen nicht nur eine ähnliche Größe und Statur, sondern teilten sogar die gleiche Gestik und Mimik.
Dereck war in jederlei Hinsicht das Abbild seines Vaters, während Elric die Sanftheit seiner verstorbenen Mutter in sich trug.
Die beiden Brüder unterschieden sich wie Wasser und Feuer, wie eine sanfte Brise und ein wütender Sturm und doch war ihre gegenseitige Zuneigung für jedermann ersichtlich. Dereck liebte seinen jüngeren Bruder, während Elric zu ihm aufsah und ihn nahezu vergötterte.
Ein Stich fuhr durch Varians Brust, als er sich daran erinnerte, dass er Damian einst ebenso betrachtet hatte.
Sein großer Bruder hatte bereits in ihrer Jugend alle Eigenschaften verkörpert, die einen guten König auszeichneten.
Stärke, Güte, Gerechtigkeit und einen Willen, der seinesgleichen suchte.
Wie oft hatte Varian sich in all den Jahren eingeredet, dass es genügte, an zweiter Stelle zu stehen, dass es ausreichte, den Titel des Königsbruders zu tragen und somit als engster Berater am Hofe zu fungieren.
Doch als die Jahre vergingen und Damians Gemahlin nicht nur einen, sondern obendrein zwei gesunde Söhne gebar, konnte nicht einmal ihr Tod im Kindbett dafür sorgen, dass Varians Neid versiegte.
Er konnte es nicht ertragen, dass ihm jenes Glück verwehrt blieb, dass Louise es nicht schaffte, ihm einen Nachkommen zu schenken, ganz gleich, wie sehr er sie auch liebte …
Und von diesem Zeitraum an begann sich eine unergründliche Leere in seinem Inneren auszubreiten. Eine tiefe Dunkelheit ergriff Besitz von ihm und bestimmte fortan all seine Gedanken. Gefühle der Freude, des Glücks und der Liebe wichen Trauer, Neid und einem schleichenden Hass.
Hass auf die Ungerechtigkeit der Welt, Hass auf sein auferlegtes Schicksal und schließlich sogar Hass auf jene Menschen, die ihm einst am nächsten standen.
So viele Jahre suchte er vergeblich nach einem Funken Hoffnung, einer Möglichkeit, seinem vorbestimmten Leben zu entkommen und schließlich, in jenem Moment, in dem er sich bereits resigniert mit seinem erbärmlichen Dasein abfinden wollte, trat sie in sein Leben.
Varian erinnerte sich nicht mehr daran, ob er sie gefunden hatte, oder ob sie dem Klang seines neidzerfressenden Herzens gefolgt war.
Er wusste nur eines und zwar, dass sie die Einzige war, die ihm jetzt noch helfen und dafür sorgen konnte, dass er erhielt, was ihm rechtmäßig zustand.
Ein bitterer Geschmack legte sich auf Varians Zunge und ließ ihn schwer schlucken. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, griff er in die Seitentasche seines ledernen Wamses und zog ein kleines Fläschchen hervor. Zögerlich betrachtete er die dunkelrote Flüssigkeit, welche bei genauerer Betrachtung von schwarzen Fäden durchzogen schien.
Mit zittrigen Fingern drückte er auf den Korkverschluss und versuchte tief durchzuatmen.
»Du weißt, was du zu tun hast. Überwinde diese letzte Hürde, und dir werden alle Wege offenstehen.«
Klar und deutlich hörte Varian die betörende Stimme der Frau des Sees in seinem Kopf. Jedes ihrer Worte glich einer bittersüßen Melodie, die ihn magisch anzog und gleichzeitig so sehr abstieß. Seine Gefühle für dieses Wesen waren zwiegespalten, er liebte und hasste sie zugleich, ebenso wie er jene Person hasste und liebte, deren Schicksal nun in seinen Händen lag.
Ein tiefes, fast wehmütiges Lachen durchbrach Varians Gedanken und ließ ihn erneut aufblicken. Er sah, wie Damian seinen ältesten Sohn ein letztes Mal herzlich umarmte, bevor sich dieser umwandte und den Innenhof mit nachhallenden Schritten verließ. Nun würde Dereck erneut mit seinem Sturmheer in die Veldun Region aufbrechen, um dort die einfallenden Barbaren aus Tenebris daran zu hindern, das Land zu plündern.
Wieder einmal würde dieser ungehobelte, maßlos arrogante Kriegstreiber Stormarc über Monate den Rücken kehren und seinen Gelüsten nach Kampf und Blut nachgehen.
Doch dieses Mal sollte er nicht mit dem Gefühl des Sieges nach Cliffhall zurückkehren.
Nein, dieses Mal würde alles anders sein.
Mit angespannten Kiefernmuskeln beobachtete Varian, wie der König seinem jüngeren Sohn an die Schulter griff und sie gemeinsam Richtung Thronsaal gingen. Doch kurz bevor sie den imposanten Eingang erreichten, hob Damian plötzlich den Kopf und sah zu Varian hinauf. Er konnte das ehrliche Lächeln erkennen, welches die Lippen seines älteren Bruders umspielte, während er die freie Hand zum Gruß erhob.
Ein brennender Schmerz schoss durch jede Faser seines Körpers und brachte Varians Atem zum Stocken. Er konnte die Geste nur mit einem knappen Nicken erwidern, obwohl er vermutete, dass Damian dieses aufgrund der Entfernung wohl kaum erkennen konnte.
Vermutlich dachte sein älterer Bruder, dass er lediglich hier oben stand, um den Abschied seines Neffen zu verfolgen, er ihm bekümmert nachblickte und ein hoffnungsvolles Gebet an den Gott des Sturmes schickte.
Der König von Rokarien konnte schließlich nicht ahnen, dass sein Bruder nur aus einem einzigen Grund die vielen Stufen des hohen Turms erklommen hatte.
Er war einzig und allein hieraufgekommen, um sich von seinem eigenen Vorhaben zu überzeugen, um sicherzugehen, dass er tatsächlich das Richtige tat. So lange hatte er das Für und Wider abgewogen, hatte den Gedanken verworfen, nur um ihn tags darauf erneut aufzugreifen.
Nun jedoch gab es kein Zurück mehr. Varians Entschluss stand fest, selbst wenn es ihn das letzte Quäntchen seiner verbliebenen Menschlichkeit kosten sollte.
Noch einmal besah er das Fläschchen mit der blutroten Flüssigkeit in seiner verkrampften Hand und blickte anschließend zu Damian zurück, der nun gemeinsam mit Elric den Thronsaal betrat.
Tief in seinem Inneren hoffte Varian, dass die letzten Worte zwischen dem König und seinem ältesten Sohn positiver Natur gewesen waren, denn es sollten ihre letzten sein.
Danielle
Ein feiner Landregen ergoss sich aus einer grauen Wolkendecke und fiel in langen Fäden vom Himmel herab.
Er tauchte die Umgebung in ein trübes Zwielicht und verlieh ihr einen trostlosen, von Schwermut geprägten Anblick.
Der kalte Nordwind zog schneidend durch die engen Gassen von Montelans und heulte dabei so unheilvoll, dass es einem eiskalt über den Rücken lief.
Fröstelnd schlang Danielle ihren grauen Wollmantel ein wenig enger um den Oberkörper und blickte sich verstohlen um.
Sie stand inmitten einer dicht gedrängten Traube von Dorfbewohnern. Die meisten von ihnen hielten ihre Köpfe gesenkt oder tauschten lediglich ein paar leise Worte mit ihren Nachbarn aus.
Niemand traute sich die Stimme zu erheben oder sich in irgendeiner Art und Weise bemerkbar zu machen.
Sie erinnerten Danielle an eine Schafherde, die zusammengekauert auf einer Weide stand und hilflos darauf wartete, dass die Wölfe aus ihren Verstecken sprangen und sie in tausende Stücke zerrissen.
Nun, auch wenn der Marktplatz von Montelans mitnichten einer Weide glich und es sich bei ihrem Gegenüber nicht um Wölfe, sondern um die Wachen des Königs handelte, so schien das Gefühl dennoch dasselbe zu sein.
Reglos, die Gesichter unter schweren, aus Cliffstahl gefertigten Helmen verborgen, standen die Soldaten in regelmäßigen Abständen um den Platz verteilt und wirkten mehr versteinert als lebendig. Zarte Regentropfen brachen sich auf ihren polierten Schulterplatten und erzeugten dabei einen hellen, Glöckchen ähnlichen Klang, der von den Fassaden der umliegenden Häuser widerhallte.
Am Kopf des Platzes, dort, wo sich an Festtagen für gewöhnlich die Bühne der Musikanten befand, stand nun ein hölzernes Podest, das von jeweils vier Wachen flankiert wurde. Der Anblick verlieh Danielle eine Gänsehaut und brachte ihr Herz zum Pochen.
Heute war der Tag gekommen, an dem der Bote des Königs in Montelans eintreffen sollte. Noch konnte über den Grund dieses hohen Besuches lediglich spekuliert werden, doch insgeheim wusste bereits ein jeder, was wohl der Anlass dieses äußerst seltenen Ereignisses sein mochte.
Immer wieder wurden in den vergangenen Tagen Soldaten mit dem Wappen des Königs gesichtet. Rastlos durchstreiften sie die Region, stellten Wachposten auf und ließen es sich nicht nehmen, die Wagen fahrender Händler zu durchwühlen.
Sie waren auf der Suche, oder vielmehr auf der Jagd.
Unermüdlich jagten sie jenen Mann, der heimlich ihr Herz gestohlen hatte und von dem sie nicht wusste, ob sie ihn jemals wiedersah.
Dereck de Roux. Der Soldatenprinz.
Für Danielle fühlte sich diese Bezeichnung bisweilen noch immer ein wenig befremdlich an, schließlich hatte sie ihn unter einem völlig anderen Namen kennengelernt, doch spielte dieser Umstand mittlerweile keine Rolle mehr.
Ganz gleich ob Brix oder Dereck, sie wusste, wer er war und was für eine Art Mensch sich hinter seinen vielen Titeln verbarg.
Für sie blieb er der ehrenwerteste und mutigste Mann, den sie jemals hatte kennenlernen dürfen, wenngleich auch der vermutlich dickköpfigste von allen.
Danielle kannte seine Geschichte, sie wusste, was ihm wiederfahren war und sie glaubte nach wie vor fest an seine Unschuld. Dereck mochte zwar ein gnadenloser Soldat und strenger Heerführer sein, doch er war kein Mörder.
Allein der Gedanke daran jagte ihr einen Schauer über den Rücken und ließ sie tief einatmen.
Sie betete innerlich, dass Dereck endlich die Wahrheit fand.
Für sich selbst und möglicherweise sogar für ganz Rokarien. Er musste in Erfahrung bringen, wer tatsächlich hinter dem Mord an Elric steckte, denn schließlich war dies allein der Grund dafür, weswegen er sie vor knapp zehn Tagen verlassen hatte.
Bedrückt ließ Danielle den Blick zur Seite schweifen und sah in das besorgte Gesicht ihres Vaters. Seit Derecks Aufbruch war die Kundschaft im Gasthaus »Zum goldenen Hirsch« mit jedem verstrichenen Tag mehr und mehr geschwunden.
Es waren jedoch nicht allein die fehlenden Einnahmen, welche sowohl Maxime als auch ihr Sorgen bereiteten, sondern die Befürchtung, dass die Dorfbewohner mittlerweile ahnten, wer sich tatsächlich hinter Brix verbarg.
Ganz gleich, wie penibel sie auch versuchten, den Fragen der Leute auszuweichen und seine Abwesenheit zu erklären, so wussten sie dennoch, dass sie ihre Ausflüchte nicht ewig aufrechterhalten konnten.
Die Bewohner von Montelans waren geschwätziger als ein Stall voller Gänse und es schien nur eine Frage der Zeit, bis sie Brix’ Verschwinden mit der Suche nach Dereck in Verbindung brachten, falls sie nicht schon längst darauf gekommen waren.
Was die Dorfbewohner wohl taten, wenn sie herausfanden, dass sie und ihr Vater einem durch den König verurteilten Mörder Unterschlupf gewährt hatten?
Wie fest waren die geknüpften Bande von Loyalität und jahrelanger Freundschaft, wenn die Rufe nach Hochverrat beständig lauter wurden?
Ein plötzlicher Laut erregte Danielles Aufmerksamkeit und riss sie aus ihren beunruhigenden Gedanken. Sämtliche Blicke richteten sich auf den Eingang der örtlichen Brauerei, die das größte Gebäude rund um den Marktplatz darstellte. Drei Männer traten aus der hohen, aus massivem Eichenholz gefertigten Eingangspforte.
Sie verweilten für einen kurzen Augenblick auf dem oberen Treppenabsatz und gaben der Masse so die Möglichkeit, einen ersten Blick auf sie zu erhaschen.
Danielle erkannte sogleich den Brauherrn Henry Arabac, dessen angespannte Miene ihr ein mulmiges Gefühl verlieh. Für gewöhnlich zählte Henry zu den fröhlichsten Männern im gesamten Dorf, ein solcher Ausdruck konnte demnach keinesfalls etwas Gutes bedeuten.
Die anderen beiden Männer glaubte sie an diesem Tag zum ersten Mal zu erblicken. Einer von ihnen trug einen schweren dunkelbraunen Wollumhang, dessen üppiger Pelzbesatz bis weit über die Schultern reichte.
Er war beinahe so groß wie breit und blickte äußerst missmutig drein. Das braune Haar, das bereits an vielen Stellen gräulich schimmerte, fiel ihm offen bis zum Kinn hinab, während seine dicken Wangen von einem dichten Vollbart bedeckt wurden. Obwohl er der Kleinste von ihnen war, besaß er dennoch eine Ausstrahlung, die durchaus respekteinflößend, wenn nicht gar ehrfürchtig wirkte.
Der Dritte im Bunde war ein großgewachsener Mann mit blondem, zurückgebundenem Haar und einem derart stechenden Blick, dass Danielle ihm nur kurz in die Augen zu sehen vermochte. Sein verbissener Gesichtsausdruck ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie konnte es sich nicht genau erklären, doch schien von diesem Mann etwas Bedrohliches auszugehen, eine leise Gefahr, die ihr Herz zum Trommeln brachte. Es schien sich bei ihm zweifelsohne um den Boten des Königs zu handeln.
Kaum setzten sich die drei Männer in Bewegung, spürte Danielle einen sanften Druck am Oberarm, der sie sofort zusammenzucken ließ. Rasch wandte sie den Kopf nach links und blickte in Catias grüne Augen. Die Küchenmagd wandte sich ein Stück von ihrem Ehemann ab und kam so dicht an sie heran, dass Danielle ihren Atem auf der Wange spüren konnte.
»Hast du den Mann neben Henry erkannt?«
Die Wirtstochter zog die Stirn in Falten und blickte abermals zu dem beleibten Mann, der dicht neben dem Braunherrn ging.
Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, liefen sie auf das hölzerne Podest zu und wurden dabei von mehreren Soldaten begleitet.
»Sollte ich ihn kennen?«
»Das ist Fürst Lingus.«
Danielle konnte regelrecht spüren, wie sich ihre Augen vor Verwunderung weiteten. Verwirrt richtete sie den Blick erneut nach vorn und konnte kaum glauben, was ihre Freundin da sagte.
Dieser schnaufende, grimmig dreinblickende Mann sollte der Vertreter ihrer Region sein?
Der Fürst Silvarons?
Zugegeben, es schien lange her, dass er Montelans mit seiner Anwesenheit beehrte. Danielle glaubte sich zu erinnern, dass es sicher bereits sieben oder acht Jahre zurücklag, als er mehr oder weniger zufällig, wahrscheinlich im Zuge einer seiner vielen Jagdausflüge, hier vorbeigekommen war.
Früher, so erzählten die älteren Dorfbewohner, sei Fürst Lingus regelmäßig durch die Lande geritten, um auch die abgelegensten Siedlungen zu besuchen, doch schienen sich mit den Jahren seine Interessen grundlegend geändert zu haben.
Solang die Menschen Silvarons pünktlich zum Mondwechsel ihre Abgaben leisteten, gab es keinen Grund für ihn, die weiten und mitunter beschwerlichen Wege auf sich zu nehmen.
Solang seine zahlreichen Weinberge und Jagdgesellschaften in Aronnia, dem Fürstensitz der Region, unterhalten wurden, blieb er lieber unter seinesgleichen und kümmerte sich bisweilen kaum um die einfachen Menschen seines Fürstentums.
»Ist es nicht ungewöhnlich, dass er nach so langer Zeit ausgerechnet jetzt hier aufschlägt?«, fragte Catia flüsternd.
»Noch dazu mit dem Boten des Königs?«
Danielle nickte besorgt, während sie sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Der Regen gewann mit jeder Stunde an Kraft und würde sich wohl bald zu einem Unwetter aufbäumen.
»Es ist ein Zeichen«, murmelte sie nachdenklich.
»Was meinst du damit?«
»Es ist ein Zeichen dafür, dass der Fürst eindeutig Stellung bezogen hat. Er steht hinter König Varian«, antwortete Danielle und spürte, wie ihr Hals trockener wurde.
»Er wird ihn bei seinem Vorhaben unterstützen.«
***
Als die drei Männer das Podest betraten, fegte eine heftige Windböe über den Marktplatz hinweg. Frauen hielten ihre Kopftücher fest umklammert, während die Hüte einiger Männer wirbelnd durch die Luft flogen.
Dem königlichen Boten schien dieses unwirtliche Wetter jedoch nichts auszumachen. Er behielt seinen starren Gesichtsausdruck bei und trat festen Schrittes nach vorn, um die Menge besser überblicken zu können.
Seine hellen Augen glitten mit bedächtiger Langsamkeit über die Menschentraube. Es fühlte sich fast so an, als wollte er jedem einzelnen Dorfbewohner bis in die Tiefen seiner Seele schauen, um selbst den kleinsten Keim des Verrats ausfindig zu machen. Nur die wenigsten hielten seinem prüfenden Blick stand, die meisten, so auch Danielle, senkten ihre Lider.
»So höret, was ich euch zu sagen habe!«
Die tiefe Stimme dröhnte wie ein Donnerschlag über den Marktplatz und hallte auch im letzten Winkel von Montelans wider.
Sie durchdrang Danielle bis ins Mark und brachte ihren gesamten Körper unweigerlich zum Zittern.
Sie fürchtete sich vor den Worten dieses Mannes und noch viel mehr vor deren möglichen Auswirkungen.
»Ich spreche nun zu euch als die Stimme eures geliebten Königs Varian, rechtmäßiger Herrscher Rokariens, Gebieter über die drei Regionen.«
Danielle musste sich wahrlich beherrschen, um bei dem Wort »rechtmäßig« nicht fraglich eine Augenbraue zu heben.
Nach allem, was sie bisher wusste, mochte Varian wahrlich vieles sein, doch in keinem Fall der legitime Regent dieses Landes.
»Voller Zorn und Entsetzen haben wir erfahren, dass der grausame Soldatenprinz, Brudermörder und zum Tode verurteilte Verräter Dereck de Roux nicht wie bisher angenommen bei seiner Flucht ums Leben kam, sondern noch immer unter uns weilt!«
Ein leises Raunen durchdrang die Masse und ließ jede Faser in Danielles Körper schmerzhaft verkrampfen. Einige Frauen schnappten erschrocken nach Luft, während andere vielsagende Blicke miteinander tauschten.
»Wir haben erfahren, dass er vor Kurzem hier in der Silvaron Region gesehen wurde, noch dazu in den Gefilden eures kleinen Dorfes.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete Danielle, wie sich die Hände ihres Vaters zu Fäusten ballten, während eine leise Panik von ihr Besitz ergriff. Das Blut rauschte kribbelnd durch ihre Venen und ließ sie nervös auf die Innenseite ihrer Unterlippe beißen.
Woher hatte Varian diese Informationen? Wer wusste außer ihnen noch von Brix’ wahrer Identität?
Danielles Gedanken überschlugen sich.
Sie kannte jede Menschenseele in Montelans, die meisten davon seit ihrer Geburt. Keiner von ihnen besaß Kontakt zum Königshaus. Nur die wenigsten waren jemals über die Grenze ihrer Region geschritten.
Konnte womöglich ein Gast im Wirtshaus ihn erkannt haben?
Möglich wäre es, doch eher unwahrscheinlich.
Dereck war so lange im Krieg gewesen, stets fernab der Heimat.
Sie wusste, dass er sich über die Jahre hinweg zumeist in der südlichen Veldun Region aufgehalten hatte. Die dort lebenden Menschen reisten jedoch nur selten durch die Lande und kamen so gut wie nie an ihrem Gasthaus vorbei.
Es gab niemanden, der ihn hätte erkennen können oder gar wusste, wie er zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich aussah. Ohne glänzende Rüstung und dem sichtbaren Wappen seiner Familie war er hier, in der ländlichen Umgebung, schlichtweg unsichtbar.
Danielles Überlegungen endeten abrupt, als Fürst Lingus neben den königlichen Boten trat und sich lauthals räusperte. Er wirkte unruhig und strich sich immer wieder über den dichten Vollbart.
»Es deutet vieles darauf hin, dass der Soldatenprinz von jemandem aus diesem Dorf Hilfe erhalten hat. Er könnte möglicherweise unter falschem Namen Unterschlupf gesucht haben, um so unerkannt zu bleiben«, sprach der Fürst mit tiefer Stimme.
Danielle wechselte einen raschen Blick mit Catia und verspürte den Drang, hysterisch aufzulachen. Es schien die Ironie des Schicksals zu sein, dass all jene Vermutungen haargenau zutrafen.
Beim Gott des Waldes, wer hätte jemals geahnt, dass ein Akt aus reinem Mitgefühl sie und ihre Familie einmal in solche Gefahr bringen könnte?
Falls es noch einen Bewohner in Montelans gab, der Brix bisher nicht verdächtigte, so tat er es wohl spätestens jetzt.
»Sollte einer von euch braven Menschen diesbezüglich Informationen besitzen, selbst wenn es sich dabei nur um Vermutungen handelt, so befehle ich euch nun, aus der Menge hervorzutreten und uns mitzuteilen, was ihr wisst.«
Danielle glaubte vor Anspannung innerlich zu zerreißen.
Die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Verängstigt erwiderte sie den Blick ihres Vaters und musste mit Schrecken erkennen, dass auch er von derselben Furcht heimgesucht wurde.
Nun stand alles auf dem Spiel.
Alles, was sie sich jemals aufgebaut hatten, ihre gesamte Existenz, wenn nicht gar ihr Leben.
Ein bedrückender Moment der Stille legte sich über den Marktplatz, nur das Heulen des Windes und das Prasseln der Regentropfen durchbrachen die bis zum Zerreißen angespannte Atmosphäre. Viele der Dorfbewohner wechselten unsichere Blicke miteinander, einige fielen immer wieder auf ihren Vater und sie selbst, manche sogar auf Catia und Cedric, die nach wie vor dicht an ihrer Seite standen.
Doch keiner erhob das Wort.
Niemand trat an das Podest heran.
Ihr Herz trommelte derart laut in Danielles Ohren, dass sie befürchtete, dass auch alle anderen es hörten.
Konnte der Zusammenhalt innerhalb einer kleinen Gemeinschaft wirklich über Pflicht und Ordnung triumphieren? Hielten die Bewohner von Montelans trotz der belastenden Gerüchte dennoch zusammen? Würden ihre Freunde sie nicht verraten?
Jeder verstrichene Augenblick glich einer gefühlten Ewigkeit, doch je länger die Stille anhielt, desto heller schimmerte der seichte Funken einer leisen Hoffnung.
»Gibt es hier niemanden, der uns etwas mitzuteilen hat?«
Die gereizte Stimme des Boten ertönte und ließ Danielle erschrocken zusammenzucken. Inzwischen wendeten sich erste Blicke vom Podest ab, manche senkten scheu die Lieder, andere starrten auf einen unbestimmten Punkt inmitten der Menge.
Doch alle schwiegen.
Unwirsch trat der Bote von einem Fuß auf den anderen, murmelte etwas Unverständliches und wirkte einen Augenblick lang ratlos.
Danielle wollte sich bereits vom wärmenden Gefühl der Hoffnung verleiten lassen und betete innerlich, dass dieses Ereignis nun sein baldiges Ende fand, doch dann wendete er sich plötzlich von der Menschenmenge ab und sah über die Schulter hinweg zu Henry.
Die Wirtstochter konnte nicht genau verstehen, was der Diener des Königs sagte, doch dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, schien es eine harsche Anweisung zu sein.
Henrys Gesicht wurde noch eine Spur blasser.
Sein Mund öffnete sich, möglicherweise um eine passende Antwort zu formulieren, doch kein Wort glitt über seine Lippen.
Unsicher blickte er zwischen seinem Gegenüber und jenen Leuten umher, die er bereits sein ganzes Leben kannte.
»Nun mach schon!«, bellte der Bote unwirsch und bewegte den Brauherrn dazu, zwei Schritte nach vorn zu treten.
Mit zittrigen Fingern griff er in die rechte Brusttasche seines inzwischen völlig durchnässten Mantels und zog ein dünnes Blatt Pergament hervor.
»Da ich neben der Leitung der Brauerei auch die Funktion des örtlichen Magistrats innehabe und über ein Namensregister der ansässigen Dorfbewohner verfüge, bat mich unser hoher Besuch einen …«
»Einen Blick hineinwerfen zu dürfen«, unterbrach ihn der Bote und entriss Henry das Dokument, um es anschließend in die Höhe zu halten.
»Ich halte hier in meinen Händen eine Liste mit den Namen, die laut unserer jüngsten Informationen in Verbindung mit dem Soldatenprinzen standen und ihm möglicherweise dabei halfen, unerkannt zu bleiben.«
Ein kaltes Lächeln umspielte die Lippen des königlichen Dieners. Seine Augen funkelten vor Triumpf und dem erregenden Gefühl der Macht.
In Danielles Körper tobte derweil ein Sturm, genährt von blanker Panik. Die Angst um ihre Familie und Freunde stieg bis ins Unermessliche und brachte ihren Körper unaufhörlich zum Beben.
Sie allein war dafür verantwortlich, dass Dereck bei ihnen eine Zuflucht fand. Sie hatte ihren Vater überredet, ihn bei sich arbeiten zu lassen.
Sie allein traf alle Schuld.
Weder ihr Vater noch Catia oder Cedric hatten etwas damit zu tun. Am wenigsten Binette und Yanis, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt glücklicherweise nicht hier, sondern im Wirtshaus befanden und dort auf ihre Rückkehr warteten.
Falls es überhaupt eine Rückkehr gab.
»Ich habe euch zuvor die Möglichkeit gegeben, aus eigenen Stücken nach vorne zu treten und euer Wissen mit uns zu teilen. Da jedoch niemand dazu bereit zu sein scheint, dem Willen eures Königs eigenmächtig zu folgen, werde ich nun jeweils einen Namen auf dieser Liste aufrufen, woraufhin der Angesprochene nach vorne treten wird, um mir anschließend ein paar Fragen zu beantworten.«
Unbewusst, wie durch einen inneren Impuls gelenkt, trat Danielle näher an ihren Vater heran und umfasste seine zur Faust geballte Hand mit zittrigen Fingern.
Es mochte lediglich eine kleine Berührung sein, doch ihre Bedeutung reichte weitaus tiefer und konnte mit bloßem Auge nicht erfasst werden.
Ganz gleich, was nun geschehen mochte, welcher Name auch immer fiel, sie würden es gemeinsam durchstehen.
So haben sie es seit jeher getan und würden es immer tun.
***
»Maxime Durand.«
Danielle glaubte sämtlichen Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr Herzschlag schien gemeinsam mit ihrer Atmung auszusetzen.
»Nein«, hauchte sie entsetzt und wandte sich ruckartig zu ihrem Vater, der für einen kurzen Moment fassungslos an Ort und Stelle verharrte.
Sie umschloss seine Faust so fest, dass ihre eigenen Finger zu schmerzen begannen, bis Maxime schließlich aus seiner Starre erwachte und ihren Blick mit einem schwachen Lächeln erwiderte.
»Schon gut, Kleines. Mach dir keine Sorgen«, versuchte er sie mit einer derart ruhigen Stimme zu besänftigen, dass es Danielle augenblicklich das Herz zerriss. Sie wollte schreien, ihn anflehen wegzulaufen, doch ihre Lippen schienen gelähmt.
Heiße Tränen schossen ihr in die Augen, als Maxime seine Hand aus ihrem Griff befreite und ihr ein letztes Mal ins Antlitz sah.
Während die restlichen Dorfbewohner stumm zur Seite traten, straffte Maxime die Schultern und ging festen Schrittes auf das Podest zu.
Danielle sah ihrem Vater mit verklärtem Blick nach und fühlte sich in einen grausamen Albtraum versetzt.
Nur am Rande nahm sie wahr, wie Catia sich schützend an ihre Seite stellte und behutsam einen Arm um ihre Taille legte. Womöglich begann sie bereits zu taumeln.
***
»Seid Ihr Maxime Durand?«
Der Bote betrachtete den Wirt abschätzend, während sich sein Gesicht zu einer eiskalten Miene verzog.
»Ja, Herr.«
»Leitet Ihr das Gasthaus ›Zum goldenen Hirsch‹?«
»Ja, Herr.«
Maximes Stimme klang fest und entschlossen. Es lagen weder Angst noch Unsicherheit darin. Danielle bewunderte ihren Vater für seine Stärke, dafür, dass er selbst in den schrecklichsten Momenten seine eiserne Willenskraft behielt. Ganz gleich, wie mächtig die Furcht in seinem Inneren auch sein mochte, er ließ sie niemals die Oberhand gewinnen.
»Dann stimmt es auch, dass Ihr vor einiger Zeit einen Fremden bei euch aufgenommen habt?«
Unwirsch strich sich der Bote eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihm aufgrund des starken Windes zurück ins Gesicht fiel. Sein Tonfall triefte regelrecht vor Abneigung und maßloser Überheblichkeit. Er besah den Wirt wie eine niedere Kreatur, wie ein Insekt, welches er je nach Belieben am Leben lassen oder kurzerhand zerquetschen konnte.
»Auch das ist richtig«, erwiderte Maxime und reckte furchtlos das Kinn.
»Das ist ausgesprochen interessant. Und wo ist dieser Mann jetzt? Ich würde ihn gerne sprechen.«
Der alte Wirt atmete so kraftvoll aus, dass sich eine feine Dunstwolke unterhalb seiner Nase bildete. Für andere mochte es nicht ersichtlich sein, doch Danielle wusste, wie sehr ihr Vater mit sich haderte. Sie konnte den Anblick kaum mehr ertragen.
»Er ist vor wenigen Tagen aufgebrochen, um seine kranke Mutter zu besuchen. Sie lebt wohl in einer kleinen Hütte nahe der Grenze zur Veldun Region«, entgegnete er und zuckte entschuldigend mit den Schultern, während einige Dorfbewohner leise zu tuscheln begannen.
»Welch wunderbarer Zufall.«
Die Lippen des Boten verformten sich zu einem bösartigen Lächeln, während er neugierig eine Augenbraue hob.
»Und wie lautet der Name dieses Fremden?«
»Brix.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Er sagte uns, dass sein Name Brix lautet und er einst als Soldat in den Diensten seiner königlichen Hoheit stand«, antwortete Maxime angespannt.
»Und diese wenigen Informationen reichten Euch tatsächlich aus, um einen völlig Fremden bei Euch aufzunehmen? Ohne Zweifel? Ohne Misstrauen? Wie ich hörte, habt Ihr eine Tochter, die ebenfalls in Eurem Gasthaus arbeitet. Hattet Ihr keine Angst um ihre Unschuld?«
Die Worte des Boten flogen wie Pfeilspitzen durch die kalte Luft und trafen Danielle mitten ins Herz.
Schuldgefühle breiteten sich in jeder Faser ihres Körpers aus und ließen sie hastig nach Luft schnappen. Es war unverkennbar, wie gezielt dieser Mann versuchte, ihren Vater in die Enge zu treiben, wie er die Schlinge mit jeder Frage ein wenig fester zog.
»Ich kann nicht für die Menschen der Cliffhall Region sprechen, Herr, doch die Bewohner Silvarons zeichnen sich seit jeher durch Gastfreundschaft und ihren guten Willen aus. Brix hat sich zu keinem Zeitpunkt schändlich verhalten oder ist meiner Tochter jemals zu Nahe getreten. Ich habe weder mir noch ihm etwas vorzuwerfen.«
Maximes Worte hallten klar und deutlich über den Platz, sodass selbst die Menschen in den hintersten Reihen seine Stimme hören konnten.
Als einziger Gastwirt im Umkreis genoss er ein gewisses Ansehen bei den Leuten. Selbst wenn er oftmals stur und mitunter mürrisch wirkte, so war er weder falsch noch betrog er seine Gäste. Er und Danielle behandelten sie alle gleich und unterschieden nicht zwischen Bauern und Edelleuten. Eine Tatsache, die ihm Respekt verschaffte und sein Urteilsvermögen nicht in Frage stellte.
Der Bote gab ein schnalzendes Geräusch von sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Er zerknüllte die Namensliste in seiner Hand und ließ sie in der Faust verschwinden.
»Eine recht vage Aussage, um Euer Handeln zu rechtfertigen«, sprach er mit gespielter Gelassenheit.
»Es ist doch wahrlich ein interessanter Zufall, dass die Abreise eures Freundes und die unverhoffte Sichtung des Soldatenprinzen so nah beieinander liegen.«
»Zufälle gibt es immer wieder«, entgegnete Maxime, doch verlor seine Stimme an Entschlossenheit.
»Da habt Ihr durchaus recht … und es tauchen immer wieder Menschen auf, die sich diese Tatsache geschickt zunutze machen«, konterte der Bote und zog theatralisch eine Augenbraue hoch.
»Ihr besitzt also weder einen Beweis, um die Identität dieses Brix’ sicherzustellen, noch könnt Ihr uns genaue Auskünfte über seinen jetzigen Aufenthaltsort mitteilen?«
»Ich sagte Euch doch, dass er sich aufgemacht hat, um seine Mutter zu besuchen«, erwiderte Maxime nachdrücklich und sah hastig zwischen den Männern auf dem Podest umher.
Danielle wollte sich bereits von Catia losreißen und ihrem Vater zur Hilfe eilen, doch die Küchenmagd packte sie am Oberarm und zog sie zurück.
»Ja, natürlich. Irgendwo am Rande zur Veldun Region«, wiederholte der Bote und schüttelte lächelnd den Kopf.
»So leid es mir auch tut, doch Eure Erklärungen stehen im eindeutigen Widerspruch zu den Informationen, welche wir über Euch erhalten haben. Und solang Ihr Eure Aussagen nicht beweisen oder uns genauere Auskünfte über diesen Mann geben könnt, entziehe ich Euch vom heutigen Tage an das Recht, euer Gasthaus weiterhin zu betreiben.«
Danielles Augen weiteten sich vor Entsetzen, während Maxime einen ungläubigen Laut ausstieß.
»Das könnt Ihr nicht tun«, rief er erzürnt und trat einen Schritt nach vorn. Wie auf Befehl rührten sich die Soldaten zu beiden Seiten des Podestes und legten die Hände an ihren Schwertknauf.
Erschrockene Laute drangen aus der Menschenmenge hervor und versetzten Danielle in helle Aufruhr.
»Ihr irrt. Ich kann und ich war noch nicht fertig«, antwortete der Diener des Königs und lächelte hämisch.
»Solang wir nicht eindeutig ausschließen können, dass Ihr uns am Ende nicht doch belogen habt und möglicherweise sogar mit dem Soldatenprinzen unter einer Decke steckt, stelle ich Euch hiermit unter Hausarrest. Solltet Ihr dennoch versuchen, dieses Dorf zu verlassen, werdet Ihr des Hochverrats angeklagt und umgehend nach Stormarc gebracht.«
»Ich stecke mit niemandem unter einer Decke! Ich weiß nicht, wo sich der Soldatenprinz befindet! Das ist doch vollkommen verrückt!«, schrie Maxime verzweifelt. Wut und Fassungslosigkeit standen ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wovon soll ich meine Familie ernähren? Wie soll ich ohne Einnahmen durch den Winter kommen?«
Ungehalten trat der alte Wirt an den Rand des Podestes und blickte zu Fürst Lingus hinauf.
»Ich bitte Euch, Herr, Ihr dürft das nicht zulassen.«
Der Fürst sah für einen Augenblick zwischen dem Boten und Maxime umher, bis er schließlich schnaufend mit dem Kopf schüttelte.
»Ich kann nichts gegen dieses Urteil tun«, sprach er, doch spiegelte sein Blick ein gewisses Bedauern wider.
»Ihr solltet Euch glücklich schätzen, dass unser König ein so mildes Herz besitzt, denn allein der Verdacht auf Verrat reicht für gewöhnlich aus, um solche Menschen wie Euch in den Kerker zu schaffen«, blaffte der Bote mit funkelnden Augen und schien Maxime am liebsten mitten ins Gesicht spucken zu wollen.
Dies war der schreckliche Moment, in dem Danielle begriff, dass ihr Vater nun nicht mehr zu halten wäre. Mit einem Ruck riss sie sich von Catia los und versuchte sich, ohne auf die Rufe ihrer Freundin zu hören, so schnell wie möglich einen Weg durch die dichte Menschenmenge zu bahnen, welche wie erstarrt das Schauspiel beobachtete.
Mit pochendem Herzen hörte sie, wie sich Maximes tiefe Stimme überschlug und wüste Beschimpfungen durch die Luft hallten. Nur einen Augenblick später vernahm sie einen Ruf, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Soldaten! Ergreift diesen armseligen Bauerntrampel!«
Als die Wirtstochter endlich freie Sicht auf das Podest erhielt, musste sie schockiert mitansehen, wie ihr Vater von einem großgewachsenen Soldaten in schwerer Rüstung mit einem einzigen Schlag zu Fall gebracht wurde.
»Nein!«
Danielle schrie aus Leibeskräften und rannte unumwunden auf den Peiniger ihres Vaters zu.
Doch noch ehe sie Maxime erreichte, wurde sie von einem zweiten Soldaten grob am Arm gepackt und zurückgewirbelt.
Er umschloss ihr Handgelenk mit seinem gepanzerten Handschuh und verdrehte ihren Arm mit einem gezielten Griff, sodass er nur einen Herzschlag später bewegungsunfähig auf ihrem Rücken ruhte.
Ein stechender Schmerz durchfuhr Danielles Schulter und ließ sie qualvoll aufkeuchen.
Fieberhaft versuchte sie den Blick auf ihren Vater zu richten, der sich in jenem Moment zurück auf die Beine kämpfte, nur um gleich darauf einen Tritt in den Bauch zu erhalten.
»Nein, bitte, bitte lasst ihn in Ruhe! Hört auf damit!«
Danielle wollte sich aus dem Griff des Soldaten lösen, sie wandte sich hin und her, versuchte nach hinten auszutreten, doch sie traf nichts außer hartem Stahl.
Einige der Dorfbewohner begannen sich indes nach einem geeigneten Fluchtweg umzusehen, andere schienen wiederum zu überlegen, ob sie sich einmischen und ihr und Maxime zur Hilfe eilen sollten.
Diese Entscheidung wurde ihnen jedoch von einer einzigen Person abgenommen.
Noch bevor Danielle einen neuen Versuch unternehmen konnte, sich irgendwie aus den schmerzhaften Fängen des Soldaten zu befreien, erklang ein zornerfülltes Brüllen, welches die Menschenmenge umgehend auseinandertrieb.
Ebenso schnell wie der eisige Wind durch die Gassen von Montelans zog, rannte Cedric auf den Soldaten vor Maxime zu. Er holte noch im Sprung aus und ließ seine Faust direkt auf den glänzenden Stahlhelm niederprasseln.
Der Soldat taumelte daraufhin drei Schritte zurück, sodass der Schmied genug Zeit erhielt, um sich zwischen ihm und dem Wirt zu platzieren.
Dies war der Moment, in dem sich auch die restlichen Wachen aus ihrer Starre lösten und schnellen Schrittes auf das Podest zuliefen.
Der Mann, der Danielle bis zu jenem Augenblick fest in seinem Griff hielt, schubste sie mit einem kräftigen Stoß zur Seite, sodass sie schmerzhaft auf dem harten, mit Feldsteinen gespickten Boden aufschlug.
Obwohl sie spürte, wie sich sogleich eine warme Flüssigkeit über ihre Wange ergoss und ihre Sicht kurzzeitig verschwamm, versuchte sie dennoch, den Schmerz zu ignorieren. Auf ihre Knie gestützt kroch sie zu ihrem Vater hinüber, der sie mit schützender Hand an sich zog, während er die andere auf sein linkes Auge drückte.
Gemeinsam versuchten sie zurück auf die Beine zu kommen und blickten dabei auf den ungleichen Kampf, der sich direkt vor ihnen abspielte.
Cedric hatte es geschafft, noch drei weitere Soldaten auszuschalten, während sich nun sein Vater ebenfalls in den Kampf einmischte. Der alte Schmied stand seinem Sohn in Stärke und Statur in nichts nach, doch reichten selbst ihre vereinten Kräfte nicht aus, um die Vielzahl der Wachen zu bezwingen.
Entsetzt musste Danielle mit ansehen, wie sich mehrere Soldaten gleichzeitig auf Cedric warfen, während sie Catias hysterische Schreie nur am Rande wahrnahm.
Kaum hatten die Männer Cedric und seinen Vater überwältigt, wurden sie direkt vor das Podest geführt, wo der Bote des Königs bereits auf sie wartete.
»Wer ist dieser Mann?«, fragte er mit gelangweilter Stimme und blickte sich zu Henry um, der verstört und mit hochrotem Kopf in der hintersten Ecke stand.
»Er heißt … ich meine, sein Name lautet …«
»Nun sprich es schon aus!«, schrie der Diener des Königs plötzlich und spie die letzten Worte regelrecht aus.
»Cedric. Cedric Fournir.«
»Nun, das nenne ich doch zwei Zufälle an einem einzigen Tag«, entgegnete der Bote und bedachte sowohl Maxime als auch Cedric mit einem höhnischen Blick.
»Ein weiterer Name auf meiner Liste.«
»Wisst Ihr«, sprach er mit kraftvoller Stimme und sah mit stechendem Blick über den Platz und schließlich zurück zu Cedric.
»Ich mag es, wenn die Menschen zusammenhalten und füreinander einstehen. In gewisser Weise respektiere ich Euren Mut sogar, doch leider richtet sich Euer Aufbegehren gegen meinen Befehl … und damit gegen den König höchstpersönlich.
Es bleibt mir daher nichts anderes übrig, als nun zu demonstrieren, wie wir mit denjenigen verfahren, die sich gegen die vorherrschende Ordnung auflehnen wollen.«
Danielles Blick verschleierte sich zunehmend. Das Herz pochte so schmerzhaft gegen ihre Brust, dass sie glaubte, von innen heraus zu zerbrechen.
Alles in ihrem Körper schrie, sie konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen.
Das Letzte, was sie bewusst wahrnahm, bevor ihr Verstand in purem Chaos versank, war, wie der Bote einen kräftigen Soldaten zu sich rief.
Schweren Schritten trat dieser an Cedric heran, während er in seinen Händen eine mächtige Peitsche hielt, die mit mehreren langen Lederriemen versehen war.
Dereck
Dereck vernahm das tosende Rauschen seines Blutes, während sein Herz in derselben Geschwindigkeit wie die Hufe seines Pferdes schlug. Der Boden war aufgrund der anhaltenden Regenfälle inzwischen völlig aufgeweicht. Schlamm und Schmutz flogen bei jedem Hufschlag durch die Luft und beschmutzten Tier und Reiter gleichermaßen. Immer wieder musste er sich verirrte Haarsträhnen unwirsch aus dem Gesicht wischen und mit dem Ärmel Regentropfen aus den brennenden Augen reiben.
All dies entzog sich jedoch Derecks Interesse.
Unbarmherzig trieb er Ventus an, erlaubte seinem treuen Begleiter nicht, auch nur ein wenig langsamer zu werden, obwohl er wusste, dass sein Pferd allmählich die Grenze der Belastbarkeit erreichte.
Doch er konnte nicht anders.
Seit seinem Treffen mit Louise und der darauffolgenden Flucht wurde sein Verstand von einem einzigen Gedanken beherrscht. Er durchdrang seinen Geist wie ein bösartiger Zauber, er bestimmte all seine Handlungen und brachte ihn allmählich an den Rand des Wahnsinns.
Danielle. Sie schwebte in höchster Gefahr.
Obwohl sich Dereck nicht erklären konnte, wie sein Onkel von ihr erfahren hatten, woher er wusste, dass sie überhaupt existierte, so schien Louises Warnung dennoch eindeutig.
»Dereck, er wird sie finden! Er wird versuchen, dir alles zu nehmen. Flieht!«
Jedes einzelne Wort glich der Spitze einer geschliffenen Klinge und bohrte sich direkt durch seine Brust.
Angst wandelte sich zu Wut und Wut verformte sich zu einem unerbittlichen Antrieb.
Er würde nicht zulassen, dass Danielle oder einem Mitglied ihrer Familie auch nur das kleinste Leid geschah. Jeder, der es wagte sie zu bedrohen, geschweige denn Hand an sie zu legen, würde einen grausamen Tod finden.
Doch die Zeit verrann viel zu schnell. Obwohl er Ventus über Stunden antrieb und seinen Männern nur kurze Pausen eingestand, kam es ihm dennoch so vor, als würden sie sich kaum vom Fleck bewegen.
Schon während ihrer Abreise aus Montelans waren die gängigen Handelsstraßen von Soldaten übersäht, doch nun besetzten die verfluchten Sturmkrähen sogar die kleinen Landstraßen.
Sie verhinderten ein zügiges Vorankommen und zwangen Dereck und seine Männer dazu, auf unbefestigten Trampelpfaden inmitten der Wildnis Silvarons zu reiten. Sie durften es unter den jetzigen Umständen keinesfalls riskieren, möglicherweise entdeckt und in einen offenen Kampf verwickelt zu werden. Sie waren nur zwölf Mann stark, zwei von ihnen bereits durch Streifschüsse verletzt, die sie sich im Zuge der Flucht zugezogen hatten.
In Anbetracht dieser ungünstigen Lage blieb ihnen schlicht nichts anderes übrig, als im Verborgenen zu reiten und sich wie Diebespack vor den lauernden Blicken der Soldaten zu verstecken. Selbst wenn sie damit gegen all ihre Prinzipen verstießen und es Dereck regelrecht in den Fingern kitzelte, jedem einzelnen sein Schwert in den Bauch zu rammen.
»Verflucht, Dereck, jetzt nimm doch endlich Vernunft an!«
Arios trieb sein Pferd so lange an, bis es dicht neben Ventus ritt.
»Wir können so nicht weitermachen!«
Dereck würdigte seinen Freund keines Blickes. Immer wieder hatte er in den vergangenen Stunden versucht, auf ihn einzureden, ihn zu überzeugen, dass sie eine Rast einlegen sollten, doch er konnte es nicht zulassen. Selbst wenn es ihm insgeheim leidtat, seine Männer derart zu quälen und alles von ihnen abzuverlangen, so gewann seine Angst um Danielle dennoch die Oberhand. Er durfte sie nicht verlieren, gerade jetzt, da er die schreckliche Wahrheit über sich und seine Vergangenheit erfahren hatte, schien sie der einzige Lichtblick in seinem Leben zu sein.
Aus diesem Grund hielt er den Blick stur geradeaus gerichtet und konzentrierte sich einzig auf seine Atmung. Mit ganzer Kraft versuchte er das unliebsame Stechen unterhalb seiner Rippen zu ignorieren, dessen steigende Intensität ihm verdeutlichte, wie sehr sein verräterischer Körper unter der stundenlangen Anstrengung litt.
Noch war sein Wille jedoch stärker als jedweder Schmerz, noch würde er nicht nachgeben.
»Beim Gott des Sturms, jetzt ist es aber genug!«
Ohne jegliche Vorwarnung lehnte sich Arios plötzlich so weit aus dem Sattel, dass er es schaffte, Dereck unvermittelt in die Zügel zu greifen und kraftvoll daran zu ziehen.
Ventus wieherte laut, versuchte jedoch unter scharrenden Hufen die Geschwindigkeit zu verringern und bäumte sich schließlich erschrocken auf. Es war allein Derecks jahrelanger Erfahrung und schneller Reaktionsfähigkeit geschuldet, dass er nicht aus dem Sattel fiel und es schaffte, sein tänzelndes Pferd unter lautem Protest zu zügeln.
»Bist du jetzt völlig wahnsinnig geworden?«
Derecks tiefe Stimme hallte grollend durch den dichten Wald, während er Arios wutentbrannt fixierte. Er konnte kaum glauben, was sein vermeintlich bester Freund soeben getan hatte. Er hätte sich ohne Weiteres seinen verfluchten Hals brechen können.
»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen«, erwiderte der blonde Soldat und blickte ebenso zornig drein.
Dereck zog fassungslos die Augenbrauen hinauf, es kostete ihn all seine verbliebene Kraft, Arios nicht kurzerhand vom Pferd zu ziehen und ihm mitten ins Gesicht zu schlagen.
»Ist dir eigentlich klar, dass du mich gerade hättest umbringen können?«
»Ist dir nicht klar, dass du gerade auf dem besten Weg bist, es selbst zu tun?«
Dereck öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch kein Wort glitt über seine Lippen. Sprachlos starrte er Arios in die grauen Augen, die seinem tödlichen Blick so mühelos standhielten. Ein Umstand, der ihn nur noch rasender machte.
»Verdammt Dereck, wir reiten schon Stunden durch diese sumpfige Wildnis und das bereits seit Tagen. Es reicht jetzt. Wir alle brauchen eine Pause«, protestierte der Soldat entschlossen und deutete mit einem Wink auf ihre restlichen Männer, die erschöpft in den Satteln hingen und penibel darauf achteten, weder ihrem Hauptmann noch ihrem Leutnant direkt in die Augen zu sehen.
Dereck folgte Arios’ Blick nur widerwillig, dabei presste er die Kieferknochen so fest aufeinander, dass er das unangenehme Knirschen seiner Zähne vernahm. Selbst wenn er es hasste, es zugeben zu müssen, so musste er dennoch einsehen, dass sein Freund nicht unbedingt falsch lag.
Die Müdigkeit stand jedem einzelnen seiner Männer förmlich ins Gesicht geschrieben, wahrscheinlich dauerte es nicht mehr lange, bis der Erste tatsächlich aus dem Sattel kippte.
Angespannt ballte Dereck die Hände zu Fäusten und atmete so kräftig aus, dass sich seichte Dunstwolken unter seiner Nase bildeten. Ganz gleich, wie sehr er sich auch gegen diese Entscheidung sträubte, wie laut die Stimme in seinem Inneren auch schrie, so musste er sich dennoch zwingen, vorerst Vernunft walten zu lassen.
Schmerzhaft musste er in diesem Moment erkennen, dass die Zeiten, in denen er nur für sich allein verantwortlich war, in denen er niemandem Rechenschaft über seine Handlungen ablegen musste, vollends gezählt waren. Sie endeten an jenem Tag, an dem er Danielle den Rücken kehrte und sich dazu entschloss, nicht länger vor seiner verfluchten Vergangenheit zu fliehen, und er zahlte einen hohen Preis dafür.
Mit verhärteter Miene blickte er Arios in die wachsamen Augen und rang sich ein knappes Nicken ab. Zu mehr reichte es nicht, seine Abneigung gegen diese Entscheidung war schlicht zu stark, um ihr mit Worten Ausdruck zu verleihen.
Sein Leutnant erteilte daraufhin sogleich den Befehl zur Rast und schwang sich im selben Moment aus dem Sattel. Noch einmal trafen sich ihre Blicke, während Arios einen Schritt auf ihn zutrat.
»Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst«, sprach der Blonde gedämpft und klopfte Ventus versöhnlich auf den Hals.
»Doch du kannst sie nicht beschützen, wenn du selbst am Ende deiner Kräfte bist. Keiner von uns kann das.«
Dereck wusste, dass Arios die Wahrheit sprach, doch Gefühle konnten mitunter stärker sein als jeder rationale Gedanke. Diese Tatsache hatte er in der Vergangenheit nicht oft genug betonen können, er erinnerte sich an unzählige Male, in denen er eben jene Weisheit von sich gegeben und über jene gelacht hatte, die seinen Worten kein Gehör geschenkt hatten.
Welch einfältiger Narr er doch gewesen war.
***
Danielle
Wie betäubt sah Danielle auf ihre aufgeschürften Handflächen und spürte, wie eine heiße Träne über ihre Wange glitt. Getrocknetes Blut benetzte ihre Finger, während dünne Hautfetzen an den schmutzigen Wundrändern hingen. Es war doch erstaunlich, wie solch kleine Verletzungen derartig brennen konnten und sie bei jeder Bewegung zusammenzucken ließen. Ein pochender Schmerz breitete sich von ihrer Schläfe bis in die Schultern aus und ließ sie erschöpft ausatmen. Sie musste schwerer gestürzt sein als gedacht, sie schien die Stärke des Soldaten, der sie so hart zu Boden gestoßen hatte, unterschätzt zu haben. Mit einem leisen Seufzen hob Danielle ihren schweren Kopf ein wenig an, nur um ihn daraufhin an die kalte Wand zu lehnen.