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Ein Mordfall erschüttert die Stadt – und nur eine Begine kann das teuflische Treiben aufdecken. Aachen im 14. Jahrhundert: Nach dem viel zu frühen Tod ihres Mannes bleibt Sibilla von Thierschütz kaum eine andere Wahl, als ins Beginenhaus Sankt Stephan zu ziehen. Der gestrenge Vater Johann merkt allerdings sofort, dass für Silla Demut und Gehorsam nicht die obersten Ziele einer Frau sind. Als sie dann auch noch in dem aufsehenerregenden Mord am Marktbeschauer Gunter Tulb ermittelt, wagt Silla sich auf dünnes Eis. Denn angeklagt ist ihre eigene Ziehtochter, die junge Magd Mettel, die vom Teufel besessen sein soll. Die Suche nach der Wahrheit führt Silla vom Kloster aus in die geschäftigsten und dunkelsten Ecken Aachens – und sie merkt nicht, dass sie dabei ist, sich ihren eigenen Strick zu knüpfen … Ein mitreißend recherchierter Mittelalterroman über das historische Aachen und eine Begine, die sich nicht stumpf der Obrigkeit beugen will. Fans von Silvia Stolzenburg und Manuela Schörghofer werden begeistert sein.
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Aachen im 14. Jahrhundert: Nach dem viel zu frühen Tod ihres Mannes bleibt Sibilla von Thierschütz kaum eine andere Wahl, als ins Beginenhaus Sankt Stephan zu ziehen. Der gestrenge Vater Johann merkt allerdings sofort, dass für Silla Demut und Gehorsam nicht die obersten Ziele einer Frau sind. Als sie dann auch noch in dem aufsehenerregenden Mord am Marktbeschauer Gunter Tulb ermittelt, wagt Silla sich auf dünnes Eis. Denn angeklagt ist ihre eigene Ziehtochter, die junge Magd Mettel, die vom Teufel besessen sein soll. Die Suche nach der Wahrheit führt Silla vom Kloster aus in die geschäftigsten und dunkelsten Ecken Aachens – und sie merkt nicht, dass sie dabei ist, sich ihren eigenen Strick zu knüpfen …
Über die Autorin:
Die Aachener Autorin Dagmar A. Hansen schreibt am liebsten augenzwinkernde Geschichten ihrer Heimat, die sich in ferner Vergangenheit genau so hätten zutragen können. Schon früh entwickelte sie ein tiefgehendes Interesse an der facettenreichen Geschichte des Rheinlands und die Lust am Recherchieren. Diese beschränkt sich längst nicht nur auf das Lesen historischer Berichte und Besichtigungen eben dieser Orte, sondern wurde ab und an in Mittelalterlagern gelebt. Hier mimte die Autorin, wie sollte es anders sein, eine Feldköchin. Einige ihrer gerührten Erfolge und Fehlschläge finden sich in ihren Geschichten wieder. Heute lebt die Autorin zusammen mit ihrem Mann und zwei Katzendamen im Jülicher Land.
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin auch ihre Romane »Das Geheimnis der Magd«, »Die Köchin des Tuchhändlers«, »Das Geheimnis der toten Jungfer« und »Die Gefährtin des Pilgers«.
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Originalausgabe Februar 2025
Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/faestock, Lukas Szwaj, blue pencil, pabloavazini und wikicommons
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98952-761-4
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Dagmar A. Hansen
Die Magd des Teufels
Historischer Roman
dotbooks.
Jockels Hände waren zu Fäusten geballt, und er stapfte voran, ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen. Er war müde und hungrig. Vor allem aber war er stinkwütend. Immer, wirklich immer musste er früh raus, sogar noch vor Sonnenaufgang, während seine jüngere Schwester im Bett lag, am Daumen nuckelte und schlief. Gleich gäbe es für sie Brei mit Honig und Nüssen, weil die Kleine doch noch wachsen müsse. In die Breite wuchs sie.
Verwünschte Nachzüglerin.
Und er musste in aller Herrgottsfrühe raus, um ein Schwein auf seinem Rücken zu tragen!
Jockel sprang über einen Bachlauf, das Ferkel wurde in dem Tragekorb hin und her geworfen. »Sei still. Damit du es nur weißt: Du wirst zwei Monate gemästet, und wenn du fett bist, ist Schluss mit Grunzen! Du endest als Braten auf dem Drehspieß.«
Das Tier quiekte entrüstet. Zum Teufel mit dem Mistvieh.
Jockel hielt eine Hand auf seine Provianttasche und trabte zügig an der vertrauten Häuserzeile vorbei. Vor dem ersten Holztor wurde er langsamer. Das erwartete Kettenklirren war zu hören, und im nächsten Augenblick blaffte der Wachhund wie von Sinnen drauflos. Jockel machte sich einen Spaß daraus, vor das Tor zu treten und das Gebell anzustacheln. Wenn er nicht länger schlafen durfte, brauchten es andere auch nicht. Das war nur gerecht.
Ein zweiter Hund, weiter entfernt, schlug ebenfalls an. Gegenüber schwang eine Fensterlade auf, und Jockel beeilte sich, fortzukommen.
Das Schwein war verflixt schwer, die Trageriemen knirschten. Jockel klemmte die Daumen darunter. Plötzlich spürte der Junge warme Feuchtigkeit auf seinem Steiß, dann bis hin zum Hosenboden. Sie kühlte rasch ab, und stechender Gestank breitete sich aus.
»Das wirst du mir büßen, Mistvieh! Du pinkelst mich an?«
Nach Rache dürstend, hüpfte er zweimal auf und ab. Und gleich nochmal! Die Holzschuhe trafen hart auf das Pflaster, das Ferkel schrie schrill und strampelte. Gut, dass Vater ihn nicht sah. Der hätte ihm nicht nur eine Backpfeife verpasst, sondern ihn auch dazu verdonnert, sein Hemd eigenhändig zu waschen. Pah.
Jockel federte in den Knien und sprang besonders hoch. Trotz der Ferkelschreie vernahm er jäh ein bedenkliches Knirschen, dessen Ursprung er auf die Schnelle nicht zu deuten wusste.
Mit einem Schlag fühlte sich der Korb leicht an.
Jockel fuhr herum und versuchte, einen Blick auf die Kiepe zu erhaschen.
Erschrocken riss er den Mund auf. Sein Magen sackte ins Bodenlose.
Das Ferkel war durch den verrotteten Boden des Korbs geplumpst. Gerade noch sah er, wie das rosige Hinterteil samt Ringelschwänzchen in hastiger Flucht in einem Spalt zwischen mehreren Fässern verschwand.
Sofort setzte Jockel dem flüchtigen Borstenvieh nach. Er war schnell, das kleine Schwein war jedoch schneller. Er folgte ihm durch einen engen Trampelpfad. Sie erreichten eine weitere Gasse, und das Ferkel bog in eine finstere Gasse ab. Abgelenkt von den fauligen Gerüchen, wurde das kleine Schwein langsamer, schnüffelte hier und da und zockelte langsamer weiter. Jockel hörte ein Klappern, als ob Holz ins Rutschen geriet. Er hielt inne und lauschte.
Eine Stimme sagte etwas, eine andere antwortete. Dort vor ihm war jemand. Mindestens zwei Leute.
Und er war allein. Er presste die Augenlider fest zusammen und betete stumm. LieberGott, mach, dass die sich nicht mein Schwein greifen! Bitte.
Jockel sah sich auf dem Boden um, doch entdeckte er auf den ersten Blick weder einen Knüppel noch sonst etwas, das der Verteidigung der eigenen Haut und der Schwarte dienen konnte. Jockel schlich voran, gleichsam geplagt von Angst und vorauseilendem Heldenmut. Wo war das Tier?
Eine unförmige Gestalt, kaum mehr als ein klobiger Schatten, lief an der Gasse vorbei. Jockel rückte Schritt um Schritt vor. Er erreichte das Ende der Gasse, sah über den Fischmarkt und hielt den Atem an.
Da war das Ferkel. Mollig rund und rosig. Anscheinend hatte es seinen Verfolger vergessen. Er ließ das Tier nicht aus den Augen. Mehrere große Planken standen schräg an eine Hausmauer gelehnt. Das Ferkel trippelte mit aufgestellten Ohren zu dem breiten Spalt, beroch interessiert dort etwas.
»Gut, gut so. Gleich hab ich dich«, flüsterte Jockel angespannt und pirschte vorsichtig und in großem Bogen an den Planken vorbei. Ha, das Viech, das ihn würde austricksen können, müsste erst noch geboren werden. Sowie das Ferkel hervorkam, würde er es packen und nicht mehr loslassen.
Jockel versicherte sich mit einem Blick über die Schulter, dass das Ferkel tatsächlich den erahnten Weg nahm. Soeben verschwand der Ringelschwanz hinter den Brettern. Na also! Sein Triumph war fast greifbar. Ein paar Schritte noch, dann fände des Ferkels Flucht ein jähes Ende. Mit hämischer Vorfreude spähte der Junge um die Planken.
Und erstarrte.
Auf den Anblick des Mannes, der leblos und nackt bäuchlings kaum zwei Armlängen von ihm entfernt neben der Mauer lag, war er nicht gefasst.
Beklommen stakste Jockel Schritt um Schritt voran, bereit, sofort in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, und doch gebannt von dem Anblick des verdreckten Leibes.
Silla legte ihr Nähzeug auf den Schoß und ließ den Blick über die Rücken der Schülerinnen vor ihr schweifen. Alle saßen sie aufrecht, die Haare zu Zöpfen geflochten, kein Flüstern oder Hüsteln war zu hören. Wie stets war es Hadewich im Handumdrehen gelungen, die Aufmerksamkeit der Mädchen für sich zu gewinnen.
Die nebelgrauen Augen der ehemaligen Berufspilgerin funkelten munter. Sie saß inmitten der Kinder und schaute von einem zum anderen. »Mein größtes Abenteuer begann in Köln. Dort lebte vor vielen Jahren ein kleiner Junge. Er wurde von seinen Eltern geliebt, besaß ordentliche Kleidung und hatte stets genug zu essen. Doch er litt unter schlimmem Fieber. Von Woche zu Woche wurde er schwächer, und schließlich war es ihm nicht mehr möglich, sein Bett zu verlassen. Seine verzweifelte Familie berief jeden Arzt, doch niemand vermochte dem Knaben zu helfen. An einem Frühlingstag bat er seinen Vater, ihn in den Garten zu tragen, auf dass das Sonnenlicht ihn wärme. Der Vater erfüllte diesen Wunsch, bettete den Jungen auf ein Lager und streckte sich neben seinem sterbenden Kind aus. Bald schliefen beide ein und erwachten gleichzeitig. Vater und Sohn hatten den gleichen Traum geträumt. Ein Tropfen aus dem Weihbecken des Klosters zu Mont Saint-Michel, auf die Stirn des Jungen gestrichen, würde ihn heilen. Habt ihr schon einmal von dieser Abtei gehört? Nein, niemand? Sie wurde auf einer Insel vor der Küste der Normandie errichtet. Der Vater war bereit, alles für das Leben seines Sohnes zu tun, doch er brachte es nicht übers Herz, ihn allein zu lassen. So bat er mich, an seiner Statt in die Normandie zu pilgern.«
»Hattet Ihr keine Angst?«, fragte ein piepsiges Stimmchen.
»Freilich. In der ersten Nacht habe ich unter freiem Himmel übernachtet und dem Heulen der Wölfe zugehört.« Hadewich unterstrich nun ihre Worte mit entsprechenden Gesten. »Doch unser Herrgott war bei mir, spendete mir Mut und Hoffnung. Am Mittag des dritten Tages bin ich auf einen Reisetross gestoßen und durfte mich ihm anschließen.«
Silla wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu, lauschte Hadewichs Abenteuern und dem eingewobenen Gotteslob. Hadewichs Religionsunterricht war bei den Mädchen deutlich beliebter als Rechnen, Lesen und Schreiben. Im Gegensatz zu Vater Johanns Predigten kam sie bei der Würdigung des Herrn ohne finstere Mahnungen aus.
Doch bald schweiften Sillas Gedanken ab.
Die lange, karge Fastenzeit war vorüber, die Sonne wärmte die Erde, und morgen Mittag würde der große Markt eröffnet werden. Die Welt kam zu Besuch nach Aachen, und das Ruhegebot des Sonntags würde außer Kraft gesetzt werden.
Im letzten Jahr hatte sie der Marktwoche in der Hoffnung auf gute Geschäfte entgegengefiebert. Da war sie noch Ehefrau gewesen. Ihr Mann hatte die berühmten Aach-Hörner hergestellt, und Silla hatte sie im eigenen Laden an Pilger verkauft. Die grünglasierten Tröten waren beliebte Mitbringsel. Sie hatten ein gutes Einkommen und konnten es sich sogar erlauben, das Lehrgeld für ihre Tochter zu zahlen. Das wissbegierige Mädchen war überglücklich, als es mit einem Verwandten die Reise nach Köln antrat, um eine Ausbildung zur Silberstickerin anzufangen.
Als sich die vermeintlich harmlose Erkältung ihres Mannes binnen weniger Tage drastisch verschlimmerte, dachte Silla sich zunächst nichts Arges dabei. Ihr Lager war gut gefüllt, einen guten Monat ließ sich mit dem Bestand überbrücken. Doch der Gesundheitszustand ihres Gemahls besserte sich nicht, und auch der hinzugezogene Arzt vermochte nichts daran zu ändern. Weder Aderlass noch Wickel noch kräftige Brühen brachten Linderung.
Sillas verzweifelte Gebete fanden kein Gehör. Zum Schnupfenfieber gesellte sich der Stickfluss, und am Ende seiner Kräfte verlor ihr Mann das Leben.
Die vorwitzige Stimme einer Gastwirtstochter riss Silla aus ihren niederdrückenden Erinnerungen. »Frau Hadewich, essen die Normannen dasselbe wie wir? Erbsenmus, gebratene Würste, Sauerkraut? Käse?«
Für einen Moment war Hadewich aus dem Konzept gebracht. »Ja, und außerdem sind die normannischen Pasteten köstlich. Also, wir bewegten uns vorsichtig durch den Wald, da brach oberhalb des Hangs ein trockener Ast. Einen Herzschlag später stürzten sich Vaganten mit Gebrüll auf uns. Gut zwei Dutzend Männer waren es, bewaffnet mit Sensen und Forken. Ihre Fratzen hatten sie mit Ruß beschmiert. Wie Teufel sahen sie aus, geradewegs der Hölle entstiegen. Ich schickte Gott dem Herrn ein Stoßgebet, nahm meinen Wanderstab fest in beide Hände, da ging einer der Kerle auf mich los und …«
Die Hand der Gastwirtstochter schoss in die Höhe. »Frau Hadewich? Womit füllen die Normannen die Pasteten?«
Silla unterdrückte ein Kichern. Hadewich blähte mühsam beherrscht die Nasenlöcher. »Mit Speck, Pilzen und Kräutern.«
»Man könnte gebratene Zwiebeln dazugeben«, schlug das Mädchen ungeachtet des entrüsteten Zischelns ihrer Mitschülerinnen vor, die auf die Fortsetzung der Erzählung warteten.
Ohne Ankündigung wurde die Tür geöffnet, und Irmel, eine farblos scheinende Schwester mittleren Alters, blickte durch das Klassenzimmer. Sie entdeckte Silla auf der Bank und winkte sie heran: »Die Meisterin verlangt nach dir.«
Das war noch nie zuvor passiert. Silla legte das Nähzeug beiseite und folgte Irmel nach draußen. Sofort ging sie im Geiste ihre kleinen Vergehen durch. Sie besaß noch einige weltliche Kleinigkeiten wie ihren Kamm und eine Fibel, die man ihr als Eitelkeit auslegen konnte. In der letzten Woche war es ihr gelungen, Gartenarbeit vorzuschieben und dadurch drei Morgenmessen zu versäumen. Und anstatt Vater Johanns elend schwere Wollkutte im Wasser zu walken, hatte sie den einzigen eingetrockneten Breifleck abgekratzt und das Kleidungsstück gründlich gelüftet. Das konnte unmöglich aufgefallen sein.
Oder doch?
Worüber genau wollte die Meisterin mit ihr sprechen?
Irmel seufzte mit bebender Stimme. »Die Meisterin erhielt vorhin eine entsetzliche Nachricht. Ach, Silla, das ist ein schrecklicher Tag für unsere Stadt.«
Ein eisiger Schauer lief über Sillas Nacken. »Ist bei uns die schwarze Pest ausgebrochen?«
»Der Himmel bewahre! Ratsherr Gunter Tulb ist heute in aller Herrgottsfrühe völlig entblößt auf dem Fischmarkt aufgefunden worden. Tot ist er außerdem. Ist das nicht furchtbar? Frau Barbara hatte Glück, in ihm einen so stattlichen Ehemann zu haben. Er hat unglaublich viel für unsere Torgrafschaft getan, dazu war er stets hilfsbereit und spendete großzügig Almosen. Außerdem war er immer gepflegt und wie aus dem Ei gepellt. Ich habe ihn noch bei der Osterprozession gesehen, in seinem prächtigen Wams, den glänzenden Stiefeln und der federverzierten Kappe.«
»Es war unmöglich, ihn nicht zu sehen. Der halben Gemeinde hat er seine Pfauenfedern durch die Gesichter gewischt.«
Irmel tupfte sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel. »Der Ratsherr hat wie ein König ausgeschaut, stolz und erhaben.«
»Angeberisch und gefallsüchtig, träfe es meiner Meinung nach besser«, sprach Silla ihre Gedanken aus und biss sich sofort auf die Lippe. Zu spät, die Worte waren heraus.
Irmel hob ihre Stimme und ihr Kinn. »Es stünde dir gut zu Gesicht, dich in Freundlichkeit, Bescheidenheit und Demut zu üben, sonst bringst du noch Ärger über uns alle.«
Silla schwieg, um zu sie zu besänftigen. Seite an Seite eilten die Frauen in das Haupthaus. Am Fuß der Treppe zum ersten Stock wandte sich Irmel wortlos in Richtung Küche, Silla stieg die Stufen hinauf, die zum Arbeitszimmer der Meisterin führten.
Jedes Jahr wählten die Beginen unter den ihren eine, die sie anführte. Hilda von der Taube stand den Beginen nun schon im sechsten aufeinanderfolgenden Jahr vor, und nach Sillas Dafürhalten machte sie ihre Arbeit gut. Doch das Amt brachte es mit sich, dass die Meisterin auch Entscheidungen fällen musste, die bei einigen Schwestern Unmut hervorriefen. Aber nicht einmal die Mutter Gottes würde es allen Frauen recht machen können.
Silla klopfte an und wurde in die Stube gerufen.
Die Meisterin hielt eine Schreibfeder in der Hand und war in ein Buch vertieft. Mit einem Handzeichen bat sie um einen Moment Geduld. Das gesetzte Alter, die schwere körperliche Arbeit und das enthaltsame Leben hatten Hilda von der Taube geprägt, doch ihr Verstand war ungetrübt. Überdies war sie so willensstark, dass es zuweilen an Halsstarrigkeit grenzte. Vor allem dann, wenn sie sich für die Belange des Konvents einsetzte.
Obschon das Zimmer als eines der wenigen im Haus Glasfenster besaß, erfüllte es Sillas Vorstellung einer Bärenhöhle. Die Täfelung war dunkel, ebenso der Fußboden und die Möbel. Selbst das hölzerne Kreuz hob sich farblich kaum von der Wand ab.
Meisterin von der Taube trug wie ihre Mitschwestern die Beginentracht, welche aus einem einfachen Unterkleid und einer darüber gezogenen braunen Tunika mit zwei seitlich eingenähten Stoffkeilen bestand. Das Haar wurde von einer hellen Haube bedeckt, darüber ein ebenfalls brauner Schleier gesteckt.
Hilda von der Taube stellte die Feder in ein Tintenfass und sah Silla abwägend an. »Dein Schleier sitzt schief, und eine Haarsträhne schaut hervor. Das ist nachlässig. Wir können beide nur hoffen, dass dich Vater Johann nicht gesehen hat. Es vergeht auch so kaum ein Tag, an dem er keine Beschwerde vorbringt. Aber das ist eine andere Sache. Du weißt, dass der Ratsherr Gunter Tulb unerwartet verstorben ist?«
Silla korrigierte ihre äußere Erscheinung. »Irmel erzählte es mir auf dem Weg hierher.«
»Mit nichts anderem habe ich gerechnet. Sie war dabei, als Frau Barbaras alte Magd Anna die Nachricht überbrachte. Tulbs Witwe hat die Absicht, den Leichnam noch heute vor den großen Stadtrat bringen zu lassen und dort Anklage wegen Mordes zu erheben. Hierfür muss der Leichnam vorzeigbar hergerichtet werden. Ich habe dir selbst gesagt, dass wir derlei Dienste nicht übernehmen, um die Totenwäscherinnen nicht um Lohn und Brot zu bringen, doch wir machen diesmal eine Ausnahme. Du hast bei unserem ersten Gespräch erwähnt, dass du dich selbst um die Grablege deines verstorbenen Mannes gekümmert hast. Demnach sind dir weder der Leib eines Mannes noch die Vorgehensweise einer Leichenwaschung fremd. Ich habe deine umgehende Hilfe zugesichert, und ich gehe davon aus, dass du deine Arbeit ordentlich erledigst, denn Frau Barbara bat ausdrücklich darum, dass du diese Aufgabe übernimmst. So ich Anna richtig verstanden habe, gibt es in dem Haushalt seit kurzem eine Jungmagd namens Mettel. Sie hat dich ihrer Herrin empfohlen. Du kennst sie, nicht wahr?«
Dies erklärte so einiges. Silla nickte. »Mein Mann hat Mettel in einem kleinen Weiler aufgelesen. Sie tat ihm leid. Zerlumpt war sie, hatte kaum Haare, und ihre Verletzungen an Armen und Beinen waren mitleiderregend. Niemand im Dorf wusste angeblich, wo sie hingehörte. Dumm sei sie, lästig und aufdringlich, drum wurde sie von den Dorfbewohnern vertrieben, sobald sie sich den Ställen oder Scheunen näherte. Mein Mann hat das Mädchen kurzerhand mitgebracht.«
»Aber sie hätte dennoch zu jemandem gehören können.«
Silla dachte an den entsetzlichen Moment, als sie Mettel aus den Lumpen geschält hatte. Einen geschundeneren Leib hatte sie nie zuvor gesehen. Die Dörfler hatten es nicht dabei belassen, mit Steinen nach ihr zu werfen. Es grenzte an ein Wunder, dass das Mädchen nicht das Zutrauen in ihre Nächsten verloren hatte.
»Nein, dieses Menschenkind hatte niemanden. Zumindest niemanden, der es gut mit ihm meinte. Die Kleine kannte nicht einmal ihren Namen. Die Dörfler hatten sie Bettel geschimpft, und sie wiederholte dieses Wort ständig. Bei uns wurde sie Mettel. Ich war froh, sie bei mir zu haben. Meinem Erstgeborenem waren bloß acht Wochen auf dieser Welt vergönnt gewesen, und meine Tochter war bereits dreizehn und längst alt genug, um ihre Ausbildung zu beginnen. Ich habe Mettel als Magd in meine Dienste genommen. Ich unterwies sie im Kochen und Haushalten, und Mettel lehrte mich, auch an unscheinbaren Dingen Freude zu haben. Es war eine gute Zeit, auf die eine schlechte folgte. Nach dem Tod meines Mannes war ich gezwungen, den Haushalt aufzulösen. Mettel war zu jung, um sie hierher mitzubringen. Sie wollte mir keine Last sein und suchte sich eigenständig eine neue Arbeit als Küchenmagd. In einem Patrizierhaushalt, soweit ich weiß.«
Die Meisterin sah Silla mitfühlend an. »Nun ist sie jedenfalls im Haushalt der Frau Barbara beschäftigt. Tulbs Haus steht in der Bendelgasse. Es wird sich leicht finden lassen. Die Magd erwähnte einen polierten Türklopfer, und gegenüber betreibt ein Drechsler seine Werkstatt. Nimm, was du brauchst, von hier mit.«
»Das werde ich, Meisterin.« Silla öffnete die Tür und lief geradewegs Vater Johann von Cosenberg in die Arme. Der hagere Mann verzog die dünnen Lippen, schob Silla mit sichtlicher Abscheu beiseite und drängte sich an ihr vorbei. Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Auf ein Wort, Meisterin. Die Zustände unter Eurer Führung ...«
Die Tür fiel laut ins Schloss und verschluckte jeden weiteren Satz. Vater Johann war ein kleingeistiger, nörglerischer Mann, doch er war gleichzeitig ihrer aller Hirte und Beichtvater.
Leider.
Im Laufe ihrer zweiunddreißig Lebensjahre hatte Silla die Erfahrung gemacht, dass sich unangenehme Arbeiten nicht aufgrund inbrünstiger Wünsche in Luft auflösten. Das einzig Gescheite war, den sprichwörtlichen Stier bei den Hörnern zu packen, die Ärmel aufzukrempeln und die Pflicht zu erfüllen.
Im Geiste erstellte sie eine Liste der benötigten Dinge, holte aus der Küche einen Weidenkorb und begab sich zur Wäschekammer. Während die makellosen Stoffe verkauft wurden, nutzten die Frauen die fehlerhaft gewebten für den eigenen Bedarf. Aus ihnen suchte Silla ein halbes Dutzend Leinentücher heraus.
Der nächste Weg führte sie in die Kräuterkammer. Der Holzverschlag befand sich auf der Rückseite der Herdstelle und war zu jeder Jahreszeit warm und trocken. Den Korb in der einen Hand, eine leere Keramikflasche in der anderen, drückte sie die Tür mit der Schulter auf.
Auch ohne Laterne fand sie sich bestens zurecht. Getrocknete Kräuterbündel hingen, luftig gebunden, kopfüber an Schnüren von der Decke herab. Auf zwei Tischen standen irdene und gläserne Phiolen, Mörser, Reibe, Löffel und eine Reihe verschiedener Behältnisse, die allerlei Essenzen enthielten.
Silla entknotete eine Kordel, lupfte das Wachstuch und schnupperte. Unter mehreren Düften wählte sie das Rosenwasser, füllte etwas davon ab und legte die verschlossene Flasche ebenfalls in den Korb.
Das sollte genügen, um einen Leichnam zu waschen. Was jetzt noch fehlte, würde Frau Barbara aus ihrem eigenen Haushalt beisteuern müssen. Silla bedeckte den Inhalt des Korbs mit einem Tuch und verließ Sankt Stephan durch die schmale Pforte, die ausschließlich von Schwestern genutzt wurde. Diese öffnete zur Hartmannstraße.
Es war, als beträte sie eine andere Welt.
Eben noch von Stille und Beschaulichkeit umgeben, fand sie sich nun in wildem Gewühl wieder. Jedermann schien es eilig zu haben, schob und drängelte auf Tuchfühlung mit dem Vordermann. Obendrein rollten hochbepackte Wagen über die gepflasterte Straße. Die Nasen der Zugtiere berührten beinahe den Karren des Vorausfahrenden. Ganz gleich ob Peitschen knallten oder die Fuhrwerker schimpften, es ging nicht rascher voran.
Silla überholte eine kleine Ziegenherde, und ab dann kam sie besser voran. Ein rotgesichtiger Schnösel fing instinktiv einen auf ihn zu taumelnden Trunkenbold auf. Der augenscheinlich Hilflose legte seinem Retter vertrauensvoll einen Arm auf die Schulter, dankte ihm überschwänglich lallend und fingerte wahrscheinlich gleichzeitig mit flinken Fingern nach dessen Geldbeutel. Auch wenn es wehtat: Üble Erfahrungen waren die beste Lehre.
Silla umklammerte den Korb. Niemand sollte sich einfallen lassen, sich an dessen Inhalt zu bedienen. Ihr Weg führte sie am Grashaus vorbei, und wie so oft lief ihr angesichts des früheren Rathauses ein kurzer Schauder über den Nacken. Aufgrund der dicken Mauern und der winzigen Spitzbogenfenster hatte man das Gebäude kurzerhand zum Gefängnis umfunktioniert. Die schlimmsten Verbrecher, so hieß es, befänden sich im berüchtigten Hansenloch, wo sie in Finsternis ihre Verbrechen sühnten.
Von dort waren es nur wenige Schritte zum Fischmarkt.
Silla hielt inne und ließ ihren Blick über den Platz schweifen. Der bevorstehende Markt warf seine Schatten voraus. Stände wurden errichtet und Bottiche aufgestellt. Schaubegierige waren unterwegs, und manch einer hoffte, vor der offiziellen Eröffnung ein heimliches Geschäft abzuschließen, obgleich dies streng geahndet wurde.
Wo mochte der Leichnam gelegen haben, als man ihn fand?
Silla machte unter den Marktknechten einen aus, der ihr vertrauenswürdig schien. »Hat einer von euch heute Morgen den Toten gefunden?«
Der Mann zeigte nach rechts. »Das war Frenz. Der Dürre mit der dunklen Bundhaube.«
Silla ging in die angegebene Richtung. Zwei Knechte richteten ein Fass aus. Einer hielt es in der Waage, während der zweite einen Keil unter den Boden schob, sodass es nun auf dem unebenen Kopfsteinpflaster gerade stand. Der Knecht kam auf die Füße, drückte auf das Fass und nickte seinem Spannmann zu. »Ist gut so.«
»Du bist Frenz?«
Der Tagelöhner legte eine knorrige Hand auf die Bundhaube, setzte sie auf dem Schädel vor und zurück und beäugte sie skeptisch. »Ja, gute Schwester.«
Seine Antwort klang wie eine Frage. Frenz war von drahtiger Statur und trug einen grauen Kinnbart, der aussah, als hätten Mäuse daran genagt. Silla trat ein paar Schritte beiseite, um anderen Arbeitern nicht im Weg zu stehen. »Hast du den Leichnam des Herrn Tulb entdeckt?«
»Warum fragst du?«
»Die Witwe würde gerne Näheres wissen, aber es geziemt sich nicht, dass sie selbst hier umhergeht«, verbog Silla die Wahrheit zu ihren Gunsten.
»Schon recht. Aber beim Reden wird mir der Mund trocken«, antwortete der Knecht mit rauer Stimme und der Andeutung eines Grinsens.
Was Vater Johann nicht wusste, brachte ihn nicht auf. »Geht mir nicht anders«, pflichtete Silla ihm bei.
Nur einige Schritte entfernt gab es ein Brauhaus mit einem Balkenausschank.
Der Stehausschank wurde meist von Menschen genutzt, die kein eigenes Trinkgefäß an ihrem Gurt mit sich führten oder deren Kleidervorschrift, wie auch Sillas Tracht, erst gar keinen vorsah. Die Humpen waren an armlangen Ketten befestigt, deren Enden man wiederum am Gebälk festgenagelt hatte. War das Bier gezahlt und das Trinkgefäß geleert, wischte eine Magd mit einem Lappen über den Rand und wartete auf den nächsten Gast. Silla und Frenz erwischten zwei freie Humpen nebeneinander.
Das Grutbier war dunkel und bitter, ganz so wie Silla es schätzte. Frenz nahm einen ausgiebigen Schluck und wischte mit dem Ärmel über seine Lippen. »Nicht ich habe den Herrn gefunden. War ein Bürschchen von vielleicht zehn oder elf Jahren. Ich hab den Ratsherrn sofort erkannt, ist ja in der Scherptorgrafschaft bekannt wie ein bunter Hund. Nackt war er und voller Straßendreck. Bin kein Medikus und will’s nicht beschwören, aber ich würde meinen, ihm wurde der Schädel kaputtgeschlagen. Zusammen mit zwei anderen haben wir ihn auf einen Karren gehievt und zu seiner Frau gebracht.«
»Hast du in seiner Nähe etwas liegen sehen, das eine solche Wunde verursacht haben könnte?«
»Einen Stein oder einen Knüppel meinste? Nee, Schwester, da war nichts. Die Diebe waren nicht zimperlich mit dem Leichnam umgegangen, müssen ihn hin und her gezerrt haben, um ihn aus dem feinen Zwirn zu schälen. Der Tulb ging stets mit Vorliebe in seinem blauen oder grünen Wams und roten Beinlingen umher. An seinem Gürtel schaukelte immer eine fette Börse, und an seiner Kappe steckten schillernde Federn.«
Diese Bemerkung deckte sich mit Sillas eigener Beobachtung. »Er hätte sich gewiss nie vorgestellt, am Ende des Lebens mit bloßer Haut im Unrat zu liegen.«
»Ein bunter Gockel wie der? Nie und nimmer. Vielleicht kam er bloß, um nach dem Rechten zu sehen. Es sind Markttage, und er war der Fischbeschauer, genau wie letztes Jahr.«
»Der Ratsherr?«
»Nur zu, frag herum, wenn du mir nicht glaubst. Während der Markttage geht’s immer hoch her, da gibt’s immer einige, die Federn lassen müssen. Aber davon, dass ein hoher Ratsherr massakriert wird, hab ich im Lebtag noch nicht gehört. Das ist kein gutes Zeichen, Schwester, ganz und gar nicht. Es gibt nun viele Leute in der Stadt, hiesige und fremde, und wenn ein Deiwel dabei ist, sieht’s man ihm nicht an.«
»Habt ihr gestern schon mit dem Aufbau angefangen?«
»Nee. Hier ist nicht viel zu erledigen. Heute bringen wir nur einige Bottiche und die Holzplanken, das ist rasch erledigt. Ich werde heute Nacht Wache schieben, und morgen früh holen wir die restlichen Waren aus dem Lagerhaus auf der Krähenau.« Frenz leerte den Humpen. »Nichts für ungut, Schwester. Ich muss weiter.«
Silla schaute mit Bedauern auf ihren halbvollen Humpen. »Ich auch, Frenz, ich auch.«
***
In den engen Gassen rund um den Dom verhinderte erneut dichtes Gedränge ein rasches Vorankommen. Ein junger Mann debattierte mit einem Händler, dessen ausladende Gesten einem Träger den Hut vom Kopf fegten. Silla konnte nur knapp ausweichen und nutzte eine Lücke zwischen zwei Rücken, um voranzukommen. Abermals hielt sie den Korb eng an sich gedrückt, und nachdem sie einige Knüffe eingesteckt hatte, wuchs ihre Bereitschaft, ebenfalls auszuteilen.
Selbst in den engen Nebenstraßen waren Menschen, Tiere und hochbeladene Zugwagen unterwegs. Wo kein Ochsengespann hindurchpasste, schoben sich Tagelöhner und Kiepenträger aneinander vorbei. Kleinere Wagen wurden meist von Kindern, Hunden oder Ziegen gezogen. Fremde Sprachen, laut, schnell und hart gesprochen, schienen einander anzufeinden, doch gleich darauf lachten die Menschen gemeinsam.
Noch ähnelten die wenigen Stände verblichenen Gerippen, doch bald würden die aufwändigen Konstruktionen von gezurrten Planen bedeckt werden, um Kunden und die Waren besser vor Regen, Sonne und gierigen Händen zu schützen.
Der Duft des frisch gedrechselten Holzes lotste Silla in die richtige Richtung. Aber das Werkstattareal war langgezogen und gleich fünf Häuser kamen als Gegenüber in Frage.
Sie schlängelte sich zwischen einem Eselskarren und einem Ochsenfuhrwerk hindurch und sprach eine Frau an. »Ich suche das Haus des Ratsherrn Tulb.«
Diese gestikulierte ein Nichtverstehen und setzte ihren Weg fort. Ein junger Bengel, der die Frage gehört hatte, hielt ihr sogleich die hohle Hand hin. »Ich weiß es. Das kostet aber einen Pfennig!«
»Den Gegenwert von sechs Eiern für eine simple Antwort?«
»Ich bringe Euch auch hin, versprochen! Aaauh!« Das Bürschlein bückte sich mit abgespreizten Armen unter dem Nackengriff eines breitschultrigen Mannes. Dessen lockiges Haar war ebenso dunkel wie sein Bart, und die wettergegerbte Haut verriet, dass er sich vorwiegend im Freien aufhielt. Groll glomm in seinen Augen. Er schüttelte den Jungen und herrschte ihn an: »Beantworte die Frage der Schwester, so wie es jemand machen würde, der einen Funken Ehre im Leib hat.«
Der Bengel zappelte und streckte einen Arm aus. »Da, da, dort!«
»Nochmal. Diesmal mit einem gerüttelt Maß an Respekt und Freundlichkeit.« Das gerüttelt nahm der Mann sehr wörtlich.
»Frau Nonne, der Tu-, der edle Herr Tulb wohnt gleich hier, bitte sehr.« Der Junge deutete auf das Haus, vor dem sie standen. »Aber der ist …«
Aus dem Haltegriff entlassen, spurtete der Jungen drauflos, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Silla sah ihm kopfschüttelnd nach, wollte ihrem Helfer danken, doch der Mann war schon einige Schritte entfernt. Dann eben ohne Dank!
Silla versicherte sich, dass ihr Schleier ihr Haar bedeckte, und betrachtete gleichzeitig das Gebäude. Tulbs Haus wirkte, als würde es von den breiteren Nachbarbauten erdrückt. Gerade einmal acht Schritte war es breit. Die beiden oberen Etagen besaßen bleigefasste Butzenscheiben.
Es gab zwei Eingänge, eine große Pforte für die Herrschaft und eine niedrige Tür für die einfachen Leute. An dieser klopfte Silla an, und fast umgehend wurde ihr von einer alten, knochigen Frau geöffnet. Die Dienerin trug einen grauen Kittel und eine unförmige Haube, die den größten Teil ihres silbrigen Haars bedeckte. Ihre wässrigen Augen und Nase waren gerötet. Sie sah nach links und rechts, dann erst richtete sie das Wort an Silla.
»Du bist nicht der Pfarrer«, stellte sie enttäuscht, aber trefflich fest.
Silla nannte ihren Namen, und die Magd ließ sie ins Haus. »Der Herr ist im Halbkeller aufgebahrt. Frau Barbara wollte nicht, dass die Männer ihn über die steile Stiege nach oben tragen. Komm, ich bringe dich hin.«
Nach wenigen Schritten wich die Enge, und vor Silla eröffnete sich eine Küche, die üppig eingerichtet war. Geöffnete Fensterläden ließen Tageslicht ein. Mehrere Metallkörbe, die Zwiebeln, Knoblauch, Eier und Würste enthielten, hingen zum Schutz vor Schädlingen an Haken von der Decke. Im hinteren Bereich, längs an der Wand, standen zwei Betten für die Mägde. In beiden lehnten dicke Kopfkissen, die dafür sorgten, dass die Dienstleute im Sitzen schlafen konnten. So ließ sich verhindern, dass zu viel Blut in den Kopf floss und arglose Schläfer zu Tode kamen. Eine Gepflogenheit, die Silla aufgegeben hatte, weil sie sich viel lieber lang ausstreckte.
Der alte Magd blieb stehen, hielt sich an einer Tischkante fest und deutete auf einen Durchgang. »Dort hinein. Ich muss wieder nach vorn, um auf den Gottesmann zu warten.«
Der Halbkeller befand sich hinter der Küche. Obwohl nur sechs Stufen hinabführten, war es hier spürbar kühler. Durch einen handhohen Schlitz fiel kaum Licht in den Raum, zudem war er mit einem Metallgeflecht gegen Nagetiere gesichert.
An einer Seite standen hohe Keramiktöpfe, in denen dem Geruch zufolge Sauerkraut und ähnliches eingelagert war. Andere Gefäße, Körbe und Mollen waren in unordentlicher Hast darauf abgestellt worden, um Platz für einen Tisch zu schaffen. Silla verharrte kurz.
Im Licht mehrerer Kerzen lag der Verstorbene auf dem Rücken, die Arme gerade neben sich. Er war bis auf ein Tuch, welches die Scham bedeckte, entkleidet.
Mettel kehrte Silla den Rücken zu. Sie trug einen erdbraunen Kittel, und ihr sandfarbenes Haar fiel ihr zu einem Zopf gebunden über den Rücken. Konnte es sein, dass das ohnehin schmale Mädchen noch mehr Gewicht verloren hatte?
Mettel wusch in einer Schüssel Leinenstreifen aus, die sie an Frau Barbara weiterreichte. Diese tupfte dem Leichnam halbherzig über den Brustkorb, als wisse sie nicht, was zu tun sei, oder als habe sie die Kraft verlassen.
»Frau Barbara? Ich bin Sibilla von Thierschütz, Begine zu Sankt Stephan. Meine Meisterin schickt mich, Euch zur Hand zu gehen.«
Mettel fuhr herum und lächelte überschwänglich. Auf ihrer blassen Haut sprossen zwei leuchtende Pickel, die Haut um die Nase glänzte speckig, und unter ihrem Schurz ließen sich Brüste erahnen. Mettels Körper reifte zu einer jungen Frau heran.
Doch ihre Augen waren noch die des Kindes, das sie kannte.
Barbara warf ihrer jungen Magd einen abgründigen Blick zu, legte das Leinen beiseite und trocknete ihre Hände. »Endlich. Gut, dass du da bist.«
Silla hoffte inständig darauf, später die Gelegenheit zu haben, ein paar Worte mit dem Mädchen zu wechseln, doch nun galt es, ihre Arbeit zu erledigen. Sie reichte Mettel den Behälter mit dem Rosenwasser. »Sei so gut und gib dies in eine Schüssel.«
»In zwei Schüsseln«, korrigierte Frau Barbara kühl. »Ich werde nicht tatenlos dabeistehen. Und bringe frisches Wasser. Flugs!«
Mettel verließ den Raum. Silla trat an ihren Platz und betrachtete den Toten.
Seiner edlen Kleiderpracht beraubt, wirkte Tulb fremd und älter. Trotz der zurückliegenden Fastenzeit war er gut ernährt, doch nicht fett oder gar schwammig. Die geschlossenen Lider bedeckten die durchdringend blauen Augen. Gunter Tulbs schütteres Haar war schulterlang, der Schädel dort, wo er gewöhnlich von einer pelzverbrämten Kappe bedeckt war, kahl. Silla betrachtete die kaum sichtbare Wunde näher. Ein Spalt klaffte in der Haut, gab den Blick auf den Knochen frei. Das Hauptausmaß der tödlichen Verletzung würde wahrscheinlich erst sichtbar werden, wenn der Leichnam auf dem Bauch läge. Des Weiteren entdeckte sie dunkle Flecken auf den Oberarmen.
Silla spürte Barbaras Blick. Die Witwe hatte ihre Jugend hinter sich gelassen, doch selbst in ihrer Trauer war ihre frühere Schönheit zu erahnen. Ihre reine Haut, ihre Größe und ihre anmutige Figur entsprachen dem Ideal der Zeit. Ihre Stimme war angenehm, wenn auch leicht verwaschen, als habe sie auf dem Grund eines Bechers nach Trost gesucht. »Mettel sagte, du habest Erfahrung im Herrichten von Verstorbenen?«
Mettel hatte übertrieben, aber es waren nicht Zeit und Ort, dies richtigzustellen. Silla begnügte sich mit einem Nicken.
Barbara seufzte. »Wer hätte ahnen können, dass so etwas Grausames geschieht? Als man den Leichnam meines Gemahls fand, war er schon kalt. Mein armer Mann starb, ohne seinen Frieden vor Gott gemacht zu haben. Ich muss ständig daran denken, dass ich ihn gestern Abend zur Nacht verabschiedet habe, ohne zu ahnen, dass ich ihn zum letzten Mal lebend sah.«
»Wohin war Euer Mann unterwegs?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe schon geschlafen. Ein Bote brachte ihm eine Nachricht, sagte Anna. Es wird etwas mit dem Markt zu tun gehabt haben. Die Vorbereitungen erfordern viel Zeit, und je näher die Markteröffnung rückt, umso dringlicher die Probleme. Andauernd hat jemand eine Frage, und von früh bis spät müssen Entscheidungen getroffen werden. Meinen Mann stört … störte dies nicht, er half, wo er konnte.«
Mettel kehrte mit einer zweiten Schüssel zurück und strahlte Silla an. Silla schüttelte fast unmerklich den Kopf, sah betont zu dem Leichnam, und das Mädchen begriff. Die Mundwinkel sackten herab, doch ein paar Herzschläge später kehrte das versonnene Lächeln zurück.
Barbara entging dies nicht: »Mettel, geh. Kümmere dich um den Abwasch und bringe uns später einen kleinen Krug Rotwein. Aber vergiss nicht wieder, vorher die Gewürze herauszunehmen. Schwester, was habe ich zu tun?«
»Fürs Erste lasst uns den Tisch so weit von der Wand ziehen, dass jede von uns an einer Seite stehen kann. Außerdem brauchen wir mehr Licht.« Silla entpackte die Tasche und erklärte mit ruhigen Worten die notwenigen Schritte. Barbara hörte aufmerksam zu, doch sie scheute sich davor, der Kopfwunde nahe zu kommen. Der Leichnam war bereits starr, und Silla beschrieb die Handgriffe, die nötig waren, um die Gelenke wieder einigermaßen geschmeidig zu massieren. Eine Weile arbeiteten die Frauen stumm, dann schlüpfte Silla die Frage über die Lippen, die sie beschäftigte. »Frau Barbara, wie geht es Euch?«
»Wie würde es dir gehen, wenn du in aller Herrgottsfrühe von deiner Magd geweckt wirst und sie dir mitteilt, dass dein Ehemann, den du in seinem Bett vermutest, tot auf einem Karren liegt, der vor dem Haus steht?«
»Furchtbar. Ihr seid sehr gefasst.«
»Beherrschtheit ist Teil meiner strengen Erziehung, ebenso wie die Tugenden der Einfältigkeit, Gehorsamkeit, Sanftheit und Leichtgläubigkeit, die jeder Ehefrau gut zu Gesicht stehen. Mein Gemahl wusste die Eigenschaften meines Wesens zu schätzen.«
»Und wusstet Ihr Euren Gemahl zu schätzen?«
»Dies gehörte ebenso zu meiner Erziehung.«
»Hatte Euer Mann Feinde?«
»Nicht in diesem Haus. Was sich außerhalb abspielte, blieb dort. Mein Mann ließ mir Rücksicht angedeihen und schützte mich vor Aufwühlendem. Und ich hielt es so mit dem, was im Haushalt geschah, ganz so, wie es einer Hausfrau geziemt.«
»Euer Mann wurde bis auf die Haut geplündert. War er für einen einfachen Kontrollgang gut gekleidet oder seine Börse gefüllt?«
»Streiche das oder, dann hast du deine Antwort. Mein Gemahl war ein wohlhabender Mann, und er war Mitglied des Stadtrats. Er ging nie in Sack und Asche, das wäre einfach lächerlich. Bisher waren unsere Straßen und Gassen sicher, aber mit all den Fremden ist Geschmeiß in die Stadt gekommen, das die Gesetze nicht achtet und das sich im Schutz der Menge sicher fühlt. Raubmörder haben meinen armen Mann aus dem Leben gerissen. Doch wo kein Kläger, da kein Richter, und deshalb ziehe ich mit meinem toten Ehemann vor den Rat. Ich will die Bestien am Galgen hängen sehen. Mach hier weiter, ich werde angemessene Kleidung holen. Der Pfarrer müsste jetzt jeden Moment hier sein, um mich zum Rathaus zu begleiten.«
Silla begutachtete kritisch das Ergebnis der Rasur. Dafür, dass es ihr an Übung fehlte, war sie gut gelungen. Sie wusch das Messer, trocknete es und legte es zurück in den Korb. Leises Klirren ließ sie zur Tür blicken. Mettel balancierte, den Blick auf ihre Last gerichtet, einen glasierten Tonkrug und zwei edel anzuschauende Gläser auf einem Tragebrett. Dann hob sie den Kopf. »Frau Silla, ich …«
Mettel stolperte voran, Krug und Gläser rutschten bedenklich nach vorn. Silla schaffte es um Haaresbreite, deren Absturz zu verhindern. Sie nahm ihr das Tablett ab und stellte es fort. Mettel war zur Salzsäule erstarrt, und Silla legte dem Mädchen beruhigend eine Hand auf den Oberarm. »Alles ist gutgegangen, und Frau Barbara hat nichts gesehen.«
Mettel atmete tief ein, aber ihre Schultern sackten noch tiefer. »Diesmal nicht. Aber sie weiß, dass ich ein Trampel bin. Sie sagt das auch oft.«
Silla versicherte sich, dass niemand in der Nähe war. In deren eigenem Haus mit einer Magd über die Hausherrin zu tratschen, war nichts, wobei sie sich erwischen lassen wollte. »Ich bin froh, dich zu sehen. Wieso bist du hier? Du hast doch in einem der großen Häuser am Markt gearbeitet. Immer, wenn ich dort vorbeikam, habe ich an dich gedacht. Ich habe sogar einmal geklopft, aber ich habe niemanden angetroffen.«
»Ich war da nur acht Tage«, bekannte das Mädchen zögerlich.
»Aber weshalb?« Silla legte einen Finger unter Mettels Kinn. »Schau mich an. Du bist fleißig und ehrlich. Was ist passiert?«
»Die Köchin schickte mich, zwei Hühner zu schlachten.«
Silla ahnte, was geschehen war. »Du hast es nicht übers Herz gebracht?«
Mettel versteifte sich. »Das waren zwei hübsche Haubenhühner, ganz junge Hennen. Ich hab sie weggebracht.«
Genau wie befürchtet. »Ach, Mettel. Du hast sie gestohlen.«
»Ich habe sie weggebracht«, wiederholte das Mädchen bockig. »Es wäre dumm, die Hühner zu schlachten. Die Haubenhennen haben fleißig gelegt. Ein totes Huhn macht aber nur einmal satt und dann nie wieder. Aber die Köchin hat mir nicht zugehört. Die Hausfrau hat gezetert, und als Entschädigung behielt sie mein neues Leinenhemd und hat mich weggeschickt. Ich habe auf der Straße jeden gefragt, ob er mich brauchen kann.«
»Wie lange, Mettel?«
»Zwei Tage, dann habe ich den Herrn angesprochen, und er hat mich mitgenommen. Frau Barbara wollte mich nicht haben, aber Anna hat sich gefreut, dass sie nun Hilfe hatte. Sie hat mir hier alles gezeigt und lässt mich auch schon viele Arbeiten allein machen.«
Silla fühlte einen Knoten in ihrem Magen. Wieso nur hatte sie geglaubt, dass alles in Ordnung sei? Der Gedanke, was dem Mädchen alles hätte widerfahren können, verursachte ihr Übelkeit. Sie nahm Mettel bei den Schultern und sah sie ernst an. »Zwei Tage! Ach, Mettel. Du weißt, wo ich nun lebe, und ich habe dir gesagt, dass du immer zu mir kommen kannst, ganz gleich, ob du ein Problem oder auch keines hast. Warum hast du dies nicht getan?«
»Ich war da, an der großen Wiese, und ich wollte gerade eine Frau nach Euch fragen, da hat mich ein Kirchenmann im Genick gepackt und mich zur Pforte gezogen. Ich habe ihm gesagt, dass ich zu Euch möchte, aber er meinte, dass es in Sankt Stephan keine Frau Silla gäbe und ich mich fortscheren solle. Ich habe ihm geglaubt. Hat er mich beschummelt?«
Beschummelt, ja, das war Mettel. Sie hatte ein eigenes, recht einfaches Bild von der Welt, und ein verlogener Geistlicher würde sie arg durcheinanderbringen. »Vater Johann hat täglich mit vielen Menschen zu tun. Bestimmt hat er meinen Namen vergessen.«
Mettel riss die Augen auf. »Oh! Daran habe ich nicht gedacht.«
Silla hörte ein leises Knirschen. Sie legte ihren Finger auf die Lippen und bedeutete Mettel, still zu sein. Barbara duckte sich unter dem Türsturz, trat in den Lichtkreis und bedachte Mettel mit einem leidgeprüften Blick. »Wen wundert es, Denken ist nicht deine Stärke. Dich um den Abwasch zu kümmern beinhaltet auch, das schmutzige Spülwasser auszukippen und das saubere Geschirr fortzuräumen, Mettel. Ich werde dir das nicht jeden Tag aufs Neue sagen.«
Mettels Wangen nahmen eine fleckige Farbe an. Sie knickste wackelig und stob davon.
Frau Barbara sah ihr nach, legte den Kleiderstapel ab und trat einen Schritt beiseite. »Was meinst du, Sibilla von Thierschütz? Ist dies angemessen für den Rat? Diese trug mein Mann zu Lebzeiten gern.«
»Dann ist sie richtig.« Silla besah die edle Gewandung. Es handelte sich um feinste Wirk- und Nadelarbeit. Der schwere Umhang war aus blauem Samt gefertigt, mit goldfarbenen Borten und einer Pelzverbrämung verziert. Darin gebettet lagen ein gelbes Hemd und grüne Beinkleidung, beides aus weich anmutendem Material. Silla beugte sich vor und rieb daran, ohne etwas herauszufinden. »So einen Stoff habe ich noch nie gesehen.«
»Kostbare Wolle aus dem Morgenland. Sie stammt nicht von Tieren, sondern wächst auf Bäumen, lässt sich sauber spinnen und beliebig einfärben.«
Silla hätte die merkwürdige Antwort gerne hinterfragt, aber dies war jetzt nicht angebracht. Barbara faltete die Hände vor ihren Lippen und betrachtete den Verstorbenen lange und still. Mit zittrigem Finger strich sie mit den Fingerrücken sanft über die Wange ihres Mannes. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Du hättest gerne noch gelebt, das weiß ich. Dein Tod soll nicht ungesühnt bleiben.«
Aus dem Haus waren Stimmen zu hören, eine davon war eindeutig männlich.
Der Pfarrer war eingetroffen.
***
Die Kirche, deren Chorraum zur Straße ausgerichtet war, vier aneinander gebaute Wohnhäuser, sowie das Schulhaus bildeten die Front von Sankt Stephan. Unterbrochen wurde diese von einem doppelflügeligen Tor und dem Pfortenhäuschen. Der Beginenhof summte und brummte vor Betriebsamkeit. Die beiden Esel sowie die Ziegen und Schafe waren vorübergehend neben dem Wirtschaftshaus untergebracht, um Platz für die Pferde der Reisenden zu schaffen. Die große Bleichwiese war von einem Rebenspalier umgeben. Hinter diesem standen neunzehn einfache Katen. Die Statuten sahen vor, dass jede der Frauen allein lebte und selbst für den Erhalt ihrer Unterkunft zuständig war. Die derzeit ungenutzten Häuser fungierten als Gästequartiere und waren allesamt über die Dauer des Marktes vergeben.
Sillas Magen knurrte laut und erinnerte sie daran, dass sie seit dem Frühmahl nichts mehr gegessen hatte. Von allen Räumen des Hofes mochte Silla die Küche am liebsten, und wie erhofft traf sie Hadewich hier an. Die Fensterläden waren weit geöffnet. Hadewich saß an einem der Tische und trug zum Schutz gegen die einströmende Zugluft ihr Schultertuch. Silla bemerkte einen Bottich, hoch voll mit geschnittenen Zwiebeln. Daneben standen drei Krüge Rahm, das Honigtöpfchen und eine dicke Speckschwarte. Morgen würde es eine Zwiebelspeise geben. Herrlich!
Hadewichs Nase war rot, Tränen standen in ihren Augen, und immer wieder griff sie sich eines der Ampferblätter, putzte sich die Nase und warf das Blatt in den Schaleneimer neben sich. »Da bist du ja. Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass ich nicht gerne Zwiebeln schneide?«
»Jedes Mal, wenn du damit beschäftigt bist. Ist noch etwas vom Mittagsmahl übrig?«
Hadewich deutete mit dem Kinn in Richtung einer Mole. »Einige Kellen lauwarmes Erbsenmus. Nimm dir vom Brot.«
Silla tat, wie ihr geheißen, setzte sich zu Hadewich und aß. »Wo ist Maria? Sie sollte sich zusammen mit dir um das Essen kümmern.«
»Ach, Maria. Sie wollte aufs Dach, um nachzusehen, ob der Rauchabzug frei ist, und ist nicht wiedergekommen. Soll mir recht sein, dann weiß ich wenigstens, was noch zu erledigen ist.« Hadewich stellte eine Schüssel auf ihren Schoß, schob die Zwiebelstücke in das Gefäß und stellte es auf den Tisch. »Du warst länger fort, als ich gedacht hätte. Hat dir Frau Barbara nichts zur Stärkung angeboten?«
»Einen Becher Burgunderwein. Mir wäre dünnes Bier lieber gewesen, aber leider war keines da. Wenigstens habe ich einige unbelauschte Worte mit Mettel wechseln können.«
»Ich erinnere mich, dass du mir von ihr erzählt hast. Dreizehn ist sie, nicht wahr?«
»Ich vermute es, aber sie könnte auch jünger sein. Mettel weiß nicht, wann sie geboren wurde, und es gibt niemanden, den ich danach fragen könnte. Körperlich ist sie ein Mädchen an der Schwelle zur Frau. Aber im Geiste ist sie ein Kind geblieben. Oft verträumt, lässt sich leicht ablenken, und sie nimmt jedes Wort für bare Münze. Sie ist liebenswert, so wie sie ist, aber ich hoffe, Mettel gerät im Leben nicht an Menschen, die es nicht gut mit ihr meinen.«
»Ach, Silla. Du bist keine Glucke, und sie ist nicht dein Küken.«
»Irgendwie ist sie es doch. Ich hätte gerne weitere Kinder gehabt, aber das war mir nicht vergönnt. Mettel füllte diese Lücke ein wenig. Nun mache ich mir Vorwürfe, dass ich sie allein ließ. Ich hätte die Meisterin bitten sollen, eine Ausnahme zu machen, um Mettel mitbringen zu dürfen.«
»Nicht, solange Vater Johann wie ein Falke über die Einhaltung der Statuten wacht. Zu jung ist zu jung«, stellte Hadewich lapidar fest. »Wie ist es dir im Tulb’schen Haushalt ergangen?«
Silla fasste das Erlebte knapp zusammen und fuhr fort: »Ich war erleichtert, als Frau Barbara Mettel aus dem Raum schickte. Ein erschlagener Ehemann ist schlimm genug, da braucht es nicht auch noch eine heitere Magd. Frau Barbara und ich haben den Leichnam angekleidet, und glücklicherweise hat der Pfarrer mit angepackt. Er hatte auch für einen Wagen gesorgt. Die Straßen sind voller Menschen. Frau Barbaras Klage wird großes Aufsehen erregen. Ich bin gespannt, wer mit der Aufgabe betraut wird, den Mörder zu finden.«
»Frau Barbara selbst und der Hauptmann der Scherptorgrafschaft, schließlich lebte und starb Tulb dort. Allerdings frage ich mich, wie man einen Schuldigen ausmachen will. In der Nacht sind nur wenige ehrenhafte Leute unterwegs. Selbst wenn es Zeugen gäbe, dürften die sich kaum melden, weil sie befürchten müssen, selbst zu Verdächtigen zu werden. Ich jedenfalls würde meine Klappe halten.«
»Auch wenn ein Unschuldiger der Tat bezichtigt wird?«
»Du hast selbst gesagt, dass diese Klage Wirbel verursacht. Wenn der Rat und die Justiz ihre Gesichter wahren wollen, muss jemand um jeden Preis für die Freveltat verurteilt werden. Merke dir meine Worte: Nach dem Markt wird jemand hängen.«
Hadewich streckte den Arm nach ihren Gehstöcken aus. Silla kam ihr zuvor und betrachtete die vielgenutzten Gehhilfen kritisch. »Hadewich, du solltest mir Bescheid geben, wenn du neue Achselpolster brauchst, und zwar tunlichst, bevor die alten kaum mehr dicker als ein Blatt sind. Die Sattler haben stets reichlich zu tun.«
»Papperlapapp, die reichen noch. Ich habe ja selbst ordentlich Wolle unter den Armen. Wenn du mir helfen willst, stochere die Glut an und gib Schmalz in den Kessel.« Hadewich kämpfte sich auf die Beine und stakste langsam mit Hilfe der Stöcke in Richtung der Kochstelle.
Während der Herstellung der Zwiebelspeise beobachtete Silla ihre Freundin unauffällig. Hadewich lebte seit mehreren Jahren in Sankt Stephan. Zuvor war sie im Auftrag eines reichen Neusser Händlers unterwegs gewesen, der sich um das Leben seines kranken Sohnes sorgte. Hadewich war in einem der Gästehäuser der Beginen untergekommen. Drei Wochen lang sollte sie von der Frühe bis mittags im Münster zu Aachen für die Genesung des Kindes beten. Anderthalb Wochen war Hadewich ihren Obliegenheiten gewissenhaft nachgegangen, dann spürte sie Schmerzen in der Herzgegend und in den Beinen, nahm diese aber nicht sonderlich wichtig. Wehwehchen kamen und gingen, so war das immer.
Wiederum eine Woche später hatten ihre Beine von jetzt auf gleich den Dienst versagt.
Hadewich, nun bettlägerig, ließ ein Schreiben verfassen und ihrem Auftraggeber überbringen. Bald darauf erhielt sie eine Antwort, die einem Wunder gleichkam. Der Junge war just am Tage ihrer Erkrankung genesen, er strotzte mittlerweile vor Kraft und Lebensfreude. In tiefer Dankbarkeit lobte der Vater eine Leibrente aus, so lange zu zahlen, bis Hadewich wieder gesund sei oder verstarb.
Hadewich war als sogenannte Fromme Dame bei den Beginen geblieben. Als eine solche besaß sie einige Privilegien. Anders als den Beginen war es Hadewich gestattet, weltliche Kleidung zu tragen, worauf sie jedoch verzichtete. Ihr Haus war gemütlicher ausgestattet, ihr Haar nicht ganz so kurz geschnitten, und wenn sie einen Gottesdienst versäumte, sah die Meisterin darüber hinweg. Doch im Übrigen war Hadewich verpflichtet, sich an die Regeln der Gemeinschaft zu halten.
Ein Zwiebelstückchen flog durch die Luft und traf Silla an der Wange. »Frau Sibilla von Thierschütz, du träumst. Das Fett ist heiß.«
Silla lächelte entschuldigend. Ohne dem Feuer, welches unter dem gemauerten Herd brannte, zu nahe zu kommen, schüttete sie die Zwiebeln aus Bottich und Schüssel in den Kessel.
»Ach, schau mal, wer da kommt.«
Endlich gesellte sich auch Maria zu ihnen. Der Schleier der Endzwanzigerin war verknautscht, auf ihrer Wange zeichneten sich Kopfkissenfalten ab. »Mir ist plötzlich schwindelig geworden. Ich muss in Ohnmacht gefallen sein.«
Maria, das war allseits bekannt, fand stets irgendwelche Unterschlupfe, in denen sie sich vor der Arbeit versteckte. Es stand Silla nicht zu, die Mitschwester zu tadeln, aber ein wenig Frotzelei musste sein. »War das bevor oder nachdem du auf dem Dach warst?«
»Was für ein Dach? Ach so, das Dach. Danach, nicht auszudenken, wenn mir das dort hoch oben widerfahren wäre. Und all die Gefahr und meine Mühe war vergebens, im Rauchabzug befand sich kein Rest von einem Storchennest. Hach, mir ist noch immer ganz flau zumute.«
»Wie selbstlos von dir, dass du dich dennoch in der Küche eingefunden hast.«
Maria, ergriffen von ihrer eigenen Tapferkeit, nickte. »Ich habe mich zusammengerissen, schließlich kann ich euch nicht im Stich lassen. Nein, nein, sorgt euch nicht um mich, das muss am Wetter liegen. Erst ist es bitterkalt, dann ist es plötzlich warm.«