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Köln, um 1680: Frisch vermählt trägt die junge Alena schon bald ein Kind unter dem Herzen. Doch als es zur Welt kommt, ist das Entsetzen groß: Der Junge hat schneeweißes Haar und rote Augen. Alena muss mit dem Teufel gebuhlt haben! Von ihrem Mann verstoßen, irrt sie durch die Straßen von Köln. Nur im Haus der Aussätzigen findet sie eine Anstellung als Magd. Als sie den Steinmetz Iven kennenlernt und gemeinsam mit ihm Missstände im Siechenhaus anprangert, bringt sie sich und ihr Kind in Lebensgefahr …
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Das Buch
Köln, Ende des 17. Jahrhunderts: Frisch vermählt, aber zutiefst unglücklich, lebt die junge Alena mit ihrem treulosen Gemahl, dem Juristen Gotthardt von Crosch, im Haus ihres Vaters. Als Alena ein Kind zur Welt bringt, ist das Entsetzen groß, denn ihr Sohn hat schneeweißes Haar und rote Augen. Alena muss mit Luzifer gebuhlt haben! Von ihrem Mann verstoßen, irrt sie mittellos durch die Straßen von Köln. Nur im Haus der Aussätzigen findet sie eine Anstellung als Magd und lernt dort den Steinmetz Iven kennen. Als die beiden auf Missstände im Siechenhaus aufmerksam werden und diese gemeinsam anprangern, bringt Alena sich und ihr Kind in Lebensgefahr. Kurz darauf verschwindet ihr Sohn spurlos, und eine verzweifelte Suchaktion beginnt …
Die Autorin
Gabriele Breuer, geboren 1970, lebt mit ihrem Mann und Sohn in Köln. Sie ist Verwaltungsangestellte in einem Seniorenheim und hat bisher einige Kurzgeschichten verfasst.
Von Gabriele Breuer sind in unserem Hause bereits erschienen:
Das Geheimnis der Sünderin
Die Seiltänzerin
Gabriele Breuer
Die Magd und das Teufelskind
Historischer Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2012© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN978-3-8437-0250-8
Für meineliebe SchwiegermamaManchmal braucht es Wunder,um ins Leben zurückzukehren.
Sich, Jobell, wyr handt dich besehn nach eirsamlicher und uffrechtiger formen unsers hoeffs, so vinden wyr an euch als eynem krancken und seichen manne, und wysen darýmb euch kranck und seich, wyr wýlten euch lieber saghen, das yr gherne hýertt, doch unsers eitz halben, den wyr gethaen handt, moessen wyr euch, das recht ist, saeghen, herumb so wyllet heir innen geduelt haben, so werdt yr eyn khindt des ewigen lebens …
Urteil der »proiffmeister« nach einer Lepraschau
Quelle: AV Melaten, Bücher 3, Asen, Leprosenordnung
Endlich fiel die Tür ins Schloss. Alena atmete erleichtert auf und sprang aus dem Bett. Ohne Gotthardt im Zimmer zu wissen, konnte sie sich nun in Ruhe waschen und ankleiden. Nichts war ihr verhasster, als wenn er ihre nackte Gestalt mit einem Blick musterte, den sie beim besten Willen nicht deuten konnte. Manchmal hatte sie den Eindruck, als läge Abscheu darin. Dann wiederum schien er durch sie hindurchzuschauen, als wäre sie gar nicht da. Einmal hatte sie ihn gebeten, die Kammer zu verlassen, während sie sich ankleidete. Doch da hatte Gotthardt gefragt, ob sie den Verstand verloren hätte. Schließlich sei er ihr Gemahl.
Nachdem Alena sich gewaschen hatte, zog sie das kobaltblaue Kleid mit der goldfarbenen Spitze über. Vaters Lieblingskleid. Nun musste sie sich nur noch das Haar richten. Ungeduldig versuchte sie, es aufzustecken, doch die seidigen Strähnen glitten immer wieder aus den Kämmen. Nach getaner Arbeit würde sie am Abend ohnehin wie ein Waldschrat aussehen. Und das Kleid war viel zu fein für die Drecksarbeiten, die die Schwiegermutter ihr sicherlich wieder auftragen würde. Seufzend legte Alena die Haarnadeln zurück in das Kästchen auf dem Frisiertisch und flocht sich einen Zopf. Dabei fiel ihr Blick auf die wuchtige Truhe neben dem Bett. Sie war die einzige Habe, die Gotthardt mit in die Ehe gebracht hatte – abgesehen von seiner Mutter, die sich in nur wenigen Tagen wie die Sintflut in Vaters Haus ausgebreitet hatte und herrschte, als wäre sie Königin und Kaiserin zugleich.
Plötzlich vernahm Alena auf der Gasse den Lärm der herannahenden Marktleute, die wie jeden Morgen zum Aldemarkt zogen. Rasch räumte sie den Frisiertisch auf und eilte zum Fenster. Das bevorstehende Schauspiel durfte sie sich nicht entgehen lassen. Vor allen Dingen nicht die Kappesbäuerin, die Kohlköpfe auf den Karren getürmt hatte, um sie auf dem Markt feilzubieten. Bestimmt verfing sich wieder eines der Räder in dem Loch, das der letzte Regen in die Gasse gespült hatte. Alena rieb sich aufgeregt die Hände und wurde nicht enttäuscht. Wie erwartet kippte auch an diesem Morgen der Karren, und schon kullerten die Kohlköpfe zwischen die Füße der Marktleute. Die Karawane geriet ins Stocken. Endlich war es so weit! Alena lauschte mit angehaltenem Atem, um auch ja keinen Fluch zu verpassen.
»Verdammter Dress! Leck mich doch, wo ich eh kaum was sehen kann!«, schrie die Kappesbäuerin, spie aus und trat wütend gegen einen der Kohlköpfe, der daraufhin einer Rübenbäuerin zwischen die Füße rollte.
Diese stolperte darüber und fiel mit dem Gesicht in den Dreck. »Du Höhnerföttche!«, keifte sie, während sie sich aufrappelte. »Wart’s ab, dir reiß ich die Fusseln vom Kopf!« Schnaubend griff sie nach einer Rübe und stürzte sich auf die Kappesbäuerin.
»Wie nennst du mich, du Allermannshure?« Die Kappesbäuerin stellte sich breitbeinig vor ihren Karren und ballte die Fäuste.
Doch bevor die Weiber aufeinander losgehen konnten, warf sich ein Bauer mit der Statur eines Bären dazwischen und hielt sie auseinander.
»Dreckiger Hungsfresser, mach Platz!«, kreischte die Kappesbäuerin.
Alena hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. »Hundefresser« hatte das Weib den Bauern genannt. Dieses Wort hatte sie noch nie gehört. Allerdings gefielen ihr die Beschimpfungen »Allermannshure« und »Hühnerpopöchen« fast noch besser.
Als die Marktfrau erkannte, dass sie gegen den Bauern nichts ausrichten würde, lud sie laut keifend die Kohlköpfe auf den Karren. »Tochter eines Maulesels und einer Hure! Dich krieg ich noch!«, fluchte sie ungehalten weiter.
Alena stockte der Atem. Es war ihr unbegreiflich, wie solche Worte einen Frauenmund verlassen konnten.
Nachdem die Kappesbäuerin ihre Ware endlich aufgeladen und währenddessen gut ein weiteres Dutzend Schimpfwörter ausgestoßen hatte, zog sie sich das sackfarbene Tuch vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Zum ersten Mal sah Alena ihr Haar, das wie Spinnweben auf ihre Schultern fiel. Die Frau war bestimmt nicht mehr die Jüngste, aber so alt, dass das einer Greisin würdige weiße Haar zu ihr passen würde, schien sie doch nicht zu sein. Plötzlich traf Alena der Blick des Weibs. Eisige Schauer rieselten über ihren Rücken.
»Dir wird das Lachen noch vergehen, du Fubbelsmatant!«, zeterte die Bäuerin in ihre Richtung.
Eilig trat Alena vom Fenster weg, verbarg sich hinter dem Vorhang und blies die Wangen auf. Sie war bestimmt keine Fubbelsmatant, schließlich trug sie keine billigen Fetzen am Leib, und eine alte Tante konnte man sie schon gar nicht nennen. Die Kappesbäuerin sollte sich tatsächlich lieber um ihre Sehkraft sorgen.
»In deinem Gemäuer hausen doch Dämonen. Nur deshalb kippt mir jeden Morgen der Karren um«, schimpfte das Weib.
Bei diesen Worten zuckte Alena zusammen. Was redete die Frau da? Sie war tatsächlich nicht bei Sinnen. Solchen Unfug hatte sie in all den siebzehn Jahren ihres Lebens noch nicht gehört. Vorsichtig lugte sie hinter dem Vorhang hervor.
Die Bäuerin ergriff soeben die Deichsel des Karrens und zog mit grimmiger Miene ihres Weges.
Alena blickte zu den traufseitigen Häusern auf der anderen Seite der Gasse, die zum Weismarkt im Kirchspiel Sankt Jakob führte. Auf ihren Dächern über den Stufengiebeln flatterten die Kölner Wappen im Wind, der an diesem Morgen für ein wenig Abkühlung sorgte. Die Worte der Bäuerin gingen ihr nicht aus dem Kopf.
Es klopfte an der Tür, und Änni lugte durch den Spalt. Alenas Herz machte einen Satz, als sie in die blauen Augen der Magd blickte, die mit einem Korb sauberer Wäsche unter dem Arm in die Kammer trat. Vor zwei Jahren noch war Änni ein ausgehungertes und verwaistes Bauernmädchen gewesen. Ihre Eltern hatte die Pest dahingerafft, und Änni hatte sie bis zum bitteren Ende gepflegt. Ein Jahr jünger als Alena selbst, war die Magd rasch zu einer Freundin geworden und dank eines gesegneten Appetits zu einer rundlichen jungen Frau gereift. Mit Alena an ihrer Seite hatte sie nun das Lachen wieder gelernt.
»Hübsch siehst du aus, Leni. Das blaue Kleid lässt dein Haar wie die Sonne strahlen.« Änni stellte schwungvoll den Korb auf die Truhe und warf einen Blick aus dem Fenster. »War es wieder die Kappesbäuerin, die so laut geschimpft hat?« Grinsend ließ sie sich auf das Bett fallen. »Mein lieber Henkersknecht, was die für Flüche auf Lager hat!«
»Von ihr können wir mehr lernen als in der dunkelsten Kaschemme, wo Hafenarbeiter und Fuhrleute sich das Bier in die Kehle schütten.« Alena ließ sich neben Änni auf der Bettkante nieder. »Du hättest hören sollen, was sie der Rübenbäuerin an den Kopf geworfen hat.« Die Worte, die ihr selbst gegolten hatten, verschwieg Alena.
Änni riss neugierig die Augen auf. »Erzähl!«
»Nein, um Himmels willen! Solche Reden darf ich nicht in den Mund nehmen. Glaub mir, die Buße, die mir nach der Beichte auferlegt würde, hätte mich bis an mein Lebensende am Schlafittchen.« Alena spürte, wie ihr die Schamesröte in die Wangen kroch.
»War vielleicht etwas dabei, das zu deiner frischgewonnenen Schwiegermutter passt? Das dumme Brauereipferd hat mich heute nämlich dazu verdonnert, die Bettwäsche zu schlagen. Und das bei der Hitze!« Änni verdrehte die Augen und stöhnte auf.
»Ich sag’s dir aber nur ins Ohr.« Alena nickte Änni zu und flüsterte die verbotenen Worte.
»Was? Nein!«, prustete die Magd los. »Das hat sie gesagt?«
Ein verlegenes Lächeln huschte über Alenas Lippen. Nach dem Brennen in ihren Wangen zu urteilen, war ihr Gesicht sicher rot wie Klatschmohn.
»Darauf muss man erst einmal kommen.« Änni grinste. »Ich glaube, die Arbeit wird mir heute viel leichterfallen, wenn ich dem Brauereipferd diese Worte an den Kopf schleudere.«
»Aber nur in Gedanken! Sag das niemals laut zu Mergh.« Alena hob drohend den Zeigefinger.
»Glaubst du, ich bin lebensmüde? Diese Tochter eines Maulesels und einer Hu…« Ännis Stupsnase mit den unzähligen Sommersprossen kräuselte sich.
Um Schlimmeres zu verhindern, presste Alena ihr die Hand auf das lose Mundwerk. »Scht, Änni, nicht! Sprich es nicht aus.« Doch in ihrem Bauch kribbelte die Heiterkeit, die sich bald nicht mehr unterdrücken ließ. Sie nahm die Hand von Ännis Lippen und schüttelte sich vor Lachen, bis ihr der Leib schmerzte. Dann erinnerte sie sich plötzlich an die Dämonen, von denen die Bäuerin gesprochen hatte. Im Nu erstarb das Gelächter. »Du, Änni, die Kappesbäuerin behauptet, dass in unserem Haus Dämonen wohnen, die ihren Karren umkippen lassen. Außerdem habe ich ihr Haar gesehen. Wie Spinnweben fällt es von ihrem Kopf. Dabei ist sie doch noch gar nicht so alt. Richtig grauselig sieht sie aus.«
Änni winkte ab. »Gib nichts auf ihr Geschwätz! Mit dem weißen Haar ist sie eine Ausgeburt der Hölle. Das hörst du doch an ihren Flüchen.«
Mit einem Mal bemerkte Alena, dass sie zu lange getrödelt hatte. Der Vater brach heute zu einer langen Reise nach Venedig auf, um neues Tuch zu kaufen. Wenn sie sich nicht beeilte, würde er fort sein, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Eilig sprang sie auf und lief die Treppe hinunter.
Im Flur herrschte reges Treiben. Thomas, der Knecht, hievte eine Truhe nach der anderen zur Tür hinaus.
»Ich dachte schon, du wolltest dich nicht von mir verabschieden.«
Alena drehte sich um und fiel ihrem Vater um den Hals. »Warum darf ich nicht mitkommen?«
»Weil du dich um den Haushalt kümmern musst.« Der Vater zwinkerte ihr zu.
»Aber dafür haben wir doch nun die Schwiegermutter.« Die Vorstellung, ihren Vater für so lange Zeit nicht zu sehen, schürte den Unmut in Alenas Herzen.
»Und du wirst von ihr lernen, mein Kind. Damit du eines Tages selbst dem Haushalt vorstehen kannst.«
Alena dachte an ihre Mutter, die sie nie hatte kennenlernen dürfen. Warum nur war sie bei ihrer Geburt gestorben? Wäre sie noch am Leben, hätte Vater nie zugelassen, dass Gotthardt nach der Vermählung seine schreckliche Mutter mit ins Haus brachte. Schwermütig drückte Alena ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und ließ ihn gehen.
Kurz darauf winkten sie und Änni der Kutsche hinterher, bis sie hinter den traufseitigen Häusern verschwunden war.
»Ach, dein Vater hat es gut«, seufzte Änni. »Wie gern würde ich auch einmal nach Venedig reisen.«
»Vielleicht nimmt er mich ja doch irgendwann einmal mit und lehrt mich das Handeln. Dann wirst du mich als meine Leibmagd begleiten.«
»Das wäre schön. Du kannst jedenfalls stolz sein, so einen Vater zu haben.« Ännis verträumter Blick schweifte in die Ferne.
»Das bin ich«, entgegnete Alena und nickte. Der Vater war nicht nur ein angesehener Kaufmann in der Stadt. Als oberstes Mitglied der Gaffel Windeck trug er den Titel »Bannerherr«. Fast jeden Abend traf er sich mit den anderen Kaufleuten, die sich dem Verband angeschlossen hatten. Im Gaffelhaus berieten sich die Männer bis spät in die Nacht. Gab es Probleme im Rat, so war der Vater der Fürsprecher der Kaufleute. In ganz Köln gab es wohl keinen Bürger, der den Namen Claeß Sonnemann nicht kannte.
Plötzlich grollte Gotthardts tiefe Stimme aus dem Fenster und ließ die Freundinnen zusammenzucken. »Verdammt, Alena, komm sofort her!«
Alena verdrehte die Augen. »Sicher hat Mergh bei ihrem Sohn wieder einmal über mich geklagt.«
»Gottschreck ist ein Botzedresser. Der macht sich doch vor lauter Schiss vor seiner Mutter in die Hose«, stieß Änni hervor. »Lass dich bloß nicht von ihm zum Mäuschen machen. Der leckt ihren Speichel und holt ihr die Äpfel aus dem Hintern. Ohne seine Mo wäre er ein Nichts.«
»Ich weiß gar nicht, warum er nicht längst im Gaffelhaus Himmelreich oder im Rathaus bei der Arbeit sitzt. Als Doktor der Rechte müsste er doch bis über beide Ohren zu tun haben«, schimpfte Alena verzweifelt und eilte ins Haus.
Im Flur erwartete Gotthardt sie bereits und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Alena trottete hinter ihm her bis in die Bibliothek. Die deckenhohen Regale drohten unter den schweren Bänden in allen Größen zusammenzubrechen. Gotthardt lehnte die Tür an. Dass er sie einen Spalt offen ließ, verwunderte Alena nicht. Nicht weit hatte sicher Mergh bereits Stellung bezogen, mit Ohren so groß wie Kohlblätter und jederzeit bereit, ihrem Sohn zur Seite zu eilen.
In Erwartung einer Predigt verschränkte Alena die Arme vor der Brust, kehrte Gotthardt den Rücken zu und blickte in den kalten Kamin.
»Sieh mich an, wenn ich mit dir zu reden habe!«, herrschte Gotthardt sie an.
Wie vermutet betrat sogleich die Schwiegermutter den Raum und stemmte die Hände in die Hüften. »Sieh meinen Sohn gefälligst an!«, keifte sie wie ein Echo.
Alena drehte sich langsam um und schaute ihrem Gemahl ins Gesicht. Über seiner Lippe blieb ihr Blick haften. In den Haaren, die aus seiner Nase wucherten, klebte ein zartgrüner Popel. Angewidert presste sie die Lippen aufeinander.
»Mutter ist alles andere als zufrieden mit deiner Arbeit im Haus.« Gotthardt sog tief den Atem ein, und der Popel verschwand im Nasenloch.
»Ich bin halt keine Magd.« Ihr Blick fixierte die knollige Nase.
»Sag ihr bloß ordentlich Bescheid, mein Sohn!« Mergh kniff die unkengrünen Augen zusammen.
Alena drängte es, ihr das streng gebundene Haar zu zerzausen, bis es in grauen Zotteln vom Kopf abstand. Bereits der bloße Anblick der Frau erregte tiefen Widerwillen und brachte sie auf die ungebührlichsten Gedanken.
»Es gehört zu den Pflichten einer Hausfrau, auch die niederen Arbeiten zu erlernen. Wie willst du einen Haushalt führen, wenn du nicht weißt, wie sie verrichtet werden? Wie willst du die Bediensteten anleiten?«
»Änni weiß, was zu tun ist. Sie kennt sich aus.«
»Das lässt du dir nicht gefallen, Gotthardt!«, zischte Mergh.
»Nun hör mir mal gut zu, meine Liebe! Du wirst fortan den Anweisungen meiner Mutter folgen und deine Aufgaben gewissenhaft verrichten«, schnaubte Gotthardt, und sein Riechorgan blies den Popel wieder aus. Nun baumelte er über der Lippe an einem einzelnen Nasenhaar.
Alena spürte, wie es unter ihren Rippen bebte. Sie dachte an Änni, an ihre Miene, könnte sie diesen Anblick mit ihr teilen. In ihrem Nacken brach die Hitze aus. Nicht lachen, ich darf nicht lachen! Sie atmete tief gegen das Beben in ihrer Brust an und versuchte, an etwas Trauriges zu denken. Doch vor ihrem inneren Auge tauchte nur wieder Änni auf, die mit Schalk in den Augenwinkeln auf den Popel deutete.
»Was ist, was schaust du mich an wie ein Kalb auf der Schlachtbank?« Gotthardt schüttelte leicht den Kopf, und der Popel schaukelte an dem Nasenhaar wie ein Medaillon an einer Kette.
Alena presste die Lippen aufeinander. Doch das Beben erreichte ihre Kehle, und ein Prusten entfuhr ihren Lippen. Sie spürte das Feuer unter ihrem Haar, und aus ihren Poren kroch der Schweiß. Ein weiteres Prusten folgte, und sie schlug sich die Hand vor den Mund.
Gotthardts Augen verfinsterten sich. »Lachst du mich etwa aus, du Miststück?«
»Das lässt du dir nicht bieten, Gotthardt! Du weißt, was zu tun ist. Los, verschaff dir den nötigen Respekt!«, keifte Mergh.
Gotthardt trat einen Schritt auf Alena zu. Der Popel näherte sich bedrohlich. Als ihr Gemahl die Hand hob, blieb Alena das Lachen im Hals stecken. Schon schlug Gotthardt ihr mit voller Wucht ins Gesicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie rieb sich die brennende Wange und taumelte aus der Bibliothek.
»Richtig so!« Die Schwiegermutter klatschte in die Hände.
»Ich werde dich noch Respekt lehren, du Miststück!«, schrie Gotthardt ihr hinterher, als sie die Stiegen hinaufeilte.
Warum nur hatte Vater sie mit diesem Ungeheuer verheiratet? War er wirklich so von Gotthardts Ansehen geblendet gewesen, dass er nicht erkannt hatte, welch ein abscheulicher Mensch ihr Gemahl wirklich war? Alena warf sich auf das Bett und weinte ins Kopfkissen. Wenn der Vater von seiner Reise zurückgekehrt war, würde sie ihm alles erzählen. Dann wären Gotthardts Tage und die der Schwiegermutter im Haus gezählt.
Iven trat aus dem Schuppen und blickte auf das einfache Steinhaus, in dem er mit seinen Eltern lebte. Glockengeläut hallte durch die Gasse, und der laue Wind roch nach Korn, das auf den nahen Feldern in voller Ähre stand. Hier in der Wehrgasse im Kirchspiel Sankt Christoph kurz vor der Kölner Stadtmauer nahm das Leben einen gemächlicheren Lauf als unten am Rhein. Es herrschte die Ruhe, die er brauchte, um an seinen Skulpturen zu arbeiten. Sie tröstete ihn auch darüber hinweg, dass seine Arbeiten ihm nicht das Geld einbrachten, das eine volle Vorratskammer versprach.
Plötzlich ertönte eine Männerstimme in seinem Rücken. »Roder! Im Auftrag des Rates der Stadt Köln kommen wir, um die Abgaben zu kassieren.«
Iven zuckte zusammen. Diese verdammten Abgaben! Daran hatte er gar nicht mehr gedacht.
Er drehte sich langsam um, als stünde jemand mit der Faustbüchse hinter ihm.
Zwei breitschultrige Stadtsoldaten sahen ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was denn nun? Wird’s bald? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Der Soldat stieß beim Reden mit der Zunge an die Zähne, so dass die Worte wenig respekteinflößend auf Iven wirkten.
»Ich habe nichts. Seht mich an! Was soll nun werden? Wollt Ihr mich mitnehmen und in den Turm werfen?«
Der lispelnde Soldat verzog den Mund zu einer Entenschnute. »Nee, wir nehmen dich nicht mit. Würdest ja nur Geld kosten, wenn du im Turm säßest. Aber deinen Hausrat, den schaffen wir zum Aldemarkt. Bestimmt bringt er noch ein paar Pfennige ein.« Sein Blick wanderte zu dem Schuppen. »Was ist denn da drin?«
Iven wurde es abwechselnd heiß und kalt. Plötzlich hatte er sehr viel Respekt vor dem Stadtsoldaten, sogar Hochachtung erfüllte ihn. »Nichts, gar nichts. Nur mein Werkzeug. Wenn Ihr mir das nehmt, werde ich auch in absehbarer Zeit nichts verdienen, wovon der Rat den hundertsten Pfennig verlangen könnte.«
Nun meldete sich auch der andere Soldat zu Wort. »Nein, Roder, das Werkzeug werden wir dir nicht nehmen.« Der Klang seiner Stimme erinnerte an das Brummen eines Bären. Der Mann kratzte sich am Kopf, warf einen vielsagenden Blick zu dem lispelnden Soldaten und wandte sich dann wieder an Iven. »Dennoch werden wir nachsehen müssen, ob sich nicht ein brauchbares Möbelstück darin befindet.«
Iven hatte es geahnt. Wenn er schon einmal log, und das war gewiss nicht oft in seinem Leben geschehen, dann stand ihm die Lüge auf die Stirn geschrieben. Warum nur erlegte Gott ihm eine Prüfung nach der anderen auf?
Die Stadtsoldaten rückten ihre Uniformen zurecht und schritten im Gleichschritt zu dem Schuppen. Wahrscheinlich hatten sie ihre Ausbildung von Kindesbeinen an gemeinsam genossen. Iven folgte ihnen mit hängenden Schultern. Er dachte an seine Wasserspeier, die in Reih und Glied nebeneinanderstanden, geschaffen, um vielleicht eines Tages die Dämonen von der großen Kathedrale fernzuhalten.
Die Tür öffnete sich knarzend, und das Sonnenlicht fiel auf die Kunstwerke. Iven traten die Tränen in die Augen. Noch nie hatte er seine Figuren in solch einem Licht betrachtet, und er ahnte, dass er sich nun von ihnen verabschieden musste.
Der lispelnde Stadtsoldat pfiff durch die Zähne. »Na, wenn die nicht das Stadtsäckel erfreuen werden, dann hol mich der Teufel.«
Iven glaubte, an dem Kloß in seinem Hals zu ersticken.
»Beschlagnahmt!«, stieß der andere Soldat hervor. »Die Skulpturen werden wir gleich auf den Karren laden.«
»Nein!«, schrie Iven auf. In seinem Blut wallte der Zorn. »Das sind meine Werke. Ich habe sie geschaffen. Sie gehören mir! Die Stadt Köln darf keinen Anspruch auf sie erheben.«
»Da wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher«, lispelte der Soldat, schritt auf die Skulpturen zu und betrachtete sie mit nachdenklicher Miene.
Iven spürte, wie die reine Mordlust von ihm Besitz ergriff. Er schaute sich nach dem Meißel um. Doch der lag genau vor den Füßen des lispelnden Stadtsoldaten. Zischend zog er den Atem ein.
»Mach bloß keinen Blödsinn! Ich sag’s dir im Guten.« Der andere Stadtsoldat konnte offenbar Gedanken lesen.
Iven schloss die Augen und betete, Gott möge ihn aus diesem schlechten Traum erwecken.
»Komm, Tilman, lass uns die Figuren auf den Karren schaffen.« Der lispelnde Soldat griff nach einer der Steinfratzen.
Mit einem Satz war Iven bei dem Mann. Doch bevor er ihm den Wasserspeier aus der Hand reißen konnte, hatte der andere Soldat ihm bereits den Arm auf den Rücken gedreht. »Wir erledigen nur unsere Arbeit. Hast du verstanden? Hättest du deine Abgaben geleistet, wäre das alles nicht nötig.«
Eine Skulptur nach der anderen verließ ihren Platz und landete auf dem Karren. Am Ende blieb nur noch eine übrig: das halbfertige Ungeheuer, in dessen Maul der Mann mit dem Lockenkopf den letzten Schrei tat.
Iven ballte die Fäuste und schluckte den Zorn hinunter, der in seiner Kehle brannte. Urplötzlich dachte er an seinen Bruder, der sich schon seit Jahren nicht mehr hatte sehen lassen. Hans Jorgen zog als Musikant lustig durch die Lande und überließ ihm die ganze Verantwortung für die Eltern, die mit zunehmendem Alter immer schwieriger wurden. Dazu hatte er den Steinmetzbetrieb des Vaters am Hals, der keinen einzigen Albus abwarf. Ivens Wut auf den älteren Bruder wurde immer größer. Doch was nutzte es ihm? Auf dessen Hilfe konnte er ohnehin nicht bauen. Er würde sich allein aus dem Schlamassel befreien müssen. Noch heute würde er sich eine Anstellung suchen.
Der Schreiber, der im Laubengang des Rathauses zwischen den Säulen saß, schickte Iven die Stufen hinauf zum Zimmer des Rentmeisters Kreps. Mit einem unguten Gefühl im Bauch klopfte Iven an die üppig mit Ornamenten verzierte Tür. Eine tiefe Stimme gewährte Einlass.
Kreps’ ausladendes Kinn ruhte auf einem Mühlsteinkragen. Tranige Augen blickten aus einem missgelaunten Gesicht. »Was wünschst du?«
»Ich habe den Beruf des Steinmetzes gelernt und suche nun eine Anstellung als Stadtwerker.« Iven legte seinen Gesellenbrief auf das Schreibpult. »Die Lehrjahre habe ich bei meinem Vater verbracht und die Wanderschaft bereits hinter mir. Nun arbeite ich wieder im Betrieb meines Vaters und bin dabei, mein Meisterstück zu fertigen.«
»Soso«, brummte Kreps. »Deinem Vater bleiben wohl die Aufträge aus. Und warum? Ist eure Arbeit etwa nicht gut genug?«
»Natürlich ist meine Arbeit gut genug. Doch es wird immer weniger gebaut, denn es gibt bereits reichlich Häuser in Köln. Und die Bauten gehören überwiegend der Stadt.«
»Ja, ja, du hast schon recht. Doch wenn ich genau bedenke, fehlt es uns nicht an Steinmetzen. Eher an Kloakenreinigern.« Kreps zog die buschigen Augenbrauen in die Höhe.
»Kloakenreiniger? Ich bin ausgebildeter Steinmetz, ein Mitglied der Zunft.« Iven glaubte, sich verhört zu haben.
»Ist ja schon gut.« Der Rentmeister winkte ab. »Du brauchst mir das alles gar nicht erst aufzutischen.«
Dass er hier nicht viel Erfolg haben würde, ahnte Iven bereits. Aufträge der Stadt waren begehrt unter den Handwerkern. Er wollte sich schon zum Gehen wenden, als Kreps sich räusperte. Den Blick auf den Stapel von Schriftstücken vor sich gerichtet, strich er nachdenklich mit dem Zeigefinger über die blankpolierte Platte des Schreibpultes. »Es ist ja nicht so, dass sich nicht alles regeln ließe. Doch es gibt viele Bewerber, wenn du verstehst, was ich meine.«
Iven hob fragend die Schultern. »Was wollt Ihr? Meine Werke sehen? Dann braucht Ihr nur auf den Aldemarkt zu gehen, wo sie gerade verhökert werden.«
Der Rentmeister hob die Schultern. »Tja, so etwas kommt vor. Aber ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Viele Bewerber lassen sich einen Posten als Stadtwerker eine kleine Aufmerksamkeit kosten.«
Nun wurde Iven hellhörig. »Eine kleine Aufmerksamkeit? Wie soll ich das verstehen?«
»Na, nun stell dich doch nicht dümmer an, als du bist.« Kreps schüttelte den Kopf. »Etwas Butter, ein wenig Tuch, eine Handvoll Reichstaler. Andere sind da sehr einfallsreich, wenn du verstehst, was ich meine.«
O ja! Iven hatte mehr verstanden, als ihm lieb war. Er reckte das Kinn vor. »Ihr seid also bestechlich.«
»Bestechlich? Das ist ein hartes Wort. So würde ich es nicht nennen. Eher dankbar für kleine Geschenke.« Kreps knetete unruhig die Hände unter dem Schreibpult. »Aber wenn du nicht willst … Es sind im Augenblick ohnehin keine Aufträge zu vergeben.« Von einem auf den anderen Lidschlag hatte der Rentmeister wieder seine abweisende Haltung eingenommen.
»Ich verzichte. Aber Ihr werdet noch von mir hören. Und nicht nur von mir.« Iven drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer.
Die Mittagssonne brannte heiß auf den Aldemarkt und ließ die Luft flirren. Ein Schlachter bot aus voller Kehle sein Fleisch feil, dessen fauliger Gestank über den Platz wehte. An der Fischwaage gingen sich zwei Kerle an den Kragen und schlugen wutentbrannt aufeinander ein.
Doch Iven hob nicht einmal den Blick. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er beinahe mit dem Mann in dem Lederwams und den hohen Stiefeln zusammengestoßen wäre, der seinen Weg kreuzte.
»Hoppla, Bursche!« Der Mann schob sich den breitkrempigen Hut zurecht. »Hast wohl jede Menge Ärger gehabt, was? Ich schätze, du warst im Rathaus.«
Iven zog die Augenbrauen zusammen. »Was geht das Euch an?«, antwortete er grimmig.
»Na ja. Vermutlich werde ich in wenigen Minuten mit dem gleichen Gesichtsausdruck das Rathaus verlassen.«
»Ach, wirklich?« Iven konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann von Nöten welcher Art auch immer geplagt wurde. Seine feinen Kleider sprachen jedenfalls eine ganz andere Sprache.
»Mein Name ist Nikolaus Gülich. Ich betreibe einen Weinhandel und bin der Gaffel Himmelreich angeschlossen. Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr tatenlos zuzusehen, wie die Bürgermeister und Ratsherren sich das Säcklein vollstopfen, während die Bürger von Köln Hunger leiden. Wusstest du, dass die Erhebung eines weiteren Albus ausgeschrieben wurde? Wieder eine Abgabe mehr von unseren Erlösen. Und das neben den Steuern und dem hundertsten Pfennig. Wenn das so weitergeht, landen wir alle am Bettelstab.«
Fassungslos sah Iven ihn an. Dieser Mann sprach ihm aus dem Herzen. Er fasste Vertrauen und erzählte Gülich von seiner misslichen Lage und dem Angebot des Rentmeisters.
»Das wundert mich ganz und gar nicht. Diesem Kreps glänzt die Habgier in den Augen. Schon lange missbraucht er sein Amt.« Gülich rieb sich über den Spitzbart. »Mein Freund, was hältst du davon, wenn du mich bei Gelegenheit in meinem Haus an den Obenmarspforten besuchst? Ich könnte dir noch viel erzählen. Erst neulich wurde ich auf einer Geschäftsreise bei Wiedenbrück von osnabrückschem Militär verhaftet. Doch im Augenblick eilt es mich, denn in wenigen Minuten findet eine Ratssitzung statt, der ich beiwohnen möchte. Auch wenn ich nicht eingeladen bin.« Er zwinkerte verschmitzt und ging davon.
Iven blickte dem Fremden verblüfft hinterher. Er war es nicht gewohnt, von feinen Leuten eingeladen zu werden. Das Angebot schien jedoch durchaus verlockend, und er nahm sich vor, bei Gelegenheit vielleicht darauf zurückzukommen.
Aus dem Fenster wehte eine dünne Rauchfahne und brachte den Geruch von Feuer mit sich. Iven beschleunigte seinen Schritt. Viel zu lange hatte er die Eltern allein gelassen. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Mit weichen Knien trat er durch die Tür des Hauses.
Seine Mutter goss soeben Wasser aus dem Holzeimer in den Kessel, aus dem zischend schwarzer Qualm aufstieg.
»Was machst du denn da?« Iven lief auf die alte Frau zu und starrte auf die Feuerstelle.
»Nichts. Das Essen ist angebrannt, es ist nichts.« Neben ihren Füßen lag ein Haufen trockenes Gras.
»Das wolltest du kochen?« Ungläubig starrte Iven sie an.
»Ist ja nichts anderes da!«, keifte sie.
»Aber, Mutter, das kann doch niemand essen. Außerdem solltest du auf mich warten. Sieh, ich war auf dem Markt einkaufen.« Iven hielt ihr das alte Brot hin, das er von einem Bäcker geschenkt bekommen hatte.
»Pah, trockenes Brot! Das hängt mir zum Halse raus.«
Iven beachtete die Stänkerei nicht und sah sich nach seinem Vater um, den er jedoch nirgendwo erblickte.
»Übrigens hat die Frau vom Kallendresser mein ganzes Geld geklaut.« Seine Mutter ließ sich am Tisch nieder und blickte Iven vorwurfsvoll an.
Wenn es nur welches gegeben hätte, dachte er bei sich und setzte sich neben sie.
Die Mutter hatte die Nachbarin noch nie leiden können, ebenso wenig wie deren Mann, der die Dächer in der Stadt deckte. Sie behauptete, dass er bei der Arbeit in die Dachrinnen schiss, und so hatte sie ihm schon vor langer Zeit den Namen Kallendresser gegeben.
Iven blickte auf den freien Stuhl gegenüber. »Sag, wo ist eigentlich Vater?«
»Na, bei der Arbeit. Wo sonst? Was fragst du denn so töricht?«
»Etwa im Schuppen?« Iven erhob sich.
»Doch nicht im Schuppen! Auf dem Dom ist er.« Die Mutter nickte in Richtung Tür. »Wurde auch langsam Zeit, dass das hässliche Ding fertig wird.«
Iven glaubte, sich verhört zu haben. Kam er denn gar nicht zur Ruhe? Sein Vater auf dem Dom? Er stürzte aus dem Haus und hastete die Gasse in Richtung Rhein entlang.
Schnaufend und nach Atem ringend, blieb er schließlich stehen und blickte gen Himmel. Hoch oben auf dem Kran vor dem Südturm sah Iven einen grauen Schatten nah am Abgrund stehen.
Als wäre eine Meute wilder Hunde hinter ihm her, stürmte er in die Kathedrale.
Westlich der Stadt Köln auf der Straße nach Aachen beschritt Theres mit ihren wenigen Habseligkeiten in einem Bündel den steinigsten Weg ihres Lebens. In ihrem gewölbten Leib trat das Ungeborene gegen ihre Rippen, als wollte es sich wehren, von seiner Mutter diese Straße entlanggetragen zu werden.
Zwei Buben warfen Steine in die Birnbäume am Wegesrand und führten einen wilden Freudentanz auf, wenn endlich eine Frucht zu Boden fiel.
Nach wenigen weiteren Schritten hielt Theres inne, denn hier endete ihr Fußmarsch. Vor ihr erhob sich der campus leprosori, der Hof der lebenden Toten. Der Pfarrer hatte sie am Abend zuvor aus der Gemeinde ausgesegnet, und nun war dies der Ort, an dem sie bis zu ihrem Lebensende ausharren würde. Wie viel Zeit ihr noch blieb, das wusste nur der Herr im Himmel. Drei Tage zuvor hatte sie sich im Leprosenhaus besehen lassen. Dabei hatten die Prüfmeister einmütig bestätigt, dass es sich bei den Pocken in ihrem Gesicht um die Zeichen der Sieche handelte. Theres strich sich über den Bauch, als wollte sie sich bei dem kleinen Geschöpf, das in ihr wuchs, Mut holen. Über ihre Wangen rannen Tränen, als sie den kleinen Fuß spürte, der sich in ihre Hand drückte.
Elsgen hob die Hinterbacken und ließ die Luft hinaus, die in ihrem Gedärm drückte. Am Morgen hatte der Hospitalmeister sie und ihren Mann zu einem Gespräch in seiner Unterkunft auf dem Hof der Siechen gerufen. Es stünde schlecht um die Finanzen, hatte er dem Verwalterehepaar angedeutet.
Ein fahler Sonnenstrahl fiel durch die verstaubte Fensterscheibe in das Arbeitszimmer. Ambrosius, der Hospitalmeister, saß an einem einfachen Schreibpult aus Kiefernholz und überflog die Zahlen auf dem Papier vor sich. Eine Strähne des welligen ergrauten Haares hatte sich in seine Stirn geschoben und verdeckte die tiefen Falten. »Viel zu viele arme Leute kommen zu uns. Wie heute erst die schwangere Korbmacherin. Sieben Albus bekommt sie als Pfründe in der Woche, obwohl sie sich nicht bei uns eingekauft hat. Es sei Gottes Wille. So jedenfalls haben es die Provisoren angeordnet«, seufzte Ambrosius. »Wenn nicht mehr betuchte Bürger am Aussatz erkranken, dann weiß ich nicht, wie wir die Siechen noch ernähren sollen. Die Mildtätigkeit der Kölner Bürger hält sich in diesen Zeiten in Grenzen.«
»Vielleicht sollten wir den Bürgermeister um Rat fragen.« In Elsgens Gedärmen rumorte es schon wieder. Sie hob erneut den Hintern und entließ die Luft ins Freie.
»Das stinkt ja grässlich, Frau. Was hast du bloß gegessen?«
»Puckel, halt die Schnüss und pack dich an deine eigene Placknas! Schlimmer als du aus dem Hals kann kein Furz stinken.« Elsgen warf ihrem Mann einen bitterbösen Blick zu.
Dieser kratzte sich am Buckel, spannte die Schultern und versuchte, Haltung anzunehmen, bevor er seinen Vorschlag kundtat. »Warum sollen nur die Aussätzigen hier Unterschlupf finden? Was ist denn mit den Alten und Gebrechlichen, die auch auf Versorgung angewiesen sind? Sie könnten ein stattliches Sümmchen zahlen, Hab und Gut dem Hof vermachen und dann hier von ihren Pfründen leben.«
Ambrosius legte die Stirn in Falten und starrte nachdenklich auf die Zahlen. »Das wäre eine Möglichkeit. Ich könnte darüber mit den Provisoren sprechen.«
»Rede lieber mit dem Bürgermeister«, warf Elsgen ein. »Diese Provisoren wiegeln doch jeden Vorschlag ab, und hier rafft eher der Hunger als die Sieche die Leutchen hinweg.«
»Ach was. Der Bürgermeister stört sich doch nicht daran. Dafür sind die Provisoren gerade da«, widersprach Puckel ungehalten. Der Ausdruck in seinen Augen verriet, dass er seiner Frau die Beleidigung noch nicht verziehen hatte. Rot vor Zorn, erinnerte sein kahler Kopf an eine Rosine.
»Was redest du denn?«, gab Elsgen verächtlich zurück. »Du hast doch keine Ahnung.« Sie tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn und verdrehte die Augen. Dann wandte sie sich wieder an Peltzer. »Hör auf mich, Ambrosius, und geh zum Bürgermeister. Aber vergiss nicht, eine kleine Aufmerksamkeit mitzunehmen.«
»Einverstanden. Und dann sehen wir, wie es weitergeht.« Der Hospitalmeister erhob sich von seinem Stuhl.
Elsgen tat es ihm gleich und glättete sich mit der flachen Hand die Schürze. »Ich werde nun die neue Sieche in Empfang nehmen und ihr die Ordnung vortragen. Puckel, du kontrollierst die Vorratskammer und notierst, was fehlt. Und vergiss mir nichts!« Sie bedachte ihren Mann mit einem kalten Blick, bevor sie das Häuschen des Hospitalmeisters verließ.
Auf dem Hof traf Elsgen auf Diederich, das Klappermännchen der Leprosen. Freudestrahlend hielt er ihr die Büchse und den Bettelsack hin. »Hat sich richtig gelohnt heute. Die Bürger waren freigebig wie lange nicht mehr. Keine Ahnung, warum.« Seine Augen verrieten die Vorfreude auf seinen Lohn, und er schwenkte die Klapper, mit der er sich als Bewohner des Leprosencampus auswies, wenn er durch die Straßen Kölns zog.
Wie so oft spielte Elsgen mit dem Gedanken, seinen Anteil aus der Büchse um die Hälfte zu verringern. Doch das Klappermännchen war gewieft. Jedes Mal wenn sie einen Vorstoß in diese Richtung unternahm, drohte er mit den Provisoren, bei denen er hohes Ansehen genoss. Denn kaum einer verstand sich so gut aufs Betteln wie er.
Ein warmer Wind wirbelte die Strohspäne vor der Scheune auf. Unsicher blickte Theres sich auf dem Hof der Siechen um. Sie wusste nicht recht, wohin sie sich wenden sollte. Doch da eilte schon eine hochgewachsene hagere Frau auf sie zu, die sich kurz und knapp als Verwalterin vorstellte. Ohne langes Gerede führte sie Theres vorbei an der Scheune zu den Häuschen der Aussätzigen. Das Zimmer war einfach eingerichtet. Es gab ein Bett, eine Truhe und einen kleinen Tisch mit einer Waschschüssel. Aber es war sauber und roch nach Seife. Theres packte seufzend ihr Bündel in die Truhe, worin schon der weiße Siechenmantel lag, und drehte sich zu der Verwalterin um.
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie im Türrahmen. »So, meine Liebe. Als Erstes nun die Ordnung. Es ist wichtig, dass du dich an die Regeln hältst. Sonst bist du schneller fort, als du gekommen bist, und kannst dich auf irgendeinem Acker niederlassen.« Die Verwalterin leierte die Regeln und die Verbote herunter, als wäre sie dieser Aufgabe längst überdrüssig.
Nur mit halbem Ohr hörte Theres zu. Ihre Gedanken waren von schwarzen Wolken verhangen.
»… gebadet wird zweimal in der Woche. Kein Kranker darf zum Einkaufen in die Stadt. Die Schlafenszeit bestimmt der Hospitalmeister …«
Die Worte der Verwalterin verhallten. Ihre Augen brannten von den aufsteigenden Tränen. Was kümmerte es sie, wann sie schlafen gehen musste? Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle ins Bett verkrochen.
»Nur zu den kirchlichen Hochfesten darfst du zum Betteln in die Stadt gehen«, fuhr die Verwalterin fort. »Dabei hast du den Siechenmantel sowie weiße Handschuhe und einen schwarzen Hut zu tragen. Wenn du mit einem Gesunden sprechen willst, musst du aus dem Wind gehen.«
Theres’ Gedanken überschlugen sich. Sie mochte mit ihrem pockigen Gesicht nicht betteln gehen. Lieber wollte sie sich hier verstecken.
»Das Wirtshaus des Campus befindet sich hinter der Kirche an der Mauer zur Straße. Du siehst aus, als könntest du einen Schluck Bier vertragen. Ach ja …« Die Verwalterin griff in die Schürzentasche. »Hier ist deine Pfründe für diese Woche.«
Theres hielt die Hand auf, und die grauhaarige Frau zählte sieben Albus hinein.
Die windschiefe Tür zum Wirtshaus öffnete sich fast wie von Geisterhand, als sie dagegenstieß. Theres sehnte sich nach einem Gespräch unter Gleichgesinnten, denen sie in ihrem alten Leben nie begegnet war. Wo trifft man in den Gassen von Köln auch Sieche, wenn es nicht gerade der Tag war, an dem sie mit der Klapper betteln gehen durften? Sie wollte mit jemandem reden, der nicht die Augen vor Schreck weitete, wenn er ihr Gesicht sah, und dann vor lauter Abscheu das Weite suchte.
Unsicher strich sie mit den Fingern über die Pocken. Durch das Gasthaus waberte der Duft von knusprig gebratenem Fleisch. Hinter der Theke stand der stämmige Wirt und trocknete mit einem Tuch Tonkrüge, bevor er sie in das Regal stellte. Als er Theres erblickte, nickte er ihr mit einem Lächeln zu. Ein Mann und eine Frau saßen an einem der grobgezimmerten Eichentische unter dem Fenster. Sie unterhielten sich angeregt, doch dann wies der hagere Mann in Theres’ Richtung. Sein schwarzes Haar war mit weißen Fäden durchzogen. Die Frau folgte seinem Blick. Sie wandte sich um, wuchtete ihren fülligen Körper von dem Stuhl und näherte sich lächelnd. Ihre braunen Augen blickten freundlich und gar nicht entsetzt über das, was sie sahen. Sie streckte Theres die Hand entgegen. Anstelle der Finger waren knotige Geschwülste zu sehen, durch die an manchen Stellen das rohe Fleisch schimmerte.
»Mein Name ist Fyen. Du bist wohl heute erst auf den Hof gekommen. Wie heißt du denn, Liebchen?«
»Theres.« Sie spürte erneut, wie Tränen in ihren Augen brannten.
Die dicke Frau griff mit der gesunden Hand nach ihrer und zog sie zu dem Tisch, an dem sie gesessen hatte. »Komm, gesell dich zu uns. Das ist mein Gemahl. Eigentlich heißt er Conradt, aber alle nennen ihn Bloitworst. Er ist Bader von Beruf. Doch als die Sieche uns heimsuchte, durfte er nicht weiterarbeiten. Für das wenige Geld, das wir gespart hatten, haben wir dann hier die Pfründe erworben.« Sie rückte den freien Stuhl vom Tisch und wies mit der kranken Hand darauf.
Theres ließ sich nieder. Der Kloß in ihrem Hals schwoll an, und plötzlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Erst nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, erzählte sie Fyen und Bloitworst von ihrem Mann. »Berthold hat mich zu meinen Eltern zurückgebracht, als die Pusteln in meinem Gesicht immer dicker wurden. Er wolle nicht sterben, hat er gesagt.« Theres holte tief Luft. »Dabei wusste er nicht einmal, ob es die Sieche ist.«
»Du Ärmste, das muss schlimm für dich gewesen sein.« Fyens Augen zeigten ehrliches Mitgefühl. Sie griff über den Tisch nach Theres’ Hand und drückte sie. »Bloitworst hat der Aussatz zuerst befallen. Doch ich hätte ihn nicht allein auf den Hof der Leprosen ziehen lassen.« Fyen warf ihrem Mann einen liebevollen Blick zu. »Und dann hat es nicht mehr lange gedauert, bis auch bei mir die Sieche ausbrach.«
Theres blickte Bloitworst fragend an. Von einem Aussatz war bei ihm nichts zu sehen.
»Es ist sein Fuß.« Es schien, als hätte Fyen ihre Gedanken gelesen.
Theres wagte einen vorsichtigen Blick unter den Tisch. Dort, wo der rechte Fuß einmal gewesen war, befand sich nur noch ein verknoteter Klumpen mit einem Zeh. Sie schluckte, hob den Blick und kämpfte gegen die Tränen, die erneut aufsteigen wollten.
»Das einzig Gute ist, dass wir keine Schmerzen haben. Wir spüren die Wunden nicht.« Fyen strich mit den gesunden Fingern über die knotige Hand.
»Sie haben gesagt, dass es keine Heilung gibt«, wisperte Theres mit erstickter Stimme. »Es ist nicht der Tod, den ich fürchte. Es ist das Sterben.« Unaufhörlich drängten nun wieder die Tränen aus ihren Augen. Das Leid in ihrer Brust ließ sie laut aufschluchzen.
Fyen drückte sie an sich und strich über ihr Haar. »Wir leben noch, Theres. Lass uns nur an heute denken. Das Morgen liegt in Gottes Hand. Jeder Tag, den wir noch auf Erden sind, ist ein Geschenk.«
»Ich kann nicht nur an den heutigen Tag denken«, widersprach Theres. »Was soll denn aus dem Kleinen werden, wenn ich einmal nicht mehr bin?« Sie hob den Blick und schaute in Fyens ratlose Augen.
Der Windzug, der sich in Alenas Haar verfangen hatte, jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Sie ließ sich auf der Fensterbank nieder und sog tief die Nachtluft ein, die mit einer sanften Brise die Schwüle des Tages vertrieb. In der Gasse schob ein Schissemeister das braune Gold der Kölner Bürger auf einer Karre vor sich her, die allem Anschein nach den Weg hinunter zum Rhein nicht mehr lange schaffen würde.
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