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Der 16-jährige Nummer 19 träumt insgeheim davon, als Erwachsener ein Held und bedeutender Name zu werden. Die 19 hat ihm in seinem Leben bisher kein Glück gebracht. Doch als der Tag der Namensgebung endlich gekommen ist, lösen sich seine Hoffnungen in Unglauben auf. Er erhält einen Namen, den keiner zu kennen scheint. Wer ist dieser Tirasan Passario, dessen Namen er für den Rest seines Lebens tragen wird? Nur das große Namensarchiv in der Hauptstadt Himmelstor kann ihm Auskunft geben. Gemeinsam mit dem Krieger Rustan Polliander und dessen Freunden macht er sich auf in die weit entfernte Stadt. Doch die Reise entpuppt sich als gefährlicher als erwartet. Namenlose und dunkle Verfolger trachten der Gruppe nach dem Leben. Und auch sein eigener Name hält noch einige Überraschungen für Tirasan bereit ...
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Der Name ist der Schlüssel zur Seele.
Ich war an diesem Frühlingsmorgen in dem Wissen aufgewacht, dass es der bedeutendste Tag in meinem Leben sein würde. Heute würde ich offiziell für volljährig erklärt werden. Heute würde ich endlich meinen Namen bekommen und erfahren, wer ich war.
Aufgeregt stand ich im Festsaal meiner Schule und saugte die Eindrücke in mich auf. Der Raum war anlässlich des besonderen Ereignisses feierlich geschmückt mit den Wappen der größten Dynastien des Landes. Blumensträuße in allen Ecken ergänzten die festliche Dekoration und verströmten einen warmen Geruch, der für mich Hoffnung versprach.
Endlich würde alles anders werden.
Mein Herzschlag pochte so laut in meinen Ohren, dass er sogar das Geschnatter der anderen Schüler neben mir übertönte. Ich konnte mich nicht richtig auf ihre Gespräche konzentrieren, mir ihre Spekulationen, Hoffnungen und Träume oder manchmal sogar Ängste anhören. Dies war für alle Schüler der Frühlingsgruppe 1276 in Tummersberg ein wichtiger Tag. In Kürze würden wir nicht länger als bloße Nummern gelten, gleich würden wir endlich unsere Namen erfahren.
»Was passiert, wenn wir keinen Namen haben?«, fragte Nummer 7, ein schmächtiger Junge mit schwarzen Haaren und Pickeln, ängstlich.
Nummer 2, der wie immer vor Selbstbewusstsein strotzte, lachte auf. »Jeder hat einen Namen, du Dummkopf!« Er musterte Nummer 7 verächtlich. »Aber ich wette, in deinem Fall ist es ein unbedeutender. Stell dir vor, du bist ein Bedduar und musst ab morgen jeden Tag über die Felder laufen, um Getreide auszusäen oder zu ernten! Ich würde mich umbringen vor lauter Scham!«
Nummer 2 lachte laut und Nummer 9 schloss sich ihm an. Beim Klang ihres Lachens drehte ich mich unwillkürlich zu der Gruppe um und starrte die Kontrahenten an.
Das Gesicht von Nummer 7 war vor Scham knallrot angelaufen, während Nummer 2 die Aufmerksamkeit genoss, die ihm dank seines Spotts zuteilwurde. Hin und wieder blickte er zu Nummer 1 hinüber, einem schlaksigen, blonden Jungen, der mit einem abwesenden Gesichtsausdruck zu den Ehrengästen auf der anderen Seite des Festsaals starrte. Er schien auf jemanden zu warten und hatte nicht mitbekommen, wie sein bester Freund wieder einmal einen ihrer Klassenkameraden piesackte.
Ich mochte Nummer 2 nicht und hielt mich daher meistens von der Gruppe um ihn herum fern, zu der neben Nummer 1 auch die beiden Mädchen Nummer 9 und Nummer 5 gehörten.
Laut Gesetz war jedes Kind ohne Namen nur eine Nummer und jede Nummer war genauso viel wert wie die anderen. Ich hatte allerdings festgestellt, dass das in der Wirklichkeit ganz anders aussah. Es gab große Nummern, Mitläufer-Nummern und unwichtige Nummern, genauso wie dies für Namen in der Welt der Erwachsenen galt. Und wenn du eine wichtige Nummer warst, wurdest du von den Lehrern und Mitschülern anders behandelt als eine unwichtige Nummer. Und ratet mal, was ich war …
»Nummer 7 ist kein Bedduar«, sagte plötzlich jemand und ich erkannte verdrossen, dass es meine eigene Stimme war. So viel also zu meinem Vorsatz, mich nicht mehr einzumischen, wenn Nummer 2 sich wieder einmal aufspielen wollte. Leider ging mir der dunkelhaarige Junge mit seiner großen Klappe nur so sehr auf die Nerven, dass ich mich jedes Mal wieder von ihm ärgern ließ.
»Hast du etwas gesagt, Nummer 19?«, fragte er sofort mit einem hämischen Grinsen. »Unser Streber weiß mal wieder alles besser, wie? Hast wohl schon heimlich im Vorfeld mit der Ellusan gesprochen, um zu erfahren, wer du bist, was? Und? Aus wie vielen Teilen besteht dein Name? Fünf?«
»Nur nicht aufregen!«, schalt ich mich. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich mich bei der Beleidigung verkrampfte.
Wichtige Persönlichkeiten hatten einen Namen, der aus zwei Teilen bestand. Manchmal bekamen sie noch einen dritten Teil hinzu, wenn sie ein wichtiges Amt innehatten, so wie beispielsweise die Ratsmitglieder von Tummersberg, die alle den Namen unserer kleinen Heimatstadt an ihren eigenen Namen anhängen durften.
Jemand, der bereits von Beginn an drei Namensteile hatte, konnte kein wichtiges Amt übernehmen, war aber noch wichtig genug, dass er in der Stadt bekannt war. Mit vier Namensteilen gehörte man zur hart arbeitenden Bevölkerung, war Handwerker oder Bauer ohne großen Besitz. Personen mit fünf Namensteilen waren höchst selten, sie hatten keinerlei Eigentum und keinen Beruf und mussten sehen, wie sie klarkamen. In der Schule arbeitete ein Mann mit fünf Namensteilen. Ich sah ihn jeden Tag, er wischte die Böden, trug den Müll raus und reinigte die Toiletten. Er durfte dankbar sein, dass die Schule ihm eine Arbeit gegeben hatte, da er keine besonderen Fähigkeiten besaß.
»Nein, ich habe nicht mit der Ellusan gesprochen«, entgegnete ich steif.
Es war verboten, vor dem Tag der Namensgebung mit einem Namensfinder zu sprechen. Als Nummer konnte man nur wenige Verbrechen begehen, für die man hart bestraft wurde. Vorzeitig seinen eigenen Namen erfahren zu wollen, war dabei das schwerste und wurde mit vorgezogenem Namensverlust geahndet, sodass der Schuldige nie seinen Namen tragen durfte.
Allerdings war es auch gar nicht so einfach, einem Namensfinder überhaupt zu begegnen. Es gab nur wenige von ihnen im ganzen Land, kaum ein Dutzend, und sie reisten für die Namensgebungen durch die Region, für die sie jeweils zuständig waren. Die Zeremonie fand vierteljährlich einmal in jeder Stadt und in jedem Dorf statt und war ein eintägiges Fest. Ein Ellusan blieb nie länger als zwei oder drei Tage an einem Ort und reiste dann weiter zur nächsten Namensgebung.
Der Namensfinder, in dessen Gebiet Tummersberg lag, war eine Frau von Anfang vierzig und natürlich kannten wir alle ihren Namen. Gesprochen hatte sie allerdings mit keinem von uns. Es war ihr verboten, mit Kindern zu reden, da die Gefahr zu groß war, dass sie zu früh den Namen einer Nummer erkannte. Es waren schon Nummern an der Magie ihres Namens gestorben.
»Ich freue mich schon darauf, Nummer 19, wenn du mir morgen die Stiefel putzen, das Zimmer aufräumen oder das Essen kochen musst. Obwohl – dich den Stall ausmisten zu sehen, wäre bestimmt auch sehr befriedigend«, höhnte Nummer 2 grinsend und schwelgte genüsslich in der Vorstellung.
»Ich bin kein Arbeiter!«, empörte ich mich, da meine Wut nun endgültig die Oberhand gewann. »Und ganz gewiss werde ich niemals dein Diener sein!«
»Oh, Nummer 19 träumt wohl davon, ein bekannter Name zu sein!«, rief Nummer 9 aus.
Unwillkürlich starrte ich sie an. Sie war das hübscheste Mädchen der ganzen Klasse und jeder rechnete damit, dass sie einmal eine richtige Schönheit sein würde, sobald sie ihren Namen erfahren hatte. Manchen Nummern sah man einfach an, dass sie einmal einen wichtigen Namen tragen würden.
Ich seufzte. Nummer 1, Nummer 2 und Nummer 9 hatten es gut. Sie würden mit Sicherheit ab heute einen bedeutenden Namen innehaben. Ich hingegen? Ich konnte nur davon träumen. Bislang jedenfalls hatte es das Leben nicht gut mit mir gemeint. Ich war der Kleinste der ganzen Klasse, sogar die meisten Mädchen waren einen halben oder einen ganzen Kopf größer als ich. Doch ich war nicht nur schmächtig, ich war auch schwächlich. Die kleinste Anstrengung ließ mich keuchen und rot anlaufen. Im Unterricht lachten mich die anderen Kinder daher häufig aus. Wenn ich ein Name gewesen wäre, hätte ich schon längst einen demütigenden Spitznamen wie Tomate oder Hänfling bekommen.
Neben meiner unscheinbaren Statur waren aber auch all meine restlichen körperlichen Merkmale eher unauffällig. Meine Haare waren von einem gewöhnlichen Braunton. In meinen matschbraunen Augen wollte gewiss kein Mädchen versinken, zudem waren sie auch noch kurzsichtig. Mit meinem stets angestrengten Blick und den allgegenwärtigen Büchern sah ich wie ein richtiger Streber aus. Zugegeben, ich war ein Streber. Am liebsten hielt ich mich nach dem Unterricht in der Bibliothek auf und las. Sport und körperliche Betätigung mochte ich nicht. Und wenn ich zu viel draußen war, dann tat mir die Sonne in den Augen weh und ich bekam sofort einen Sonnenbrand.
»Ab heute wird alles anders.«
Ich merkte erst, dass ich laut gesprochen hatte, als Nummer 2 und die anderen lachten.
»Du träumst wohl davon, dass du ein Krieger bist und einen halben Meter wächst, wenn du deinen Namen erfährst, was?«
Nummer 2 johlte und ich schluckte, doch die verhängnisvollen Worte ließen sich nicht mehr aufhalten. »Ja«, gestand ich meinem Gegner meinen größten Traum ein.
Meine Mitschüler explodierten vor Lachen und ich spürte, wie mein Gesicht knallrot anlief. Verdammt! Warum konnte ich nicht lügen, so wie alle anderen? Oder wenigstens einfach nur die Klappe halten, wenn Nummer 2 mit mir sprach? Ich hatte es so satt, eine Witzfigur in den Augen meiner Klassenkameraden zu sein!
»Sie ist da!«, erklärte plötzlich Nummer 1, der sich an der Schadenfreude der anderen nicht beteiligt hatte. Das Gelächter verstummte abrupt, als unsere Gruppe jetzt geschlossen hinüber zu den Ehrengästen starrte.
Sie war da!
Lorina Ellusan war keine Schönheit. Ihr mausbraunes Haar hielt sie kurz geschnitten und ihr Gesicht war wettergegerbt von der vielen Zeit an der frischen Luft. Aber wenn sie lächelte, dann musste man sie einfach anstarren. Ihre Präsenz war umwerfend. Die Magie ihres Namens umhüllte sie wie ein edler Mantel. Sie war eine der bekanntesten Namensfinderinnen der Welt und nun war sie hier, im kleinen Städtchen Tummersberg, und sollte mir und den anderen unsere Namen offenbaren.
Meine Hände schwitzten vor Aufregung. Wer war ich? Ein Krieger? Ein Polliander war am besten, sie galten als Elitekämpfer und arbeiteten in der Regel als Leibwächter für wichtige Namen aus den großen Dynastien. Ein Grekasol zu sein, war zwar nicht ganz so ruhmreich, aber es wäre definitiv schön, als Mitglied der Stadtwache endlich mal etwas Respekt zu erhalten.
Zu den großen Dynastien gehörten unter anderem auch die Deradas. Sie waren reisende Händler, die im Laufe der Jahrhunderte große Vermögen angehäuft hatten. Falls ich ein Derada war, konnte ich mir wahrscheinlich aussuchen, wo ich leben und ob ich arbeiten wollte.
Neben den Kämpfern und den Händlern gab es natürlich noch die verschiedenen Magier-Dynastien. Ich sah einen Zunu, einen Heiler, mit der Ellusan plaudern, während die Wellbann von Tummersberg, eine Wettermacherin, neben ihnen stand und lauschte. Sie hatte zur Feier des Tages für einen strahlend blauen Himmel und Sonnenschein gesorgt.
Doch die wirklich wichtigen Dynastien, das waren die fünf großen Herrscherdynastien. Sie herrschten über die fünf Länder des Kontinents – über jede große Stadt und jedes kleine Dorf. Sogar von ihnen war heute ein Vertreter erschienen, um Zeuge unserer Namensgebung zu sein.
Stille herrschte im Festsaal, als unser Schuldirektor vortrat, um die Gäste zu begrüßen. Ihre Namen rauschten nur so an mir vorbei. Ich hoffte, dass ich später noch einmal ordentlich vorgestellt werden würde. Ich wollte niemanden beleidigen, indem ich ihn nicht mit seinem Namen ansprach.
»Und nun begrüßen wir ganz herzlich die große Lorina Ellusan!«, sagte der Direktor schließlich. Applaus brandete auf und ich zuckte zusammen. Nun war es endlich so weit!
»Nummer 1, tritt vor!«, bat die Namensfinderin sanft. Ihre Stimme war leise, doch sie brannte sich in meine Ohren.
Nummer 2s bester Freund begab sich zu ihr in die Mitte des Saals. Die Ellusan stand neben einer langen Tafel, auf der die Wappen aller bekannten Dynastien der Welt lagen. Es waren hunderte unterschiedlicher Wappen, die von den Ratsmitgliedern von Tummersberg anlässlich des feierlichen Ereignisses aus der sicheren Verwahrung geholt und hierhergebracht worden waren. Manche der Wappen waren alt und ihre Dynastien so selten, dass ein Stadtbewohner sie nur bei der Namensgebungszeremonie zu Gesicht bekam.
Sobald die Namensfinderin Nummer 1 seinen Namen gesagt hatte, würde sie ihm sein Wappen überreichen. Von da an musste er es jeden Tag offen sichtbar um seinen Hals tragen und durfte sich Kleidung mit seinem Wappen anfertigen lassen.
Nummer 1 hielt inne, als er die Ellusan erreichte. Ich beneidete ihn um seine Gelassenheit. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie gleich unter meinem schmächtigen Körper zusammenbrechen, doch der schlaksige Junge mit den blonden Haaren wirkte ruhig und selbstbewusst.
»Gib mir deine Hand und sieh mir in die Augen!«, sagte die Namensfinderin. Nummer 1 folgte ihrer Aufforderung, ohne zu zögern.
Magie lag in der Luft und bescherte mir eine Gänsehaut am ganzen Körper, als Lorina Ellusan nun die Hand von Nummer 1 hielt und ihm für einen langen Moment in die Augen starrte.
»Ich grüße dich, Rustan Polliander«, sagte sie schließlich sanft.
Der blonde Junge keuchte, als er seinen Namen hörte. Die Namensmagie schien ihn wie ein Blitzschlag zu treffen. Er wankte einen kurzen Moment und ging dann in die Knie. Und dann veränderte er sich.
War er zuvor schon groß gewesen, so legte er jetzt noch ein paar Zentimeter zu. Doch noch beeindruckender als seine zusätzlichen Zentimeter in der Höhe waren die in der Breite.
Ich glaubte, Knochen knirschen zu hören, als seine Schultern plötzlich auf die doppelte Breite anwuchsen. Seine Muskeln an Armen, Oberkörper und Beinen dehnten sich aus. Das blonde Haar, das er stets kurz getragen hatte, reichte ihm in der nächsten Sekunde über den halben Rücken.
Als die Magie abebbte, sah Rustan Polliander auf und erhob sich langsam. Wo vor wenigen Sekunden noch ein schlaksiger Junge gestanden hatte, stand nun ein imposanter Mann und Krieger und starrte uns gelassen an.
»Wir grüßen dich, Rustan Polliander«, sagte ich zusammen mit den restlichen Anwesenden. Der junge Elitekämpfer nickte uns dankbar zu. Lorina Ellusan hatte unterdessen zwei Schritte nach rechts gemacht und zielsicher nach der Kette mit dem Wappen des jungen Kriegers gegriffen. Er erhielt sein Wappen von der Namensfinderin, hängte es sich um den Hals und ging dann zu den Gästen auf der anderen Seite des Saals hinüber, wo ihm die Leute respektvoll die Hand schüttelten.
Kurz durchlief mich ein Stich der Eifersucht. Genau das wollte ich auch! Ein Polliander zu sein, war so was von grandios!
»Nummer 2, tritt vor!«, bat die Namensfinderin als Nächstes, nachdem das Gemurmel wieder etwas nachgelassen hatte.
Nummer 2 ließ sich nicht zweimal bitten und stolzierte zur Ellusan hinüber, während er herablassend zu allen Seiten hin nickte. Hoffentlich war er ein Bedduar!
»Ich grüße dich, Baro Derada.«
Erneut erfüllte der Geruch nach schwerer Sommergewitter-Magie die Luft, als sich die Augen von Nummer 2 weiteten und er einen tiefen Atemzug machte. Seine Kleidung knisterte, als sich seine braune Schuluniform in ein edles Gewand aus rotem und blauem Samt verwandelte. Wie Rustan legte er noch ein paar Zentimeter zu und wurde fülliger, doch wo der junge Krieger mit seiner körperlichen Präsenz beeindruckte, verströmte der junge Händler einen Hauch von Selbstbewusstsein, Reichtum und Arroganz.
»Wir grüßen dich, Baro Derada«, intonierte der ganze Saal, während ich den Mund öffnete und doch keinen Ton über die Lippen brachte.
Es war einfach ungerecht! Obwohl ich gewusst hatte, dass Nummer 2 einen bedeutenden Namen haben musste, so war es doch unfair, wie bedeutend. Es war Baro Derada gewesen, der die Händlerdynastie der Deradas vor knapp zweihundert Jahren zu ihrer heutigen Größe geführt hatte. Seine Feinde hatten mehrfach versucht, den skrupellosen, wenn auch brillanten reisenden Händler zu vergiften, zu erstechen und zu erschlagen. All ihre Versuche waren dank seines Leibwächters gescheitert. Und ratet mal, wer das gewesen ist? Richtig, Rustan Polliander. Die besten Freunde von einst waren wieder vereint.
Die Namensgebung von Nummer 3 und Nummer 4 rauschte an mir vorbei, ohne dass ich ihre Namen mitbekam. Anhand der Kleidung der ehemaligen Nummer 4 wusste ich, dass er ein Enbua sein musste. Denn nur Tischler trugen ihre Werkzeuggürtel stets um die Hüfte. Der junge Tischler wurde gleich nach seiner Namensgebung von einem älteren Kollegen in Beschlag genommen. Die beiden begannen ein angeregtes Gespräch, während Lorina Ellusan als Nächstes Nummer 5 aus der alten Clique von Rustan Polliander und Baro Derada nach vorne rief. Die beiden sahen aufmerksam zu, während die Namensfinderin dem jungen Mädchen tief in die Augen sah.
Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht der Ellusan, bevor sie sagte: »Ich grüße dich, Nelia Wabloo.«
Dieses Mal war die Namensmagie nicht wie ein Sommergewitter, sie war eine Sturmflut, die den Saal überschwemmte. Die Wappen erhoben sich von der Tafel und tanzten durch die Luft. Die Blumen im Saal erstrahlten plötzlich in voller Blüte und vervielfältigten sich. Der ganze Saal verwandelte sich in eine Frühlingslandschaft, als die junge Magierin erwachte.
»Wir grüßen dich, Nelia Wabloo.«
Beim Klang unserer Stimmen verlor Nelia ihr Lächeln. Sie zuckte zusammen und die Wappen fielen wieder auf den Tisch zurück. Die Ellusan reichte der Magierin ihr Dynastie-Wappen, während sich Nelia wieder in eine unscheinbare junge Frau verwandelte. Hatte ich mir ihre strahlende Schönheit nur eingebildet? Waren das etwa nur Freude und das Aufblitzen ihrer Namensmagie gewesen, die sie hatten strahlen lassen?
Ich musterte Nelia noch einen kurzen Moment und meinte für eine Sekunde einen magischen Schleier über ihrer Gestalt zu sehen, doch im nächsten Moment blinzelte ich und er war verschwunden. Hatte ich mich getäuscht?
Nummer 6 wurde eine Fiento und freute sich sichtlich über ihren dreiteiligen Namen. Sie war eine der wohlhabenden Obstbäuerinnen.
Nummer 7, der vorhin noch Angst hatte, überhaupt keinen Namen zu haben, entpuppte sich als Ellutor und würde zukünftig in einem der Namensarchive unseres Landes arbeiten. Ich freute mich für ihn. Am liebsten wäre ich zwar ein Polliander oder ein anderer bedeutender Name, aber wenn mir dieses Glück nicht vergönnt sein sollte und ich nur einen dreiteiligen Namen bekam, dann wäre ich am liebsten ein Ellutor. Mein bester Freund war ein Ellutor und die Vorstellung, mit ihm zusammen im Namensarchiv arbeiten zu dürfen, ließe mich mit Sicherheit die Enttäuschung besser verkraften.
Nachdem wir mit Nummer 8 einen neuen Curill unter den Webern von Tummersberg begrüßen durften, war endlich Nummer 9 dran. Begierig verfolgte ich, wie sie mit einem leichten Lächeln vor die Namensfinderin trat.
Dieses Mal brauchte die Namensfinderin ungewöhnlich lange, bevor sie den Namen von Rustans, Baros und Nelias Freundin bekannt gab.
»Ich grüße dich, Allira Varianda.«
Allira Varianda! Ich ließ mir den Klang des Namens auf der Zunge zergehen, während seine Magie durch den Saal hallte wie ein Glockenschlag.
Die junge Sängerin lachte hell, während sich ihr strohblondes Haar in reines Gold verwandelte und ihr in langen Locken über den Rücken fiel. Anstatt ihrer Schuluniform trug sie nun ein schönes, grünes Kleid. Ihr Gesicht strahlte vor Freude und ich verlor die Fähigkeit zu atmen.
Sie war wunderschön!
Mein Herzschlag setzte kurz aus, als ich sie anstarrte. Ich verpasste, wie der Saal Allira begrüßte, und beobachtete dann, wie sie sich zu Rustan und ihren anderen Freunden gesellte. Eine Minute später schmiegte sie sich an die Brust des jungen Kriegers und mein Magen krampfte sich zusammen. Ich musste ein Polliander werden, wenn ich eine Chance bei ihr haben wollte!
Unsere Klasse offenbarte noch einen Kurier, zwei Einzelhändler, drei Bauern, einen Maler, einen Söldner und einen Fischer, bis ich, der Jüngste der Frühlingsgruppe, endlich dran war.
»Nummer 19, tritt vor!«, sagte die Namensfinderin und verfolgte mit einem leisen Lächeln, wie ich ihr langsam und mit wackligen Knien entgegen ging.
Nun endlich würde ich erfahren, wer ich war! Mein Herz raste in meiner Brust. Am liebsten hätte ich gelacht, geschrien oder getobt, um meiner Gefühle, die gerade über mich hereinbrachen, Herr zu werden.
»Bitte, lasst mich ein Polliander sein! Oder wenigstens einen anderen bedeutenden Namen haben!«, flehte ich stumm die großen Namen an.
Meine Hand schwitzte, als ich sie in die Hand der Ellusan legte. Obwohl die Namensfinderin nicht viel größer war als ich, schien meine Hand in ihrer unterzugehen.
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als ich meinen Kopf hob und ihrem warmen Blick begegnete. Ihre braunen Augen schienen in mich hineinsehen und erkennen zu können, was ich fühlte und dachte. Ich war von ihrem Blick gefangen und einen Moment lang erlag ich der Illusion, ich würde in einen Spiegel sehen und in meine eigenen Augen fallen. Es lag Magie darin. Meine Hand kribbelte, als die Ellusan ihre magischen Fühler nach mir ausstreckte und mein gesamtes Wesen erfasste.
Kurz stockte ihr der Atem, dann lächelte sie mich an. Sie öffnete den Mund – Jetzt war es so weit! – und sagte: »Ich grüße dich, Tirasan P–«
Ja, ein Polliander!
»–assario!«
Nein! Ich hatte doch ein Polliander sein wollen!
Ich kämpfte gegen meine Enttäuschung, während ich auf das Erwachen meiner Namensmagie wartete. Mein Körper kribbelte, als würde eine Kolonie Feuerameisen über meine Haut laufen, und kurz schwankte ich, weil ich vor lauter Aufregung das Luftholen vergessen hatte.
Als ich nach Luft schnappte, legte mir Lorina Ellusan meine Wappenkette um den Hals. Ich wartete immer noch, dass etwas passierte.
Doch nichts geschah. Ich wuchs nicht. Meine Frisur änderte weder Form noch Farbe. Meine Augen konnten auch nicht plötzlich besser sehen. Ich wurde nicht auf einmal von einer Flut an Wissen erfüllt oder sah eine riesige Tabelle aus Zahlen vor meinen inneren Augen, die nun urplötzlich zum allerersten Mal einen Sinn ergab.
Ich war noch immer der kleine, schwächliche Wicht, der ich nach dem Aufstehen gewesen war, und bodenlose Enttäuschung machte sich in mir breit.
Ich hatte nun meinen Namen. Aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wer ich war.
»Ich lebte in Finsternis und Nacht,kannte weder mich noch meine Macht.Voller Furcht, Zweifel und Sorgenhielt ich mich vor der Welt verborgen.Doch dann flüsterte er– Magie und Zauber! –und ich sah das strahlende Licht,das sich in seinen Augen bricht,und wusste, das bin ich.Denn nun kenne ich mich.Mein Name ist Terbo Kurian.«
(Erinnerungen des großen Dichters Terbo Kurian an seine Namensgebung)
Die Schule von Tummersberg war wie ein riesiger Bienenstock. Das große Gebäude mit den vielen Anbauten lag auf einem Hügel etwas außerhalb des Stadtrands und sah auf die anderen Gebäude hinab. Seine Lage unterstrich, was alle insgeheim wussten: Nummern waren anders als Namen.
Nummern durften nicht ohne Begleitung oder vorherige Ankündigung der Schule nach Tummersberg hinunter und der Direktor bewilligte für jeden Schüler nur einen Besuch pro Jahreszeit. Da der Ausflug als Privileg galt, war er eines der ersten Dinge, die einem ungehorsamen Schüler weggenommen wurden. Ich hatte seit meinem sechsten Lebensjahr nur ungefähr zehnmal die Stadt gesehen. Leider hatten meine Wortgefechte mit Nummer 2 immer nur mich in Schwierigkeiten gebracht.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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