6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €
Ein adliger Erbe, ein Gestaltwandler, der ihn hasst, und der Fluch einer Hexe – eine moderne und raffinierte Mischung aus Märchen, Fantasy, Spannung und Liebesgeschichte von Bestseller-Autorin Nicole Gozdek »Emanio senkte den Kopf und schloss die Augen, als er begriff, dass er für immer ein Panther bleiben und in dieser Gestalt gefangen sein würde, wenn es ihm nicht gelang, bis zur Wintersonnenwende seine wahre Liebe zu finden. Doch wie sollte das gehen? Wer würde sich schon in eine Bestie verlieben?« Der schöne Herzogssohn Emanio ahnt nichts von den Intrigen, die seinen Ruf zerstören und sein Leben beenden sollen. Als er von einer Hexe für seine Verbrechen in eine Bestie verwandelt wird, ist es ausgerechnet Wildhüter und Luchsgestaltwandler Lerio, der ihm das Leben rettet – dabei war jener ins Schloss gekommen, um Emanio für die Verführung seiner Schwester zur Rechenschaft zu ziehen. Die Umstände zwingen die beiden zusammenzuarbeiten, um Emanios Feinde aufzuspüren und den Fluch zu brechen. »Nicole Godzek erschafft hier das Bild einer Gesellschaft voller Akzeptanz, wie auch unsere eigentlich sein sollte. Erstaunlich, was ein Märchen alles bewirken kann, nicht wahr?« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Eine schöne, magisch intensive, gefühlvolle Märchenadaption mit zwei interessanten Protagonisten, die ich gern gelesen habe.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Fantasievolle Märchenadaption.Gleich der erste Satz im Buch hat mich begeistert und bei dem ich mir dachte "Na das geht ja gut los". Und dieses Gut wurde zum super Gut und zum Wunderbar.« ((Leserstimme auf Netgalley))
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Emanio – Der Schöne und das Biest« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Isabell Schmitt-Egner
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de
Covermotiv: Shutterstock.com und Freepik
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Kapitel 1: Emanio
Kapitel 2: Lerio
Kapitel 3: Emanio
Kapitel 4: Lerio
Kapitel 5: Emanio
Kapitel 6: Lerio
Kapitel 7: Emanio
Kapitel 8: Lerio
Kapitel 9: Emanio
Kapitel 10: Lerio
Kapitel 11: Emanio
Kapitel 12: Lerio
Kapitel 13: Emanio
Kapitel 14: Lerio
Kapitel 15: Emanio
Kapitel 16: Lerio
Kapitel 17: Emanio
Kapitel 18: Lerio
Kapitel 19: Emanio
Kapitel 20: Lerio
Kapitel 21: Emanio
Kapitel 22: Lerio
Kapitel 23: Emanio
Kapitel 24: Lerio
Kapitel 25: Emanio
Kapitel 26: Lerio
Kapitel 27: Emanio
Kapitel 28: Lerio
Kapitel 29: Emanio
Kapitel 30: Lerio
Kapitel 31: Emanio
Kapitel 32: Lerio
Kapitel 33: Emanio
Glossar
Es war einmal … ein Idiot, der nicht aus seinen Fehlern lernte. Und dieser Idiot bin ich.
Mit diesem Gedanken, einem Stöhnen und einem unterdrückten Fluch auf den Lippen öffnete Emanio seine verklebten Lider, als es laut an seiner Schlafzimmertür klopfte. Das Geräusch von knochigen Fingern auf altem Holz verstärkte das dumpfe Dröhnen in seinem Schädel, welches ihn wieder einmal plagte und weiterwuchs, als er gegen das unbarmherzige Licht der Morgensonne anblinzelte, das ihm lanzengleich in die Augen stach.
Zusätzlich zum Schmerz schoss eine Welle von Übelkeit durch seinen Körper und er verharrte rasch in seiner Aufwärtsbewegung, während er die Augen schloss und gegen den Drang kämpfte, sich zu übergeben. Seine Arme zitterten so stark, dass er kraftlos zurück in die Kissen sank, die sich unangenehm klamm unter ihm anfühlten. Längst zählte er nicht mehr, wie häufig er verschwitzt, bebend und mit einem Kater nach einem nächtlichen Exzess aufgewacht war und sich selbst und Morio gegenüber geschworen hatte, es nie wieder zu tun.
Warum habe ich Narr mich nur wieder überreden lassen, zu Akurios Soiree zu gehen?
Wie so oft wusste er nicht mehr, wie er von der ausgelassenen Abendveranstaltung seines Bruders zurück in seine Gemächer gekommen war, geschweige denn, wann er sich zu Bett begeben und wie viel er auf der Feier getrunken hatte. Vielleicht hatte einer der Diener oder eine seiner Wachen ihm zurück zu seinen Gemächern helfen müssen. Wie peinlich!
Er hätte auch nicht sagen können, was im Laufe des gestrigen Abends und der Nacht passiert war. Vereinzelte Erinnerungsfetzen tauchten wie Blitze in seinem Gedächtnis auf und brachten für einen kurzen Moment Licht in die Dunkelheit, bevor sie wieder verblassten. Aber die Erinnerungen hätten auch von einem beliebigen anderen Abend stammen können. Eindrücke von ausgelassenen Tänzen mit lächelnden jungen Frauen, von verschwitzten Körpern in zu dünnen Sommerkleidern, die sich unangenehm dicht an ihn drängten, von lautem Gelächter und von Akurios Freunden, die ihm Gläser mit prickelnden, bunten Getränken in die Hand drückten und ihm kraftvoll auf die Schulter klopften, wenn er sie in einem Zug leerte, strömten Schlag für Schlag auf ihn ein und weckten in ihm Bedauern, dass er erneut schwach geworden war.
Warum hatte er nicht höflich abgelehnt, als Akurios Freunde ihn angefleht hatten, mit ihnen auf die Soiree zu gehen?
Dabei hatte er noch entschieden Nein gesagt, als sein Bruder ihn gefragt hatte, hatte andere Verpflichtungen vorgeschoben und versucht, der Versuchung zu widerstehen. Doch die Entschlossenheit, die er Akurio gegenüber an den Tag gelegt hatte, hatte nicht lange gehalten. Als Akurio ihn kurze Zeit später vor seinen Freunden damit aufgezogen hatte, dass er sie im Stich lassen würde, hatte sie sich aufgelöst wie Nebel an einem warmen Sommermorgen. Der Druck seiner gesellschaftlichen Verpflichtungen als Erbe ihres Vaters war allgegenwärtig, und als sie ihn dann zu sechst bedrängt hatten, waren ihm rasch die Gründe ausgegangen, der Feier fernzubleiben.
Natürlich fielen sie ihm jetzt wieder ein, als Morio ein weiteres Mal an die Tür zu seinem Schlafgemach klopfte und sie dann öffnete, ohne weiter auf seine Antwort zu warten.
»Guten Morgen, Eure Durchlaucht!«
Emanio musste Morio, der trotz der frühen Stunde mit Sicherheit tadellos gekleidet war, nicht ansehen, um zu wissen, dass sich das Gesicht seines Sekretärs bei seinem Anblick enttäuscht verzog. Er musste sich auch nicht anhören, was Morio zu sagen hatte, denn er kannte jeden Vorwurf und jede Ermahnung, die Morio gewiss auf den Lippen lag.
Daher war es eine kleine Überraschung, als Morio lediglich mit leichter Resignation in der Stimme meinte: »Es ist bereits kurz nach sieben, Eure Durchlaucht.«
Widerwillig schlug Emanio die Augen auf und musterte Morios Miene, der am kleinen Schreibtisch stand und mit zusammengepressten Lippen und Sorgenfalten auf der Stirn den großen Stapel Umschläge durchging, die am Vortag gekommen waren.
»Ist ein Brief aus Nadus dabei?«, erkundigte er sich beiläufig. Dieses Mal rebellierten sein Magen und seine Muskeln nicht, als er sich langsam aufsetzte.
Morio hielt beim Sortieren und Öffnen der Briefumschläge inne. Ein kurzer Blick streifte Emanio, verfinsterte sich bei seinem Anblick und widmete sich dann wieder der allmorgendlichen Aufgabe. »Ich bedaure, Eure Durchlaucht. Es ist schon seit Tagen kein Bote aus der Hauptstadt gekommen.«
»Etwas Wichtiges, um das ich mich sofort kümmern sollte?«
Der bloße Gedanke, bereits am frühen Morgen eine Krise meistern zu müssen, ließ ihn erneut in Schweiß ausbrechen.
»Ein paar Gesuche um Hilfe – diese werde ich Euch nach dem Frühstück vorstellen. Ein Brief einer Verrückten, mit dem Ihr Euch nicht befassen müsst. Und ein Dutzend Einladungen, darunter eine zu einem Maskenball bei Baronesse di Porlione – als wüssten wir nicht, dass diese liederliche Säuferin die Maskenbälle nur dazu nutzt, um ungestraft über die Stränge zu schlagen und so viele junge Männer wie möglich zu verführen!« Morio schnaubte und zum ersten Mal an diesem Morgen hatte Emanio das Gefühl, dass Morios Missbilligung nicht ihm galt. »Außerdem ist eine Einladung von Baron di Nadione zu einem Kartenabend auf seinem Stadtschloss gekommen – vermutlich geht es ihm darum, sich mit seinem nichtsnutzigen Freundespack über Frauen zu unterhalten und sich mit seinen Eroberungen zu brüsten. Schürzenjäger allesamt! Und zu guter Letzt eine Einladung zu einem Jagdausflug von Graf Zorak, womit er vermutlich einen Angelausflug meint, weil für den hässlichen Faulpelz Fußmärsche durchs Unterholz eine närrische Erfindung sind. Auch nur eine dieser Einladungen anzunehmen, würde ein falsches Signal an die Bevölkerung senden. Die Baronesse, der Baron und der Graf sind keine Personen, mit denen Ihr Euch – mehr als die Höflichkeit verlangt – abgeben solltet. Ihr müsst ein moralisches Vorbild sein!«
Emanio spürte den Tadel beinahe körperlich und sackte ein wenig in sich zusammen.
»Ja, du hast recht.« Er rieb sich die schmerzenden Schläfen, die weiterhin stark pochten, und wünschte sich, er hätte sich wieder hinlegen können. Doch er machte nicht den Fehler, eine Vertagung vorzuschlagen. Auch wenn er der Herzogssohn und Erbe von Ternilus war und Morio lediglich sein Sekretär, so verfügte doch Morio über den größten Teil seiner Zeit und nicht er selbst.
»… eine formale Absage schicken?« Morios Frage riss ihn aus seinen Gedanken.
»Was?«
»Ich fragte, ob ich der Baronesse, dem Baron und dem Grafen wie besprochen eine Absage schicken soll oder ob Ihr noch etwas ergänzen möchtet?«
»Bitte kümmere dich darum. Ich habe nichts hinzuzufügen.«
»Sehr wohl, Eure Durchlaucht. Dann überlasse ich Euch jetzt Eurem Frühstück und erwarte Euch um acht Uhr zur Besprechung des Tages. Ich brauche Euch ja nicht zu erinnern, dass um neun die erste Audienz beginnt.«
Mit schnellen Bewegungen sammelte Morio die Korrespondenz ein, verbeugte sich kurz vor ihm und verließ dann mit strammen Schritten das Schlafgemach, vorbei an einem schlanken, brünetten Dienstmädchen. Dieses neigte ehrerbietig den Kopf und knickste leicht, als es Morio passieren ließ, und betrat anschließend das Zimmer.
»Euer Frühstück, Eure Durchlaucht.«
»Vielen Dank, Elaria.«
Das Mädchen balancierte das schwer beladene Tablett vorsichtig auf einem Arm, während sie seinen Nachttisch freiräumte, um es dort abstellen zu können. Er unterdrückte ein Seufzen, als er sah, was sie ihm gebracht hatte.
Wenn ich das alles esse, rolle ich bald durch das Schloss! Falls ich mich nicht vorher übergebe!
Aber er sagte nichts angesichts der verschwenderischen Menge an Brot, Käse, süßem Gebäck und Früchten. Das Küchenpersonal brachte ihm stets eine große Auswahl seiner Lieblingsgerichte, aus Sorge, er könnte das Gewünschte nicht vorfinden und müsste seine kostbare Zeit damit verschwenden zu warten, während ein Dienstbote das Fehlende holte. Sie meinten es gut, auch wenn der Aufwand in seinen Augen nicht nötig gewesen wäre, da selbst der Hungrigste vor diesen Mengen kapituliert hätte. Und er hatte an diesem Morgen nicht den geringsten Appetit.
»Darf ich Euch auftun, Eure Durchlaucht?«
Elarias Frage riss ihn aus seinen Gedanken und er spürte, wie Hitze in seine Wangen schoss, als er den intensiven Blick bemerkte, mit dem sie sein Gesicht und seinen verschwitzten Oberkörper musterte. Er empfand das dringende Bedürfnis, sich den Schweiß und die Spuren der nächtlichen Exzesse abzuwaschen. Wie schrecklich er aussehen musste! Emanio kam sich unrein vor und fühlte sich mehr als unwohl, obwohl nur Morio und Elaria ihn in diesem Zustand gesehen hatten. Aber er musste offensichtlich sein, denn ansonsten hätte das Dienstmädchen nicht angeboten, ihm aufzuwarten, statt ihn wie gewohnt seinem Frühstück zu überlassen. Er ignorierte das Jucken, das sich auf seiner Haut wie eine Ameisenschar ausbreitete und schmerzhaft brennende Bisse hinterließ.
»Danke, Elaria. Das ist nicht nötig«, erwiderte er rasch und zwang sich, nicht wegzusehen wie ein schuldbewusster kleiner Junge. Stattdessen sah er auf und erwiderte ihren Blick, was sie erröten ließ. Anscheinend bemerkte sie erst jetzt, welche Vertraulichkeit sie ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte, denn sie schlug den Blick nieder und knickste, wobei sie vor lauter Verlegenheit beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert wäre.
»Verzeihung, Euer Gnaden … ich meine, Eure Durchlaucht. Benötigt Ihr noch etwas?«
Immer noch rot im Gesicht warf sie ihm einen weiteren schüchternen Blick zu und starrte dann auf seinen Oberkörper, vermutlich, um nicht Gefahr zu laufen, ihm erneut wie eine Gleichgestellte oder hochgeborene Dame von oben herab in die Augen zu sehen. Ihre Verlegenheit war so groß, dass sich die Röte ihren Hals hinab bis zu ihrer Brust ausgebreitet hatte, deren Ansatz er nun erahnen konnte. Sie musste bei der Arbeit mit der Kleidung irgendwo hintergehakt sein – vielleicht war das Tablett beim Tragen verrutscht? – wobei sie die beiden obersten Knöpfe verloren hatte. Doch Emanio beschloss, lieber nichts zu sagen, um sie nicht weiter in Verlegenheit zu bringen.
Stattdessen betrachtete er erneut sein üppiges Frühstück und entdeckte unter den Brötchen zwei kalte Bratenstücke, die von der Feier seines Bruders am Vorabend übrig geblieben sein mussten. Bei dem Anblick schüttelte sich sein gesamter Körper vor Abscheu. In den letzten sechs Jahren hatte er Fleisch, Wurst und Fisch immer zurückgehen lassen. Bei den Festgelagen packte er dennoch stets ein Stück auf seinen Teller, obwohl der Anblick und der Geruch ihm Übelkeit verursachten, zerkleinerte es und tat so, als hätte er davon gegessen, um sich nicht die spitzen Bemerkungen seines jagdbegeisterten Bruders anhören zu müssen. Dass er keine Tiere aß, würden Akurio und seine Freunde nicht verstehen.
»Was ist das?«
Elaria wurde bleich, als er die Brötchen anhob und sie die Bratenstücke bemerkte. »Es tut mir schrecklich leid, Eure Durchlaucht! Wir haben einen neuen Koch und anscheinend wusste er nicht, dass Ihr morgens kein Fleisch und keinen Aufschnitt wünscht. Es ist meine Schuld, ich hätte den Fehler bemerken müssen, bevor ich Euch das Essen bringe.«
Ihr Gesicht verfärbte sich vor Scham, als sie den Teller mit dem Beanstandeten wieder an sich nahm und Emanio die Brötchen, deren Unterseiten von der Bratensoße getränkt waren, angewidert zurück aufs Fleisch fallen ließ.
»Bitte verzeiht! Es kommt nie wieder vor!«
Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und erneut fühlte er sich unter ihrem eindringlichen Blick unwohl. Er nickte, woraufhin Elaria erneut knickste. Danach wandte sie sich endlich um, stolperte über den Bettvorleger und floh mit hochrotem Gesicht und dem Teller in der Hand aus seinem Schlafgemach, während er weiter versuchte, das Jucken zu ignorieren, das sich auf seinem Kopf und auf seiner Brust ausgebreitet hatte.
Ich brauche ein Bad! Sofort!
Schnell stand er auf, eilte mit großen Schritten ins Waschzimmer, wo schon die dampfende kleine Wasserschüssel, die ein anderer Diener gebracht haben musste, auf ihn wartete. Er hatte auf ein richtiges Bad gehofft, seufzte aber dennoch erleichtert, als er sich ungeduldig das feuchte Nachtgewand über den Kopf zog und nach dem Waschlappen griff. Diesen ließ er nur wenige Momente in der Schüssel einweichen, bevor er die Seife zur Hand nahm, sich gründlich das Gesicht, den Oberkörper und die Arme einschäumte und dann alles wieder abschrubbte. Danach begann er von vorn und dann erneut. So häufig wiederholte er die Prozedur, bis er nicht länger das Gefühl hatte, unrein zu sein, den Gestank fremder Leiber und den Dreck fremder Hände auf seinem Körper zu spüren. Stattdessen brannte die freigerubbelte Haut und endlich fühlte er sich wie ein neuer Mensch.
Rasch ging er in sein Ankleidezimmer, wählte angemessene Kleidung für einen Morgen voller Audienzen aus und zog sich an. Danach kehrte er in sein Schlafzimmer zurück, um zu frühstücken. Auch wenn ihm, wie ihm ein schneller Blick auf die Wanduhr verriet, kaum noch Zeit zum Essen blieb. Es war bereits kurz vor acht.
Doch der Anblick der restlichen Speisen weckte sowieso keinen Hunger in ihm, eher das Gegenteil. Und so nahm er sich lediglich eine Scheibe Brot, beschmierte sie schnell mit Butter, belegte sie mit einer Scheibe Käse, goss sich eine Tasse Tee ein und ging dann ins Wohnzimmer, wo er sich zwang, die nötige Stärkung für seinen bevorstehenden langen Tag zu sich zu nehmen. Dabei ignorierte er, dass der Tee kalt geworden war und einen bitteren Nachgeschmack hatte. Nach wenigen Schlucken ließ er den Rest stehen. Es wurde Zeit.
Als er seine Räumlichkeiten um Punkt acht Uhr verließ, erwarteten ihn Morio und zwei seiner allgegenwärtigen Wachen bereits. Die erneute Musterung durch Morio bestand Emanio mit einem beifälligen Nicken, und mit einem Anflug von Erleichterung bei Emanio machten sie sich gemeinsam auf den Weg zum Arbeitszimmer seines Vaters im Ostflügel.
Während seine Leibwächter vor der Tür warteten, ging er mit Morio rasch seinen Tagesablauf durch und unterschrieb nebenbei alle Dokumente, die sein Sekretär vorbereitet hatte. Dann war es bereits Zeit für die erste Audienz. Fünfmal pro Woche für jeweils drei Stunden konnte jeder Bewohner des Herzogtums das Schloss aufsuchen und sein Anliegen dem Herzog oder seinem Vertreter vortragen. Jede Frau, jeder Mann und jedes Kind wurden angehört, ganz gleich, worum es ging. Auch wenn Emanio bereits seit sechs Jahren als offizieller Vertreter seines Vaters fungierte und seine Nervosität angesichts der Wichtigkeit seiner Aufgabe verflogen war, nahm er seine Verpflichtung noch genauso ernst wie am ersten Tag.
Ich hätte am Vorabend einer Audienz wahrlich nicht feiern gehen sollen.
Doch er blendete den Anflug schlechten Gewissens rigoros aus und bemühte sich, höfliches Interesse auszustrahlen, als der erste Antragsteller, ein Mann mittleren Alters in einfacher Kleidung, an den beiden Wachen vorbei den kleinen Saal betrat. Aufrecht sitzend und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sagte Emanio: »Komm näher, guter Mann! Nenn uns deinen Namen und dein Anliegen.«
Etwas unterhalb des Herzogsthrons von Ternilus hatte Morio an einem kleinen Tisch Platz genommen und öffnete das Tintenfass, um seine Schreibfeder hineinzutauchen. Emanio sah aus dem Augenwinkel, wie er den Zauber in Gang setzte. Von jetzt an würde die Feder so lange Tinte aus dem kleinen Gefäß beziehen und Morio ohne Unterbrechung schreiben können, bis er das Schreibwerkzeug aus der Hand legte.
»Verzeihung, Euer Gnaden … Herzog Orsio …«
»Herzog Orsio hält sich derzeit in Nadus auf. Ich bin sein ältester Sohn, Emanio, und vertrete ihn in seiner Abwesenheit.«
»Die korrekte Anrede ist ›Eure Durchlaucht‹«, ergänzte Morio mit einem nachsichtigen Lächeln. »Und nun erzähl Seiner Durchlaucht, wer du bist und welches Anliegen dich hergeführt hat.«
Der Bauer nickte nervös und verbeugte sich unsicher vor Emanio. »Mein Name ist Bergo, Eure Durchlaucht. Ich besitze einen kleinen Hof ein paar Stunden südlich von hier. Wir betreiben ein wenig Viehzucht sowie Obst- und Gemüseanbau, doch überwiegend leben wir vom Getreideanbau.«
Bauer Bergo verstummte erneut. Emanio überraschte es nicht. Vielen Antragstellern war es unangenehm, dass sie in eine Lage geraten waren, in der sie Hilfe benötigten. Ihnen fiel es schwer, ihren Stolz oder ihre Scham beiseitezuschieben und ihre Bitte vorzutragen. Meistens benötigten sie dafür noch einen kleinen Anstoß von ihm.
»Wie kann ich dir helfen, Bergo? Ist mit deinem Hof alles in Ordnung?«
Der Angesprochene ließ den Kopf hängen, in seinen Augen zeigten sich jetzt die ersten Tränen. Emanio erhob sich, trat vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter, auch wenn sich das Gewand unter seinen Fingern rau und schmutzig anfühlte und in ihm den Drang weckte, in seine Gemächer zurückzueilen und sich erneut zu waschen.
»Erzähl es mir!«, forderte er leise.
»Es gab ein Feuer, Herr«, flüsterte der Bauer, als Emanios bewährte Geste der Ermunterung seine Wirkung zeigte. »Meine Ernte … sie ist … es ist alles verbrannt … Die Feuerhexe unseres Dorfes hat bei ihrer Untersuchung der Brandspuren herausgefunden, dass jemand versehentlich bei seinem abendlichen Heimweg mit seiner Laterne gestürzt ist und die Funken so auf das Feld gelangt sind. Die Trockenheit … alles brannte wie Zunder …«
Emanio drückte die Schulter des Bauern tröstend. »Mach dir keine Sorgen, Bergo. Du wirst neues Getreide zum Aussäen bekommen.«
»Aber, Eure Durchlaucht, ich kann mir keine neue Saat leisten! Und die Getreideernte … sie startet bereits in wenigen Wochen!«
»Das ist auch nicht nötig, guter Mann. Es ist die Aufgabe eines jeden Herzogs, dafür zu sorgen, dass seine Untertanen in Frieden leben können und dass niemand hungern muss. Es ist ein bedauerlicher Unfall gewesen, an dem du keine Schuld trägst. Morio, bitte sorge dafür, dass schnellstmöglich neue Saat zu Bauer Bergos Hof geliefert wird. Benachrichtige außerdem Peronio, dass seine Hilfe benötigt wird. Keine Sorge, Bergo, unser Erdhexer versteht seine Kunst. Er wird dafür sorgen, dass das Getreide rechtzeitig zur Ernte ausgewachsen sein wird und ihr keinen Schaden von dieser bedauerlichen Katastrophe zurückbehalten werdet.«
Bergos Augen weiteten sich voller Unglauben. Dann ging er überraschend in die Knie, ergriff Emanios Hand und küsste sie. »Habt Dank! Ich werde Euch Eure Großzügigkeit nie vergessen! Wir stehen auf ewig in Eurer Schuld. Ihr habt unsere Familie gerettet, meine Frau und meine Kinder können aufhören, sich vor Angst und Kummer in den Schlaf zu weinen. Und alles nur dank Euch, Euer Gnaden!«
Dieses Mal korrigierten weder Emanio noch Morio seine falsche Anrede. Als Bergo aufstand und Emanios Hand losließ, setzte sich Emanio zurück auf den Thron und lauschte gedankenverloren, als Bergo Morio alle notwendigen Informationen mitteilte und sein Sekretär anschließend einen Boten zum Erdhexer seines Vaters schickte. Erst als der Bauer überglücklich den Saal verlassen hatte, gestattete es sich Emanio, die feuchte Hand mit einem neben dem Thron für diese Fälle versteckten Tuch trocken zu wischen.
Danach nickte Morio zufrieden. »Gut gemacht. Euer Vater wäre stolz auf Euch.«
Emanio wusste nicht, was er darauf antworten sollte, daher schwieg er.
Auch die beiden nächsten Besucher waren ohne eigenes Verschulden in eine finanzielle Notlage geraten und Emanio war froh, dass er den Händlerinnen mit einem Abgabenaufschub und einem kleinen Darlehen helfen konnte. Die Frauen hatten unter Knicksen und überwältigten Bekundungen der Dankbarkeit für seine Großzügigkeit den Raum verlassen und Morio wollte gerade den nächsten Bittsteller hereinrufen, als Hauptmann Costario in den Saal stürmte und die beiden Wachen hinausbeorderte. Sofort nahm Morio vor dem Thron Aufstellung und auch Emanio suchte augenblicklich den Raum nach Attentätern ab, konnte aber nichts Verdächtiges erkennen. Bis auf Morio, Costario und zwei Botenjungen, die in Emanios Augen zu jung waren, um Auftragsmörder zu sein, waren sie die einzigen Personen im Saal. Verdächtige Magie wie Tarn- oder Kampfzauber konnte er ebenfalls nicht entdecken.
»Hauptmann?«, fragte er.
»Du verdammter Bastard! Du hast Nirelle verführt!«
»Raus mit euch!«, befahl Morio den Jungen.
Die beiden Boten rannten augenblicklich hinaus, während Emanio innerlich erstarrte und sich vor Schock nicht zu rühren vermochte. Seine Kopfschmerzen machten sich plötzlich wieder mit Macht bemerkbar. Wie Dolchstiche fuhr der Schmerz in seine Schläfen und ließ seine Augen tränen. Durch den Schleier bekam er mit, dass Costario mit Morio rangelte, der sich als unerwartet widerspenstig erwies. Die Verblüffung, den allzeit zurückhaltenden, grauhaarigen Sekretär raufen zu sehen wie einen betrunkenen heranwachsenden Burschen, riss Emanio aus seiner Regungslosigkeit.
»Was ist hier los? Hauptmann, erklärt Euch!«
»Leugnet Ihr es? Wie könnt Ihr es wagen!«
In einem erneuten Anflug von Wut schleuderte der Hauptmann Morio zur Seite und ging dann mit blitzenden meergrünen Augen und geballten Fäusten auf Emanio los. Er erinnerte ihn an eine vor Zorn tobende Seeschlange und Emanio zuckte unwillkürlich zurück. Doch er kam nicht weit, die Lehne in seinem Rücken verhinderte seine Flucht.
Costarios Faust schoss vor, auf Emanios Gesicht zu … und prallte mit einem lauten Klirren gegen eine Wand aus Eis, die sich urplötzlich zwischen ihnen beiden erhob.
»Haltet inne, bevor Ihr Verrat begeht, Hauptmann!« Morios Augen blitzten eisblau vor Empörung und nur Emanio erkannte, wie sehr ihn das Aufrechterhalten des magischen Schildes anstrengte. Normalerweise setzte der Sekretär seine Wassermagie lediglich in geringem Maße wie bei dem Tintenzauber ein, jedoch nicht im Kampf.
»Was erlaubt Ihr Euch, Hauptmann! Ihr vergesst Euren Eid und Eure Pflicht, wenn Ihr hier hereinstürmt und mich grundlos angreift!«
Endlich drangen sie zu Costario durch. Er senkte die Fäuste, wirkte aber immer noch angriffsbereit. »Es war nicht grundlos, Eure Durchlaucht!«, zischte er.
»Dann erklärt Euch! Sofort!«
»Ihr habt Nirelle verführt!«
»In Ordnung.« Emanio seufzte frustriert. »Ganz von vorne bitte. Wer ist Nirelle und warum denkt Ihr, dass ich sie verführt hätte?«
Es war ihm unverständlich, wie der Hauptmann auf die Idee gekommen war. Er kannte keine Frau namens Nirelle und ganz gewiss hatte er niemanden gegen dessen Willen verführt!
Aber leider war der Hauptmann nicht der Erste, der mit diesem Vorwurf zu ihm kam. Manchmal verliebten sich Mädchen und Frauen in ihn aufgrund seines Äußeren oder der Tatsache, dass er der Erbe eines Herzogs war, und ihre Väter, Brüder oder Verehrer gaben ihm dann die Schuld für ihre Schwärmereien, obwohl er die Mädchen und Frauen nicht ermutigt hatte. Er hätte also nicht überrascht von dem Vorwurf sein sollen. Aber nie hätte er gedacht, dass der Hauptmann seiner eigenen Wache vor Eifersucht so unvernünftig werden und ihn angreifen könnte. Er hatte auch nicht gewusst, dass der Witwer das Auge auf jemanden geworfen hatte.
»Tretet zurück, Hauptmann!«
Morio hatte einen Eisdolch in seiner Hand geformt und hielt ihn drohend erhoben. Der Hauptmann musterte ihn einen langen Augenblick abschätzend, bevor er gehorchte.
Ruhiger geworden setzte er dann zu einer Erklärung an: »Nirelle ist meine älteste Tochter. Sie hat sich gestern Abend heimlich auf die Soiree Eures Bruders geschlichen. Dort ist sie Euch begegnet. Ihr habt mit ihr getanzt und sie hat sich in Euch verliebt.«
»Moment mal! Wie alt ist Eure Tochter?«
Geschockt starrte er Costario an. Er erinnerte sich an drei kleine Mädchen mit meergrünen Augen, die ihrem Vater hinterhergerannt waren, als der Hauptmann Emanio als Jugendlichen zur Zaubererakademie in die Stadt begleitet hatte. Sie konnte doch noch nicht alt genug sein, um auf eine Abendveranstaltung zu gehen!
»Sie ist gerade sechzehn geworden. Nie hätte ich gedacht, dass sie ihre Pflichten vernachlässigen und ihre Schwestern alleinlassen könnte, um sich auf die Feier Eures Bruders zu schleichen. Wenn ich herausfinde, wer ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, dann kann derjenige etwas erleben! Aber das ist nebensächlich. Wichtig ist, dass Ihr ihr Hoffnungen gemacht habt und dass sie keine Erfahrung mit Männern hat. Als ihr ein Diener mitgeteilt hat, dass Ihr sie sehen möchtet, ist sie ihm gefolgt. Beim Warten hat sie Wein getrunken und an mehr erinnert sie sich nicht. Heute Morgen ist sie nackt in einem der Gästezimmer des Schlosses aufgewacht und hat erkannt, was passiert ist. Danach ist sie weinend zu mir gekommen und hat mir alles gestanden. Ihr habt sie verführt!«
Emanio öffnete den Mund, wusste aber nicht, was er erwidern sollte. Konnte es wahr sein? Hatte er mit dem Mädchen geschlafen? Er erinnerte sich nicht, was nach dem ersten Glas Alkohol auf der Feier passiert war. Dass er an diesem Morgen in seinem eigenen Bett aufgewacht war, bedeutete ja nicht, dass er es nicht getan hatte.
»Emanio hat Eure Tochter nicht verführt! Das ist völlig ausgeschlossen!« Morio schien nicht dieselben Zweifel zu empfinden oder sie nicht zeigen zu wollen. Wie immer stand sein Sekretär in der Öffentlichkeit loyal zu ihm. »Das Mädchen lügt! Vermutlich hat sie gehofft, dass Emanio sich auch in sie verliebt haben könnte, und hat mehr in seine Höflichkeit hineininterpretiert, als vorhanden war. Das Mädchen war betrunken und kann sich nicht erinnern. Wie können wir überhaupt einer ihrer Aussagen Glauben schenken? Sie könnte mit einem anderen jungen Mann im Bett gewesen sein, der weniger vorzeigbar ist. Und nun schiebt sie die Schuld Emanio zu, weil sie weiß, dass Ihr ihn im Gegensatz zu ihrem Liebsten nicht angreifen würdet. Ein Irrtum, wie sich jetzt herausgestellt hat!«
Die Augen des Hauptmanns kniffen sich wütend zusammen und plötzlich erinnerte Emanio sich an ein anderes meergrünes Paar, das ihn funkelnd angesehen hatte, während er das lachende Mädchen durch den Saal gewirbelt hatte. War das Nirelle gewesen? Sollte der Hauptmann doch recht haben?
»Er war es, ich weiß es! Meine Tochter würde nicht lügen, nicht in einem so schwerwiegenden Fall!«
»Ach? Und in einem anderen Fall würde sie also lügen? Vielleicht empfindet sie dies ja nicht als schwerwiegenden Fall! Oder vielleicht möchte sie Seine Durchlaucht erpressen, damit er sie heiratet.«
»Was unterstellt Ihr meiner Tochter da? Nehmt das sofort zurück!«
Emanio versuchte, die wütenden Stimmen auszublenden, während er sich bemühte, sich zu erinnern. Er besaß nur ein verschwommenes Bild von grünen Augen, einem lächelnden Gesicht und anderen tanzenden Paaren, aber keine Erinnerungen, die ihn allein mit dem Mädchen zeigten. Und nichts an dem einen Moment weckte in ihm den Eindruck, dass er das Mädchen attraktiv gefunden hatte. Warum hätte er sie zu einem geheimen Stelldichein bestellen sollen?
»Ich denke gar nicht daran!«, wetterte Morio unterdessen. »Schließlich wisst Ihr genauso gut wie ich, dass Emanio zwar aus Verpflichtung zu solchen Veranstaltungen geht, sich mit den Gästen unterhält und mit einigen unverheirateten Frauen und Mädchen tanzt, aber dabei stets den höflichen Anstand wahrt. Außerdem hält er sich nie lange auf Feiern auf, da er seine Aufgaben als Erbe ernst nimmt und ihnen jeden Morgen wieder zu früher Stunde nachkommen muss.«
»Es war ja klar, dass Ihr auf seiner Seite steht! Ihr könnt nicht zugeben, dass Euer Zögling nicht Euren hohen moralischen Ansprüchen entspricht! Dabei sieht doch jedes Kind, dass er an manchem Morgen mit einem Kater zu kämpfen hat, so auch heute! Euer Zögling ist ein Trunkenbold! Was wisst Ihr denn, wie er sich auf Abendveranstaltungen verhält, wenn Ihr ihn nicht ständig überwacht?«
Der Eisdolch zerbrach in Morios Hand. Seine Augen loderten vor Magie und Zorn, was der Hauptmann entweder nicht bemerkte oder ignorierte.
»Nein«, fuhr Costario fort, »ich verlange, dass Emanio das einzig Richtige tut, zu seiner Tat steht und meine Tochter heiratet!«
Ich soll Nirelle heiraten? Niemals!
Während Emanio noch die Worte fehlten, lachte Morio bereits höhnisch. »Emanio ist eng verwandt mit dem Königshaus. Er wird einmal ein passendes Mädchen aus dem Hochadel heiraten und ganz gewiss keine niedriggeborene Dirne!«
Costario brüllte voller Zorn und stürzte sich augenblicklich auf den Sekretär.
»Genug jetzt!«
Emanio bemerkte erstaunt, dass er aufgesprungen war und die beiden Kämpfenden angeschrien haben musste, denn der Befehl donnerte immer noch laut durch den Saal. Costario und Morio hielten inne und starrten ihn mit großen Augen an, als hätten sie vergessen, dass er ebenfalls anwesend war. Vermutlich hätte er früher eingreifen müssen.
»Es reicht«, wiederholte er ruhiger. »Ich weiß nicht, was letzte Nacht geschehen ist. Nirelle erinnert sich ebenfalls nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Anschuldigungen stimmen. Bevor wir weiter Vorwürfe austauschen und ohne Beweise aufeinander losgehen, sollten wir erst einmal herausfinden, was passiert ist. Daher schlage ich vor, dass Ihr als Erstes den Diener befragt, der Eurer Tochter die Nachricht zukommen ließ, und dann die Wachen von der Nachtschicht, ob eine oder einer von ihnen Nirelle mit jemandem gesehen hat. Solange wir keine Fakten haben, werde ich keine voreilige Entscheidung treffen. Daher empfehle ich Euch, Ihr erledigt wieder Eure Arbeit, Hauptmann!«
Costario starrte ihn an und fletschte die Zähne, ohne sich in Bewegung zu setzen. Emanio konnte einen solchen Ungehorsam nicht durchgehen lassen, ganz gleich, ob der Hauptmann im Recht war oder nicht.
»Geht an Eure Arbeit! Sofort!«
Erneut hallte sein Befehl unbeabsichtigt kraftvoll durch den Saal und dieses Mal gehorchte der Hauptmann. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Costario zähneknirschend auf dem Absatz um und verließ den Raum schnellen Schrittes. Erleichterung ließ Emanio in sich zusammensacken und er stieß den Atem aus, den er unbemerkt angehalten hatte.
»Sehr gut, Eure Durchlaucht!« Morios überraschendes Lob brachte ihn zum Zusammenzucken. »Heute habt Ihr bewiesen, dass Ihr ein wahrer Herrscher und würdig seid, in die Fußstapfen Eures Vaters zu treten. Ihr habt angesichts der empörenden Vorwürfe des Hauptmanns einen kühlen Kopf bewahrt und Euren Willen durchgesetzt. Ihr habt Euch nicht erpressen lassen. Das macht einen guten Herrscher aus.«
Emanio fühlte sich in diesem Moment jedoch nicht wie einer. Im Gegenteil. Entkräftet lehnte er sich auf dem Thron zurück. Der Kater und die Übelkeit waren zurückgekehrt und jetzt, da die Gefahr vorüber war, zitterte er wie Schilfgras im Wind.
»Wir machen ein paar Minuten Pause. Ich benötige etwas zu trinken, bevor ich mich dem nächsten Bittsteller widmen kann.«
»Ich lasse einen Diener kommen«, erwiderte Morio und Emanio schloss erleichtert die Augen.
Er öffnete sie erst wieder, als sich jemand in seiner unmittelbaren Nähe laut räusperte. Ein Bediensteter mit einem Tablett in der Hand starrte ihn missmutig an, als würde er schon länger darauf warten, dass Emanio ihn zur Kenntnis nahm.
»Danke«, sagte er und nahm den Kelch entgegen. Erst als die Flüssigkeit seine Lippen benetzte, bemerkte Emanio, dass es sich um Wein handelte. Aber das war ihm in diesem Moment auch egal. Er trank den gesamten Kelchinhalt in großen Schlucken aus und spürte, wie sich seine Kopfschmerzen verflüchtigten.
»Machen wir weiter.« Er nickte Morio zu, der den Nächsten zur Audienz hereinrief.
Als die Zeit für Bittgesuche mittags endlich vorüber war, stieß Emanio einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Jetzt durfte er sich eine längere Pause gönnen, bevor er am Nachmittag seinen nächsten Termin in der Stadt wahrnahm.
»Soll ich Euch nachher nicht doch besser begleiten?«, fragte Morio.
Emanio schüttelte entschieden den Kopf. »Ich brauche dich hier, um die morgige Ratssitzung vorzubereiten. Geh noch mal die Unterlagen durch und vergewissere dich wie besprochen, dass alle Ortsvorsteher eine Einschätzung zum zu erwartenden Ertrag der ersten Ernte nächsten Monat geschickt haben. Nicht dass ein Bericht fehlt oder weitere Bauern unsere Hilfe benötigen. Jemand anderer kann heute Nachmittag Protokoll führen.«
»Sehr wohl, Eure Durchlaucht.«
Mit einem Nicken zum Abschied überließ er Morio dem Papierkram und eilte in seine Gemächer zurück. Dort entdeckte er zu seiner Verärgerung, dass das Waschwasser vom Morgen noch nicht ausgetauscht worden war.
»Ich will augenblicklich frisches Wasser haben! Kümmert euch darum!«, befahl er den beiden Wachen vor seiner Tür gereizt und wartete dann ungeduldig. Er musste das schreckliche Gefühl auf seiner Haut loswerden. Sofort!
Nicht nur, dass er angegriffen worden war und sich deswegen unrein fühlte, auch das Starren der Männer und Frauen, die eine Audienz bei ihm gehabt hatten, die Berührungen, die er hatte erdulden müssen, die schleimigen Handküsse – all das widerte ihn an. Er musste Distanz zwischen sie und sich bringen, die fremden Berührungen, Körperflüssigkeiten, Gerüche und aufdringlichen Blicke von seinem Körper waschen.
Als der schlecht gelaunte Diener vom Vormittag ihm endlich frisches Wasser brachte, dabei seinem Blick auswich und auf Emanio schuldbewusst wirkte, hätte er fast erleichtert geseufzt. Der Dienstbote war kaum wieder zur Tür hinaus, als er sich auch schon entkleidete und mit dem Schrubben begann. Nach ein paar Minuten ließ das Gefühl des Unbehagens nach, als das wohltuende Brennen seine Haut überzog und er sich endlich sauber fühlte.
Er wählte eines seiner Gewänder aus, die er bei offiziellen Anlässen in der Stadt trug, kleidete sich an und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück, wo der Diener nun sein Mittagessen auf dem Tisch aufbaute.
»Danke, Kio.«
Der Dienstbote wich seinem Blick missmutig aus und verließ schweigend seine Gemächer. Emanio setzte sich und griff nach dem Besteck, doch der Eintopf schmeckte ihm an diesem Tag nicht. Vielleicht waren es auch die Folgen des Katers, doch nach wenigen Bissen verspürte er dermaßen Übelkeit, dass er keinen weiteren Löffel voll herunterbrachte. Skeptisch starrte er in die Schüssel. Befand sich möglicherweise Fleisch im Eintopf?
Der Verdacht vertrieb auch den letzten Rest seines Appetits und er schob den Teller von sich. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass ihm noch genau zwei Stunden blieben, bis er von den Gildenoberhäuptern in Rius erwartet wurde. Er erhob sich, nahm die Unterlagen, die Morio vorbereitet hatte und die er in der Kutsche noch einmal durchgehen wollte, und machte sich auf den Weg, erneut begleitet von seinen beiden allgegenwärtigen Wachen.
Seine Entscheidung, frühzeitig aufzubrechen, erwies sich als richtig. Noch bevor er den Flügel verlassen hatte, begegnete er Adella mit ihrer Zofe und die Höflichkeit gebot es, dass er ein paar Worte mit ihr wechselte.
»Guten Tag, Adella. Suchst du deinen Vater? Ich bedaure, ich habe den Grafen leider heute noch nicht gesehen.«
Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln, froh, dass er vor Adella nicht all die Regeln beachten musste, die nötig waren, wenn er auf ein anderes Mitglied des Hofs traf. Doch Adella war mit Akurio und ihm zusammen im Schloss aufgewachsen und da Graf di Sperazione einer der wichtigsten Berater seines Vaters war, hatten sie als Kinder so viele Feiern und offizielle Anlässe spielend miteinander verbracht, dass er sie als kleine Schwester ansah.
Eine Bewegung in seinem Augenwinkel machte Emanio auf Adellas Zofe aufmerksam, die sich jetzt ein paar Schritte zurückzog, um sie beide ungestört miteinander sprechen zu lassen. Er schenkte ihr ein dankbares Nicken, bevor er sich Adella zuwandte, die das Zwischenspiel beobachtet hatte und nun schmollend den Mund verzog.
»Als ob ich keinen anderen Grund hätte, in diesem Teil des Schlosses unterwegs zu sein. Also wirklich, Emanio!« Adella lachte perlend und öffnete ihren Fächer, um sich etwas kühle Luft zuzuwedeln. »Nein, ich war auf dem Weg zu dir. Ich dachte, wir könnten an unsere Unterhaltung von letzter Nacht anknüpfen. Leider warst du nach unserem zweiten Tanz verschwunden, dabei hattest du mir doch noch einen Walzer versprochen!«
Obwohl sie lachte, den Fächer zusammenklappte und ihm damit spielerisch auf den Oberarm schlug, bemerkte Emanio jetzt echte Irritation unter ihrer heiteren Fassade.
Leichte Panik überkam Emanio bei ihren Worten. Er konnte sich nicht erinnern, Adella auf Akurios Soiree gesehen zu haben, geschweige denn, worüber sie sich unterhalten hatten. Er hatte ihr einen Tanz versprochen und war dann verschwunden? Das klang gar nicht nach ihm. Morio hatte ihm jahrelang eingebläut, jedes seiner Versprechen einzuhalten oder, falls er es nicht mit Sicherheit konnte, es gar nicht erst zu geben. Wo war er gewesen, dass er nicht mit Adella hatte tanzen können? Und warum konnte er sich partout nicht erinnern? Konnte an Costarios Vorwurf doch etwas Wahres dran sein? War er bei Nirelle gewesen?
Er überspielte die Angst vor seinen zunehmenden Gedächtnislücken mit einem strahlenden Lächeln und einem Handkuss. »Du weißt, dass ich nichts lieber getan hätte, als wie versprochen mit dir zu tanzen, Adella. Aber bedauerlicherweise kam eine dringende Angelegenheit dazwischen. Ich hoffe, du kannst mir mein Versäumnis vergeben?«
Sie schnippte ihren Fächer auf und wedelte sich erneut Luft in das leicht gerötete Gesicht. Emanio bedauerte sie und war froh, dass Männer es in der aktuellen höfischen Mode besser hatten als Frauen. Sie konnten im Sommer leichtere Stoffe tragen, während die Etikette den Damen Röcke und Kleider mit mehreren Lagen vorschrieb. Kein Wunder, dass er seit Wochen keine Dame mehr ohne ihren Fächer zu sehen bekam.
»Na schön, dieses eine Mal verzeihe ich dir«, erwiderte Adella mit einem Lächeln und warf mit einer schwungvollen Bewegung die langen roten Haare nach hinten, die ihre Zofe ihr zu Locken gedreht und zum Teil zu einer kunstvollen Hochfrisur gesteckt hatte. Sie lächelte ihn an, während sie einen Moment lang in ihrem bestickten Brokatbeutel kramte und dann ein zartes Fläschchen hervorholte. »Ich habe ein Geschenk für dich, Emanio.«
»Oh, das ist reizend von dir. Es wäre aber nicht nötig gewesen. Mein Geburtstag ist schließlich noch eine Weile hin.«
Vor plötzlichem Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte, fing seine Haut an zu jucken. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück und konnte sich noch beherrschen, bevor er eine Hand auf seinen Arm legen und ihn kratzen konnte.
Zum Glück hatte Adella seinen Fauxpas nicht bemerkt, da sie soeben den Deckel vom Fläschchen entfernt hatte. »Ich habe dieses Parfüm gesehen und sofort an dich gedacht. Ich musste es kaufen und dir schenken. Hier! Riech einmal!«
Sie ging einen Schritt auf ihn zu, drückte dabei auf den Zerstäuber und eine leicht violette Duftwolke hüllte ihn augenblicklich ein und raubte ihm den Atem. Der schwere Geruch lag wie eine Gewitterwolke in der Luft und ein unangenehmer Druck baute sich in seinem Kopf auf, als er den Atem anhielt und ein paar Schritte zurückwich. Im verzweifelten Versuch, sich vom Geruchsangriff zu befreien, schüttelte er den Kopf, doch er spürte, wie die Schwaden in seinen Haaren und seiner Kleidung hingen. Seine Nase kribbelte und der Druck in seinem Schädel breitete sich weiter aus. Als er seine Brust erreichte, kam es zur Explosion.
»HAAATSCHIII!«
Der Nieser brachte seinen gesamten Körper zum Beben und löste das Gefühl der Beklemmung augenblicklich auf. Als er blinzelnd aufsah, erkannte er, dass die Explosion so heftig gewesen war, dass es ihr gelungen war, die unangenehme Parfümblase zu zerstreuen. Der letzte violette Schwall löste sich in diesem Moment auf.
Dann wandte er sich verlegen zu Adella um, die ihn mit offenem Mund anstarrte. Hitze breitete sich in seinem Gesicht aus, doch er konnte nicht mehr vorgeben, sich über das Geschenk zu freuen, auch wenn die Höflichkeit ihm gebot, den Anschein aufrechtzuerhalten.
»Vielen Dank für die nette Geste, Adella. Ich bedaure sehr, dass ich dein Geschenk leider ablehnen muss. Ich scheine einen Bestandteil des Parfüms nicht zu vertragen.«
Adellas Augen wurden groß vor Schock. »Aber … aber …« Emanio hatte sie noch nie zuvor stammeln gehört. »Du magst den Duft nicht? Er gefällt dir wirklich nicht? Aber … er war perfekt für dich! So perfekt wie …«
Sie brach verlegen ab, als er ihr den Deckel aus der Hand nahm und ihn auf das Fläschchen setzte. Erst dann ließ seine Anspannung nach und er seufzte erleichtert.
»Das war nett von dir, aber es ist leider nicht das Richtige für mich. Ich bedaure. Wenn du mich bitte entschuldigen würdest. Ich muss mich auf den Weg in die Stadt machen. Die Gildenmeister erwarten mich um halb vier in der Gildenhalle.«
Er schenkte ihr ein Lächeln, das vermutlich angesichts der Kopfschmerzen, die dieser olfaktorische Angriff hinterlassen hatte, etwas steif wirkte.
»Du willst nach Rius?« Adella musterte ihn enttäuscht.
»Ja, es tut mir leid. Aber lass uns doch unser Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Ich wünsche dir einen schönen Nachmittag, Adella.«
Er neigte leicht den Kopf zum Abschied. Nickend passierte er die Zofe, die tief vor ihm knickste, anschließend zu ihrer Herrin eilte und Adella damit anscheinend so erschreckte, dass sie ihren Brokatbeutel fallen ließ. Emanio hörte Adellas entsetztes Keifen, dass das Mädchen hoffentlich nicht das Parfümfläschchen kaputtgemacht hatte, als er in den nächsten Gang einbog.
Wie erwartet traf er kurz darauf im öffentlichen Teil des Schlosses auf die nächste Ablenkung.
»Eure Durchlaucht!«
Die Gruppe um Baron di Nadione hatte ihn entdeckt und grüßte ihn erfreut, während sie sich respektvoll vor ihm verbeugten und knicksten. Besonders strahlend lächelte der Baron, der seit Jahren zu Akurios engsten Vertrauten zählte und sich, zu Morios großem Verdruss, bemühte, eine ebenso enge Freundschaft zu Emanio aufzubauen.
»Guten Morgen«, sagte der Baron ungeachtet der Tatsache, dass die Mittagszeit bereits fast verstrichen war. Aber anders als Emanio konnte er es sich erlauben, nach einer Soiree lange zu schlafen. Vermutlich waren er und seine Gefährten eben erst aufgestanden.
»Seid mir gegrüßt, Baron!« Emanio nickte höflich seinen Begleitern zu, zu denen auch Baronesse di Porlione gehörte, die ihn mit begierig funkelnden Augen anstarrte. Er wandte rasch den Blick von ihr ab und ignorierte den Aufmerksamkeitszauber, den sie auf ihre Augen und ihre Haare gelegt hatte. Zum Glück war die Baronesse lediglich eine Trickbeherrscherin. Ihre Magie war leicht zu brechen, wenn man sie erkannt hatte, und sie konnte keine weiteren Zauber ausführen.
»Ich weiß nicht, ob Ihr schon Gelegenheit hattet, meinen Brief zu lesen. Aber ich möchte Euch herzlich zu meinem Kartenabend in sieben Tagen einladen. Ihr seid der Ehrengast! Ich weiß ja, wie gerne Ihr Karten spielt.«
Emanio zuckte innerlich zusammen, als er sich an die Einladung erinnerte, die Morio am Morgen erwähnt hatte. Wenn er sich recht entsann, war die förmliche Absage unter den Briefen gewesen, die er vor der Audienz unterschrieben hatte. Aber Morio hatte nichts davon gesagt, dass der Baron ihn als Ehrengast vorgesehen hatte. Mit Absicht? Hatte Morio befürchtet, dass er dann schwach werden und doch zu der Veranstaltung gehen könnte?
»Oh, vielen Dank für die Einladung! Das ist mir in der Tat neu.« Emanio hoffte, dass ihm die Lüge nicht anzusehen war. »In sieben Tagen sagtet Ihr? Es tut mir außerordentlich leid, aber ich kann nichts versprechen. Ich werde mit meinem Sekretär über meine Verpflichtungen für diesen Tag reden und Euch dann eine Antwort geben.«
»Aber natürlich, Eure Durchlaucht.« Der Baron lächelte verständnisvoll, bevor er Emanio von Kopf bis Fuß musterte. Emanio kam sich unangenehm berührt vor, er hasste es, dermaßen angestarrt zu werden. Zumal der Baron nun auch noch an seinem Ärmel zupfte.
»Ein außerordentliches Gewand, wenn ich das anmerken darf. Prachtvoll! Dieser Schnitt! Die Verzierungen! Und dann dieser leichte Stoff! Ihr werdet wieder eine neue Mode in Rius auslösen, mein Lieber! Aber sagt, bevor alle anderen in den nächsten Wochen mit einem ähnlichen Gewand bei Hof auftauchen, werdet Ihr mir als Eurem Freund und Bewunderer doch Euren Schneider verraten und mir einen Vorsprung verschaffen, oder?«
»Es ist immer noch derselbe wie letztes Mal, Baron«, erwiderte Emanio verwirrt. Was hatte der Mann bloß ständig mit der Frage nach seinem Schneider? Seine Familie ging seit Jahren zum offiziellen Schneider der Herzogsfamilie. Eine Tatsache, die in ihren Kreisen bekannt war. Wollte er Emanio einen Seitenhieb gegen ihren Hofschneider entlocken oder was bezweckte er damit?
Emanio ließ sich seine Irritation nicht anmerken, sondern befreite wie beiläufig seinen Ärmel aus der Hand des aufdringlichen Barons. »Ich bedaure außerordentlich, dass ich unsere Unterhaltung an dieser Stelle unterbrechen muss. Doch die Gildenmeister erwarten mich in Kürze in Rius und ich darf unsere verehrten Gildenoberhäupter nicht warten lassen.«
»Aber natürlich nicht. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Wir können ja nächste Woche weiterreden. Aber dann müsst Ihr mir die geheimen Mittel verraten, mit denen Ihr es stets schafft, dass Euch die Mädchen und Frauen von ganz Rius zu Füßen liegen! Bestimmt ist es ein Zauber, es kann gar nicht anders sein.«
Der Baron lachte dröhnend und seine Freunde, die bislang andächtig ihrer Unterhaltung gelauscht hatten, stimmten mit ein. Falls ein Runzeln über Emanios Stirn gehuscht war, hatte es niemand bemerkt. Er glättete seinen Gesichtsausdruck zu einem höfischen Lächeln, nickte der Gruppe kurz zu, die zum Abschied erneut knickste und sich verbeugte, und war froh, dass er das anstrengende und verwirrende Gespräch hinter sich lassen konnte.
Welche Mittel und Zauber meinte er bloß? Was Akurios Freund nicht glauben wollte, war, dass Emanio gar nichts tat. Die Mädchen und Frauen suchten seine Aufmerksamkeit, geblendet von der Tatsache, dass Emanio der Erbe eines der mächtigsten und wohlhabendsten Herzogtümer des Königreiches war. Oder möglicherweise hatte der Baron in seinem Versuch, sich bei ihm einzuschmeicheln, auch nur übertrieben.
Mit einem Blick nach unten vergewisserte er sich, dass seine Unterlagen für das Gildentreffen noch in der Mappe unter seinem Arm steckten, und kräuselte angewidert die Nase, als er bemerkte, dass der Gestank des Parfüms noch immer nicht vollständig verflogen war.
Mit gemächlichen Schritten ging er weiter. Seine Überraschung war groß, als er durch den Haupteingang hinausging, ohne zuvor noch ein weiteres Mal angesprochen worden zu sein. Er lag außerordentlich gut in der Zeit. Zu gut. Vermutlich war seine Kutsche deshalb noch nicht vorbereitet. Auch sein bewaffneter Begleitschutz war noch nicht zu sehen.
Dafür aber kam nach ein paar Minuten sein Bruder mit seinem Gefolge vom Stall aus auf ihn zugeritten.
»Ho!«
Akurio zügelte sein Pferd und kam am Fuß der langen Freitreppe zum Stehen. Er lächelte. »Guten Morgen, Bruderherz! Tolle Feier gestern Abend, nicht wahr?«
Emanio erwiderte das Lächeln und nickte dann Jagdmeister Kudonio kurz zu, der seit sechs Jahren ebenfalls zum Rat seines Vaters gehörte und dem er daher die angemessene Höflichkeit schuldete. »Akurio. Kudonio. Seid gegrüßt. Auf dem Weg zur Jagd?«
Emanio zwang sich, nicht abgestoßen das Gesicht zu verziehen. Er verstand nicht, was so erstrebenswert daran sein sollte, Jagd auf hilflose Tiere zu machen. Und sein Bruder jagte aus Vergnügen und nicht, um die Bewohner des Schlosses zu ernähren.
»Richtig.« Akurio nickte. »Warum begleitest du uns nicht? Ein wenig körperliche Betätigung an der frischen Luft würde dir guttun.«
Kritisch musterte Akurio ihn. Vermutlich um Emanios immer noch winterlich blasse Hautfarbe mit seiner eigenen Bräune zu vergleichen. Aber anders als Akurio hatte Emanio nicht die Zeit, sich jeden Tag stundenlang draußen aufzuhalten und zu tun, was er wollte. Das vergaß Akurio jedoch regelmäßig.
»Es tut mir leid, aber ich habe bereits andere Verpflichtungen. Vielleicht nächstes Mal.«
»Andere Verpflichtungen?« Akurio hob skeptisch die Augenbrauen. »Welche denn? Willst du dich wieder in der Bibliothek vergraben? Oder in die Stadt fahren, um ein neues Gewand zu kaufen? Deine Ankleidekammer muss doch langsam überquellen!« Er schnaubte missbilligend. »Lass dir gesagt sein, dass ein richtiger Mann beileibe nicht so viel Zeit beim Schneider verbringt wie du. Ein Mann geht ausreiten, fechten oder auf die Jagd. Obwohl …« Erneut streifte sein kritischer Blick Emanios Kleidung. »Du siehst aus, als hättest du dich für eine andere Art der Hatz gekleidet, Bruderherz. Wer ist denn die Glückliche, für die du dich so schick gemacht hast?«
Schick gemacht? Emanio sah erstaunt an sich herab. Er trug seine normale höfische Kleidung für offizielle Anlässe. Er war der Stellvertreter ihres Vaters, als solcher repräsentierte er das Herzogtum und musste sich entsprechend kleiden. Aber vielleicht empfand sein Bruder jedes Gewand, das nicht aus Leder bestand, als schick?
Emanio musterte seinerseits die Kleidung seines Bruders und seiner Jagdgesellschaft. Jeder Einzelne von ihnen trug derbe, aber bequeme Lederkleidung, die ihnen beim Reiten, Bogenspannen und Speerwurf ausreichend Bewegungsfreiheit ließ. Viele Stücke wiesen noch Blutflecke von der letzten erfolgreichen Jagd auf. Lediglich das Gewand seines Bruders hob sich ein wenig von den anderen ab. Emanio starrte auf das Fuchswappen auf Akurios Brust.
Baron di Nadione und die anderen erzählten auf den Soireen stets staunend von dem wilden Exemplar, das Akurio gezähmt hatte und das ihn auf seinen Jagdausflügen begleitete, während sein Bruder mit einem stolzen Lächeln danebenstand und sich ihre Lobpreisungen anhörte. Doch Emanio konnte es jetzt nicht bei der Gruppe entdecken und da er den Ausflügen bewusst fernblieb, hatte er den Fuchs noch nie gesehen.
»… nicht nötig, dass du so viel Aufwand für eine Frau betreibst«, sagte Akurio und riss Emanio aus seinen Grübeleien. »Als wärst du nicht schön genug, dass dir die Frauen zu Füßen fallen, sobald du ihnen ein Lächeln schenkst. Den meisten von ihnen ist es sogar egal, dass du der Erbe des bedeutendsten Herzogtums des Landes bist.«
»Du übertreibst!«
Akurio schnaubte. »Ach? Tu ich das? Ich denke eher, dass du es mit diesem Aufzug übertreibst. Also? Wen möchtest du beeindrucken?«
»Niemanden!«
Das fehlte noch, dass Akurio Gerüchte über ihn in die Welt setzte! Wenn er nicht aufpasste, dann würden sie ihn demnächst fragen, wann denn die Hochzeit sei!
»Die Gildenmeisterinnen sind alle verheiratet und älter als unsere Mutter. Aber wenn du möchtest, mache ich dich gerne mit ihnen bekannt.«
Akurio lachte. »Also schön, behalte dein Geheimnis für dich! Ich finde es noch heraus. Auf reiche Beute, Bruderherz!«
Akurio gab seinem Pferd die Sporen. Es verfiel so abrupt in Galopp, dass sein Medaillon aus der Weste rutschte und wild umherfliegend im Licht der Sonne tanzte.
Emanio starrte seinem Bruder hinterher, während der Jagdmeister und seine Gehilfen sich beeilten, ihm zu folgen. Nur am Rande bekam er Kudonios Abschiedsgruß mit.
Erst als das Klappern der beschlagenen Hufe verstummt war, wandte er sich um. Er verstand nicht, warum sein Bruder ihn ständig mit irgendwelchen jungen Frauen in Verbindung bringen wollte. Wenn es jemanden gab, der das Auge auf ein Mädchen geworfen hatte, dann war es Akurio. Anders konnte er sich das goldene Medaillon nicht erklären, das sein Bruder seit Monaten zu jedem Anlass trug. Dabei hasste sein Bruder Schmuck und jedes andere Geschmeide. In Lederkleidung fühlte er sich weitaus wohler als in höfischen Gewändern. Nein, es konnte nur einen Grund geben, warum er es niemals ablegte. Es musste ein Geschenk von seiner Angebeteten gewesen sein. Vielleicht sollte er zur Abwechslung einmal seinen Bruder mit seiner Schwärmerei aufziehen?
Bevor er zu einer Entscheidung kommen konnte, hörte er erneut das Klappern von Hufen auf Pflaster. Er drehte sich um und sah Hauptmann Costario mit einem Dutzend Wachen auf ihn zu reiten. Ihnen dicht auf den Fersen folgte seine Kutsche. Er seufzte, als er sie sah. Er hätte ein offenes Gefährt angesichts der schwülen Junihitze vorgezogen, doch der Hauptmann bestand wie stets auf ein geschlossenes, prunkvolles Fuhrwerk, das Emanios Stand entsprach und Sicherheit bot. Zusätzlich trugen Costario und seine Wachleute ihre besten Uniformen.
Emanio warf Costario einen scharfen Blick zu, doch der Hauptmann ließ nicht erkennen, dass an diesem Tag etwas anders war. Nur als der Mann sich weigerte, ihm ins Gesicht zu sehen, erkannte Emanio, dass der Vorfall vom Morgen unterschwellig noch immer in Costario kochte.
»Hauptmann.«
»Eure Durchlaucht.«
Als dem Schein genüge getan war, stieg Emanio ein. Die beiden Leibwächter, die mit ihm zusammen gewartet hatten, blieben zurück, als sich die Kutsche zusammen mit dem schweigenden Hauptmann und seinem Begleitschutz in Bewegung setzte. Auf ein Gespräch zu warten, so wie sie es sonst gerne begannen, um die Fahrt den Hügel hinab nach Rius zu verkürzen, war heute eine vergebliche Hoffnung.
Daher starrte er hinab ins Tal, als sie die Mauern des Schlosses hinter sich gelassen hatten. Den Stoff vor den Schiebefenstern hatte er zurückgezogen und die Scheibe hochgeschoben, um die Aussicht und eine gelegentliche kühle Brise genießen zu können. Die unmittelbare Umgebung seines Zuhauses bestand aus unberührten Wiesen, die jetzt, Anfang Juni, in voller Blüte standen. Dahinter erstreckte sich auf der einen Seite eine bewaldete Hügelkette, die zum Privatbesitz der Herzogsfamilie gehörte und in dem sich das Wildgehege und Akurios bevorzugtes Jagdgebiet befanden. Auf der anderen Seite hingegen konnte er über den Weinberg weit übers Tal sehen, durch das sich in gemächlichen Windungen der Ajado schlängelte. Auch heute befanden sich wieder zahlreiche Boote und Segelschiffe von reisenden Händlern und Fischern auf dem Fluss. Das geschäftige Treiben setzte sich in der Stadt am Fuße des Hügels fort. Stimmengewirr drang aus der Ferne zu ihm hinauf. Vereinzelt hörte er Gelächter, bevor er den Blick von den hellen Häusern mit den blauen Ziegeldächern abwandte und ihn weiter in die Ferne schweifen ließ, über die Felder und Obsthaine der Bauern bis hin zur Hügelkette im Süden, die die Grenze ihres Herzogtums zu ihrem Nachbarn Calirus markierte. Das alles war Ternilus und wie immer empfand Emanio Stolz bei diesem Anblick.
Das Gefühl war noch nicht verflogen, als sie eine Weile später die Stadt erreichten und durch Rius’ Straßen fuhren. Emanio sah aus dem Fenster und beobachtete neugierig die Bewohner, die irgendwann seine Untertanen sein würden. Als Jugendlicher hatte er sich gern unter die Menschen gemischt. Doch seit er an seinem sechzehnten Geburtstag offiziell zum Stellvertreter seines Vaters ernannt worden war und mehr Verpflichtungen übernommen hatte, fand er dafür immer seltener Zeit.
»Ein guter Herrscher hört seinen Untertanen zu und erkennt, was sie sich wünschen und was sie insgeheim benötigen«, hörte er wieder Morios Stimme in seinem Kopf.
Daher lauschte er auf die Gesprächsfetzen, die er über den Kutschen- und Pferdelärm erhaschen konnte. Als sie kurz darauf an einer Kreuzung anhalten und eine Gruppe Händler mit ihren Wagen vorbeilassen mussten, lehnte Emanio sich leicht hinaus, um mehr zu hören. In seiner Nähe saßen zwei wohlhabende Kaufleute auf ihren Pferden und warteten ebenfalls. Emanio verfolgte aufmerksam ihre Neuigkeiten zu den Handelsentwicklungen in den benachbarten Herzogtümern und Königreichen und war froh, dass es ihnen und ihren Geschäften gut zu gehen schien, bis die beiden weiterritten.
Er hatte nicht bemerkt, dass sich seine Kutsche ebenfalls wieder in Bewegung gesetzt hatte und er immer noch aus dem offenen Fenster lehnte, als sie nun auf die Hauptstraße einbogen. Doch die Menschen bemerkten ihn.
»Seht! Dort ist der Schöne!«
»Eure Hoheit!«
»Schaut hierher, Eure Durchlaucht!«
Emanio unterdrückte ein Augenrollen. Er wünschte sich, sie würden aufhören, ihn den Schönen zu nennen, doch er hatte mit seinen Bitten, dies zu unterlassen, nur kurzzeitig Erfolg gehabt.
Winkend schenkte er den Bewohnern von Rius ein leichtes Lächeln und ein lautes Kreischen antwortete ihm, als die Menschen nun auf die Kutsche zu drängten. Emanio hörte den Hauptmann fluchen.
Dann sah Emanio, wie zwei Damen ein Stück weiter vorn ohnmächtig zusammenbrachen. Doch niemand außer ihm schien es mitbekommen zu haben.
»Anhalten!«, rief Emanio energisch, öffnete die Tür und sprang noch während der Fahrt auf die Straße.
»Eure Durchlaucht!«
Er ignorierte die entsetzten Wachen hinter ihm ebenso wie die Forderungen des Hauptmanns zurückzukommen und wieder einzusteigen. Stattdessen bahnte er sich mühsam den Weg durch die Menschenmenge zu den beiden jungen Frauen. »Lasst mich durch! Zurück!«, befahl er immer wieder, während die Frauen und Männer ihn begrapschten und in ihrem Eifer, ihm nahe zu sein, an seiner Kleidung zerrten. Schaudernd versuchte er die unerwünschten Berührungen abzuschütteln und verfluchte sich, weil er nicht auf seine Leibwächter gewartet hatte. Doch im nächsten Moment teilte sich die Menge und er erblickte endlich die beiden Frauen. Die Dunkelhaarige kam soeben zu sich und er half ihr sich aufzusetzen. Um ihn herum seufzten ein paar Mädchen und er hörte jemanden laut bedauern, dass sie es nicht gewesen war, die in Ohnmacht gefallen war.
»Ist alles in Ordnung? Geht es Euch gut?«
»Ihr … Ihr …!« Sie schien ihn erkannt zu haben, errötete vor Verlegenheit und brachte nicht mehr als ein Stottern über ihre Lippen, welches er zudem über den Lärm der Leute, die sich noch immer um ihn drängten, kaum verstand.
Er half ihr hoch und dann ihrer Gefährtin, die ebenfalls stammelnd verstummte, bevor sie ihren Dank vollständig über die Lippen bringen konnte.
»Aber das ist doch selbstverständlich.« Er winkte ab. »Darf ich Euch meine Kutsche anbieten? Ich denke, es ist besser, wenn ein Heiler sich vergewissert, dass es Euch gut geht.«
»Aber … aber … nein, das geht nicht …«
»Unsinn! Ich kann gut zu Fuß gehen. Ich bestehe darauf, Euch zu einem Heiler fahren zu lassen.«
»Danke, Eure Durchlaucht.«
Die Wachen waren inzwischen heran und bahnten ihnen einen Weg durch die Menge. Emanio führte die Frauen zu seinem Gefährt – unter dem missbilligenden Blick des Hauptmanns – und half ihnen beim Einsteigen. Dann befahl er dem Kutscher, zum nächsten Heiler zu fahren und die beiden Damen anschließend nach Hause zu bringen. Eine der Wachen wollte ihm sein Pferd anbieten, aber Emanio winkte ab. »Danke, aber ich ziehe einen Spaziergang vor.«
Ein wenig Bewegung würde ihm guttun und außerdem wollte er seine Worte den beiden Damen gegenüber nun nicht Lüge strafen.
»Denkt Ihr, dass Ihr mit solchen Mitteln von Eurer Schuld ablenken und Euch die Bevölkerung gewogen machen könnt?«, zischte Hauptmann Costario erbost, als sich Emanio zu Fuß wieder auf den Weg Richtung Gildenhalle machte und die Menschen um sie herum enttäuscht zu murmeln begannen.
Emanio blieb stehen und starrte ihn an. »Unterstellt Ihr mir Berechnung, Hauptmann?«
Costario warf ihm einen wütenden Blick zu, als sich die Aufmerksamkeit der Wachen nun ihm zuwandte. »Gehen wir! Verteidigungsformation!«
Sie nahmen ihn mit ihren Pferden in die Mitte und setzten sich in Bewegung. Emanio genoss den Spaziergang durch die Straßen von Rius. Es war seltsam beruhigend und er bemerkte irgendwann, dass seine Gedanken abzuschweifen begannen. Er ließ sie gewähren, im Vertrauen darauf, dass die Wachen ihn beschützen und zu seinem Ziel leiten würden, während er darüber nachgrübelte, wie er die Spannungen zwischen sich und dem Hauptmann beheben konnte.
Daher erkannte er erst recht spät, dass etwas nicht stimmte. Ein flaues Gefühl hatte sich schleichend in seinem Körper ausgebreitet. Die Luft war drückend, wie kurz vor einem Gewitter. Doch als er aufsah, entdeckte er nicht dunkle Wolken am Himmel, sondern eine Art graue Nebelsuppe.
Emanio ging weiter, er sah die Pferde vor sich und den vagen Umriss der Reiter auf ihren Rücken. Der Nebel verdichtete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Schon jetzt erkannte er niemanden mehr außer seinen Wachen, die Häuser und Menschen in den Straßen hatte die graue Wand bereits verschluckt. Ebenso schien sie die Geräusche zu dämpfen, denn er hörte nichts mehr, keine Rufe und keine menschlichen Stimmen, nur noch das gedämpfte Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster.
Er schaute nach rechts und links. Die Reiter schienen sich dort nur noch als Schatten zu bewegen. Das war doch einfach unmöglich … Emanio schaute nach vorn – und blickte auf eine undurchdringliche, wabernde Nebelwand. Er warf einen Blick nach hinten, drehte sich im Kreis. Fort! Sie waren alle fort! Weder hörte noch sah er einen einzigen Wachmann. Hier ging etwas vor sich, etwas Unnatürliches. Magie? War er von einem Zauber umgeben?
»Hauptmann Costario? Wo seid Ihr? Hört mich jemand?«
Emanio lauschte besorgt, doch die Magie schluckte anscheinend jedes Geräusch. Er beschleunigte seine Schritte, in der Hoffnung, dass er die Reiter vor sich einholen konnte, dass sich plötzlich ein Pferdeleib vor ihm aus all dem Grau schälte, aber da war nichts.
»Ist hier jemand?«
Erneut erhielt er keine Antwort und das Unbehagen wuchs in ihm. Also ging er im Zickzackkurs weiter und sah sich aufmerksam um, während er immer wieder laut nach dem Hauptmann und seinen Wachen rief. Irgendwann musste er doch auf einen anderen Menschen treffen oder ein Haus erreichen! So breit waren die Straßen in Rius nicht!
Emanio lief weiter, mal schneller, mal langsamer. Er änderte die Richtung und strebte dorthin, wo sich eigentlich nach wenigen Schritten Häuser hätten befinden müssen, aber alles, was er fand, war Nebel. Spätestens jetzt stand für ihn fest, dass er es mit einem Zauber zu tun hatte. Ja, er konnte sich nicht mal sicher sein, dass er sich noch in der Stadt auf der Straße befand. Vielleicht existierte die Straße von Rius immer noch an einem anderen Ort und seine Wachen wunderten sich, wohin er verschwunden war. Aber konnte das sein? Er hatte sie doch vorhin noch gesehen! Sie mussten den Nebel doch auch bemerkt haben! Warum hatte sich niemand zu ihm umgedreht oder etwas gesagt? Emanio kam der Gedanke, dass der Zauber sich auf ihn richtete. Jemand hatte ihn auf magische Weise von seinen Wachen trennen wollen. Nur wozu? Und vor allem: Wer?
Stehenzubleiben und abzuwarten schien ihm keine Option zu sein, also ging er weiter und nach einiger Zeit glaubte er tatsächlich, dass sich der Nebel ein wenig lichtete. Emanio fasste Mut und behielt seine Marschrichtung bei.
Ein lautes Keckern drang an sein Ohr und er hätte vor Überraschung fast geschrien. Wild fuhr er herum, sein Herz schlug heftig in seiner Brust.
Wo war das Geräusch hergekommen? Was war das? Er lauschte, sah sich nach allen Seiten um und erwartete jeden Moment, dass sich ein Schatten aus dem Nebel lösen und sich auf ihn stürzen würde.