Die magischen Reisen des Herrn Alexander - Michael Cremann - E-Book

Die magischen Reisen des Herrn Alexander E-Book

Michael Cremann

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Beschreibung

Ein magisches Buch für kleine und große Zauberfans ab 8–10 Jahren. August hat keine Lust mehr auf das öde Leben auf dem Land. Kurzerhand bricht er nach Hamburg auf, wo sein großer Bruder als Zauberer auftritt. August springt spontan ein, als die Vorstellung aus dem Ruder läuft und rettet den Abend. Da kann sein Bruder gar nicht anders, als ihn zu seinem offiziellen Assistenten zu machen. Denn er hat große Pläne – Herr Alexander will der bekannteste Bühnenmagier der Welt werden ... Nach einer unglaublichen wahren Geschichte.

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Die Magischen

Reisen des Herrn

Alexander

Michael Cremann ~ Lena Hortian ~ Robin ThierIllustriert von Alex Schmiedel

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Impressum

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Vollständige Ausgabe 2023

1. Auflage

© Klappkatapult, Münster.

Verlag: KlappkatapultLühnstiege 8–948151 Münster

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf, vollständig oder teilweise, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Buchgestaltung, Satz: Robin Thier

Cover & Illustrationen: Alex Schmiedel (@zeichenelster)

Zaubertricks – Redaktion und Illustration: Sophia Niehaus

Lektorat: Marie Jakob, Ronja Thier

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Ein riskanter Plan

Irgendwo im Umkreis von Münster, im Jahr 1842

August biss die Zähne zusammen. Durchhalten. Das hier war der schwierigste Teil seines Plans und seine Finger waren schon blau gefroren – seine Lippen sicher auch. Doch er musste durchhalten, nur noch ein wenig weiter.

Er lag bäuchlings auf dem Dach einer Eilkutsche, die dem Sonnenaufgang entgegen holperte. Seine Finger umklammerten die Reling, an der normalerweise die Truhen und Koffer der Reisenden festgezurrt waren. Nach nur wenigen Minuten Fahrt wusste er auch, warum das nötig war. Die Kutscherin vorn auf dem Bock trieb die Pferde vorwärts, so sehr, dass sie vor Anstrengung in der kalten Morgenluft dampften. Sie mussten nur bis in die nächste Stadt, nach Osnabrück. Dort konnten sie endlich rasten und sich von der wilden Fahrt erholen. Genau wie August, das hatte er kleinstens berechnet – nur dass seine Reise danach noch weiterging: Erst von Osnabrück aus reichte das Geld, das ihm Herr von Olfers gestern Abend geliehen hatte. Die einfache Postkutsche bis Hamburg, aber eben nicht ab Münster, von dort aus hätte sie zu viel gekostet.

Weiter ging es, immer weiter. Doch selbst jetzt, wo er hier oben auf dem Dach der Kutsche vor sich hin fror, war er sich sicher, es würde alles gelingen: Tagelang hatte er die Fahrpläne studiert, hatte An- und Abfahrten beobachtet, war einmal auf dem Dach einer Mittagskutsche aus der Stadt heraus bis Kinderhaus mitgefahren. Zum Schluss hatte er noch einen der Kutscher ausgefragt und wusste jetzt sogar, wie viel Trinkgeld man gab. Der Aufbruch zu seiner Reise war schwieriger gewesen, als angenommen, weil er sich nachts aus dem Haus schleichen und unbemerkt zur Kutsche gelangen musste. Beinahe wäre er zu spät gekommen, dabei hatte er die ganze Nacht vollständig bekleidet – mit Schuhen – in seinem Bett gelegen. Mit gespitzten Ohren hatte er auf die Turmglocke gelauscht, um den richtigen Moment abzupassen. Fast wäre er daheim in der behaglichen Wärme eingeschlafen, aber August war so gut vorbereitet, wie es nur möglich war. Es durften keine Fehler passieren. Er trug seine wärmsten Hosen, sein gutes Hemd und den Sonntagsmantel, den er sonst nur zur Kirche anziehen durfte. Das war eine gute Wahl gewesen, denn der Wind biss in sein Gesicht und seine Hände, doch überall sonst war er durch die Wolle geschützt. Und er sah richtig edel aus. Wenn er endlich in Osnabrück angekommen war, würde er sich verhalten, wie die feinen Herren und Damen, die er daheim an der Kutschenstation gesehen hatte. Mehr, um sich von der Kälte abzulenken, als um sich noch einmal seines Plans zu versichern, ging er stumm die Sätze durch, die er sich zurechtgelegt hatte: »Verehrter Herr Kutscher, ich wünsche ein Billett – eine Fahrkarte – nach Hamburg. – Ja, einfache Fahrt, ich gedenke fürs Erste nicht, zurückzukehren. – Nein, kein Gepäck, ich reise leicht. – Habt Dank! Und dies für eure Mühen.«

Das Trinkgeld hatte er natürlich genau zurechtgelegt.

Angestrengt hob er den Kopf dem Fahrtwind entgegen und spähte über den Rand der Kutsche. In den letzten Schemen des Morgennebels zeichneten sich spitze Giebel und graue Schatten ab, die ersten Häuser. Da war sie! Endlich, die nächste große Stadt, da war Osnabrück. August atmete auf, er würde sich wirklich nicht mehr lange festhalten müssen. Er spürte, wie sein Herz vor Aufregung schneller schlug. Jetzt galt es, den nächsten Teil seines Plans umzusetzen. Beim Gedanken an das bevorstehende Schauspiel musste er grinsen, zuckte aber sofort wieder zusammen, weil seine Lippen rissig von der Kälte waren.

Direkt, als die Kutsche an der Station in der Mitte der Stadt hielt, kletterte er hinten über die kleine Leiter hinab und mischte sich unter die Passanten. Während er einmal um den Häuserblock ging, bewegte er vorsichtig seine Hände in den Manteltaschen. Langsam wich die Taubheit und sie begannen zu pochen. Er wusste, wenn er sie jetzt aus den Taschen zog, würden sie rot sein und nicht mehr blau.

Erneut bog er links ab und lief nun wieder geradewegs auf die Kutschstation zu. Ganz wie geplant, jetzt begann der spaßige Teil seiner Reise. Er setzte ein – so hatte er es vor dem Spiegel geübt – zielstrebiges Gesicht auf und steuerte auf die Kutsche mit dem Schild »Hamburg« zu.

Nein. August stolperte fast und blinzelte, das konnte doch nicht wahr sein. Diese komische grüne Mütze, die drahtigen Haare, dazu der Zigarrenstumpen im Mundwinkel. Ausgerechnet heute, ausgerechnet auf dieser Strecke, würde der Mann seine Kutsche lenken, den August noch vor drei Tagen in Münster befragt hatte.

August verlangsamte seine Schritte zu einem unauffälligen Schlendern und wandte sich nach links, noch eine Runde um den Block. Er musste nachdenken. Dieser Mann durfte ihn nicht durchschauen, durfte ihn nicht nach Münster zurückschicken! Sein Plan, sein Bruder in Hamburg, alles war in Gefahr.

Sobald er außer Sicht war, blieb er stehen und zog die Zeitungsseite aus der Innentasche seines Mantels. Er blickte auf den Artikel und las zum hundertsten Mal die Zeilen: »Großer Magier begeistert Hamburg – Aus Westfalen in die Großstadt. Herr Alexander verzaubert die Hafenmetropole ...«

Dieser »Herr Alexander«, das war Fritz, ganz sicher. Und Fritz hatte immer eine Idee. August konzentrierte sich auf den Namen, las jeden einzelnen der in doppeltem Abstand gedruckten Buchstaben: H e r r A l e x a n d e r.

Was würde sein Bruder jetzt tun?

Ein Trick.

Sein Bruder würde sich einen Trick ausdenken. Fritz würde den Kutscher überlisten, wie er es damals mit dem Bäcker gemacht hatte, der zu Ostern die Rosinenstuten herausgegeben hatte. Das war es! August blickte auf und ein schelmisches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Wieder spannten seine Lippen unangenehm, aber es war ihm egal.

Er nahm seinen Gang um den Block wieder auf und begann sich zurechtzumachen: Er strich sich die Haare zur anderen Seite hinüber, so wie er sie nie trug. Dann stellte er den Mantelkragen auf. Vor der letzten Biegung trat er bewusst in eine flache Pfütze und machte sich die Schuhe dreckig, sodass es aussah, als ob er schon einen gewissen Weg zu Fuß zurückgelegt hatte. Dann richtete er sich auf und trat um die Ecke.

Schnurstracks ging er auf den Kutscher zu, der lässig am Kutschbock lehnte und auf seiner Zigarre herumkaute. Die Augen des Mannes verengten sich zu Schlitzen, als er August wahrnahm.

Doch er ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken: »Verehrter Herr Kutscher, ich wünsche ein Billett nach Hamburg«, forderte er mit fester Stimme und blickte ihm direkt in die Augen. Doch der Kutscher reagierte nicht, wie August es sich ausgemalt hatte. Kein »Sehr wohl, der Herr.« oder »Aber selbstverständlich, gnädiger Kunde.« Stattdessen musterte er August mit noch immer zusammengekniffenen Augen. »Warte ma«, nuschelte er neben der Zigarre her, »dich kenn’ ich doch.«

August zuckte innerlich zusammen. Er sammelte all seinen Mut und sagte mit einer wohldosierten Spur Entrüstung in der Stimme: »Das kann nicht sein, guter Mann. Woher wollen Sie mich kennen?«

Der Blick des Kutschers wurde bohrender. Zu viel Entrüstung? August war sich unsicher, seine Fassade begann zu bröckeln. Doch der Mann redete einfach weiter: »Na, du bist doch der Kleine, der mich vor ein paar Tagen in Münster übers Kutschefahren ausgequetscht hat. Gehst du jetzt auf große Fahrt, hm? Ganz allein?« Er lachte ungläubig.

August schüttelte den Kopf. Verflucht, er hatte ihn also erkannt. Das war jetzt der kritische Punkt, er musste bei seinem Plan bleiben. »Werter Herr, das glaube ich nicht.« Er rief sich die Gespräche der Reisenden, die er beobachtet hatte, in Erinnerung. »Ich war seit – ach – mindestens zwei Jahren nicht mehr in Münster«, sagte er so, wie sie es immer taten. Er bekam sogar die abwinkende Handbewegung halbwegs gut hin. »Ihr müsst mit meinem Zwillingsbruder gesprochen haben, A–äh ... Alfred, der ist bei meinen Eltern geblieben.«

Der Blick des Kutschers blieb misstrauisch, also fuhr er fort: »Ich hingegen, August Heimbürger, bin der geschätzte Assistent von Herrn Alexander, dem großen Magier!« Dabei wedelte er mit dem Zeitungsblatt vor dem Zigarrenstummel herum.

Gerade, als er es dem Kutscher zum Lesen hinhalten wollte, sah er allerdings, dass oben auf dem Blatt groß ›Münsterische Zeitung‹ stand. Also wedelte er noch ein wenig weiter und stopfte das Blatt dann schnell zurück in seine Tasche. Der Kutscher stemmte die Fäuste in die Seiten und schaute auf August hinab. Sein Kopf wiegte unschlüssig hin und her: »Na …«, er schmatzte und nahm den Glimmstängel aus dem Mund. »Das ist ja eine Geschichte.« Dann zuckte er mit den Schultern: »Aber eigentlich kann es mir ja egal sein … Also, einmal nach Hamburg?«

August atmete erleichtert aus. Er nickte eifrig. »Hamburg, ja, ich will zu meinem Bruder.« Er biss sich auf die Zunge, einen Bruder hatte er doch gerade erst erfunden … dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Plan. »Eine Einfache Fahrt bitte, ich gedenke fürs Erste nicht, zurückzukehren.«

1

In einer dunklen Gasse

Hamburg, im Jahr 1842

Donner verhallte in der Ferne und für einen kurzen Moment war die Welt wieder ruhig. Dann schoss ein neuer Blitz durch die Wolkenberge, die sich bedrohlich und aschgrau über Hamburg auftürmten. August warf einen schnellen Blick hinauf in den Himmel und beschleunigte seine Schritte. Er versuchte schon gar nicht mehr, sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. Seine Kleidung und die Schuhe waren komplett durchweicht, Wasser tropfte von seinen Haaren, die ihm lang in die Augen fielen und er fröstelte ein wenig. Die klammen Finger in die Taschen geschoben, rannte er nun fast und sah sich nach allen Seiten um. Das blöde Theater musste doch irgendwo hier sein. August war jetzt schon seit zwei Tagen in der Stadt und noch immer wie erschlagen von ihrer Größe, den verwinkelten Gassen und den vielen Menschen. Sie waren überall, hasteten mit gesenkten Blicken durch den Matsch und versuchten, sich notdürftig vor den Wassermassen zu schützen, die der Himmel über ihnen ausschüttete. Wie konnten nur so viele Leute auf einem Fleck leben? Er drängelte sich durch Grüppchen von Männern und Frauen, die ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen hatten. Mit einem gewagten Schritt musste er einer Pfütze ausweichen und prallte dabei fast gegen einen Herrn, der eine tropfnasse Zeitung über den Kopf hielt – als würde sie gegen den Regen auch nur ein bisschen helfen.

Das hatte doch keinen Sinn! Wieder und wieder stellte er sich in Gedanken die Frage, wie eine Stadt so unfassbar groß sein konnte. Wie ein Mühlstein zerrieb der Gedanke alles andere um ihn herum, doch es half nichts, er musste sich orientieren. Mit einer raschen Bewegung schob er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drehte sich einmal komplett herum: Da war eine große Straße, Pferdefuhrwerke und Kutschen trotteten an ihm vorbei und hinterließen tiefe Gräben im Schlamm. In den Pfützen auf dem Boden spiegelten sich die Lichter der Geschäfte und der rußigen flackernden Öllaternen entlang der Straße. Es war bereits spät und eigentlich nicht mehr die Zeit, in der man durch die Straßen wandern sollte – schon gar nicht allein.

Ein Stich des Heimwehs durchzuckte August, als er daran dachte, dass er jetzt genauso gut auch daheim bei Mutter und Vater in der warmen Stube sitzen konnte, bei einer Tasse warmer Milch und … er verdrängte den Gedanken wieder. Es war keine leichte Entscheidung gewesen, von Zuhause wegzulaufen, aber jetzt war er hier und er hatte eine Aufgabe: Er musste das Theater finden – und seinen Bruder! Er ließ den Blick weiter über die Menschen wandern, dann stutzte er: Eine Gasse auf der anderen Seite der Straße zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie war recht düster, weil sie weder von Fenstern noch Laternen erhellt wurde, aber auf einem kleinen Schild konnte er etwas entziffern, das wie »Bühne« aussah. Das konnte es sein. Er wartete mit klopfendem Herzen, bis zwischen den Fuhrwerken eine Lücke entstand und sprintete dann hinüber. Ja, da stand »Bühne«. An der Ecke zur Gasse blieb er noch einmal kurz stehen – dieser schmale Spalt im Schatten der Häuser sah wirklich nicht nach einem Ort für Spaziergänge aus. Aber er war nicht den ganzen weiten Weg gekommen, nur um sich jetzt geschlagen zu geben. In der Ferne läutete eine Schiffsglocke und August löste sich aus seiner Starre. Langsam machte er einige Schritte in die düstere Gasse hinein.

Auch hier waren Menschen, sie hatten sich in dunkle Eingänge gedrückt, um Schutz vor dem Regen zu finden und beäugten ihn missmutig, als er an ihnen vorbeihuschte. Weiter hinten lachte jemand dreckig und sofort hatte August ein mulmiges Gefühl. Die Leute hier wirkten nicht so fein wie die Menschen in den großen Straßen. Sie waren schmutzig und auf ihren Gesichtern lagen Trauer und Feindseligkeit. Aber er musste es versuchen. Nur noch diese Gasse, dann würde er sich einen Ort zum Schlafen suchen. Er vergrub die Hände wieder in den Taschen seiner feuchten Jacke und schloss die Finger um das Geldstück darin – sein letztes Geldstück. Das durfte er nicht verlieren. Dann nahm er seinen Mut zusammen und versuchte, sich etwas größer zu machen. Er war schon groß für sein Alter, größer als die meisten Zwölfjährigen, aber im Vergleich zu den Gestalten in den Schatten wirkte er geradezu winzig. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich an einen Mann, der gerade dabei war, seine Brille zu wischen.

»Hallo, können Sie mir helfen?«, in Augusts Stimme hatte sich ein verräterisches Zittern geschlichen. Oder zitterte er vor Kälte? Der Mann ignorierte ihn, setzte sich die Brille wieder auf die Nase und stiefelte einfach an ihm vorbei. Perplex blieb August stehen und hörte auf einmal eine schnarrende Stimme aus einem Hauseingang: »Na Junge, bist doch bestimmt schon alt genug, oder?«

Er zuckte zusammen und erblickte eine Frau, deren Gesicht völlig unter fleckiger Schminke und weißem Puder verschwand, sie hielt ihm eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit darin hin.

»Ah was? N-nein danke …«, murmelte er und lief weiter, auf eine Gruppe von Leuten zu. »Entschuldigen sie … Verzeihung. Ich suche … ist das hier das Theater? Ich suche meinen Bruder …«, versuchte er die Aufmerksamkeit der Gruppe zu erregen, doch die Menschen strömten nur an ihm vorbei und setzten ihre Gespräche unbeirrt fort. August lief ihnen ein paar Schritte hinterher und zupfte eine Frau am Ärmel, die gerade besonders laut gelacht hatte. Sofort drehte sie sich herum und funkelte ihn böse an.

»Entschuldigung, ich muss zum Theater«, erklärte er und stolperte bei ihrer plötzlichen Bewegung rückwärts.

Die Frau rollte mit den Augen. »Da lang«, schnaubte sie und deutete weiter die Gasse hinab, »verfluchte Straßenkinder«. Ohne zu zögern, setzte die Gruppe ihren Weg fort und ließ August buchstäblich im Regen stehen.

Etwas langsamer als zuvor lief er immer tiefer in die Gasse hinein. Das Licht der Öllaternen hatte Schwierigkeiten, bis hierher zu dringen und die Schatten wurden mit jedem Schritt größer und dunkler.

Da übertönte auf einmal eine feste Stimme das Rumoren des Donners: »He, hier herüber!«

Wenige Schritte vor August fiel ein schmaler Streifen Licht über den schlammigen Boden und führte zu einer Tür. In der stand eine Frau, die ihn mit hektischen Bewegungen zu sich winkte. Sie sah merkwürdig aus, trug ein buntes Tuch um die Schultern gewickelt und glatte schwarze Haare flossen ihr bis auf den Rücken hinab. Sie blickte ihn aus hellen, aber dunkel umrandeten, freundlichen Augen an. Etwas unsicher, ob sie tatsächlich ihn meinte, näherte sich August dem warmen Schein des Lichts. Sie nickte jedoch mit einer knappen Bewegung ins Innere des Gebäudes und trat gleichzeitig einen Schritt zur Seite, damit er sich durch die Tür schieben konnte.

»Junge, was treibst du dich allein in so einer Gegend herum?«, fragte sie und musterte ihn von oben bis unten. August wollte ihr schon antworten, dass sie das ganz und gar nichts anging, da erstarrte er. An der Wand dort hinten lehnte … ein Wald! Er blinzelte und sah genauer hin: Er erkannte grüne Bäume, an denen rote Äpfel leuchteten. Sie waren natürlich aufgemalt, es handelte sich um eine Kulisse und um eine kunstvolle noch dazu. Das Theater! Er hatte es endlich gefunden.

»Hat es schon angefangen? - Die Vorstellung, ich muss ganz schnell dorthin«, sprudelte es aus August heraus und er strich sich die tropfenden Haare aus den Augen.

»Du bist ja ganz nass«, erwiderte die Frau, ohne auf seine Frage zu antworten. »Was tust du denn da draußen in diesem Sauwetter?« August erkannte ein wenig Besorgnis in ihrem Blick. Aber er hatte keine Zeit.

»Ich muss auf die Bühne. Wie komme ich zur Vorstellung? Bitte! Mein Bruder …«, versuchte er noch zu erklären und wollte bereits an den Kulissen vorbei weiter ins Innere des Theaters schlüpfen.

Da packte ihn die Frau mit einer flinken Bewegung am Arm und hielt ihn fest. »Hiergeblieben! In die Vorstellung? Nichts da, für dich riskier’ ich nicht Kopf und Kragen. Du siehst aus wie ein Landstreicher.«

August unternahm einen kläglichen Versuch, die Hand der Frau abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht, sie hatte ihn fest im Griff. August spürte, wie die Ungeduld ihn packte – wie lange war er jetzt eigentlich schon unterwegs? Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Er wusste es nicht mehr. Von irgendwo her drangen gedämpfte Stimmen zu ihnen, Schritte, die näher kamen und sich wieder entfernten, und dann war da noch das Fauchen von Heizkesseln. Jetzt erst bemerkte August, der noch immer schlotterte, dass es hier viel wärmer war als draußen. Er blickte der Frau erneut ins Gesicht und stellte fest, dass sie gar nicht böse aussah. Ein kleines Lächeln umspielte sogar ihre Lippen und sie ließ ihn wieder los. Dann ging sie mit federnden Schritten zu einer Wand hinüber und zog dort ein kleines messingfarbenes Türchen in der Mitte auf.

Sie klopfte sachte dagegen und hatte die Stimme gesenkt, als sie weitersprach: »Na gut, du kannst hier vorn durch das Lüftungsgitter gucken, da kannst du einen Teil der Bühne sehen. Glaub mir, Junge, so etwas hast du noch nicht gesehen. Das geht nicht mit rechten Dingen zu!«, sie zwinkerte und legte dabei einen Finger an die Lippen, »du musst aber leise sein, sonst hört dich der Hausdiener und der kann das gar nicht leiden, wenn einer nicht bezahlt hat. Aber ich war ja auch mal so wie du. Ich wollte immer zu den Akrobaten im Zirkus. Auf die Bretter dieser Welt, sag’ ich immer, da gehöre ich hin.«

Mit einem Mal verstand August, warum sie so wundersam wirkte: Sie war Schaustellerin! August liebte die Auftritte der Schaustellerinnen und Schausteller. Immer, wenn daheim das große Volksfest – der Send – neben der Kirche stattgefunden hatte, war er mit seinem Bruder über den Platz geschlendert. Sie hatten die unzähligen Buden besucht und stundenlang den Jongleuren zugeschaut und den Akrobaten und am Ende gab es immer ein Theaterstück für die Kinder. Nun doch ein wenig neugierig, trat August an das Lüftungsgitter heran und fuhr sich mit dem Handrücken über die laufende Nase. Dabei versuchte er angestrengt hinter dem Gitter etwas zu erkennen. Er zuckte jedoch zusammen, als die Schaustellerin ihm eine Hand auf den Rücken legte.

»Ach, du zitterst ja. Warte hier, wir haben da hinten noch ein paar Lumpen, ich schau’ mal, ob da nicht eine Decke dabei ist. Beweg dich nicht vom Fleck.« Sie sah ihn noch einmal mit Sorge in den Augen an, doch August nickte nur und schaute ihr dann nach, wie sie im hinteren Teil des langen Flures verschwand. Dann endlich warf er einen Blick durch das Gitter.

Er sah unter sich viele gut gekleidete Menschen sitzen, die alle in die gleiche Richtung auf eine Bühne schauten. August konnte nur eine Ecke davon erkennen, aber noch war der Rest des Saales viel interessanter. Der Raum war über und über erleuchtet von Kerzen und Öllampen, die sich in den feinen Verzierungen der Marmorsäulen spiegelten. Urplötzlich mischte sich Musik unter das Raunen der Menschenmenge. Das Orchester, das August von seinem Standpunkt aus nicht sehen konnte, spielte auf. Für einen Moment vergaß er, dass er klatschnass und vor Kälte zitternd an eine Wand geschmiegt dastand und durch eine kleine Klappe spähte. Die Musik war schön und so hoheitlich. Dann brandete lauter Applaus durch den Saal, bevor die Menge vor Ehrfurcht verstummte.

Langsame, bedachte Schritte kündigten an, dass jemand die Bühne betreten hatte und eine laute Stimme hallte von den Wänden und der Decke wider: »Einst besuchte ich einen alten Mann, zu seiner Zeit ein großer Mechaniker, der in wissenschaftlichen Kreisen durchaus einen Namen besaß …«

August wurde heiß und kalt.

2

Hinter den Brettern der Welt

Er erkannte die Stimme sofort. August reckte vor dem Lüftungsgitter den Hals, um einen besseren Blick auf die Bühne zu erhaschen. Das war sein Bruder, das war Fritz! Er war sich absolut sicher, diese Stimme würde er überall wiedererkennen. Aber so sehr er sich auch streckte, er konnte einfach nicht mehr sehen und der Redner kam nicht näher an den Rand der Bühne heran. So blieb August nichts weiter übrig, als der Geschichte zu lauschen, die sein Bruder dem aufmerksamen Publikum erzählte.

»Ich fand ein stattliches, unweit der Stadt gelegenes Haus, ringsum von hohen Pappeln umgeben. Kein lebendes Wesen bewegte sich in der Nähe. Die Fenster waren mit grünen Jalousien verschlossen. Zaghaft zog ich die Glocke und ein junges, hübsches Mädchen öffnete die Tür und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihr, ich wollte jenen mystischen Mechaniker besuchen, von dem ich schon so viel gehört hatte.«

August musste schmunzeln. Geschichten, immer kleidete er alles, was er sagte, in kleine Geschichten. Aber wovon redete er hier? August hielt die Luft an, um der Erzählung zu lauschen. Dann, nach einigen weiteren Minuten, machte der Mann auf der Bühne endlich ein paar Schritte in seine Richtung und August erkannte im flackernden Licht das Gesicht seines Bruders. Er hatte ihn gefunden. Er hatte ihn tatsächlich gefunden! Und die Gerüchte waren wahr gewesen, er stand wirklich auf einer großen Bühne. Aufgeregt riss August sich von den Geschehnissen auf der Bühne los und sah sich um. Die Angst und Verzweiflung waren vergessen. Wo war überhaupt diese Schaustellerin? Wollte sie nicht wiederkommen?

Er warf noch einen kurzen Blick in den Zuschauerraum, dann fasste er einen Entschluss: Er musste dort herunter gelangen. Auf Zehenspitzen schlich er den Flur entlang. Hier standen alle möglichen seltsamen Dinge herum. Ein altes Klavier, dem die Hälfte der Tasten fehlten, eine große gläserne Glocke, in die er sicherlich komplett hineingepasst hätte, oder ein Kleiderständer mit einem blauen Frack und einer gelben Weste und einem Filzhut, die einsam mitten im Gang standen. Während August sich bemühte, keines der seltsamen Dinge umzustoßen, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Langsam fand er Gefallen an diesem Ort, da näherten sich auf einmal Schritte. Schnell sah August sich nach einem Versteck um – doch da war keines. Sein Herz raste und in dem Moment bog ein Mann vor ihm um die Ecke. Nein, es war eine Frau! Sie hatte dunkle Haut, kurze schwarze Haare und trug Hosen. Der Anblick war so seltsam, dass August für einen Moment wie angewurzelt stehen blieb. Sie trug … Hosen?

Die Frau jedoch zögerte keine Sekunde. »He, was tust du da?«, polterte sie und kam direkt auf ihn zu. August wich zurück und flüchtete durch die Tür zu seiner Linken.

»Bengel, wenn ich dich erwische! Komm sofort her!«, hallte die Stimme hinter ihm her, doch er hörte schon gar nicht mehr zu, sondern versuchte hektisch herauszufinden, wo er sich befand.

Um ihn herum waren die Gänge nun schummrig. Das wenige Licht sammelte sich träge um die wenigen Gaslaternen und beleuchtete noch mehr Puppen in bunten Kleidungsstücken und Kostümen. Fast hätte er sie im schwachen Licht für Menschen gehalten. August riss die nächste Tür auf und wurde mit einem spitzen Kreischen begrüßt. Vier Frauen saßen dicht gedrängt im Kerzenlicht vor einem großen Spiegel und starrten ihn überrascht an. Ihre Gesichter waren schlohweiß gepudert und sie schienen nur Unterwäsche zu tragen. Sofort spürte August, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.

»Oh! Äh, 'tschuldigung«, stammelte er und knallte die Tür schnell wieder zu, da spürte er eine Hand auf seiner Schulter und wurde unsanft herumgedreht. Die Frau mit den Hosen stand nun schwer atmend vor ihm.

»Hier bist du also«, schnaufte sie, »du hast bestimmt keine Eintrittskarte, so wie du aussiehst.«

August schielte an ihr vorbei. Direkt hinter ihr, fast verborgen im Schatten, war noch ein Durchgang und etwas Licht sickerte durch die angelehnte Tür heraus.

»Nein, bitte – ich hab’ doch gar nichts gemacht …«, jammerte er betont verzweifelt und trat einen Schritt zur Seite, sodass er neben der Frau stand. Er hoffte, dass sie seinen Plan nicht durchschaute. Dann, mit einem heftigen Ruck, riss er sich los und sprintete auf die Tür zu.

»He, hiergeblieben!«

Es klappte. Ohne sich richtig umzuschauen, bog August zweimal nach links ab und stand plötzlich in einer großen Halle, die mehrere Stockwerke hoch zu sein schien. Überall stapelten sich Kulissenteile: grobe, aus Holz gezimmerte und bunt bemalte Möbel, große Wände mit fantastischen Landschaften darauf und allerlei Krimskrams. Es schien eine Art Lager zu sein. Hier waren auch die Stimmen aus dem Theatersaal wieder lauter zu hören und er vernahm, dass sein Bruder dort draußen noch immer seine Geschichte erzählte, manchmal unterbrochen von kurzen Lachern oder Applaus aus dem Publikum. Es musste doch einen Weg dorthin geben.

Da hörte er erneut die schnellen Schritte näherkommen. Die Frau war ihm noch immer auf den Fersen. Das musste an den Hosen liegen. In einem schicklichen Kleid wäre sie niemals so schnell gewesen. Schnell tauchte August unter einigen Möbeln hindurch und kroch immer tiefer in das Labyrinth aus Kulissenteilen. Hier roch es modrig, nach altem Holz und Staub. Dort, an den Boden gepresst, verharrte er, hielt die Luft an und hoffte, dass ihn sein laut pochendes Herz nicht verraten würde. Die Frau betrat den Raum und er hörte sie noch immer vor Anstrengung keuchen und husten. Die Schritte näherten sich, dann wurden einige hölzerne Gegenstände verrückt. Nach ewigen Sekunden schien seine Verfolgerin genug von der Suche zu haben und die Schritte entfernten sich wieder. August atmete langsam aus.

Das war knapp gewesen. Er wartete noch eine Weile, bis er sich ganz sicher war, dass die Frau nicht zurückkommen würde, dann kroch er vorsichtig weiter zwischen den Kulissen hindurch und kam schließlich am anderen Ende der Halle heraus.

Die Stimme seines Bruders war hier schon lauter, also konnte August nur auf dem richtigen Weg sein. Langsam und bedächtig schob er die Tür auf dieser Seite des Lagers auf und zuckte sofort zurück.

Aus dem Raum kamen Stimmen. Eine, die kaum älter klang als seine eigene, sagte gerade fast ein wenig quengelnd: » … Ja, genau, ich bin der persönliche Diener und Assistent vom Herrn Alexander.«

August konnte nicht sehen, wer genau das gesagt hatte, denn der ganze, unglaublich hohe Raum hing voll mit Vorhängen in allen Farben des Regenbogens. Auch die Frau, die ihm nun antwortete, konnte er nicht sehen. Ihre Stimme hatte diesen merkwürdigen leiernden Tonfall, den sie alle in dieser Stadt an den Tag legten: »Und wenn du der Kaiser von China bist, es gibt keinen Rabatt!«

Jetzt quengelte die Stimme des Jungen wirklich: »Aber ich hab’ dich doch schon hier reingebracht, du wolltest doch zur Vorstellung!«

Die beiden schienen sehr ins Gespräch vertieft. Also nahm August all seinen Mut zusammen und schlich geduckt an den Vorhängen vorbei.

Das Drängen des Jungen schien die Frau aber nur noch mehr zu nerven: »Hinter die Bühne, ins Vorhanglager«, schnaubte sie, »wo ich nichts sehe? Der Preis bleibt.«

August war schon auf halbem Weg durch den Raum, als der Nörgler endlich nachgab: »Na gut, dann wie du gesagt hast. Gib schon her.« August hörte ein paar Münzen klimpern, ein dumpfes Ploppen eines Korkens und das leise Glucksen einer bauchigen Flasche. Jetzt überschlug sich die Stimme der Frau: »Was? Du trinkst jetzt? Ich denke, dein Herr tritt da vorn auf …«

Der Quengler hustete gerade in dem Moment, als August die Türklinke zum nächsten Zimmer herunterdrückte. Glück musste man haben.

August huschte hindurch, als der Junge mit heiserer Stimme weitersprach: »Der muss auch mal allein zurechtkommen. Weißt du, wie lange ich keinen Schnaps …«

August schloss die Tür hinter sich und schüttelte den Kopf. Was war das denn gewesen? Egal, zunächst musste er sich orientieren. Hier ging ein schmaler, schummriger Gang ab. Er schlich weiter, immer den Ohren nach in Richtung der Bühne, in Richtung der Stimme seines Bruders.

Wie der Peitschenknall eines Postillions zerriss ein Ruf die Stille, die August so bemüht war, auch nicht mit dem kleinsten Tappen zu durchbrechen.

»Halt!« Ein riesiger, breitschultriger Mann im feinen Livree eines Dieners und mit einer hellen Perücke auf dem Kopf stand wie aus dem Boden gewachsen auf der anderen Seite des Korridors. Er musste durch eine der Türen gekommen sein, die weiter in die Eingeweide des Theaters führten.

»Was machst du hier?!«, donnerte er.

August war völlig erstarrt. Das musste der Hausdiener sein, von dem die nette Schaustellerin geredet hatte.

Seine Knie wurden weich und er konnte nur noch stammeln: »Ich … ich … wollte doch nur …«

Doch der Diener ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen: »Eingeschlichen hast du dich, was Bürschchen?« Mit langen Schritten näherte er sich dem immer noch tropfenden Jungen und packte ihn grob am Ohr.

»Auu!« rief August, trat um sich und musste sich auf die Zehenspitzen stellen, damit es nicht allzu weh tat. Doch seine Versuche, den Mann zu treten oder sich loszureißen, beeindruckten den Hausdiener nicht. Er schimpfte einfach weiter: »Hm, sag schon – wer hat dich reingelassen? Na? Auf die Straße gehörst du, wie ein räudiger Hund!«

Jetzt wurde es August trotz seiner Angst langsam zu bunt! Er kam zwar von der Straße, aber er war immer noch August Heimbürger und er hatte ein Recht hier zu sein, bei der großen Vorstellung seines Bruders. Er nahm all seinen Mut zusammen, aber das, was aus seinem Mund kam, klang nur halb so beeindruckend, wie er sich das vorgestellt hatte: »Au – Sie … Sie tun mir weh! Mein Name ist … «

Ein weiteres Mal blieb der Hausdiener unbeeindruckt und schnitt ihm einfach das Wort ab. Er zerrte an Augusts Ohr und lenkte ihn auf die Tür zum Vorhanglager zu. Dabei grummelte er mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hin: »Komm jetzt, du bekommst einen kräftigen Tritt in den Hintern, dass du dahin verschwindest, wo du hergekommen bist. Das wird dir eine Lehre sein.«

August strampelte und wehrte sich, auch wenn sein Ohr sich mittlerweile anfühlte, als sei es doppelt so lang wie vorher. Gleichzeitig versuchte er es noch einmal: »So lassen sie mich doch erklären …«

»Gar nichts erklären! Ich hab’ genug von euch Straßenkindern, die glauben, sie könnten mir die Gäste vergraulen.«

Als August ein weiteres Mal aufheulte, mischte sich eine dritte Stimme ein, deren Ursprung er wegen der schieren Masse des Hausdieners noch nicht sehen konnte.

«Ach, hier treibst du dich herum.« Die Frau klang außer Atem und ihre Stimme überschlug sich fast. »Entschuldigen Sie, Herr Hausdiener, aber der Junge, das ist …«

Es war die Stimme der netten Schaustellerin, sie würde ihn doch bestimmt aus den Klauen dieses grobschlächtigen Dieners retten, dessen Kopf allmählich eine tiefrote Farbe annahm.

»Ich bin der Assistent vom Zauberer«, beeilte sich August zu sagen. So ganz gelogen war das immerhin nicht.

»WAS?!«, der Hausdiener blieb mit einem Ruck stehen und drehte sich zu der Frau am anderen Ende des Flures um.

»Der, äh … ja. Der Herr Alexander hat doch immer seinen Assistenten dabei«, sie lächelte ihn aus ihren hellen Augen an. Einen Moment lang zögerte der Mann und beugte sich dann zu August hinunter, sodass der seinen Atem riechen konnte. Er stank nach Knoblauch.

»Und was lungerst du dann hier hinter der Bühne herum? Solltest du deinem Meister nicht vorn bei seinen Stücken helfen?«, fragte er und sah August scharf an. Der riss sich los und fasste sich empört an das heiße Ohr.

»Ich helf’ ihm doch! Ich soll …«, panisch sah sich August in dem Durchgang um, der ebenfalls mit allerlei Krimskrams zugestellt war. Da fiel sein Blick auf einen unscheinbaren versiegelten Umschlag und er hatte eine Idee: »Ich soll da das Couvert holen – es ist … äh … ein Teil der Vorführung. Ihr werdet schon sehen. Lasst es mich nur schnell an mich nehmen.«

»Das Cou… oh«, der Mann folgte seinem Blick und hatte den Brief nun ebenfalls entdeckt. Ein leichter Zweifel schlich sich in seine Stimme. »Hör mal Junge, du kannst nicht einfach hier hinter der Bühne rumschnüffeln.«

Bevor August antworten konnte, fuhr die Schaustellerin dazwischen: »Ich bringe ihn nach draußen.« Dabei sah sie August scharf an und als er nicht reagierte, zischte sie leise: »Komm mit!«

Der Hausdiener beäugte ihn noch immer. August seufzte innerlich. Dann musste er die Sache also so zu Ende bringen. »Aber ich brauche noch das Couvert«, flötete er, hastete hinüber zur Ablage und schob sich den Umschlag unter die nasse Kleidung.

»Entschuldigung, Herr Hausdiener, nächstes Mal werde ich besser aufpassen«, sagte die Schaustellerin mit einer kleinen Verbeugung und winkte August energisch zu, ihr zu folgen.

Das Gesicht des rabiaten Mannes hatte fast wieder seine normale Farbe angenommen, nur ein Hauch von Schweinchenrosa war noch auf seinen Wangen zu sehen. »Jaja – seht zu, dass ihr verschwindet, ich will das Ende der Vorstellung noch sehen«, brummelte er und wandte sich zum Gehen. Auch August hatte sich bereits auf den Weg in die andere Richtung gemacht, da flog links von ihm die Tür zum Vorhanglager auf und ein Junge platzte hindurch. Er mochte einige Jahre älter als August sein, hatte kurze struppige Haare und ein paar verstreute Bartstoppeln am Kinn.

»Schnell, habt ihr ... ? Aber hier lag doch gerade noch ein Couvert!«

August erkannte die quengelige Stimme aus dem Lager.

Der Junge hastete auf die Kommode zu und deutete japsend auf die Stelle, von der August soeben den Brief genommen hatte. August zuckte zusammen, jetzt würde er mit seiner kleinen Schwindelei doch gewiss auffliegen. Nein, das kam nicht infrage.

»Couvert? Also ich hab’ keins gesehen«, antwortete er schnell und bemerkte, wie der Hausdiener zwischen den beiden Jungen hin und her blickte und sich erneut die ungesunde Röte in sein Gesicht schob.

»RAUS! ALLE!«, brüllte der Mann und wies unmissverständlich in Richtung der Tür. Hinter ihnen warf er sie mit einem lauten Knall zu.

Sofort wurde August weiter gezerrt und die Frau sah ihm streng in die Augen, während sie mit ausholenden Schritten den Gang heruntereilte: »Was soll das? Ich hatte gesagt, du sollst warten. Der Hausdiener ist ein aufbrausender Mann, was glaubst du, hätte alles passieren können? Um ein Haar hätte er uns beide rausgeschmissen.« Sie schüttelte den Kopf und warf dabei die langen Haare in alle Himmelsrichtungen.

»Aber so hört mir doch zu! Der Zauberer, das ist mein Bruder.«

»Dass ich nicht lache«, sie winkte ab, »jetzt reicht es. Der Spaß ist vorbei, komm schnell, bevor der Hausdiener es sich anders überlegt.«

»Aber …«, August blieb stehen. Warum wollte ihm denn niemand zuhören? Er wollte gerade zu einer Standpauke ansetzen, dass er sich nicht mehr herumschubsen lassen würde, da drehte sich die Schaustellerin zu ihm um und … zwinkerte ihm zu?

»Pssst! Jetzt komm.« Die letzten Worte hatte sie geflüstert, ihn losgelassen und dabei eine weitere Tür geöffnet, hinter der er nichts als Dunkelheit erkennen konnte. Dann war sie auch schon hindurchgetreten und wurde vom Dämmerlicht dahinter verschluckt. Etwas verloren stand er noch immer vor der Tür und zögerte. Was war das nun wieder für ein Trick? Sollte er nicht vielleicht umkehren und auf dem Weg zurück, den er gekommen war? Wenn da nur nicht dieser Hausdiener wäre. Schlagartig brach direkt vor ihm ein stürmender Applaus aus und brandete über ihn hinweg.

Konnte das … August streckte zögerlich den Kopf durch die Tür. Als sich seine Augen an das wenige Licht gewöhnt hatten, sah er, dass die Schaustellerin ein kleines Loch in die Dunkelheit riss. Hindurch fiel ein Streifen Licht auf seine nassen Schuhe und er konnte die Umrisse eines Geländers ausmachen.

Die Dame, die ihn hereingeführt hatte, hielt einen schweren dunklen Vorhang auf, sodass sie beide hindurchgehen konnten. August traute seinen Augen kaum, als er über das Geländer hinwegsehen konnte und nun direkt in den prächtigen Saal blickte. Dutzende flackernde Lampen erhellten den dicht gefüllten Zuschauerraum unter ihm und er trat näher an das Geländer heran.

3

Ein unerwarteter Bote

»Nun, wenn Sie das schon faszinierte, wie wird Sie dann wohl mein nächstes Kunststückchen begeistern können?«

Die körperlose, aber vertraute Stimme hallte bis zu ihm hinauf und August trat etwas näher an das Geländer und endlich konnte er einen richtigen Blick auf die Bühne werfen. Da stand ein Mann, in einem nachtschwarzen Frack und einem weißen Hemd mit perfekt gestärktem Kragen. So herausgeputzt hatte August ihn noch nie gesehen, aber kein Zweifel: Er, der dort unten mitten auf der Bühne des Theaters stand, war sein Bruder! Und noch etwas an ihm sah anders aus, als er es zuletzt gesehen hatte: Fritz hatte die Haare zu einem Scheitel gekämmt und trug einen dichten Bart, aber August würde ihn überall erkennen. Gerade trat er in den Zuschauerraum hinab und die Menge folgte ihm neugierig mit den Köpfen.

»Darf ich um einen Ring bitten?«, fragte er dann laut und ließ den Blick durch den Raum wandern. Ein lautes Getuschel und Geraschel brach aus und August sah, wie einige der Anwesenden ihre Hände hoben oder winkten.

»Hier, Herr Alexander!«, rief eine Frau aus der dritten Reihe und August staunte, wie viel Schmuck sich eine einzige Person um den Hals hängen konnte. Sie hatte dunkle Haare und in ihrer Stimme ruhte ein schwerer Akzent. Auch sein Bruder hatte sie nun bemerkt und stieg eine kleine Treppe weiter hinab und auf sie zu. »Ah, die Dame dort vorn mit dem entzückenden blauen Tuch – vielen herzlichen Dank. Wenn Sie erlauben …«, er streckte die Hand aus und August sah, dass er sein verschmitztes Lächeln nicht verbergen konnte. Das würde gewiss ein Schauspiel werden, so wie er seinen Bruder kannte.

»Was wird wohl mein Verlobter dazu sagen, dass ich einem fremden Mann einfach so den Ring aushändige?«, fragte die Dame und legte dem Mann zu ihrer Linken leicht die Hand auf das Knie.

Der Angesprochene rümpfte die Nase und brummelte etwas Unverständliches.

Die Menge lachte und auch Augusts Bruder stieß ein kurzes Lachen aus. »Keine Sorge, der Herr«, sagte er an den Mann gewandt und machte eine kleine Verbeugung, «ich werde ihn Ihrer Augenweide unversehrt wieder aushändigen und der glücklichen Hochzeit sicher nicht im Wege stehen.«

Während seine Worte von den anderen Menschen erneut mit Applaus belohnt wurden, übergab die Dame ihren Ring, den er vor sich in die Luft hielt, sodass sich das Licht in ihm brach und das Schmuckstück zum Funkeln brachte.

»Ja, in der Tat ein schönes Stück«, sagte er, »und nun seht her, in der einen Sekunde halte ich den Ring in der Hand …«, er machte eine schnelle Bewegung »… und schon ist er verschwunden.«

Die Menge begann erneut zu tuscheln. August war so gebannt von den Geschehnissen unter sich, dass er kaum bemerkte, wie die Schaustellerin an ihn herangetreten war und ihn nun wieder mit sich zog. Automatisch ließ er sich weiter durch die Dunkelheit führen. Sie schlichen die Empore, die in einer Kurve um den gesamten Zuschauerraum herumführte, weiter entlang. Doch August hatte nur Augen für das, was unten im Saal vor sich ging. Dort hatte sein Bruder die Arme ausgestreckt und beruhigte sein Publikum wieder.

»Aber was, wenn ich den Herrschaften sage, dass sich das gute Stück nicht mehr hier im Saal befindet?« Nun hatte er die Stimme wieder erhoben und seine Arme beschrieben einen kleinen Kreis. »Wenn ich sagen würde, dass ich es bis an die Küste geschickt habe und sich sodann ein Bote extra auf den weiten Weg machte, um es wieder herzubringen?«

»Bei Gott – ich würd’ es nicht glauben«, entfuhr es der Dame mit dem blauen Tuch und erneut sah sie den Mann neben sich mit glänzenden Augen an und klatschte dabei aufgeregt in die Hände.

»Dann lassen Sie uns doch auf die Ankunft des Boten warten. Ich versichere Ihnen, gleich wird er durch diese Tür treten. Wenn ich kurz die Taschenuhr des verehrten Verlobten halten dürfte.« Erneut beugte sein Bruder sich hinüber zu dem Verlobten, der mit einem Augenrollen und unter den begeisterten Blicken seiner zukünftigen Frau eine golden schimmernde Uhr aus seiner Westentasche nestelte. Der Magier nahm sie entgegen und warf einen viel zu langen Blick darauf. Gebannt sah das Publikum zu, wie er dann einen Finger hob.

»Jawohl, nur noch wenige Augenblicke. Lassen Sie uns doch gemeinsam die letzten Sekunden herunterzählen.«

Der Magier machte eine dramatische Pause.

Völlige Dunkelheit umschloss August, als die Schaustellerin ihn nun durch eine Tür hinausbugsierte. Das wurde ihm erst bewusst, als die Bühne und sein Bruder von einem Türrahmen verdeckt wurden, der sich in sein Sichtfeld schob. Und fast wäre er gestolpert, als der Weg sie eine steile Treppe hinabführte. Sofort spürte er Wut und Enttäuschung in sich aufkeimen. Warum konnten sie nicht oben auf dem Theaterbalkon bleiben? Und außerdem dämmerte August langsam, was es mit dem inzwischen durchweichten Couvert in seiner Jackentasche auf sich hatte. Widerwillig ließ er sich die Treppe hinunter in die Eingangshalle des Theaters führen. Diese machte eine geschwungene Kurve und endete direkt vor den drei großen Eingangstüren des Saales.

»Zehn, Neun!« Drangen die Rufe dumpf zu ihnen herüber.

Bei »Acht« begriffen auch die letzten in der Menge, was sie zu tun hatten.

Die Angestellten des Theaters, die sich um die ankommenden Kutschen kümmern, Karten abreißen, oder die Türen offen halten sollten, standen alle in einer Traube vor der rechten Tür. Diese hatten sie einen Spaltbreit geöffnet, sodass die Stimme seines Bruders deutlich zu hören war.

August hatte von dem Trick, den der Magier gerade ausführte, schon einmal in einem der Lehrbücher gelesen, die Fritz zurückgelassen hatte. Aber er hatte ihn noch nie gesehen. Trotzdem wusste er: Dieses Couvert musste sofort zu ihm, zu Fritz, zu »Herrn Alexander«, wie er sich jetzt nannte. Auf jeden Fall auf die Bühne!

August sammelte zum letzten Mal all seinen Mut und drehte sich zur Schaustellerin um, die ihn noch immer am Arm durch die Eingangshalle zog und sagte energisch: »Ich muss da rein! Lassen Sie mich zu meinem Bruder!«

»Sieben!«, erscholl es durch die offene Tür. Das Publikum zählte begeistert mit.

Doch jetzt stieg auch dieser netten Frau die Röte ins Gesicht, wenn auch nicht so schnell und so stark wie beim Hausdiener.

»Gottverdammter Bengel!«, fluchte sie, »gar nichts wirst du. Willst du dir beim Hausdiener deine Tracht Prügel abholen? Ich versuche nur, dir zu helfen.«

Die Diener an der Tür blickten zwischen dem Schauspiel auf der Bühne und dem, das August und die Schaustellerin ihnen boten, hin und her. Doch die zählende Menge schien gewonnen zu haben und sie lugten wieder durch den Türspalt.

»Sechs!« Es hatte die Diener vor der Tür vollends gepackt und sie lehnten sich mit jeder Zahl erwartungsvoll weiter nach vorn.

August sah, dass auch die Schaustellerin wieder neugierig in Richtung des großen Saals schaute und sich ihr Griff an seinem Arm etwas lockerte, die andere Hand ruhte auf ihrem Bauch. Das war seine Chance. Er begann, sich ihrem Griff zu entwinden.

Die Menge zählte weiter:

»Fünf!«

»Vier!«

Die Schaustellerin begriff, was er vorhatte und versuchte ihn mit ihrer zweiten Hand zusätzlich zu packen, doch August war zu flink. Mit einem letzten Ruck hatte er sich aus ihrem Griff befreit und eilte auf die mittlere Saaltür zu.

Die Frau setzte ihm nach und verlor scheinbar vollends die Geduld mit ihm: »Bleib gefälligst HIER.«

Doch es war egal.

Die ganze Zeit zählte das Publikum weiter. Er wusste, dass er bei Null im Saal sein musste, denn sonst würde der Trick daneben gehen.

»Drei!«

»Zwei!«

August war fast an der Tür und streckte die Hand nach der eisernen Klinke aus.

»Nein! Nicht da rein!«, rief die Schaustellerin, bekam ihn aber nicht wieder zu fassen.

Die Menge zählte erwartungsvoll die letzte Zahl:

»Eins!«

Er drückte die Klinke herunter, warf sich gegen die Tür und fiel beinahe hin, als sie ihm krachend den Weg in den Zuschauerraum freigab.

Stille.

Hunderte Augenpaare starrten ihn an. All die Leute, die gerade noch so erwartungsvoll gezählt hatten, sahen jetzt zu ihm hinüber, als sei er wirklich ein Straßenjunge, der gerade patschnass in eine Theatervorstellung platzte, um seinen Bruder zu begrüßen. Was ja auch stimmte. Bis auf das mit dem Straßenjungen. August blickte in offene Münder und verwirrte Gesichter. Von hier unten wirkten sie alle so groß und ein wenig bedrohlich. Jemand hüstelte peinlich berührt, aber niemand wagte etwas zu sagen. Er wünschte sich plötzlich, an jedem anderen Ort zu sein, nur nicht hier. Niemand, bis auf den Mann, der zwischen den Zuschauenden stand und ihn ungläubig anstarrte.

»Du?!«, entfuhr es Fritz und für einen Moment schien er vergessen zu haben, dass sich noch immer hunderte Menschen um ihn herum befanden und nun gebannt darauf warteten, was der große Zauberer als Nächstes tun würde. Und er enttäuschte die Menge nicht: Binnen eines Augenblicks hatte er sich wieder im Griff.

---ENDE DER LESEPROBE---