12,99 €
Die Malerin der Frauen | Romanbiografie über die bedeutendste Malerin des italienischen Barocks Artemisia Gentileschi: Aus ihrer Verzweiflung erwuchs unsterbliche Kunst In dem biografischen Roman »Die Malerin der Frauen« schreibt Lena Dietrich fesselnd und kenntnisreich über eine außergewöhnlich starke Frau, die sich trotz ihres Traumas an die Spitze der Kunstwelt kämpft. Artemisia wächst in Rom als Tochter eines Malers auf. Schon bald ist ihr außerordentliches Talent nicht mehr zu übersehen. Als ein Freund ihres Vaters sich an der 17-Jährigen vergeht, scheinen alle Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft dahin. Artemisia muss einen demütigenden Prozess über sich ergehen lassen und wird am Ende mit einem Mann verheiratet, den sie nicht liebt. Ihre Wut und Verzweiflung kann die geniale junge Frau in ihren einzigartigen Bildern verarbeiten. Es entstehen die größten Meisterwerke der Zeit, die Artemisia in den Olymp der bedeutendsten Künstler Italiens katapultieren. Die unglaubliche Geschichte der Artemisia Gentileschi, der Malerin, die die bedeutendsten Gemälde ihrer Epoche schuf. In diesem aufwühlenden biografischen Roman nimmt Lena Dietrich uns mit in das Florenz des 17. Jahrhunderts, zu den Medici und zu Galileo Galilei. Entdecken Sie eine faszinierende Frau und bedeutende Künstlerin, die noch heute in Museen und Ausstellungen gefeiert wird. Artemisia Gentileschi (1593-1654) schuf in ihren Bildern unvergessliche Frauendarstellungen, die man so noch nie gesehen hatte. Sie malte Figuren aus der Bibel oder der Mythologie, aber sie stellte sie auf eine völlig neuartige Weise dar. Die Frauen zeigten ihre Gefühle: Schmerz, Scham und Verletzlichkeit. Das Trauma der 17-jährigen Artemisia hatte Spuren hinterlassen – und große Wut. Ihre Bilder »Susanna und die Alten« oder »Judith enthauptet Holofernes« werden oft dahingehend interpretiert. Ihre Zeitgenossen empfanden das als verstörend: drastisch, brutal, »unweiblich«. Heute gelten diese Bilder als Meisterwerke. Bedeutende Frauen, die die Welt verändern Mit den historischen Romanen unserer Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autor:innen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen. Weitere Bände der Reihe: - Laura Baldini, Lehrerin einer neuen Zeit (Maria Montessori) - Romy Seidel, Die Tochter meines Vaters (Anna Freud) - Petra Hucke, Die Architektin von New York (Emily Warren Roebling) - Laura Baldini, Ein Traum von Schönheit (Estée Lauder) - Lea Kampe, Der Engel von Warschau (Irena Sendler) - Eva-Maria Bast, Die aufgehende Sonne von Paris (Mata Hari) - Eva-Maria Bast, Die vergessene Prinzessin (Alice von Battenberg) - Yvonne Winkler, Ärztin einer neuen Ära (Hermine Heusler-Edenhuizen) - Agnes Imhof, Die geniale Rebellin (Ada Lovelace) - Lea Kampe, Die Löwin von Kenia (Karen Blixen) - Eva Grübl, Botschafterin des Friedens (Bertha von Suttner) - Laura Baldini, Der strahlendste Stern von Hollywood (Katharine Hepburn) - Eva-Maria Bast, Die Queen (Queen Elizabeth II.) - Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis (Josephine Peary) - Ulrike Fuchs, Reporterin für eine bessere Welt (Nellie Bly) - Anna-Luise Melle, Die Meisterin der Wachsfiguren (Marie Tussaud) - Petra Hucke, Die Entdeckerin des Lebens (Rosalind Franklin) - Jørn Precht, Die Heilerin vom Rhein (Hildegard von Bingen) - Elisa Jakob, Die Mutter der Berggorillas (Dian Fossey) - Yvonne Winkler, Kämpferin gegen den Krebs (Mildred Scheel) - Lena Dietrich, Die Malerin der Frauen (Artemisia Gentileschi) - Laura Baldini, Die Pädagogin der glücklichen Kinder (Emmi Pikler)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Die Malerin der Frauen« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign
Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Kapitel 1
Artemisia
Kapitel 2
Artemisia
Kapitel 3
Orazio
Kapitel 4
Artemisia
Kapitel 5
Orazio
Kapitel 6
Artemisia
Kapitel 7
Agostino
Kapitel 8
Agostino
Kapitel 9
Riccardo
Kapitel 10
Agostino
Kapitel 11
Orazio
Kapitel 12
Orazio
Kapitel 13
Artemisia
Kapitel 14
Pierantonio
Kapitel 15
Riccardo
Kapitel 16
Artemisia
Kapitel 17
Lucrezia
Kapitel 18
Artemisia
Kapitel 19
Artemisia
Kapitel 20
Artemisia
Kapitel 21
Artemisia
Kapitel 22
Pierantonio
Kapitel 23
Artemisia
Kapitel 24
Agostino
Kapitel 25
Artemisia
Kapitel 26
Lucrezia
Kapitel 27
Artemisia
Kapitel 28
Pierantonio
Kapitel 29
Artemisia
Kapitel 30
Artemisia
Kapitel 31
Lucrezia
Kapitel 32
Pierantonio
Kapitel 33
Artemisia
Kapitel 34
Agostino
Kapitel 35
Artemisia
Kapitel 36
Artemisia
Kapitel 37
Artemisia
Kapitel 38
Francesco
Kapitel 39
Pierantonio
Kapitel 40
Francesco
Kapitel 41
Agostino
Kapitel 42
Artemisia
Kapitel 43
Francesco
Kapitel 44
Artemisia
Kapitel 45
Agostino
Kapitel 46
Artemisia
Nachwort
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Artemisia hörte das leise Knacken des Pinsels in ihrer Hand und spürte das Brennen, als sich ein Span des gesplitterten Holzes in die zarte Haut grub. Sie zuckte zusammen, ließ sich von dem Schmerz jedoch nicht irritieren. Er half ihr sogar, die Ohnmacht vor der Tatsache zurückzudrängen, dass sie die Schülerin war und ihr Vater der Lehrer. In dieser Konstellation konnte sie zwar nicht gewinnen, aber genauso wenig würde sie brechen wie dieser Pinsel in ihren verkrampften Fingern. Schließlich war sie im Recht!
Um trotz des inneren Aufruhrs nichts Respektloses zu sagen, presste Artemisia die Lippen aufeinander und zählte in Gedanken bis zehn. Papà hatte ihr schon früh die Grundzüge des Rechnens beigebracht, weil es – anders als Lesen und Schreiben – wichtig für die Arbeit eines Malers war. Farben mussten richtig gemischt und Verhältnisse auf der Leinwand kalkuliert werden, außerdem galt es, die Finanzen im Griff zu haben.
»Nun, mein Kind, hast du meiner Beurteilung nichts entgegenzuhalten?«, fragte Orazio und stieg sichtlich ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Sonst fällt dir doch auch immer etwas ein, das mir Magenschmerzen verursacht.«
Die spitze Bemerkung war zu viel. Sie war nicht schuld an seinen Qualen, wohl eher die fettigen Speisen und der Wein. Kurz schaffte Artemisia es noch, sich zu beherrschen, dann platzte sie förmlich. »Warum kritisierst du mich schon wieder?«, rief sie laut, besann sich und fügte deutlich leiser hinzu: »Von den Zehen bis zu dem Haarwirbel links oberhalb der Stirn ist alles anatomisch korrekt und naturgetreu dargestellt. Suche ruhig nach einem Fehler, papà! Du wirst keinen einzigen finden – das Bild ist nämlich perfekt.«
Orazio Gentileschi schnaubte und wies hintereinander auf die Augen, die Wangen und das Kinn des abgebildeten Kindes. »Ja, stimmt schon – perfekt in den Proportionen und tatsächlich der Realität entsprechend, aber nicht wohlgefällig. Wie oft habe ich dir das bereits gesagt? Du malst nicht für dich, sondern für deine Auftraggeber! Bei einem Porträt möchten die ihre Makel nicht bildlich vorgeführt bekommen. Ach was! Selbst bei einer fremden Darstellung muss die gute Person schön sein … und die böse hässlich. Warum – bei Gott – verstehst du das nicht?«
»Weil der kleine Luigi nun einmal so aussieht und nicht anders!« Artemisias Blick glitt von dem Gemälde, das ihr Vater gerade bekrittelte, zu dem Jungen, der auf dem Boden saß und mit zwei Holzfiguren spielte.
Weshalb sollte sie seine Wangen runder malen und ihnen einen rosigen Hauch verpassen, obwohl sie doch tatsächlich so weiß waren wie frische Milch? Und das fliehende Kinn mit der winzigen Grube stattlicher darzustellen würde bloß den Eindruck verfälschen. An die Augen durfte sie erst gar nicht denken! Sie noch größer zu machen, als sie ohnehin waren, grenzte an Verunstaltung.
Orazio verschränkte die Arme. »Wenigstens das Haar ist hübsch geworden, wobei du auch hier nicht aus dem Vollen schöpfst. Aber was ärgere ich mich? Du bist im Moment zu verwirrt, um ordentlich arbeiten zu können. So ist das mit euch Mädchen. Kaum erscheint ein Ehemann am Horizont, setzt das Denken aus und ihr vergesst alles andere rundherum. Ich muss jetzt ins Casino delle Muse – Geld verdienen!« Abrupt drehte er sich um und verließ mit polternden Schritten den Raum.
Artemisia wartete, bis sie das Eingangstor zuschlagen hörte, und legte den zerbrochenen Pinsel auf ein Tischchen neben der Staffelei. Mit Zeigefinger und Daumen zog sie den Span aus ihrer Haut und sah kurz zu Tuzia, der Mutter des kleinen Luigi. Über den Streit mit ihrem Vater hinweg hatte sie ganz vergessen, dass die Frau ebenfalls anwesend war. Der Umstand brachte Artemisia gleich nochmals in Wallung. Was sich Tuzia wohl dachte? Bestimmt glaubte sie, dass papàs Tadel seine Richtigkeit hatte. Schließlich war er der Lehrer und sie die Schülerin – von wegen! Niemals hätte ihr Vater es geschafft, den Schimmer in Luigis schwarzen Locken, die in der Nachmittagssonne wie Rabengefieder glänzten, in dieser Vollkommenheit einzufangen. Es fehlte ihr nicht an Fantasie, auch hatte sie durchaus aus dem Vollen geschöpft – aus dem verfügbaren Vollen.
Artemisia verstand einfach nicht, warum papà mit glitzernden Sternen im Haar des Kindes zufriedener wäre. Wahrscheinlich hätte er sie sogar gelobt, wäre Luigi mit Schlangen auf seinem winzigen Schädel zu Medusa mutiert. Figuren und Motive aus der griechischen Mythologie verkauften sich fast so gut wie christliche Szenen.
Unwillkürlich stöhnte Artemisia auf. Seit sie von ihrem Vater unterrichtet wurde, ermahnte er sie zu einer idealisierten Darstellung, doch mit jedem verfälschten Strich auf der Leinwand schrie es in ihrem Inneren empört auf. Anders als ihre Brüder, die sich mangels Begabung mit eingeübten Formen begnügen mussten, verfügte sie über das Talent, die feinsten Nuancen abzubilden. Und deshalb sollte sie keine gute Malerin sein? Außerdem ein von der Aussicht auf einen Ehemann geblendetes Mädchen?
Verstohlen sah Artemisia erneut zu Tuzia, die noch immer denselben demutsvollen Ausdruck zeigte, den sie aber ohnehin meistens auf dem Gesicht trug. Welches Bild sie wohl von ihrem Sohn hatte? Selten nannte sie ihn bei seinem Namen, sondern bezeichnete ihn als il più bello oder mio angelo. Gaukelte ihr die Natur eine optimierte Erscheinung des Kleinen vor? Luigi war niedlich und keinesfalls hässlich, von schön und engelsgleich allerdings weit entfernt.
Hatte papà am Ende recht mit seiner Behauptung? Vielleicht kam der Zauber eines Gemäldes tatsächlich nicht von einer wirklichkeitsnahen Darstellung, sondern resultierte aus der Fähigkeit, Kundenwünsche zu erkennen und umzusetzen. Er lag ja auch nicht ganz falsch mit seiner Aussage über die mögliche Hochzeit. Seit sie von den Eheverhandlungen wusste, kreisten ihre Gedanken viel zu oft um Agostino Tassi.
Er und papà arbeiteten gegenwärtig im Auftrag von Kardinal Borghese an den Decken des Casino delle Muse und waren sich in diesem Zuge freundschaftlich nähergekommen. Während ihr Vater Agostinos meisterliche Formgebung der Landschaften und Gebäude lobte, war Signore Tassi von papàs Figuren äußerst angetan. Obwohl sich die beiden bereits länger kannten, vermutete Artemisia, dass sie erst durch diese neue Partnerschaft auf die Idee einer Heirat gekommen waren.
Als junge Frau und Tochter hatte sie bei den Gesprächen zwar nichts mitzureden, aber neutral betrachtet könnte sie es zweifelsfrei deutlich schlechter treffen. Die leise Stimme in ihr, die sie vor Signore Tassi warnte, schob sie dabei vehement beiseite. Sein Blick sollte zu stechend sein? Zufällige Berührungen in Wahrheit bewusst gesteuert? Seine vollen Lippen auf Lasterhaftigkeit hinweisen? Entschieden schüttelte Artemisia den Kopf. All dieses Denken entsprang bloß ihrem Unwissen über das andere Geschlecht. Anstatt zu grübeln, durfte sie sich glücklich schätzen, dass Agostino sie überhaupt beachtete. Vielen Frauen war es nicht vergönnt, vom Bräutigam und späteren Gatten begehrt zu werden – in ihrem Fall noch dazu von einem höchst ansehnlichen, der obendrein ihre Begeisterung für die Malerei teilte. Sich mehr zu wünschen wäre wohl so etwas wie ein Sakrileg.
Vom Flur hörte Artemisia erst das Geräusch des zufallenden Eingangstors und gleich darauf feste Schritte. Sie erwartete keinen Gast, papà würde sicherlich erst abends zurückkehren, und Lucrezia, seine Schwester, war nach Ostia gefahren. Sie kannte dort einen Fischhändler, der ihr bessere Preise gab als jeder Marktschreier hier in Rom. Zwar schwieg sich zia Lucrezia beharrlich über den Grund dieses Vorzugs aus, doch Artemisia hatte so eine Ahnung.
In diesem Moment wurde die Tür ohne ein Klopfen energisch aufgezogen, und Signore Tassi betrat den Raum. Warum war er hier und nicht im Casino?
Für einen unendlich scheinenden Moment hielt Artemisia den Atem an, dann holte sie tief Luft und nahm Signore Tassis Duft wahr. Natürlich wusste sie, dass es sich um einen Trugschluss handelte – ähnlich wie Tuzias verklärte Sicht auf ihren Sohn. Dennoch funktionierte die Täuschung. Für sie roch es in Agostinos Gegenwart nach dunkelbrauner Erde und bittersüßer Orange. Vermischt würden die beiden zu einer kraftvollen, soliden Farbe verschmelzen, die Schutz und eine kontrollierte Heißblütigkeit versprach. So wünschte sie es sich zumindest.
Artemisia spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und drehte sich rasch der Leinwand zu. Ob wenigstens Signore Tassi gefiel, wie sie den kleinen Luigi porträtierte?
Häufig lobte er ihre Werke und ließ darüber hinaus keine Gelegenheit verstreichen, ihr Aussehen wohlwollend zu erwähnen. Um sich interessanter zu machen, hätte sie ihm unlängst bei einem Spaziergang sogar fast gestanden, dass sie ihren eigenen Körper als Vorlage für Nacktdarstellungen verwendete. Aber natürlich war Tuzia dabei gewesen.
Wie sehr sie es doch hasste, keinen einzigen Schritt ohne diese Frau tun zu dürfen! Allerdings wollte Artemisia nicht ungerecht sein und Tuzia die Schuld geben. Schließlich hatte papà sie und ihre Kinder aus einem einzigen Grund im ersten Stock zur Miete untergebracht: Er brauchte jemanden, der auf ihren makellosen Ruf achtete, seit mamma, der diese Aufgabe zugefallen wäre, verstorben war.
»Permesso.« Agostinos ungewohnt kalter Ton durchschnitt die Stille wie ein geschliffenes Schwert und ließ Artemisia zusammenzucken. Wo war der weiche Klang in seiner Stimme, den sie so sehr mochte?
Ohne das übliche Lächeln nickte er ihr zu, dann streifte sein Blick den Jungen und glitt weiter zu Tuzia. »Nehmt Euren Sohn und geht in die Wohnung hinauf. Artemisia kann das Bild später vollenden. Ich habe mit ihr unter vier Augen zu reden.«
»Aber Signore Tassi, das ist nicht möglich«, erwiderte Tuzia sichtlich erschrocken. »Sagt vor mir, was Ihr zu sagen habt.«
»Was ist, Signora? Plagt Euch die weibische Neugier?« Agostino stieß ein abschätziges Lachen aus. »Die Angelegenheit, die ich zu erörtern habe, erfordert absolute Diskretion und ist nicht für Eure Ohren bestimmt. Orazio wäre äußerst unzufrieden mit diesem Verhalten. Gern erstatte ich ihm ausführlich Bericht.«
»Tut das nicht! Ich bitte Euch.« Tuzias Furcht war unverhohlen. Zögerlich hob sie Luigi hoch und drückte ihn an sich, dann verließ sie hastig das Zimmer.
Einem Impuls folgend wollte Artemisia ihr nachrufen, dass sie bleiben solle, doch brachte sie keinen Laut über die Lippen. Hatte sie die Konfrontation der beiden eben noch gespannt verfolgt, fühlte sie sich plötzlich schuldig. Aber wofür? Sie hatte nichts getan, das Agostinos Missfallen hervorrufen könnte. Jäh mischte sich Ärger in das beklemmende Empfinden. Wusste er nicht, in welche Lage er sie brachte, wenn sie nur zu zweit in diesem Raum waren? Und Tuzia! Ihrem unterwürfigen Wesen zum Trotz hätte sie ihm die Stirn bieten und hierbleiben müssen. Anstatt sich jedoch der Situation zu stellen, war sie davongeschlichen wie eine gescholtene Leibeigene.
Mit zittrigen Fingern strich Artemisia ihren Rock glatt und erhob sich. Auch im Stehen war Agostino noch immer einen Kopf größer als sie, aber die Verringerung des Augenabstands gab ihr Sicherheit.
»Also, worüber wünscht Ihr mit mir zu sprechen?«, fragte sie und versuchte, Kraft in die Stimme zu legen.
Agostino vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will nicht wie eine Katze um den heißen Brei herumschleichen, also sage ich es direkt. Der Gehilfe Eures Vaters hat einige hässliche Dinge über Euch von sich gegeben. Bevor ich mit Orazio rede, möchte ich Euch anbieten, mir alles zu erklären.«
»Welche hässlichen Dinge? Und wer? Doch nicht etwa Francesco Scarpellino …«
»Ja, er. Aber müsst Ihr Euch erst nach dem Namen des Mannes erkundigen, weil Ihr Euch mehreren gegenüber falsch verhalten habt?« Agostino kniff die Lider zusammen und fixierte sie, als wollte er die Antwort mit seinem Blick aus ihr herauspressen.
»So ein Unsinn! Nichts dergleichen«, entgegnete Artemisia prompt. »Was behauptet er?«
»Ach, das tut nichts zur Sache. Hütet Euch einfach in Zukunft davor, mit Francesco zu plappern. Damit verheißt Ihr ihm unabsichtlich Dinge, die mir zustehen.« Agostino sah auf die geöffnete Seitentür hinter Artemisia, die in ihre Kammer führte, dann machte er einen Schritt auf sie zu. »Ihr seid zu schön und begehrenswert, um diesem kriechenden Wurm auch nur einen Hauch von Hoffnung zu gewähren.«
»Ich werde mich danach richten.« Artemisia trat zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu bewahren. »Würdet Ihr beim Hinausgehen bitte nach Tuzia rufen, Signore Tassi? Ich möchte weitermalen.«
»Ihr wollt mich wegschicken?«
»Nun, es ist alles gesagt.« Mehr intuitiv als bewusst registrierte Artemisia die Lage, in die sie sich gebracht hatte.
Durch den Rückzug stand sie fast auf der Schwelle ihres Schlafgemachs. Links führte der Ausweg bloß zum Fenster, und die rechte Seite war mit der Staffelei und dem Malwerkzeug verstellt. Selbst ein Hilfeschrei würde ihr nichts nützen, da Tuzia sie im Stock darüber wahrscheinlich nicht hören konnte.
Agostino lächelte hintergründig. »Soll ich Euch wirklich verlassen?«, wiederholte er seine Frage mit anderen Worten.
»Signore Tassi, ich bitte Euch –« Weiter kam Artemisia nicht.
Unvermittelt packte er sie an den Schultern und stieß sie in ihr Gemach hinein.
Völlig überrascht von dem Angriff taumelte Artemisia zurück und schaffte es gerade noch, sich vor dem Bett zu fangen. Agostino sprang hinterher, doch half er ihr nicht, sondern riss sie mit sich. Rücklings fiel sie auf die Matratze – und sofort war Agostino über ihr.
Das Gewicht seines Körpers drückte sie nieder und schien sie beinahe zu ersticken, aber Agostino gewährte ihr keinen Freiraum. Während er sich mit einer Hand auf dem Bettgestell abstützte, schob er die andere in den Ausschnitt ihres Kleids. Seine Fingernägel bohrten sich in ihre Haut, und ein leichter Schwindel überkam sie.
Obwohl Artemisia alles überdeutlich wahrnahm, schaffte sie es nicht, klar zu denken und einen Plan zu entwickeln. Körper und Geist waren wie gelähmt. Buchstäblich fühlte es sich an, als hätte jemand sämtliche Funktionen ausgeschaltet und die frei gewordene Energie auf das Empfinden gelenkt.
»So lange sehne ich mich schon nach deiner saftigen Fotze.« Agostino leckte sich über die Lippen.
Speichel tropfte auf ihre Wange, und sie erschauerte. Das Zittern drang bis in die Zehenspitzen vor, und als würde etwas in ihr explodieren, löste sich die Starre. Wut und Scham ballten sich zu einer unbändigen Kraft, und förmlich sah sie das Feuer der Empörung in grellen Rottönen in sich auflodern. Fotze? Wie konnte er es wagen, dieses Wort vor ihr zu benutzen?
»Nein!« Der Aufschrei befreite sie endgültig, und mit einer ruckartigen Bewegung presste Artemisia die Hände gegen Agostinos Brust.
Es war ein kläglicher Versuch, doch die Gegenwehr schien ihn zu irritieren. Er verharrte und blickte sie sichtlich entgeistert an.
Das war ihr Moment! Artemisia spannte die Muskeln an, und mit einem erneuten Schrei begann sie, wie von Sinnen um sich zu schlagen. Sie zerkratzte sein Gesicht, zerrte an seinem Gewand und biss ihn in den Arm.
Agostino reagierte blitzschnell. Mit einem grimmigen Laut ließ er die Brust los, legte ihr die Finger um den Hals und drückte zu. »Du verdammtes Weibsstück. Muss ich dir die Wildheit wirklich aus dem Leib würgen?«
Artemisia spürte den Druck auf ihrem Kehlkopf, hielt jäh inne und musterte sein Gesicht. Dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Weder Bitten noch Tränen würden ihn milde stimmen – sie hatte verloren.
»Gut. Dann halte jetzt gefälligst still. Du wirst dich daran gewöhnen und es genießen.«
Während Agostino ihren Rock hochschob und sich an dem Untergewand zu schaffen machte, fixierte Artemisia den Deckenbalken über ihr. Beinahe wünschte sie sich, in eine Ohnmacht abzugleiten, in der sie nichts sah, hörte und fühlte, aber etwas in ihrem Inneren verwehrte sich dagegen. Zu flüchten würde auch bedeuten, Schwäche zu zeigen.
Unvermutet fiel ihr die fromme Susanna ein, die sie vor einem Jahr gemalt hatte. War die Abwehrhaltung der jungen Frau zu gering gewesen, und hätte sie Susannas Entsetzen über die Begierde der alten Männer drastischer darstellen sollen? Wie unbedarft und naiv sie doch an die Szene herangegangen war. Selbst die Farben passten nicht.
Ein brennender Schmerz zwischen den Beinen ließ Artemisia unvermutet zusammenzucken. Sie spürte, wie Agostino weiter eindrang und sich langsam immer tiefer in sie hineinschob. Wenigstens behutsam ist er, dachte sie und klammerte die Hoffnung an diesen positiven Umstand.
Tatsächlich führte Agostino die ersten Stöße fast zögerlich und mit einer erstaunlichen Sanftheit aus, dann ging er in einen schnelleren und kraftvollen Rhythmus über.
Sein gedämpftes Keuchen erinnerte Artemisia an das Grunzen von Schweinen, die mit ihren Schnauzen gierig die Erde durchwühlten, und Ekel stieg in ihr auf. Es war dieselbe dunkelbraune Erde, die sie in Agostinos Gegenwart immer gerochen hatte – ein Korb voller frisch gepflückter Pilze. Nun war sie vermengt mit Fäkalien, und in den Orangenduft mischte sich der beißende Gestank der Tiere.
Artemisia schluckte, um ihren Magen im Zaum zu halten, und konzentrierte sich wieder auf den Deckenbalken. Wie es wohl wäre, ihn zu berühren? Bestimmt fühlte sich das Holz glatt und trocken an, vielleicht sogar warm. Jedenfalls gänzlich anders als Agostinos schweißnasser, behaarter Körper, der sich an ihr rieb.
Wann hörte er endlich auf? Die Bewegungen strengten ihn offenkundig an und führten ihn an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Bald musste es doch bitte vorbei sein!
Als erhörte Agostino ihr stummes Flehen, hielt er abrupt inne und stöhnte auf.
Brach er jetzt gar über ihr zusammen? Mit Gewalt kämpfte Artemisia gegen den Wunsch an, ihn anzublicken. Den Schmerz konnte sie verdrängen und ihren Körper mit kochend heißem Wasser waschen, was sich allerdings in den Augen festbrannte, würde sie ihr ganzes Leben begleiten.
Für einen endlosen Moment schien die Welt stillzustehen, dann setzte bei Agostino eine Veränderung ein. Sein Atem beruhigte sich, die Anspannung verebbte, und sein Penis schrumpfte, bis er von selbst aus ihr herausglitt.
Obwohl Artemisia überzeugt war, dass sie in seinen Zügen bestimmt wieder den ihr vertrauten Mann erkannte, wollte sie ihn noch immer nicht ansehen. Erst als er zur Seite rutschte und sich neben ihr aufrichtete, wagte sie es.
Agostino lächelte schief. »Dein Vater und ich werden demnächst eine zufriedenstellende Einigung finden. Ich heirate dich, Artemisia – versprochen. Und bis dahin bereiten wir einander Vergnügen. Das ist durchaus üblich, und du solltest die Freuden der Lust dankbar annehmen.«
Wie aus weiter Ferne hallte seine Stimme in der Stille wider. Bekanntlich heilt die Zeit alle Wunden, folglich auch diese – dessen ungeachtet war Artemisia weder bereit zu verzeihen noch zu vergessen. Papà würde schon dafür sorgen, dass sie diesen Unhold nicht heiraten musste.
Artemisia wandte sich von zia Lucrezia ab, die mit verschränkten Armen und aufeinandergepressten Lippen neben der Staffelei stand, und fixierte wieder ihren Vater. Die rötliche Verfärbung auf seiner Wange, die bereits einen dunklen Schimmer annahm, zeugte davon, wie die erste Unterredung mit Agostino geendet hatte.
Sie selbst war an diesem Tag mit Lucrezia auf den weit entfernten Markt Campo de’ Fiori geschickt worden, aber Tuzia hatte alles mitverfolgt und über die wüste Schlägerei der beiden berichtet. Zu hören, wie Agostino von papà verprügelt worden war – beide Augen blau, das Kinn geschwollen, die Lippen aufgeschlagen –, hatte ihr tiefe Genugtuung und einen wahren Höhenflug beschert. Dass Tuzia von ihrem Vater dabei ebenfalls in die Mangel genommen worden war, bescherte ihr zwiespältige Empfindungen. Schon von Natur aus unterwürfig, schlich Tuzia seitdem wie ein Geist durch das Haus und zuckte bei dem leisesten Geräusch zusammen, als träfe sie jeden Moment der Zorn Gottes.
Nun, Tuzia traf er nicht, sondern sie – und zwar aus heiterem Himmel. Nachdem papàs Wut verraucht war, hatte er sich nämlich vorhin ein zweites Mal mit Agostino getroffen – und das Ergebnis dieser Besprechung stürzte sie in ein tiefes Loch. All ihre Hoffnungen und Träume auf eine glückliche Zukunft waren mit einem Schlag zunichtegemacht.
Artemisia zwinkerte, um den milchigen Schleier zu entfernen, der sich über ihre Pupillen gelegt hatte. »Das darfst du mir nicht antun, papà! Ich verstehe nicht, warum –«
»Basta, Artemisia! Du hast schon genug Unheil angerichtet. Ich bin dir keine Erklärung schuldig. Sei froh, dass die Angelegenheit so glimpflich ausgegangen ist.« Mit einem inbrünstigen Schnauben drehte sich Orazio um und verließ fluchtartig den Raum.
Hatte Artemisia gerade einen Anflug von schlechtem Gewissen über sein Gesicht huschen gesehen? Sie biss sich auf die Unterlippe und spürte, wie ihre Augen nass wurden. Warum gab papà plötzlich ihr die Schuld an dem Geschehen? Sie war das Opfer, Agostino der Täter. Nirgendwo befand sich hier eine Lichtquelle, die das Spiel mit den feinen Nuancen eines Schattens gewährte – es gab nur Schwarz und Weiß. Rasch wischte Artemisia die Tränen fort. Keinesfalls wollte sie zu weinen beginnen.
Zia Lucrezia löste sich von ihrem Platz und setzte sich auf den Stuhl neben ihr. »Ich ahne, was du denkst – und du hast recht. Lass dich trotzdem nicht von dem Gefühl der Ungerechtigkeit verschlingen. Dein Vater weiß, was das Beste für dich ist. Sei einfach froh, dass sich die beiden Männer wieder ausgesöhnt haben und alles beim Alten bleibt.«
»Das Beste? Was kann es Schlimmeres geben, als einen Mann zu heiraten, der sich dermaßen schändlich an mir vergangen hat?«
»Nun, dass du gar nicht geheiratet wirst.« Lucrezia gelang das Lächeln nur halbherzig. »Sieh mich an. Ich bin zwar nicht ledig, aber eine Witwe. Der Unterschied fällt kaum ins Gewicht. Wärst du lieber in einem Leben gefangen, wie ich es habe?«
Mit einem Hauch von Erstaunen musterte Artemisia ihre Tante. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht, ob es Lucrezia gefiel, einen fremden Haushalt zu führen. Dass sie selbst nach dem Tod ihrer Mutter diese Rolle hatte übernehmen müssen, war damit nicht zu vergleichen. Schließlich hatte sie ihren Vater und ihre Brüder betreut, nicht entfernte Verwandte. Und noch etwas drang unvermutet in Artemisias Bewusstsein vor: War ihr eigenes Glück am Ende vielleicht zia Lucrezias größtes Leid?
»Du machst es möglich, dass mich papà unterrichtet«, murmelte sie. »Wärest du nicht hier und würdest dich um uns kümmern, hätte ich keine Zeit zu malen.«
»Überschätze mich nicht, cara. Es war Orazio, der dein Talent erkannt hat und mich herholte, um dich von den Aufgaben einer Frau zu entbinden.« Kurz schwieg Lucrezia. »Wenn dein Vater auch seinen eigenen Vorteil darin sieht – ein begabtes Kind ist schließlich Gold wert –, darfst du sein Handeln nicht als selbstverständlich erachten. Du solltest ihm besser die Füße küssen.«
»Das tue ich, obwohl es mir gerade ziemlich schwerfällt«, entgegnete Artemisia wahrheitsgemäß und senkte die Lider. Zusehends fühlte sie sich unwohler.
Sie mochte ihre Tante sehr, war aber daran gewöhnt, dass eine gewisse Distanz zwischen ihnen bestand. Auf einmal redete Lucrezia in einer Weise mit ihr, als wäre sie mehr eine Freundin als ihre Nichte. Hatten Agostinos Tat und die plötzlich wieder eingesetzte Ehevereinbarung eine Veränderung ausgelöst, die sie noch nicht verstand?
Lucrezia ergriff ihre Hand und drückte sie. »Du bist jung und weißt wenig vom wahren Leben, Artemisia. Mit der Zeit wirst du vieles erfahren. Männer etwa sind anders als wir. Sie denken anders, handeln anders, haben andere Beweggründe. Dein papà ist keine Ausnahme.«
»Und … Agostino?« Trotz ihres Ärgers auf papà widerstrebte es Artemisia, die beiden gleichzusetzen.
Lucrezia stieß einen abfälligen Ton aus. »Agostino Tassi zählt zu einem ganz eigenen Schlag, vor dem sich jede Frau tunlichst hüten sollte. Dafür, dass Tuzia dich mit ihm allein gelassen hat, gehörte sie verkehrt ans Kreuz genagelt. Es steckt nichts Böses in ihr, doch sie ist ein schwaches Weibsbild ohne Rückgrat. So eine hat nicht das Zeug, auf eine erblühende Schönheit, wie du es bist, zu achten.«
»Aber Tuzia ist unschuldig, Tante – wirklich. Du hättest hören müssen, wie Agostino mit ihr umgesprungen ist. Auch ich an ihrer Stelle wäre ohne Widerrede davongelaufen.«
Lucrezia fegte das Argument mit einer strikten Handbewegung fort. »Es geht Agostino nicht darum, einer Frau Schmerz zuzufügen oder sie zu erniedrigen. Er will das Objekt seiner Begierde besitzen. Dabei ist er der festen Überzeugung, dass sie sich das im Geheimen ebenso wünscht wie er. Ich habe seine Art beim ersten Aufeinandertreffen erkannt. Es liegt an der unbändigen Lust, die in seinen Augen glimmt – sie bringt das Unausweichliche. Tuzia hätte das genauso erfassen sollen und sich demgemäß rüsten müssen. Wie wir alle wusste schließlich auch sie, dass er –« Unvermittelt hielt sie inne.
»Dass er … was?« Lucrezias freimütige Worte spornten Artemisia an, ebenfalls offen zu sprechen.
Zu ihrem Erstaunen versuchte Lucrezia nicht, sich herauszureden, sondern antwortete prompt. »Agostino hat sich an seiner Schwägerin vergangen. Dafür wurde er sogar wegen Inzucht verhaftet und hat im Gefängnis gesessen. Das ist nicht länger als drei Monate her.«
»Signora Constanza? Die Schwester seiner verstorbenen Frau?«
»Und Gattin seines Schülers Filippo Franchini – ja, genau die.« Lucrezia beugte sich vor und senkte die Stimme. »Praktisch, nicht wahr? Man verheiratet die hübsche Schwester der Ehefrau mit seinem Schüler – und stirbt das eigene Weib, wahrscheinlich vor Kummer oder weil sie das Elend nicht mehr ertragen wollte, nimmt man das junge Paar mit nach Rom. Schließlich möchte man auf nichts verzichten.«
Kurz hielt Artemisia den Atem an. Vor wenigen Tagen war ihre heile Welt buchstäblich in tausend Teile zerbrochen, und noch während sie verzweifelt versuchte, diese zusammenzufügen, barst sie erneut – und gleich darauf wieder, jetzt in unzählige kleine Stücke. Wie hatte zia Lucrezia gerade gesagt? Alle hatten Bescheid gewusst. Alle, bis auf sie.
Jäh spürte Artemisia eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Tuzias Aufgabe wäre es gewesen, sie zu beschützen, Lucrezia hätte sie früher einweihen sollen – und papà? Wie hatte er mit diesem Wissen seinerzeit überhaupt beginnen können, Heiratsgespräche mit Agostino zu führen? Waren sie und ihr Glück tatsächlich so wenig wert?
Abrupt sprang Artemisia auf. »Warum hat mir niemand etwas gesagt? Ich wäre vorsichtiger gewesen und hätte mich gewappnet.« Sie zog die Brauen zusammen. »Was papà befiehlt, ist mir egal. Niemals werde ich die Frau dieses Scheusals. Das schwöre ich bei der Jungfrau Maria!«
Lucrezias Miene blieb ungerührt. »Den Schwur hast du seit Kurzem verwirkt. Setz dich wieder hin und beruhige dich.« Geduldig wartete sie, bis Artemisia Platz genommen hatte, dann sprach sie weiter. »Ich möchte, dass du dir eine Sache genau einprägst: Mit dem Kopf durch die Wand zu wollen bringt dich im Leben nicht voran. Du kannst nur im Rahmen deiner Möglichkeiten agieren – und die sind nicht so furchtbar, wie du im Augenblick annimmst. Erkenne stets die Umstände und ziehe daraus deine Vorteile.«
»Und worin liegt der Vorteil einer Ehe mit Agostino?«
»Dein Vater hat dir die Gunst gewährt, dich zu unterrichten. Agostino Tassi wird dir nicht verwehren, was Orazio in die Wege geleitet hat. Wenn dieser Mann eines achtet, dann dein Talent. Ist es nicht das, was du dir wirklich wünscht? Weiter malen zu dürfen und jemanden an deiner Seite zu haben, der dich darin fördert? Vergiss niemals, dass es für eine Frau als Privileg gilt und nicht als naturgegebenes Recht.«
»Ist es in Wahrheit nicht einerlei, wer den Pinsel führt?«, fragte Artemisia. »Jung oder alt, Mann oder Frau. Allein, was der Einzelne beim Betrachten eines Gemäldes sieht und spürt, sollte den Ausschlag geben.«
Lucrezia stützte die Hände auf den Armlehnen des Stuhls ab und erhob sich mit einem Ächzen. »Mein liebes Kind, das Einzige, was ich spüre, ist deine Leidenschaft. Und ich sehe, dass du mit deinen achtzehn Jahren schon besser malst als mein Bruder und Agostino Tassi zusammen. Dessen ungeachtet wirst du härter arbeiten und erbarmungsloser mit dir verfahren müssen als zehn Männer.« Entgegen ihrem harschen Tonfall streichelte sie sanft über Artemisias Wange. »Ich bereite jetzt das Abendessen zu. Orazio wird hungrig sein, wenn er nach Hause kommt. Wir sollten ihn nicht reizen, sondern ihm mit Demut begegnen und dafür sorgen, dass sein Magen voll ist. Satte Männer sind zufriedene Männer.« Sie drehte sich um und verließ mit festen Schritten und wiegenden Hüften den Raum.
Nachdenklich blickte Artemisia ihrer Tante nach. Waren ihr die bodenständige Kraft und diese ursprüngliche Form des Selbstbewusstseins an Lucrezia je zuvor aufgefallen?
Kaum merklich schüttelte sie den Kopf und schloss die Augen, um sich das Gesagte zu vergegenwärtigen. Noch hatten sich nicht alle Erläuterungen in ihrem Bewusstsein zu einer für sie sinnvollen Weisheit geformt – sicherlich verstand sie manches auch erst mit der Zeit. Eines trat allerdings bereits jetzt deutlich hervor: Ja, sie würde malen – bei Kälte und bei Hitze, bei Tag und bei Nacht. Ihre Finger sollten bluten, der Magen knurren und die Augen vor Anstrengung im Kerzenschein tränen.
Das Glockenzeichen der nahen Kirche San Silvestro verkündete die sechste Tagesstunde, die Zeit des Mittagsgebets.
Intuitiv verzog Orazio bei dem Geräusch angewidert die Lippen. Zuletzt hatte er vor acht Jahren für das Leben seiner Frau Prudenzia gebetet, doch der Herr im Himmel war gnadenlos gewesen. Das Kind im Schoß seines geliebten Weibs hatte ihm nicht ausgereicht.
Mit einem Ruck schob Orazio seine Beine seitlich von dem Holzpodest, auf dem er hoch oben direkt unter der Decke des Casino delle Muse lag, und betrachtete sein Werk. Soeben hatte er die Leier der Muse Terpsichore fertiggestellt und war zufrieden mit seiner Arbeit – aber auch mit der Agostino Tassis. Die Scheinarchitektur seines Kollegen – als zukünftigen Schwiegersohn wollte er ihn einfach nicht bezeichnen – holte die Figuren in den Vordergrund und gewährte jeder einzelnen einen prominenten Platz. Überhaupt schaffte das gekonnte Zusammenspiel der Elemente eine ungeahnte Weite und ließ den Raum noch imposanter erscheinen, als er ohnehin war.
Kardinal Borghese begutachtete den Fortschritt laufend und zeigte sich ebenfalls äußerst erfreut. Zweifellos würde sich das Projekt positiv auf das Geschäft auswirken – sofern Agostino nicht alles vermasselte. Das Können stritt Orazio ihm nicht ab, genauso wenig den einträchtigen Kontakt zum Kardinal – in diesen Punkten erwies er sich als wahrer Glücksgriff. Woran es dem Mann mangelte, waren Zuverlässigkeit und Disziplin. Beide Wesenszüge erstreckten sich bis in das Privatleben. Seitdem sie die Heiratsvereinbarung getroffen hatten, waren fast zehn Monate vergangen – und noch immer stand kein Termin für die Hochzeit fest.
Orazio schnaubte, sowohl wegen des Gedankens an Tassi als auch vor Anstrengung. Er spürte den Schmerz der langen unnatürlichen Armhaltung, außerdem fröstelte ihn trotz der mehrschichtigen Kleidung. Der Februar suchte Rom mit ungewohnter Kälte heim, und in der offenen Baustelle des Palazzos hielt sich keine Wärme.
Umständlich ließ sich Orazio auf die Bretter des Arbeitsgerüsts hinuntergleiten. In einigem Abstand arbeitete Filippo Franchini, Tassis Schüler, sichtlich verbissen an den Schnörkeln einer Bordüre.
»Auf ein Wort, Filippo!«, rief Orazio und grinste verstohlen. Durch den Hall der weiten Decke klang sein Ruf wie die Ermahnung eines überirdischen Wesens.
Prompt zuckte der junge Mann zusammen und stieß einen ängstlichen Laut aus. Mit seiner schmächtigen Gestalt, dem jungenhaften Bartschatten auf den hängenden Wangen und dem gespaltenen Kinn wirkte er nun noch armseliger.
Unwillkürlich kam Orazio Constanza in den Sinn. Es wunderte ihn nicht, dass sich die vor Energie sprühende Ehefrau Filippos auf ihren ansehnlichen Schwager gestürzt hatte. Er verstand Agostino sogar – auch ihm wäre es schwergefallen, dieses Prachtweib von der Bettkante zu stoßen –, dennoch war das Verhalten nicht ehrenhaft gewesen. Und dabei ging es nicht um den Betrug an sich. Selbst mit einem stärkeren Charakter und maskulineren Aussehen wäre es Filippo nicht möglich gewesen, sich ohne berufliche Konsequenzen gegen seinen Meister aufzulehnen.
Agostino hätte sich besser um Filippos Ausbildung kümmern sollen, anstatt die schmierigen Finger nach Constanza auszustrecken, dachte Orazio und widerstand dem Bedürfnis, dem jungen Mann aufmunternd zuzulächeln. Filippo Franchini besaß durchaus Talent, und seine Schwächen beruhten vor allem auf dem Fehlen einer festen Hand. Ein Schüler gehörte ordentlich in die Mangel genommen und zu seinem Glück gezwungen.
Orazio räusperte sich, um das von der Kälte verursachte Kratzen in seinem Hals loszuwerden, und sagte: »Seit über drei Stunden pinselst du an dieser Verzierung herum. Bist du nicht der Meinung, dass sie bereits mehr als vollendet ist?«
Filippo senkte den Blick. »Doch, selbstverständlich, Signore Gentileschi. Ich höre so bald wie möglich auf. Darf ich etwas anderes für Euch erledigen?«
»Hat dir dein maestro nichts aufgetragen? Wo ist Agostino überhaupt? Es wäre langsam an der Zeit, sich hierherzubequemen. Seine Perspektiven werden benötigt, um die letzten Musen zu positionieren. Das Nachmittagslicht taugt dafür nicht, aber das weiß er eigentlich selbst am besten.«
Der junge Mann öffnete den Mund, um zu antworten, schien es sich jedoch auf einmal anders zu überlegen und presste die Lippen aufeinander.
Obwohl sich Orazio bewusst war, Filippo zu piesacken, hatte er keine Lust, lockerzulassen. Schließlich musste er all den verborgenen Groll bei irgendjemandem loswerden. Seit der Aussprache nach der Prügelei begegnete er Agostino vornehmlich geschäftsmäßig und höflich. Diese Vorgehensweise half, Ruhe zu bewahren. Trotzdem gab es ständig Anlässe, die ihn zur Weißglut brachten – und gerade war so einer.
»Als sein Schüler solltest du wissen, wann dein Meister auftaucht. Immerhin ist er zudem dein Schwager. Tugenden wie Gewissenhaftigkeit und Respekt fehlen in Eurer Familie wahrlich zur Gänze. Das wird sich ändern, sobald Agostino der Ehemann meiner Tochter ist. Dafür sorge ich schon.« Wie immer vermied es Orazio auch jetzt, Tassi als seinen zukünftigen Schwiegersohn zu bezeichnen.
Filippo duckte sich unter den Worten, als hätte er einen Schlag eingesteckt. Dann allerdings hob er den Kopf, und tiefe Verzweiflung wie maßloser Zorn blitzten in seinen Augen auf. »Gewissenhaftigkeit und Respekt, Signore Gentileschi? Beides kennt mein maestro nicht.« Als wollte er seinen Mantel für die Pein büßen lassen, klopfte er hektisch den Staub aus dem groben Stoff. »Fragt Signore Tassi doch später, was er getan hat, anstatt seine Arbeit hier zu erledigen. Ach, wozu? Ihr braucht Euch nur meine Hörner anzuschauen, die bis in den Himmel reichen.«
Orazio zog die Brauen hoch. »Ich verstehe nicht …« Hatte ihn Filippos wütender Ausdruck eben noch erstaunt, überraschte ihn der unvermutete Anfall jetzt völlig.
»Dann bin ich froh. Ich habe das Gefühl, dass jeder Bescheid weiß und mit dem Finger auf mich zeigt.«
Langsam wurde Orazio ungeduldig. »Wovon sprichst du, Junge? Rede – oder lass es bleiben. Ich habe nicht ewig Zeit.«
»Reden? Wie es etwa mein ehrenwerter Meister tut, protzend und mit stolzgeschwellter Brust bei den Huren und seinen Freunden in den Schenken?« Die letzten Worte von Filippo gingen in einem qualvollen Schluchzen unter.
Unweigerlich regte sich in Orazio wieder Mitleid, zugleich empfand er Abscheu für die Schwäche des jungen Mannes. Durch die weibischen Tränen wirkte er noch zerbrechlicher. Einen Moment lang haderte Orazio, Filippo aus der Pflicht zu nehmen, doch diese mehr als vagen Andeutungen genügten ihm nicht. »Und womit prahlt Agostino?«
»Mit meinem Eheweib, das die Beine für ihn breit macht und ihm den Arsch entgegenstreckt, wann immer er es wünscht. Denkt Ihr allen Ernstes, Signore Tassi hätte wegen der Inzestklage aufgehört, Constanza zu besteigen? Gott ist mein Zeuge! Er tut es nach wie vor.« Filippo hob die Arme, als vollführte er eine Beschwörung. »Dabei ist sie die leibliche Schwester seiner angetrauten Frau!«
»Übertreibe nicht«, antwortete Orazio beinahe sanft. »Agostino vögelt vielleicht dein Weib, das ist übel, zugegeben, aber seine Frau ist seit fast zwei Jahren tot.« Noch ehe er fertig gesprochen hatte, ahnte er bereits, dass seine Äußerung womöglich nicht der Wahrheit entsprach. Die dämmernde Erkenntnis vertrieb das kurze Aufwallen von Erbarmen wie dieser kalte Februarwind die Wärme. Mit einem erstickten Wutschrei sprang er auf Filippo zu und packte ihn mit beiden Händen am Gewand. Das Schwanken der Holzkonstruktion, auf der sie standen, kümmerte ihn dabei wenig, ebenso das Geruchspotpourri aus saurem Atem, Angstschweiß und Pisse, das ihm entgegenschlug. Jetzt ging es schließlich um die endgültige Gewissheit.
»Ich werfe dich von diesem Gerüst, wenn du deinen Mund nicht sofort öffnest!«, sagte er gefährlich leise.
»Maria lebt … in Pisa! Und sie ist kerngesund, soweit ich weiß.« Erneut schluchzte Filippo auf. »Sie hat es nicht mehr ausgehalten und das herumhurende Scheusal verlassen. Nur deshalb ist Signore Tassi ja nach Rom umgezogen!«
Auf einmal drang ein dumpfer Laut zu ihnen herauf, und eine Stimme dröhnte durch die Halle: »Halt dein verdammtes Maul, Filippo, du elender Narr!«
Noch während Agostinos Worte von der Decke widerhallten, ließ Orazio von Filippo ab. Ein rascher Blick in das panisch verzogene Gesicht des jungen Mannes zeigte ihm, dass auch der im Eifer des Streitgesprächs Tassis Ankunft nicht bemerkt hatte. Mit einer knappen Geste beschied er Filippo, zu schweigen, und sah hinunter.
Agostino stand in der Mitte des großen Saals und starrte mit einem frechen Blitzen in den Augen zu ihnen hinauf.
Dass der Mann nach wie vor das Bett mit seiner Schwägerin teilte, erzürnte Orazio. Die Nachricht über die äußerst lebendige Ehefrau und ihr Dasein in Pisa brachte ihn jedoch völlig aus dem Konzept.
»Wag es ja nicht, jetzt das Weite zu suchen! Du hast gehört, worum es geht«, schrie er und lief zu der Leiter. Wieder wankte das Gerüst, und in der Hast verfehlte Orazio die erste Sprosse. Sein Fuß rutschte ins Leere, und er kippte nach hinten. Mit einer blitzschnellen Bewegung schaffte er es gerade noch, sich an dem Geländer festzuhalten. Schrecken durchfuhr seine Glieder, und kurz verharrte er. Ein Sturz aus dieser Höhe konnte ihm den Tod bringen.
Zügle deine Wut, sie hat dich schon oft genug in Schwierigkeiten gebracht, ermahnte er sich, aber das war leichter gesagt als getan. Mit jeder Sprosse der Leiter, die er nahm, wirbelten mehr Gedanken durch seinen Kopf. Zorn auf sich selbst und seine Blindheit, die Suche nach einem Ausweg, Scham gegenüber seiner Tochter, der er dieses Monster zugemutet hatte.
Obwohl er sich auf den Abstieg konzentrierte und zugleich versuchte, das wilde Szenario in seinem Schädel zu ordnen, sah er aus dem Augenwinkel, wie Agostino begann, katzengleich auf und ab zu laufen. Meinte der verfluchte Kerl am Ende, er könnte sich auf eine Flucht vorbereiten? Oder half ihm das Herumschleichen dabei, eine Notlüge zu finden? Beides würde ihm nicht gelingen.
Als Orazio endlich festen Boden unter den Füßen spürte, empfand er zu seinem eigenen Erstaunen tatsächlich fast so etwas wie Gelassenheit. Ohne Hast schob er eine ergraute Haarsträhne, die sich gelöst hatte, hinter das Ohr und musterte den um einen halben Kopf kleineren Tassi.
»Willst du nicht stehen bleiben, Agostino? Seine Exzellenz, der Kardinal, wäre erbost, wenn du ihm Furchen in den neuen Marmorboden ziehst.« Genauso wie die plötzliche innere Ruhe verblüffte ihn seine unbeteiligte, kühle Stimme.
Agostino schien von ihr ebenfalls irritiert. Jäh hielt er inne, und sein sonst meist spöttischer Gesichtsausdruck unter den dunklen Locken wich einer gespannten Unsicherheit.
»Was schert dich der Kardinal, Gentileschi?«, erwiderte er nach einer kurzen Pause. »Er hört ohnehin nur auf mich. Daher … pack deine Pinsel ein und verschwinde aus meinem Dunstkreis, alter Mann!« Tassis weiterhin erregte Miene strafte die beinahe stoffliche Arroganz in seinem ganzen Gehabe Lügen.
Das also ist dein erbärmlicher Ausweg, dachte Orazio. Du versuchst dich erst gar nicht in Rechtfertigungen, sondern gehst gleich zu Erpressung über. Deutlich spürte er, wie sich dieser kaum bezwingbare Zorn langsam wieder ausbreitete. Jetzt wollte er ihn aber auch gar nicht mehr im Zaum halten. Nichtsdestoweniger antwortete er mit der bereits vorhin demonstrierten Sachlichkeit. »Der Kardinal ist, bei aller Liebe zur Kunst und deiner persönlichen Beziehung zu ihm, ein Mann der Kirche. Das Urteil über Inzest, Vergewaltigung und falsche Eheversprechen wird er demzufolge deren Gericht überlassen.«
»Na und? Wer will mir etwas anhaben? Dann lebt meine Frau eben noch. Für mich ist sie so tot wie ihre vertrocknete Spalte. Und was kann ich dafür, dass ihre Schwester eine Schlampe ist, der dieser Wurm von einem Gatten keine Lust bereitet?« Agostino deutete mit dem Kinn zu dem Gerüst, auf dem Filippo noch irgendwo stand, und fuhr unbeirrt fort: »Und Vergewaltigung? Deine Tochter muss man nicht zum coito zwingen. Sie lässt mehr Männer in ihr Bett als täglich den Tiber überqueren. Und du selbst bist schuld daran! Befiehlst Artemisia wie ein Hurenhalter mit Malerausrüstung, Aktbildnisse zu fertigen. Die waren es doch erst, die ihre Lust entfacht haben! Und wozu das Ganze? Weil sich nackte Weiber, die von einer Frau gemalt werden, bestens verkaufen lassen. Hast du dir je überlegt, wie viele der ach so kunstbegeisterten Käufer sich nächtens vor den Gemälden deiner zarten Tochter einen runterholen?«
Orazio trat einen Schritt zurück. Zweifellos hatte sich Tassi in Rage geredet, doch der Funken Wahrheit in diesen bösartigen Beschuldigungen zündete. Artemisia besaß ein natürliches Talent, Körper zu malen. Mit ihrem eigenen als allgegenwärtige Vorlage widmete sie sich primär der Darstellung von Frauen, was tatsächlich einen zusätzlichen Anreiz für die männliche Kundschaft bot. Aber war es nicht sein gutes Recht, das auszunutzen? Er fütterte genug Mäuler durch – und gaben sie etwas zurück, durfte er dies getrost annehmen.
Nahezu störrisch schob Orazio die Unterlippe vor und musterte Agostino abschätzig. Zwischen den harten Schatten, die mit dem flach einfallenden Februarlicht wechselten, wirkte er wie die diabolische Hauptfigur auf einem Gemälde im Chiaroscuro-Stil, den sein Freund Caravaggio mitgeprägt hatte. Caravaggio? Wie kam er jetzt ausgerechnet auf ihn? Der berühmte Maler, Gott hab ihn selig, war sein Kamerad gewesen und hatte ihm viel über das Spiel von Licht und Schatten beigebracht – allerdings standen weder er noch die Maltechnik in irgendeinem Zusammenhang mit dem momentanen Desaster. Oder doch? Caravaggio war ein ungestümer Kerl gewesen, der sich freudig in jedes Abenteuer gestürzt hatte und keiner noch so gefährlichen Prügelei aus dem Weg gegangen war. Einst hatten sie sogar wegen einer bösartigen Spottschrift auf einen Kollegen, der einige Raufereien gefolgt waren, im Gefängnis gesessen.
Wohlan!, dachte Orazio und spürte die alte Kampfeslust in sich aufsteigen. Im Schutz seines schwarzen Mantels ballte er die rechte Hand zur Faust und bewegte sie langsam nach hinten, um zu einem kräftigen Schlag auszuholen. Unvermittelt hielt er jedoch inne. Hatte er sich nicht vorhin beschworen, sein Temperament zu zügeln? Es reichte aus, Tassi damals nach Artemisias Vergewaltigung besiegt zu haben.
Noch während er mit sich rang, zeterte Agostino ungezügelt weiter. »Frag doch die Gehilfen Scarpellino und Bedino oder Cosimo Quorli, um nur drei beim Namen zu nennen, wie gefällig deine Tochter ihnen ist. Am liebsten würde sie sich alle auf einmal in ihre –«
Jäh raste ein stechender Schmerz von Orazios Knöcheln den Arm hinauf und schien seine Muskeln zu zerreißen. Irritiert starrte er zuerst auf seine zitternde Faust, die sich gerade wieder öffnete, und dann auf den zurücktaumelnden Tassi. Zwar erfasste er, dass Agostino wankte und schließlich gleich einer Spielfigur umfiel, aber die Szene wirkte auf ihn mehr wie ein albtraumhaftes Trugbild als die Realität.
Das dumpfe Geräusch des Aufpralls erfüllte den Raum und bescherte Orazio eine Gänsehaut. Er registrierte die plötzliche Stille, und sein Geist erwachte aus dem tranceartigen Zustand. Winzige Staubteilchen tanzten vor seinen Augen in dem kalten Licht, und beinahe meinte er, die eigentlich fest begrenzten Schatten würden auf Tassis Leib zukriechen. Was hatte er bloß getan? Mit angehaltenem Atem machte er einen Schritt nach vorn und zwang sich, Agostino anzusehen. Die Schläfe war aufgeplatzt, und entlang des Schädels zog sich eine Blutspur. War er tot?
Orazio konzentrierte sich auf Tassis Brustkorb, der sich gleichmäßig hob und senkte. Kurz unschlüssig, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte, rieb er sich die Hände und massierte dabei die brennenden Knöchel. Problemlos könnte er dem Drama jetzt ein Ende bereiten, doch hieße das, die Achtung vor sich selbst zu verlieren. Kein Mann mit Ehre im Herzen verging sich an einem Wehrlosen.
Orazio sah zum Gerüst hoch und blickte mitten in Filippos bleiches Gesicht, das wie ein graues Stück Wäsche unter dem prächtigen halb fertigen Deckenfresko hing. »Wenn dein Schwager später erwacht, richte ihm aus, dass er bald nur noch die Schiffswände einer Galeere bemalen kann!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg Orazio über Tassis leblosen Körper und ging auf den Ausgang zu. Dass ihn dabei nur der rhythmische Hall seiner festen Schritte und das Rauschen seines Umhangs, der auf dem Marmorboden schliff, begleiteten, verschaffte ihm eine besondere Genugtuung.