Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Manifestation des Glücks ist in uns allen. Sie besteht aus unserem Denken, aus unseren Handlungen. Die Protagonisten der Erzählungen und Gedichte sind wir: Sie durchleben Schicksale, die wir teilen. Wir sind der Titel und verleihen somit den Erzählungen ihre Namen. Wir sind Menschen mit Herz, Menschen, die das Glück suchen und es an sich binden wollen. Wir sind Menschen, die wie Kinder sind, die das Glück fangen und behalten möchten. Wir sind nicht starr, wir sind nicht stumpf und laufen auch nicht verblendet durch die Welt. Wir denken sehr viel, fühlen noch mehr und stehen manchmal vor scheinbar unlösbaren Herausforderungen. So sind Herzenskinder und so sind wir. Wir kämpfen mit unserer ganzen Seele. Wir treten mit Schwert und Schild ans Tageslicht. Wir leben für unser Glück und für das Glück der anderen. Wir lieben, gehen und sterben dafür, Sie und ich, in diesem Punkt sind wir gleich. Wir sind Herzenskinder, alle gemeinsam, Herzenskinder, die ihr Glück suchen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 303
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
MARCEL J. PAUL, geb. 1998 in Berlin-Biesdorf, ist ein deutschsprachiger Schriftsteller der Lyrik und Prosa. Neben dem Charakteristikum, anders zu sein, ist es für ihn essentiell, die Welt zu verbessern. Sein Debütwerk » Die Banalität der Andersartigkeit « (2015) steht maßgeblich für sein Streben, steife Instanzen der Gesellschaft zu durchbrechen. Mit » Die Manifestation des Glücks « (2018) halten Sie nun das zweite Buch des jungen Schriftstellers in Ihrer Hand. Zur Zeit der Veröffentlichung studierte er an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Seine Werke wurden bereits inszeniert und für die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte sowie für die Frankfurter Bibliothek der Brentano-Gesellschaft ausgewählt und aufgenommen.
Gewidmet den Menschen,
die ihre Freiheit genießen
Gewidmet denen,
die ihr Glück suchen
Vorwort zur vierten Auflage
Von der Schwierigkeit, ein Lyriker zu sein
Briefe eines Anderen
Das erste Licht
Starr wie ein Stein
Kunstkritiker
Ersehnte Worte
Lasst uns lachen
Schleier in Grau
Mauersegler
Lady Heather
Schwarze Frau
Der Herbst, der dem Schneesturm glich
Ich finde dich früher
Verwunderlich
Hochzeit in Moll
Windesstille
Schweres Erbe
Ich breche nicht das Siegel
Nathanaels Beerdigung
Wenn wir uns wiedersehen
Sommernacht
Zwischen Kind und Thesen
Maiglöckchenwünsche
Geh mit deinem Wissen
Die Mitte der Welt
Zurück in der Zeit
Juniregen
Zu viele Gefühle
Das Glück ist unproportional
Sah nur ihr Verschwinden
Liebe für Holly
Gleichsam
Hinten beim Riff
Verständnis suchen
Der » Guten Tag « Versuch
Der Pianomann
Sehnsüchte durch die Zeiten hallen
Ein Kind aus der Vergangenheit
Die Sage des Will Wilson
Einer von Hundert
Tanz mit Tod
Die Dahlie
Madame Dahlia und die Muse der Zeit
Der Erzähler
In mir tobt ein Sturm
Chaos
Angst
Trübsalsphantasien
Erwartungen
Ich erwartete Wünsche
Glasscherben
Schicksalsphantasien
Tränen
Die Seele durch die Straßen zieht
Ihr vergesst mich
Andere Taten
Zukunftsphantasien
Vergeblich
Was ich einfach will
Meine Stifte sind Lunten
Verständnisphantasien
Die Spatzen, sie schwatzen
Ein Strauß Strohblumen
Am Bächlein
Die Hummel
Wenn die Rosen blühen
Vermissen der Tage
Ein anderes Leben
Abschied
Au Revoir, Aurélie
November
Felde im Herbst
Unser letztes
Der Mordfall von Elisabeth Almond
Was bedeutet dir Liebe?
Einer von vielen
Ich neben dir
Kabine 328
Manchmal ich dich höre
Die Zeilen, die ich schrieb
Ich verstehe es nicht
Marie Rousseau
In den Gassen
Ohne ein ›Wir‹
Es war einmal im Dezember
Orléans’ Uhrmacher
Erste kleine Strahlen
In der Einsamkeit
In den fernen Sternen
Über gute Wünsche
Mascha Kaléko
Sie gehen vorbei
Weißt du noch?
Mein Scheinen
Der Junge vom Schiff
Bevor wir gehen
Das weise Kind
Septembertage
Älter werden
Nur die Zeit
Er ist ein Held
Das Schiff auf dem Meer
Das rote Tuch
An der Klippe
La fin de Monsieur Jiminy
Der schwarze Mann
Wie das Leben spielt
Was man sieht
Winters Glanz
Ganz still steht das Heim
Herbstgedicht
Allein
Die Schönheit des Geistes
Valerie
Heimatgefühle
Wir lassen es zu
Hoffnung
Ruhe in Venedig
My Sarah
Inhaltsverzeichnis der Erzählungen
Inhaltsverzeichnis der Gedichte
Das Leben geht weiter
» Glück hängt nicht davon ab, wer du bist oder was du
hast; es hängt nur davon ab, was du denkst. «
— Dale Carnegie
Liebe Leserinnen und Leser,
als dieses Buch geschrieben worden ist, war mein Handeln von der Vorstellung geprägt, dass das Wichtigste im Leben ›Glück‹ sei. Sicher, es verrät sich bereits im Titel: Dieses Buch beschreibt die Ergründung dessen, was ›Glück‹ genannt wird, das, was scheinbar im Leben eingefangen und festgehalten werden möchte. Wir streben nach Glück; nach dem, was scheinbar vor uns liegt, was die meisten erhalten, während wir noch darum kämpfen müssen. Zeitgleich ist es uns beinahe unmöglich, auf das zurückzublicken, was wir bereits erreicht haben, was uns glücklich werden lässt; wobei wir ›Glück gehabt‹ haben. Es wird uns nicht bewusst, dass wir das, wofür wir eigentlich dankbar sein könnten, (bereits) in unseren Händen halten. Wir ehren unser eigenes Glück nicht, weil wir uns darauf fokussieren, immer nach vorne zu schauen. Wir wollen nach vorne laufen, gar schreiten, berühmt, geschätzt, geehrt werden. Doch wir vergessen, wer wir sind: Wir vergessen, dass wir als Menschen ein Milieu erschaffen haben, das sich nicht auf Gefühle, sondern auf Rationalität beruft. Gesellschaftliche Praktiken verlangen, dass wir uns neuen Produkten, neuen Zielen hingeben; dass wir erst durch neuste Besitztümer glücklich werden, durch neue, persönliche Bestrebungen; dass wir erst dann zufrieden sein dürfen, wenn wir ein umfangreiches Vermögen haben, wenn wir wieder eine Stufe hinaufgeklettert sind, wenn wir unser Geld ausgeben können.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ›Glücklich sein‹ nichts mit Besitz und Kapital zu tun haben muss, sondern damit, was ›Glück‹ für uns bedeutet, was wir über uns denken und was wir als ›Glück‹ betiteln wollen. Vermögen hat es zwar leicht, uns vorzugaukeln, dass wir zufrieden sein dürfen, wenn wir mehr als die meisten besitzen; doch sollte es erstrebenswert sein, das eigene Glück auf Grundlage der Armut anderer zu gründen? ›Glücklich sein‹ ist kein Faktum, keine Instanz, nichts Greifbares. Glück ist auch kein Momentum, etwas, das für Minuten und Stunden existieren kann; nein, Glück ist ein Zustand, eine Eigenschaft, eine Haltungsfrage. Denn obwohl wir in unserem Leben so viel Schmerz erfahren, ist es möglich, ›glücklich‹ zu sein. Glück hat nichts mit Besitz zu tun, sondern ist in all dem zu finden, was sich ›menschlich‹ nennt. Glück ist individuell. Glück ist, was jede einzelne Person ausmacht. Somit verwundert es auch nicht, wenn viele Menschen in einer Welt unglücklich sind, die danach schreit, gleich, nicht anders, zu sein. Es lässt uns nicht erstaunt zurück, wenn sich Menschen dem sozialen Druck hingeben und im Endeffekt ihrem eigenen Glück, ihrer Individualität, entsagen. Diese Welt hat dadurch bereits so vieles verloren; viele Gesichter, viele Erzählungen, die diesem Druck nicht standhalten konnten. Dieses Werk ist folglich der Versuch, die Geschichten, die verschwunden sind, zurückzuholen. Es versucht, Klarheit zu schaffen, kann aber keine Antwort darauf geben, was das individuelle Glück für jeden einzelnen bedeutet. Dieses Buch ist verfasst worden, um zu verdeutlichen, dass ›Glück‹ verschieden sein kann, dass wir die Welt verändern können und dass der Wunsch, ›Mensch zu sein‹, noch immer vorhanden ist. Dieses Buch soll zeigen, dass Glück kein Faktum ist; es ist kein Ziel, das erreicht wird, wenn man normierte Stufen überwindet. Glück entwickelt sich daraus, was ›Glück‹ für uns bedeutet. Jeder hat ein Recht darauf, ›glücklich‹ werden zu dürfen. Nutzen Sie es.
Ihr
Marcel J. Paul
74
Lasset hören, was ihr habt zu sagen
von den Ängsten und den Qualen, die euch plagen
Teilt die Worte voller Leid!
Teilt die Worte eurer Einsamkeit!
Wenn ich darf nun reden
nach Problemen eines jeden
sagen, was mich nun betrifft
diese Problematik ist’s:
Dieser Tage Autor sein?
Diese Chance ist nicht sehr klein!
Freilich ist’s die Richtung
Hört nun dieser Dichtung:
Schreibst du gleiches richtig
nicht den Geist der nichtig
kleinen kurzen Zeile:
ist’s geschafft die längste Meile
Wer noch liest die schönen Worte
derer, dieser tiefen Sorte?
Wer will lesen, was sie nennen
diese Scheinwelt, wer will’s kennen?
All die Wörter, sie sind frei
doch die Lyrik ist vorbei
Richtung in die Ewigkeit:
Lyrik in den Köpfen bleibt
24. April 2016
Gewidmet meiner ehemaligen Deutschlehrerin
Mme. Geraldine
134 Rue de Wilhelm de Siemens
75016 Paris (Île - de - France)
Meine liebste Madame Geraldine,
es ist so schön, dass wir nach all der Zeit noch miteinander schreiben. Das ist mir letztens wieder aufgefallen, als ich den ersten Brief unserer Unterhaltung fand. Mit ihm erhielt ich Ihre erste Antwort. Er war der Beginn all meiner Fragen.
Sagen Sie, was treibt Sie um in diesen Tagen? Ich habe gehört, Sie haben jetzt einige Katzen bei sich aufgenommen. Das würde mir auch gefallen. Ich hätte gerne jemanden, mit dem ich reden kann, der mir zuhört. Sie wissen schon.
Madame Geraldine, ich habe Ihnen so vieles zu erzählen! Es ist so viel geschehen! Die Welt verändert sich stets. Aber so, wie sie gerade ist, kann es doch niemanden glücklich machen, oder? Sehen Sie nach draußen! Spüren Sie diesen Hass? Er streift durch die kleinen Gassen meiner Stadt und vergiftet alle, auf die er trifft. Es ist eine beängstigende Entwicklung.
Wie sieht es bei Ihnen aus?
Und doch sehe ich auch Gutes! Ich spüre, dass es sich wieder bessern wird. In nächster Zeit wird es sich wieder lohnen, zu hoffen. Daran glaube ich ganz fest. Wir werden das Glück spüren, das verspreche ich Ihnen!
Ach, wir müssten uns wieder einmal persönlich treffen! Ich kann in diesen Brief gar nicht so viel schreiben. Wer weiß, wer diese Zeilen alles lesen wird; zufällig oder auch nicht, und meine Gedanken dann mit bösen Zungen verbreitet? Alles, was ich sage, kann mir später einmal, in welcher Weise auch immer, zur Last gelegt werden. Aber im Endeffekt meine ich doch alles nur gut. Ich versuche, ein guter Mensch zu sein!
Manchmal habe ich das Gefühl, dass uns unser Bewusstsein genommen wird. Wir werden von tausenden Ereignissen betäubt, die uns vermitteln wollen, dass all die schrecklichen Taten, die aktuell geschehen, einen annehmbaren Zustand verkörpern. Sie wollen, dass wir uns daran gewöhnen. Die Menschen sprechen weniger. Sie reden, aber hören nicht zu. Sie fragen nicht mehr, sondern geben Antworten auf Aussagen, die keine Diskussion anstreben.
Leben fällt heute schwerer, als es sonst schon ist. Wir müssen wohl wieder in einer Welt ›Atmen‹ lernen, in der unser Sauerstoff wie Gift erscheint. Doch es hat den Anschein, dass niemand etwas dafür tun will! Sind wir wirklich schon so sehr betäubt von den Einflüssen, die uns von außen erreichen? Sind wir so handlungsunfähig geworden, dass wir das Gift, das unser Innerstes durchdringt, nur noch hinnehmen, ohne dagegen aufzustehen? Alleine Weihnachten, Madame, wie war Ihr Fest? Es war so anders. Es war so unglaublich anders. Früher sagten wir immer, wie sehr wir uns Frieden für diese Welt wünschen würden. Erinnern Sie sich? Wir sagten, dass Frieden das schönste Geschenk für uns sei. Wir sprachen diese Floskel aus, als wäre sie bloß eine Notwendigkeit für unser Gewissen. Es ist, als säßen wir auf einem Berg voller Gold, von dem wir zu den Armen hinabblicken. Doch erst jetzt wissen wir, was wir eigentlich gemeint haben. Der Krieg steht vor der Tür und wir verstehen nicht, was er bedeutet. Plötzlich sind wir nicht vorbereitet. Wir erkennen erst dann, wie wichtig etwas für unser Leben ist, wenn wir es nicht mehr haben. Wissen Sie, wir spüren jetzt, jetzt, wo es zu spät ist, mal wieder, um das hervorzuheben, wie sehr wir uns doch nach friedlichen Zeiten sehnen.
Madame, ich stehe Ihnen bei. Wir müssen alle zusammenhalten. Wir müssen unsere Hände ergreifen und dürfen sie nicht mehr loslassen. Es ist so furchtbar, nicht? Bin ich nur ein kleiner Träumer? Ich weiß es nicht. Ich würde mir so sehr wünschen, dass diese Hoffnung in Erfüllung geht. Ich hoffe, dass alles wieder besser wird. Madame, Sie und ich, die ganze Welt soll meinen Traum erleben!
Aber ich habe auch gute Neuigkeiten zu berichten, Madame. Die Rezensionen meiner ersten Abhandlung waren durchaus positiv. Ich habe unter anderem unseren zweiten Brief eingearbeitet, verschiedene Facetten eingebracht und weggelassen. Wissen Sie, was mir dabei aufgefallen ist? Ich habe so viele Gedanken, die ich erst nach reiflicher Überlegung formulieren kann. Es ist schön, dass es möglich ist, dennoch habe ich unbeschreibliche Angst. Was ist mit meinem Geist? Wird er eines Tages aufhören zu existieren? Werde ich mich so jung von meinem Traum verabschieden müssen? Muss ich irgendwann einsehen, dass meine Hoffnungen und Wünsche, die Welt zu verbessern, irgendwann schwinden werden? Nietzsche hat lange Zeit über einen starken Geist philosophiert, von einem, der denken kann, doch wissen Sie, was dann geschehen ist, nach herausragenden Werken wie Zarathustra und Antichrist? Er verfiel. Ist es nicht ironisch? Scheinbar wirkt es so, als wäre es Gott selbst gewesen, der es ihm angetan hat. Ist es wirklich so lächerlich, so lachhaft, wie es in meinem Kopf erscheint, dass auch ich Angst davor habe?
Wir sollten nicht in Ängsten, nicht in unseren Sorgen schwelgen; noch nicht, vielleicht nie. Meine Abhandlung über die Andersartigkeit unserer heutigen Gesellschaft und ihren Bezug zur Wirklichkeit war, wie erwähnt, ein Erfolg! Ja, Madame, ich habe mich entschlossen, eine zweite zu schreiben. Es soll eine zweite Abhandlung entstehen, eine, die unser Glück zusammenfasst. Sie werden sehen, Madame. Sie werden es sehen! Es soll eine Art Manuskript, ein Leitfaden zum ›Glücklich sein‹ werden. Ich will versuchen, das Glück greifbar zu machen, zu fassen und auf einem Silbertablett zu servieren. Wir sollen sehen können, was Glück ist; nicht indem wir das Glück vor Augen haben, sondern indem wir das wahrnehmen, was Glück eben nicht bedeutet, was Glück für andere ist. Wir sollen verstehen, wie individuell ›Glück‹ sein kann.
Ich habe Ihnen einmal geschrieben, dass ich die Welt nicht verändern, aber ihre Probleme benennen kann. Erinnern Sie sich? Ich glaube, das möchte ich revidieren. Ich kann die Welt verändern und ich werde es tun. Sie können es auch. Wir alle sind dazu fähig. Wenn wir mit einem Lächeln in diese Welt hinausgehen und uns an unserem Leben erfreuen, dann verändern wir die Realität schon alleine dadurch. Ich zumindest mache das, das ist meine Aufgabe in diesem Leben. Die Welt verändert sich und wir verändern uns.
Durch unser Verhalten verändern wir die Welt.
Aber es fällt mir auch so oft unglaublich schwer, Madame. Das werden Sie sicherlich nicht wissen von mir. Es geht mir oft so schlecht und ich kann es nicht zeigen. Es ist wie eine Barriere, die ich mir selbst geschaffen habe. Ich bin wie der Seefahrer, der zu den Wellen spricht: » Es ist so schwer zu vergeben «, während das Meer mit einem Sturm antwortet. Ich kann mich nicht zeigen, wie ich bin. Ich will es auch nicht. So wäre ich nicht selbst, oder? Ich bin ein Mensch mit einer Maske; einer lächelnden Maske vor einem traurigen Gesicht. Es scheint mir, als würden viele Menschen so leben. Viele sagen es und beleidigen damit diejenigen, die wirklich so leben müssen. Sie haben richtig gelesen, Madame. Es gibt Menschen, die haben ihre Last in Form eines zweiten Gesichts, einer zweiten Identität, die sie nicht ablegen können und auch nie darüber reden. Sie können nicht. Ich selbst zähle vielleicht dazu. Ich wünschte, es wäre anders. Aber wissen Sie, diese Maske beschützt mich. Ich schätze, sie beschützt jeden, der so lebt wie ich; in seiner eigenen kleinen Welt, mit eigenen Gedanken und dem Körnchen an Hoffnung, aus jeder Situation das Beste zu machen. Wir müssen uns schützen, Madame. Nur deshalb trägt man diese Maske. Wenn man das alles hört, dann lächelt man, obwohl man weinen sollte. Man lächelt in Momenten, in denen man eigentlich vor lauter Wut den Raum verlassen müsste. Es scheint, als würde diese Krankheit derzeit die gesamte Gesellschaft befallen.
Die Zeiten sind schwierig, Madame. Ich habe so oft Angst, auf Menschen zuzugehen. Ich weiß nämlich, wie sie von mir halten oder male mir zumindest aus, es zu wissen. Darüber will ich aber eigentlich gar nicht nachdenken. Ich will mir meinen Kopf damit nicht zustopfen, aber ich kann nicht anders. Ich kann nicht anders sein. Ich kann es einfach nicht. Ich muss mir immer wieder vorstellen, wie sie mich auslachen, wie sie es schon immer getan haben. Und warum? Weil ich bin, wie ich bin. Und das ist nichts Gutes. Es ist ein Kraftakt, den ich nicht bewältigen kann. Maria Callas sagte: » Es gibt Leute, die zum ›Glücklich sein‹ geboren werden, und andere, die zum ›Unglücklich sein‹ bestimmt sind. Ich habe einfach Pech gehabt. « Ich finde, das trifft es gut, nicht? Man hat einfach Pech gehabt. Nun muss man nur noch lernen, damit umzugehen und das Unglück abmildern. Man muss das Leben besser sehen, als es eigentlich erscheint.
Ja, das ist schwierig. Ich weiß das.
Vielleicht ist das ist meine Manifestation des Glücks, wissen Sie? Das ist vielleicht meine Offenbarung der Glückseligkeit. Es ist: das Leben zu leben, das Leben für andere schöner zu machen. Das, das allein ist mein Glück in einer so fürchterlichen Welt.
Einigen wir uns darauf, dass wir die Welt besser machen wollen, dass wir es können, dass wir die Hoffnung haben, etwas zu bewirken, jeder für sich; Sie und ich, so soll es sein. Wir schaffen es mit den Mitteln, die wir zur Verfügung haben, mit den Mitteln, die uns zustehen, daran glaube ich. Und ich glaube daran, dass Sie auch daran glauben.
Für die Verbesserung der Welt, Madame. Schaffen wir uns eine Erde, auf der wir gerne leben.
Herzlichst,
Ihr
Jim Jiminy
57
Gewidmet meinen Großeltern aus Guben
Nebelschwaden streifen durch die Welt
Wo ist das Licht, das uns erhellt?
Wo bleibt es denn nur? Wir warten so sehr!
Wir warten auf des Lichtes Wiederkehr!
Alte Menschen neue Wege geh’n
sich sehr nach jungen Seelen sehn’n
Neue Sätze sich nun finden
Neue Herzen sich nun binden
Es prasselt nieder dieses Zelt
auf die so sorgenlose Welt
Es kommt auf uns hinunter
und die Gedanken, sie sind munter
Licht durchflutet uns’re Körper
Da! Ein neues tritt empor!
Es sind so viele Wörter
die dieser Anblick verlor
Oh Licht, so bleib!
entdeck’, was wir nicht sehen
Oh Licht, vertreib!
das Böse. Wir danach so flehen
01. Januar 2016
108
Man sagte zu mir:
Ich wär’ nicht genug
Zusammen steh’n wir
dann vor einem Zug
Wir stehen zusammen
doch ich bin allein
Die Themen, sie flammen
bin starr wie ein Stein
Ich weiß nichts zu sagen
Ich fühl’ mich so leer
Hab’ tausende Fragen!
Trotz Stille: ein Meer
22. Juni 2017
60
Gewidmet dir, Paul, dir und deiner Kunst
Zwischen weißen Wänden
und zu hohen Decken
gehen sie zum Schänden
Sie die Hälse recken
Ihre Augen blitzen
drehen Köpfe noch
Ohne Wert sie ritzen
Eigensinn in Gogh
Dort sind sie und fragen:
» Was soll das nur sein? «
Sie den Künstler schlagen:
» Du passt nicht hier rein! «
28. Januar 2016
Gewidmet denen, die es nicht verstanden haben
Ton an
Kamera läuft!
Einige Menschen rennen durch das ausgeschmückte Zimmer, treten und fallen beinahe über die endlosen Kabel. Hektische Blicke treffen aufeinander. Einer schreit: » Sind wir auf Sendung? « Ein weiterer erscheint und sieht mich aufgeregt an.
» Drei, Zwei, Eins «, zählt er dann lautstark herunter.
Das Hallen der schwarzen abgenutzten Filmklappe schallt durch den Raum.
» Action! «
Plötzlich erkalten die Gespräche. Die nervösen Menschen scheinen verschwunden. Ein Licht flackert über der Tür. Ein weißes ›On Air‹ steht auf grünem Untergrund. Es wirkt beinahe wie ein Notausgang. Die Scheinwerfer bestrahlen nun das Gesicht des Moderators und das meinige. Während ich im Licht einen Platz gefunden habe, umgibt mich eine unheimliche Ruhe.
» Mister Lavoisier, schön, dass Sie es geschafft haben «, sagt der Sprecher, der einen gemusterten Anzug trägt und mir schräg gegenübersitzt. Unsere Sessel blicken in ein vorgetäuschtes Publikum.
» Die Freude ist ganz meinerseits «, antworte ich gespannt und schenke ihm ein Lächeln, ehe ich die Beine überschlage.
» Meine lieben Zuschauer, mein Name ist John Smith und ich bin heute ihr Gastgeber! «, sagt er und wartet, als würden die Leute im Fernsehen klatschen. Unverändert lächelt er weiter, während ich nur meinen Kopf verdrehe. » Ist er nicht immer der Moderator? «, frage ich mich selbst.
» Vor mir befindet sich der ehrenwerte Autor Julien Lavoisier, der heute vor genau sechs Jahren zu uns immigrierte. « Freudig blickt er mich an und ich erhalte den Eindruck, dass ›seine Heimat zu verlassen und in einem fremden Staat Asyl zu beantragen‹ eine ruhmreiche Handlung sei. Mit seinem Ausdruck vermittelt er, dass meine Anwesenheit sein ganz persönlicher Sieg wäre. Ich bin seine Trophäe, die seines Senders. Vielleicht geht es ihm aber auch nur um sein hilfsbereites Land, um die Quote oder um persönliche Interessen. Fakt ist: Ich bin lediglich eine Marionette, ein Objekt, mit dem er spielt.
Es ist Sonntag, der zweiundzwanzigste Oktober des Jahres 1944. Das Wetter ist noch ungewöhnlich warm und ich befinde mich in einem schicken Filmstudio in Los Angeles; in einem Filmstudio mit schickem Mann im schicken Anzug, während meine alte Heimat immer hässlicher wird. An der Ostfront wird die Rote Armee heute die Deutschen weiter zurückdrängen, sodass sich eine 137 Kilometer lange Frontlinie gegenübersteht. Ebenfalls wird die provisorische Regierung Frankreichs unter de Gaulle anerkannt. In Italien werden die Truppen der 5. US Armee den Monte Salvador besteigen und in der kommenden Nacht Brandbomben die Krupp-Werke in Essen zerstören.
» Lange haben wir, wohl auch mit Bedacht, gewartet, um endlich mit Ihnen ein Gespräch zu führen. « Ich schüttle meinen Kopf und realisiere, wo ich immer noch bin. Während der Moderator so tut, als wäre er aufrichtig, er aber gleichzeitig von seinen Karteikarten abliest, denke ich daran, wie oft ich eine Einladung, schon vor Jahren, erhalten hatte. Ich falte gespannt meine Hände. » Uns erreichten einige Fragen zu Ihrer Person. Sie halten sich ja recht bedeckt, wie wir mitbekommen haben. « Der freundliche Mister Smith spielt mit den Überleitungen und Informationen, die er in seinen Händen hält, während mir die Technik ein Glas Wasser reicht.
» Ja, «, entgegne ich kurz, » ich denke, man sollte in gewisser Weise eine bestimmte Distanz zwischen Privatleben und Beruflichem einhalten. « Ich setze ein Lächeln auf, ohne es ernst zu meinen, weil ich weiß, dass das alles eine Farce ist. ›Probiere es doch einfach‹, sagte meine Familie. ›Was soll schon geschehen?‹, entgegnete man mir damals unverständlich, bevor ich mich dazu überreden ließ, die Einladung dann doch anzunehmen. Ich hatte ein gutes Herz und oftmals verstand man sich darauf, es gegen mich auszuspielen. Einige wären vielleicht verärgert gewesen, aber ich musste über diese Eigenschaft meinerseits doch immer etwas schmunzeln. Vielleicht war es richtig gewesen, dass ich mich nun der Welt öffnete, dass ich ein Signal sendete. Vielleicht konnte ich tatsächlich etwas bewirken.
» Das stimmt wohl! «, Mister Smith lächelt. » Mister Lavoisier, Sie machen ein ziemliches ›Trara‹ um Ihr Geburtsdatum. Nicht einmal uns wollten Sie es verraten, bis wir es in Ihrem Buch gelesen haben. Aber wie wir hörten, haben Sie einen ganz bestimmten Grund, allen Ihren Ehrentag zu verheimlichen. «
» Ach, ich verheimliche gar nichts. Man kann es wissen, wenn es einen erfreut. Ich bin nur nicht erpicht darauf, dass mir Leute gratulieren, die es nicht wirklich so meinen. Ich kann genauso ›Entschuldigung‹ sagen, wenn ich etwas nicht getan habe. Zumal mir die Sorge vor einer eventuellen explosiven Überraschungsfeier mit meinen folglich vorgetäuschten Emotionen den Tag verdirbt. «
Er lacht, sagt kurz » Ja «, ehe sein Lächeln verschwindet und er seine Oberlippe anspannt, als hätte er etwas anderes erwartet. Er rückt sich einmal die Krawatte zurecht und schluckt. Er sieht in die Kamera. Mit seinem aufgesetzten Lächeln führt er die Show nun weiter, wie er es geprobt haben muss. » Mister Lavoisier, wir sollten nun etwas ernster werden «, sagt der Moderator nachfolgend mit einem gewissen Unterton, als würde er mich zurechtweisen müssen. Abschließend blickt er missbilligend zu mir herüber. Wieder war ich verwundert. War es nicht er, der über Geburtstage sprach?
» Als Sie am zweiundzwanzigsten Oktober 1938 zu uns in die Vereinigten Staaten immigrierten, was ging Ihnen da durch den Kopf? Was hatte Sie dazu motiviert? « Lechzend nach einer unpassenden Antwort und bis dato unveröffentlichten Informationen rückt Mister Smith ein wenig zu mir heran. Der Abstand zwischen ihm und mir wird kleiner. Es ist eine unangenehme Nähe. In diesem Moment erscheint wieder eine Marionette, eine Schachfigur, die das tut, was ihr befohlen wird. Diesmal ist es er. Vielleicht war es der Fernsehsender gewesen, vielleicht der Vorgesetzte des Moderators, der von ihm verlangte, eine sensationelle Show mit einem tragischen Überlebenden zu inszenieren.
» Versuchen Sie es gar nicht erst, Mister Smith. Sie haben mich hierher eingeladen und ich werde Ihnen die Antworten geben, die ich für richtig erachte. Denn, auch wenn Sie es nicht glauben mögen: Ich spiele mit meinen Worten wie die Gesellschaft mit ihren Marionetten. Merken Sie sich das. « Die Antwort trifft ihn überraschend. Verwundet weicht er nun wieder etwas zurück und hebt die linke Augenbraue, erstaunt über die so offene, wenngleich etwas irritierende, Rückmeldung. Er schluckt kurz, versucht stammelnd seine Position zu rechtfertigen, lächelt unverfroren in die Kamera, ehe ich fortfahre und ihn der Peinlichkeit entziehe. » Ich bin erst aus Deutschland, Dresden, geflohen und später aus Frankreich. Deutschland hat sich sehr verändert, wissen Sie. Ich hatte damals einen kleinen Laden in der Comeniusstraße und besaß eine zweite Stütze durch meine Tätigkeit als Autor. Heute ist in meinem Geschäft ein parteitreuer Bäcker beheimatet, der Vorzüge erhält, die mir damals verwehrt blieben. « Ich trinke einen Schluck, um mich auf die kommenden Aussagen vorzubereiten, schließe für einen kurzen Moment die Augen, bevor ich das Glas wieder zurückstelle. » Als Hitler an die Macht kam, dreiunddreißig, da dachten meine Mitmenschen und ich, dass das alles bald wieder von alleine weggehen würde. Das, das waren Dinge, die dieser Mann sagte, die schienen gar nicht möglich. Ich meine: in Russland einmarschieren, die jüdische Bevölkerung verschleppen; das war alles unvorstellbar gewesen. Denn Russen, Juden, Polen, sie alle waren unter uns gewesen, man konnte ihre Andersartigkeit objektiv gar nicht feststellen, ihr ›nicht deutsch sein‹ im Gesicht erkennen. Alle sprechen stets über Ausländer, doch woher soll ich wissen, welche Staatsangehörigkeit jemand besitzt? Woher soll ich wissen, ob jemand den jüdischen Glauben praktiziert? Alle Menschen, alle Erdenbürger, sind unentwegt ein Teil unserer Gesellschaft, unserer deutschen Gesellschaft. Sie waren alle ein Teil von unserem Leben, Nachbarn, Freunde. Die Olympiade 1936 zeigte es: Wir alle waren eine Gemeinschaft gewesen. Vielleicht hörten sich seine Reden gerade deshalb so lächerlich an. Vielleicht habe ich deshalb ebenfalls nicht daran geglaubt, dass das alles einmal wahr werden würde. Doch heute sitze ich hier; ohne meine Freunde und Familie. Sie alle waren ein Teil von meinem, unseren Leben gewesen, bis sich der Großteil ihrer deutschen Nachbarn und Freunde dazu entschloss, besser als die anderen sein zu wollen. « Wieder trinke ich einen Schluck, atme tief ein, sehe auf den Boden und blicke in die Kamera. » Bis in alle Ewigkeit werde ich mich dafür schämen, dass ich dachte, das Worte lediglich Phrasen seien, die sowieso nicht umgesetzt werden würden; dass das alles nur Polemik wäre. Ich glaube, ja, darin lag vermutlich ein weiterer Fehler; der Fehlschluss lag darin, dass wir dachten, dass sich das von alleine regelt, dass ein Hitler mit demokratischen Parteien zur Vernunft kommen würde. Das war unser Irrtum, unsere eigene Dummheit. Wir dachten, ein Tumor gehe von alleine weg. Aber auch das würde diese Situation nicht passend beschreiben. Hitler war kein Sonderling, kein Betriebsunfall. Hitler war niemand besonderes, ganz im Gegenteil: Hitler war genauso wie die, die ihn wählten. Weil er ihnen so ähnlich war, er das aussprach, was sie dachten, hat die deutsche Bevölkerung ihn und seine Partei in den Reichstagswahlen 1933 zum Wahlsieger erklärt. Es war keine Machtergreifung. Ihm wurde in einem demokratischen Prozess die Verantwortung übertragen. 89% aller Wahlberechtigten des Deutschen Reiches stimmten ab, davon 44% für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei unter der Führung von Adolf Hitler. « Ich nicke vielsagend und sehe auf den Boden, ehe ich mit meinen Blick wieder zum Moderator schweife. » 55% aller Menschen meines Heimatlandes gingen konform mit einer Ideologie, die von ›Wir‹ gegen ›Die‹ sprach, die vom ›Lebensraum im Osten‹ träumte und jeden Widerstand vernichten wollte. In einer ›Leitfigur‹ mit kurzem Bart vereinte sich das neue Lebensmotto der deutschen Bevölkerung, alles, was ihnen wichtig gewesen war. 44% wählten Hitler. 11% war es gleichgültig, wer sie in schwierigen Zeit leiten würde. 11% fanden es in Ordnung, wenn eine Partei an der Macht sei, die einen Unterschied zwischen ›Deutschen‹ und ›Juden‹ sieht. Sagen Sie mir nicht, dass die NSDAP eine Alternative gewesen wäre. Das war sie nicht. Das wird sie nie sein. Nur allzu oft sind Personen und Parteien, die sich selbst als ›alternativ‹ bezeichnen, diejenigen, deren Lösungen am feindlichsten für die Gesellschaft sind. Sie sagen ›alternativ‹, meinen aber ›rücksichtslos‹. Sie bejubeln ihre scheinbar einfachen Ideen, die von Demokraten wegen ihrer Kurzsichtigkeit abgelehnt werden. Denn nur die, die sich für alle einsetzen wollen, wissen, dass rückständige Entscheidungen längerfristig niemals eine Lösung für die komplette Gesellschaft bieten können. Man hat immer eine Wahl, immer. « Meine Gedanken sind bei den vielen Menschen, die gerade auf der anderen Seite der Welt sterben müssen. Meine Gedanken sind bei denen, die in diesem Moment in einen der überfüllten Züge steigen und in die Todeslager geschickt werden. Wann wird dieses Sterben enden? Wo bleibt die Gerechtigkeit? Gott?
Mister Smith lächelt. » Mister Lavoisier, das sind wahre Worte. Ich widerspreche Ihnen nicht und kann dem nur zustimmen. « Er wirkt etwas verunsichert und überfordert. Wir waren vielleicht an einem Tiefpunkt der Konversation angekommen, mit dem er nicht gerechnet hatte. » Aber bitte beantworten Sie mir eine Frage «, fährt er nun fort. » Weshalb wissen Sie, dass es falsch ist, was der deutsche Diktator gerade unternimmt? Ich meine, warum ist es denn richtig, was wir tun? Vielleicht sind ja wir im Unrecht? Vielleicht sind Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Sozialdemokraten, Asoziale, die Zeugen Jehovas, Kommunisten und Sozialisten tatsächlich eine Gefahr für die Welt? « Der Moderator schluckt und in seinem Blick erkenne ich zum ersten Mal Interesse. Langsam zeichnen sich erste Schweißperlen auf seinem roten Gesicht ab. Ob das geplant war?
» Wissen Sie, Mister Smith, das ist die erste Frage, die Ihnen wirklich gelungen ist «, sage ich, bevor ich mit einer längeren Ausführung beginne. » Aber ja, es ist eine sehr gute Frage. Über ›Gut‹ und ›Böse‹ urteilen kann ich nicht; zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt meines Lebens. Persönlich bin ich jedoch zur Überzeugung gekommen, dass es immer falsch ist, wenn man gegen Menschen hetzt; wenn man sie pauschalisierend Gruppen und Kategorisierungen zuordnet, ihnen Eigenschaften andichtet, ohne den Menschen, der hinter dieser ausgedachten Zusammenstellung stehen muss, wirklich zu kennen. Das trifft auf alle zu, die durch Zufall, sei es Geschlecht, Herkunft, Sexualität oder Religion, in eine Position gekommen sind, die sie in eine Lage bringt, ausgeschlossen zu werden. Das gilt aber niemals für jemanden, der sich aktiv dazu entscheidet, andere vergasen zu wollen. Leider muss ich jedoch davon ausgehen, dass irgendwo da draußen, vielleicht sogar in Deutschland selbst, Menschen zu sich sagen werden, wenn das alles vorbei sein wird, dass es auch erfreuliche Taten, monumentale für die Geschichte, durch Hitler gegeben hat. Während andere an einen Gott glauben, glaube jedoch stets an den Untergang einer rassistischen und menschenverachtenden Diktatur. Adorno hat mir letztens Teile seines Manuskript von ›Minima Moralia‹ gesendet. Er spricht in einem Absatz davon, dass im Falschen nichts Richtiges existieren kann. Damit hat er vollkommen recht. Ich kann mich dem nur anschließen. «
» Also ist Hitler trotz seiner Autobahnen und Verbesserungen im Sozialwesen schlichtweg schlecht? «
» Nur weil ein Fakt nicht zwingend für eine Tatsache steht, heißt es nicht, dass die Tatsache nicht existiert. Wir sollten aufhören, immer alles zwanghaft abwägen zu wollen. Wir sollten aufhören, alles zu relativieren; aber kurz gefasst: ja «, sage ich eindringlich. » Ganz davon abzusehen, dass es nicht Hitler gewesen ist, der die erste Autobahn gebaut hat, sondern Adenauer, seinerzeit Oberbürgermeister der Stadt Köln, und sich eine Verbesserung der Arbeitslosenquote nur deshalb verzeichnen ließ, weil sich die Weltwirtschaft erholte und anschließend Arbeitsplätze geschaffen wurden, indem die einstigen Angestellten noch heute in Auschwitz, Treblinka, Sobibor und weiteren Vernichtungslagern industriell vergast werden. Im Falschen gibt es nichts Richtiges, ganz gleich, wie ›gut‹ die Tat verklärt werden kann: Sie folgt immer einer abgrundtief ›bösen‹ und schlechten Intention. Das habe ich heute schon einmal gesagt.
» Danke für diese guten Worte, Mister Lavoisier. Vielen Dank! «, sagt der Moderator anschließend.
» Zeit kommt und Zeit geht, Mister Smith, glauben Sie mir. Die Zeit nimmt und die Zeit gibt. Sie hinterlässt uns Erkenntnisse und trennt uns von der Unsicherheit. Sie bringt uns voran und stellt uns vor unsere Vergangenheit. Denken Sie nur daran, was wir alles durchlebt haben, Sie und ich, denken Sie daran, was wir überstanden haben, wenn Hitler endlich verschwunden ist und ihm der Prozess gemacht werden kann. Glauben Sie mir: Die größten Übel der Zeit werden eines Tages wieder vorbei sein. Stellen Sie sich vor, was wir alles gelernt, welches Wissen wir erlangt haben, wenn wir die gesellschaftlichen Prozesse reflektieren können, die zu solchen Entwicklungen führen; wenn wir Täter bestrafen können, wenn unsere größten Alleen die Namen der Opfer des Nationalsozialismus’ tragen werden. Eines Tages wird es soweit sein. Vielleicht ist es heute noch nicht so, aber irgendwann werden wir verstehen, was wir angerichtet haben und wofür es sich zu kämpfen lohnt. « Eines Tages werden wir Deutschen mit unserer Geschichte richtig umgehen, uns der Verantwortung stellen. Eines Tages wird es soweit sein. In meiner Fantasie wird die Welt irgendwann gerechter und die Menschen, die dem zustimmten, denen es nur darum ging, akzeptiert zu werden, die Gewinner, die sich selbst dafür aufgaben, um auf den Straßen als Teil einer Gemeinschaft gegen die jüdische Bevölkerung zu hetzen, werden eines Tages dafür belangt, welche Schande, welches Leid sie verursacht haben. Eines Tages werden die Gewinner, die zu schwach sind, um für sich selbst, die Moral und ihr Gewissen einzustehen, dafür bestraft werden, dass es ihnen in ihrem Leben nur um Anerkennung ging, darum, in die Masse zu passen.
» Und wie, Mister Lavoisier, wie können Sie die deutsche Bevölkerung rechtfertigen? Wie können Sie es akzeptieren, als gebürtiger Deutscher, dass Hitler gewählt wurde? Dass Rassismus über Nächstenliebe, mehr noch, über Verstand gesiegt hat; dass Sie heute neben mir sitzen dürfen? « Die Stimme meines Gegenübers füllt sich mit Sorge, mit einem leichten Vorwurf und mit Gier nach Antworten.
» Ich kann diese Frage nicht ohne Bedenken beantworten. Ich sehe mich eigentlich nicht imstande, über eine Bevölkerung zu urteilen, der ich nicht mehr angehöre. « Ich überlege kurz. » Man sieht mir meine Staatsangehörigkeit nicht an, richtig? «, schmunzle ich dann. » Ich bin kein Deutscher mehr und das werde ich auch nach diesen Ereignissen nie wieder sein können. Es klingt ein wenig überlegen, urteilend und vielleicht auch arrogant, aber diese Freiheit nehme ich mir. Ich weiß, aus welchem Grund ich es tue: nicht weil ich besser bin oder auf alle mit dem Finger zeigen möchte. « Ich schlucke. » In diesem Krieg gibt es keinen Verstand, Mister Smith. die Menschen sind geblendet! Die Menschen neigen eher dazu, auf das ›Böse‹ anstatt auf das ›Gute‹ zu hören. Ich zähle mich selbstverständlich auch dazu. Das Böse hat es einfach: Es muss nichts beweisen, wenn es lügen kann. Das ›Böse‹ nutzt die Unwahrheit. Hören Sie: Das ›Böse‹ hat es leichter als das ›Gute‹, weil das ›Gute‹ die Einfachheit nicht kennt. Das ›Gute‹ benötigt immer Wahrheit und bringt Vertrauen. Das ›Gute‹ braucht Zeit, bevor es entstehen kann. Das ›Böse‹ achtet darauf nicht. Für das ›Böse‹ ist jede Tat richtig, solange es selbst davon profitiert. «
» Ich glaube, das war erstmal genug Politik für heute. Vielen Dank erneut, Mister Lavoisier, Sie haben uns sicher geholfen. « Der Moderator blickt in die Kamera, nimmt die nächste Karteikarte und nippt an seinem Glas. Er fällt in sein altes Schema zurück. Seine erprobte Schauspielerei erhält er aufrecht. Vielleicht darf er nicht mehr so ehrlich agieren. Seine Augen treffen mein Gesicht und ich verschränke meine Finger; schade. » Mister Lavoisier, Sie haben als Autor ja bereits einige Bücher veröffentlicht. Besonders in Ihrem letzten sprechen Sie von Ihrer Einstellung zur Banalität der Freiheit. Sie stützen sich mit Ihren Aussagen unter anderem auf Robert Blum. Aber wie können Sie es ertragen, dass ihr Verlag keine standardisierten Bücher veröffentlicht und breitflächig auslegen lässt? Wofür schreiben Sie, wenn es niemand liest, wenn ihr Verlag jeden Schriftsteller nimmt, der sich bewirbt? « Mein Gegenüber verdreht wieder den Kopf und wartet nur darauf, dass ich antworte. Eben war das Gespräch noch ehrlich und authentisch gewesen.