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Die MATT-DRAKE-ABENTEUER - Band 1-3 jetzt in einem Bundle zum kleinen Preis! Band 1: Odins Vermächtnis Band 2: Der Blutkönig Band 3: Das Tor zur Hölle Inhalt: Matt Drake, SAS-Offizier im Ruhestand, ist einem Rätsel auf der Spur, so alt wie die Menschheit selbst – dem Vermächtnis des Göttervaters Odin. Neun Puzzleteile, vor Äonen in alle Winde verstreut, sollen der Legende nach den Weg zum geheimnisumwitterten Grab der Götter weisen. Eine Entdeckung dieses Ausmaßes wäre die größte archäologische Sensation aller Zeiten. Matts Suche nach den ältesten Schätzen der Welt führt ihn dabei an wildromantische Orte, und von einem Raketenangriff auf den Louvre und einem Hubschrauber-Überfall auf das National History Museum in New York, bis zu einem Angriff auf eine Gangstervilla auf Hawaii. Mit irrem Tempo, rasanten Actionszenen und einer gehörigen Portion Humor eroberten David Leadbeaters Schatzjäger-Romane rund um Matt Drake und dessen verschworenem Team die Amazon-Bestsellerlisten im Sturm, und sorgten dafür, dass Leadbeater mit seiner Serie 2017 sogar den Amazon Kindle Storyteller Award gewinnen konnte. "Wer Andy McDermott oder Matthew Reilly liebt, sollte sich dieses Buch holen." [Amazon.com]
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Seitenzahl: 1072
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Copyright © 2014 by David Leadbeater All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.
Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Philipp Seedorf
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-991-8
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Widmung
Ich möchte dieses Buch meiner Tochter Keira widmen.
Versprechen, die zu halten sind,
und noch Meilen an Weg vor uns …
Und allen, die mich je bei meinem Schreiben unterstützt haben.
Einige der größten Schätze der Geschichte sind in keinem Museum ausgestellt. Sie werden nicht elegant auf einem Samtkissen den bewundernden Blicken der Massen präsentiert. Stattdessen werden sie ignoriert, sie verstauben und verrotten. Unbeachtet und abgelehnt, größtenteils, weil sie innerhalb des akzeptierten Rahmens der Geschichtsschreibung nicht erklärbar sind.
Draußen war es deprimierend grau. Professor Roland Parnevik seufzte, trat ans Fenster und sah hinaus. Als er davon erfahren hatte, wusste er, diese Mission, diese Suche, würde all seine Anstrengungen kosten. Man erhielt nicht jeden Tag die Chance, Antworten auf die Fragen zu bekommen, die sich in einem gesamten Lebenswerk angesammelt hatten. Die Straßen draußen waren leer – es war schon spät – und ein schroffer Wind pfiff zwischen den Häusern entlang, peitschte nach oben und schüttelte die Baumreihen durch, bevor er eine Böe gegen das Schaufenster des kleinen Autohandels gegenüber pustete, über die Hausdächer strich und verebbte.
Parnevik zitterte, obwohl es im Raum warm war. Die Fassaden des Straßenzugs waren grau, verbranntes Orange und schmutziges Weiß – farblos wäre zuviel gesagt –, keine besonders inspirierende Aussicht.
Dennoch schlug ihm das Herz bis zum Hals.
Die größtenteils ergrauten Professoren der Archäologie hinter ihm redeten alle durcheinander. »Das ist wieder genau wie bei der Glocke und dem Hammer«, sagte einer von ihnen auf Schwedisch. »Wie bei der umstrittenen Deutung der achtkarätigen Goldkette. Die werden uns das niemals untersuchen lassen.«
Jemand anderes meldete sich zu Wort: »Dieses Mal müssen sie es tun, sie müssen einfach. Bei einem derart bedeutenden und wichtigen Fund. Das können die nicht ignorieren.«
»Pah«, fügte eine weitere Stimme hinzu, Parnevik erkannte sie genau wie all die anderen sofort. Sie alle arbeiteten schon seit vielen Jahren zusammen. »Die Konformisten werden versuchen, den Fund zu entkräften. Das Alter für wissenschaftlich unmöglich erklären; die Quelle diskreditieren. Und dann werden sie unser Artefakt, unsere Entdeckung … und uns … mit Nichtachtung strafen.«
Parnevik drehte sich um. Im Geiste ging er in rasender Eile zahllose vergangene Diskussionen mit diesen Männern durch, rief sich die relevanten Gespräche in Erinnerung. Die Artefakte, auf die sich seine Kollegen bezogen, waren mittlerweile Legenden der Archäologie, manche galten sogar als Großstadtlegenden. Und das war natürlich genau das, was die konformistische wissenschaftliche Gemeinde der großen Mehrheit weismachen wollte. Die Wahrheit war zu brenzlig, um sie mit der Kneifzange anzufassen, als würde man versuchen, Lava aufzuheben.
Zum einen – der Hammer. Im Juni 1936 entdeckte eine Gruppe Wanderer einen kleinen Felsen, aus dem ein Stück Holz hervorragte. Sie beschlossen, das merkwürdige Objekt mitzunehmen, und was sie fanden, erschütterte die Welt der Wissenschaft bis in ihre Grundfesten.
Tief im Stein eingebettet war ein uralter, von Menschenhand gemachter Hammer.
Später, als man ihn datiert und untersucht hatte, erwies sich der Felsen als 400 Millionen Jahre alt. Der Hammer selbst war über 500 Millionen Jahre alt. Ein Teil des Griffs hatte sich bereits in Kohle verwandelt. Das Eisen des Hammerkopfes war so rein, dass er ohne die Hilfe moderner Erzschmelzmethoden kaum herzustellen war.
Nur der eine, dachte Parnevik. Wäre der Hammer das einzige Artefakt gewesen, hätte man es für einen Scherz oder eine Falschmeldung halten können. Aber es gab buchstäblich Tausende dieser Artefakte, die in Dutzenden Museen überall auf der Welt Staub ansetzten, versteckt vor dem Blick der Öffentlichkeit, explosive Geheimnisse – unter Staubschichten begraben –, die ganze Forschungszweige durcheinanderwirbelten.
Und dann war da die Glocke. 1944 hatte ein Junge im Keller des Hauses der Familie ein großes Stück Kohle fallen lassen. Es war aufgebrochen und hatte ein Geheimnis freigegeben, das nach landläufiger wissenschaftlicher Meinung unerklärlich war: eine handgefertigte Glocke aus einer Metalllegierung mit einem eisernen Schlägel und einem sorgfältig gefertigten Griff.
Das Kohleflöz, aus dem die Kohle stammte, war 300 Millionen Jahre alt.
Wissenschaftler und Geologen stimmten überein, dass Kohle ein Nebenprodukt sich zersetzender Vegetation ist, die vor langer Zeit von Sediment bedeckt worden war. Dieses Sediment versteinerte dann und wurde zu Felsen. Die Evolutionstheoretiker glaubten, der natürliche Prozess, in dem sich Kohle bildete, dauere von mehreren Tausend bis zu 400 Millionen Jahren. Die Kreationisten und Evolutionsanhänger stritten über diese Frage schon viele Jahre.
1968 hatte ein Paläontologe eine Spur versteinerter Dinosaurierabdrücke in der Nähe einer Stadt in Texas freigelegt. Die Funde waren erneut verblüffend. Parallel zu den Spuren der Dinosaurier, in genau derselben hundert Millionen Jahre alten versteinerten Erdschicht der Kreidezeit, verliefen menschliche Fußabdrücke.
Die Leugner waren sofort lautstark auf den Plan getreten – hatten aus voller Expertenlunge »Fälschung« geschrien. Die Fernsehsender liebten diese Experten und zogen sie bei jeder neuen Krise hinzu, um die Ängste der Öffentlichkeit zu zerstreuen.
Aber taten sie das? Parnevik selbst erinnerte sich, dass er skeptisch gewesen war und sich so seine Gedanken angesichts dieser Meldung gemacht hatte, und er war damals nur ein kleiner Junge. Experten sagten, die menschlichen Spuren seien eigentlich von Dinosauriern gewesen, die verwittert waren und deswegen menschlich aussahen, aber sie hatten nie erklärt, wieso die dreizehigen Abdrücke des Dinosauriers direkt daneben nicht auf gleiche Weise verwittert waren.
Später stellte man fest, dass die menschlichen Fußabdrücke unter einer Felsschicht, die aus dem Flussbett entfernt wurde, weiterliefen. Und danach fand man auf der ganzen Welt noch mehr solcher Fußspuren.
Parnevik drehte sich vom Fenster weg und ließ seinen Blick über den Raum schweifen. Die Gruppe älterer Männer saß auf Sofas verteilt, mit Kaffeetassen und Wasserflaschen versorgt vor blinkenden Computerbildschirmen, der große Tisch voller staubiger Bücher und Schriftrollen.
Alle sahen ihn an.
Er sagte nichts, nahm sich Zeit, dachte über die allgemein akzeptierten Glaubenssätze über die Welt der Antike im Licht der Fakten nach, die nun aufgetaucht waren. Es gab natürlich noch einen Fall – den bisher besten …
»Roland?« Eine Stimme unterbrach seinen Gedankengang. »Also, was denkst du? Interessiert es dich nicht, wenn wissenschaftliche Glaubenssätze über den Haufen geworfen werden?«
»Im Gegenteil«, erwiderte Parnevik, »aber ich denke, wir werden unsere Worte und Methoden sehr sorgfältig wählen müssen. Du weißt, unsere eigenen Kollegen werden versuchen, uns zu diskreditieren. Sie werden uns ächten. Dieser neue Fund, nun, er stellt nicht nur den wissenschaftlichen Glauben infrage, er weist auf die Existenz von Wesen hin, die selbst wir als bloßen Mythos ablehnen.«
»Ein interessanter Tag«, lachte ein anderer und ein Chor alternder Männerstimmen stimmte mit ein, der sich bald in Räuspern und bellendes Husten verwandelte.
Noch dazu, dachte Parnevik, hat eine der führenden Organisationen der Welt bereits die Existenz dieses Problems anerkannt.
1987 und erneut 1992 veröffentlichte das Smithsonian einen Artikel, der sich auf die »Versteinerten Fußspuren« bezog, erkannte die damit verbundenen Unstimmigkeiten an und bezeichnete sie im Lichte der etablierten Wissenschaft als problematisch. Darin waren Spuren von großem »Säugetieren« und Vögeln beschrieben, die sich »lange nach dem Perm-Zeitalter entwickelt hatten, auch wenn die Spuren eindeutig aus dieser Periode stammten«.
Eindeutig aus dem Perm, dachte Parnevik. Eine gewichtige Aussage vom Smithsonian.
Auch wenn es vorbildlich war, dass das Smithsonian die gefundenen Spuren von Säugetieren und Vögeln anerkannt hatte, traf es keine Aussage zu den menschlichen Fußspuren, die gemeinsam mit ihnen entdeckt wurden.
»Ich denke an die Kugeln aus Südafrika«, sagte er laut. »Die sogenannten Klerksdorp-Sphären.« Die Kugeln, die in mehreren Jahrzehnten von Minenarbeitern gefunden worden waren, maßen zwischen 25 und 100 Millimeter im Durchmesser und drei parallele Rillen verliefen außen herum. Es hieß, die Kugeln seien so sorgfältig ausbalanciert, dass man eine Umgebung ohne Schwerkraft bräuchte, um das zu bewerkstelligen.
Der heftige Widerspruch der wissenschaftlichen Gemeinde war wenig überraschend und dem Umstand geschuldet, dass die Kugeln in Fels gefunden worden waren, der auf das Präkambrium datiert wurde – 2,8 Milliarden Jahre alt.
»Wie viele Menschen wissen überhaupt von den Klerksdorp-Sphären?«, fragte Parnevik, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. »Wie viele Dokumentationen in den großen Sendern haben sich denn schon damit beschäftigt? Und wer kann sich denn noch an die armen Archäologen erinnern, die versucht haben, die Öffentlichkeit über das wahre Alter dieser Anomalien aufzuklären? Nicht einmal ich, denn die Karrieren der Männer waren beendet, als ich noch ein kleiner Junge war. Die Öffentlichkeit ist bereits indoktriniert. Das …«, er zeigte mit dem Finger auf das neue Objekt im hinteren Teil des Raumes, »… ist Gold wert für Revolutionäre.«
Viele von ihnen lächelten.
»Wenn wir nur nicht alle so alt wären«, Parnevik konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, »dann kämen wir uns vielleicht nicht so radikal vor.«
»All diese verborgenen Entdeckungen müssen erneut untersucht werden«, sagte ein enger Freund von Parnevik. »Wenn nur eine einzige davon vom wissenschaftlichen Establishment verifiziert wird, würde das entweder zu einer Neubewertung des Prozesses der Geologie oder der Theorie der Evolution der Menschheit führen.«
Eine bedeutungsschwangere Stille senkte sich über den Raum, die Luft vibrierte förmlich vor nervöser Anspannung und unterdrückter Begeisterung.
Parnevik deutete wieder auf das neu gefundene Objekt. »Das Alter wurde von zwei Stellen bestätigt?«
»Ja«, sagten mehrere von ihnen gleichzeitig.
»Mehr als das«, fügte eine einzelne Stimme hinzu.
»Und es ist …« Aber Parnevik wagte nicht, die Worte seinen Kollegen in den Mund zu legen.
»Es ist der Schild«, kam die Antwort. »Odins Schild.«
Er lächelte. War glücklich. Sogar aufgeregt. Ihm war nicht klar, dass seine unbefriedigte wissenschaftliche Neugier bald den gesamten Planeten in Gefahr bringen würde.
York, England
Die Dunkelheit explodierte.
»Das ist es.« Matt Drake sah durch den Sucher und versuchte das ihn umgebende Spektakel zu ignorieren, sich stattdessen auf das absurd gekleidete Model zu konzentrieren, das den Laufsteg entlang spazierte.
Keine leichte Aufgabe. Aber er war ein Profi, oder versuchte zumindest, einer zu sein. Niemand hatte je gesagt, der Übergang vom Leben als Soldat beim SAS in das Zivilleben würde einfach sein. Aber er hatte in den letzten sieben Jahren mehr zu kämpfen gehabt als die meisten. Er war von einem Job zum nächsten gesprungen – jedes Mal ein Schuss ins Blaue –, aber nun hatte er endlich seine Berufung gefunden: Fotografie.
Besonders heute Abend. Das erste Model winkte und ließ ein professionelles, hochmütiges Lächeln folgen, bevor es unter anschwellender Musik und Jubel davonglitt. Drake drückte weiter auf den Auslöser der Kamera, während Ben, sein zwanzigjähriger langhaariger Mitbewohner, sich zu ihm lehnte, um ihm ins Ohr zu schreien: »Im Programm steht, das war Milla Jovovich. Ich zitiere: Filmstar und Model für den Modeschöpfer Frey. Wow, ist das Bridget Hall? Schwer zu sagen unter all der Wikingerausrüstung.«
Drake ignorierte den Kommentar und konzentrierte sich auf seine Aufgabe, weil er nicht ganz sicher war, ob sein junger Freund es ernst meinte. Er versuchte das lebhafte Geschehen auf dem Laufsteg einzufangen, und die Lightshow, die über die Menge flackerte. Die Models waren wie Wikinger ausstaffiert, trugen Schwerter und Schilde, Helme und Hörner – Retrokostüme, die von dem international bekannten Designer Abel Frey entworfen worden waren, der die Mode der neuen Saison mit antiken nordischen Kampfmonturen kombiniert hatte, um diesem Abend einen gebührenden Rahmen zu verleihen.
Drake konzentrierte sich auf das Ende des Laufstegs und das Objekt der abendlichen Feierlichkeiten – ein Schild. Das kürzlich entdeckte Relikt, das man recht ambitioniert »Odins Schild« genannt hatte. Ambitioniert deshalb, weil in Drakes Augen Odin ein Gott war, und, na ja … mythologisch. Der Schild war vor kurzem in Island gefunden worden und nun auf einer weltweiten Tour. Man hatte ihn den größten Fund in der nordischen Mythologie genannt und auf einen Zeitpunkt datiert, der noch vor der Ära der Wikinger lag. Weit davor. Nur eine Anomalie, hatten die Experten gesagt und sich mehr Zeit ausgebeten, um den Schild zu untersuchen.
Ein tief gehendes und faszinierendes Mysterium, das die Aufmerksamkeit der Welt fesselte. Der Wert des Schilds und sein Bekanntheitsgrad waren weiter gestiegen, als Wissenschaftler sich in den Publicity-Zirkus eingemischt hatten, nachdem ein unbekanntes Element in seiner Legierung entdeckt worden war.
Ben zog Drake am Arm, wodurch er das Model verpasste und stattdessen einen Schnappschuss des Mondes aufnahm.
»Oha!« Ben lachte. »Sorry, Matt. Ziemlich cooles Event. Abgesehen von der Musik. Die ist Müll. Die könnten meine Band engagieren, Wall of Sleep. Kostet nur ein paar Hunderter. Ist das zu glauben, dass York so was Abgefahrenes auf die Beine gestellt hat?«
Drake wedelte mit der Kamera in der Luft herum. »Ehrlich gesagt? Nein.« Er wohnte schon eine Weile hier und wusste alles über den Stadtrat und seine merkwürdigen Visionen. Die Zukunft liegt in der Vergangenheit, so sagten sie zumindest. »Aber pass auf, York zahlt deinem Vermieter ein paar dicke Scheine, damit er Bilder von Models und Schilden macht, nicht vom Nachthimmel. Und deine Band ist Schrott. Also mach dich locker, okay?«
Ben rollte mit den Augen. »Schrott? Wall of Sleep müssen sich gerade zwischen, äh … mehreren Angeboten für einen Plattenvertrag entscheiden, Kumpel.«
»Ich versuche, mich auf die hübschen Models zu konzentrieren.« Drake hatte eigentlich mehr den Schild selbst im Blick, der unter den Scheinwerfern des Laufstegs funkelte. Zweifellos ein beeindruckendes Objekt. Er bestand aus zwei Kreisen. Auf dem inneren waren Symbole, die aussahen wie antike Darstellungen von Tieren und ein auf dem Kopf stehendes Dreieck, im äußeren sah man eine Mischung aus weiteren Tierdarstellungen und Symbolen.
Ein gefundenes Fressen für die durchgeknallten Verschwörungstheoretiker, dachte er.
»Draufhalten«, flüsterte er bei sich selbst, als ein Model mit dem Schild posierte und er digital den Kontrast zwischen Jugend und Alter festhielt.
Der Laufsteg war vor dem bekannten Yorvik-Center in York aufgebaut worden – einem Museum für die Geschichte der Wikinger –, nachdem Schwedens staatliches historisches Museum ihnen kurzfristig Anfang September den Schild ausgeliehen hatte. Die Bedeutung der Veranstaltung nahm schlagartig zu, als der zurückgezogen lebende Superstar unter den Modeschöpfern, Abel Frey, angeboten hatte, ein Catwalk-Event zu sponsern, um die Ausstellung einzuläuten.
Ein weiteres Model stolzierte über den provisorischen Laufsteg, mit dem Gesichtsausdruck einer Katze, die nach der abendlichen Sahneschüssel suchte. Scheinwerfer durchkämmten den Himmel hinter ihr. Das grelle Licht wurde von den vielen Schaufenstern reflektiert und ruinierte jegliche künstlerische Aura, die Drake einfangen wollte. Die Dance-Music von Cascada knallte ihm um die Ohren und lenkte ihn ab. Verfluchter Mist, dachte er. Einsätze in Bosnien waren leichter zu ertragen als das hier.
Die Menge wuchs noch an. Er betrachtete einen Moment die Gesichter um sich herum, die alle hofften, einen Blick auf Abel Frey zu erhaschen, ihr Idol, das nirgends zu sehen war. Menschen in aufgedonnerten Outfits schufen eine Karnevalsatmosphäre. Er lächelte. Der Drang, immer wachsam zu sein, war zugegebenermaßen nach sieben Jahren außer Dienst weniger ausgeprägt – die Armee-Instinkte ließen langsam nach, aber wenn er es zuließ, konnten sie wieder zum Leben erwachen, frisch, unversehrt und bereit, die Kontrolle zu übernehmen. Auf eine perverse Weise waren sie stärker geworden, seitdem Alyson, seine Frau, bei einem Autounfall vor zwei Jahren gestorben war. Kurz vor ihrem Tod hatte sie zu ihm gesagt, dass er vielleicht die Armee verlassen hatte, aber die Armee niemals ihn verlassen würde. Damals hatte er den Kommentar überheblich abgetan. Was meinte sie überhaupt damit?
Nun, hingegen …
Ein vertrautes Geräusch aus alten Zeiten holte Drake wieder ins Hier und Jetzt, ein fernes Tschuck-Tschuck, lange vergessen … eine bloße Erinnerung … Tschuck …
Drake schüttelte den Gedankennebel ab und konzentrierte sich wieder auf die Show auf dem Laufsteg. Zwei Models führten einen stilisierten Kampf unter Odins Schild auf, nichts Spektakuläres, nur ein bisschen Futter für die Medien, aber die Menge jubelte und die Fernsehkameras surrten, während Drake wie ein Derwisch den Auslöser betätigte. Im Herzen der Menge eingekeilt, spürte er dessen Schlag wie eine fröhliche Kadenz.
Und dann runzelte er die Stirn. Er senkte die Kamera. Sein soldatischer Scharfsinn war vielleicht lethargisch geworden, aber beileibe nicht verschwunden. Das Tschuck-Tschuck war unverwechselbar. Wieso zur Hölle hielten zwei Apache-Kampfhubschrauber der Armee direkt auf das Event zu?
»Ben«, sagte er bedächtig, und stellte die einzige Frage, die ihm dazu einfiel. »Wenn du ein solcher Nerd bist, wie ich denke, hast du doch sicher das Programm des Abends genau recherchiert. Hast du von irgendwelchen Überraschungsgästen gehört?«
»Na ja, es wurde getwittert, dass Kate Moss vielleicht auftaucht.«
»Kate Moss?« Drake bezweifelte, dass sie sich aus einem Militärhelikopter abseilen würde.
Die Hubschrauber donnerten über sie hinweg, umkreisten sie und blieben dann nebeneinander in der Schwebe. Es war ein spektakulärer Anblick, der Mond glänzte hinter ihnen. Die Menge jubelte begeistert und erwartete etwas Besonderes. Alle Augen und Kameras richteten sich auf den Nachthimmel.
Ben schrie: »Was zur Hölle …?« Sein Handy klingelte. Seine Familie hielt steten Kontakt zu ihm und als wohlerzogener Sohn ging er immer ran.
Drake ignorierte ihn und sah in Richtung der Helikopter, bemerkte die voll bestückten Raketenwerfer, die 30-Millimeter-Maschinenkanonen, die sichtbar unter dem vorderen Rumpf angebracht waren, und er versuchte rasch, die Situation einzuschätzen.
Die Menge war auf einem kleinen quadratischen Platz versammelt, der von Geschäften eingegrenzt war, und es gab nur drei Ausgänge. Ben und er hatten nur eine Wahl, wenn … sobald … das Gedränge losging: Direkt auf den Laufsteg zuhalten.
Und dann brach die Hölle los.
Ohne Vorwarnung wurden Dutzende Seile aus dem zweiten Helikopter gelassen – wohl ein Apache-Hybrid, wie Drake klar wurde; eine Maschine, die modifiziert worden war, um mehrere Crew-Mitglieder aufzunehmen.
Maskierte Männer rutschten an den Seilen hinab und verschwanden hinter dem Laufsteg. Drake bemerkte die Waffen, die sie vor der Brust trugen, als sich ein verängstigtes Schweigen über die Menge legte. Die letzten Stimmen waren die von Kindern, die nach dem Warum fragten, aber bald verstummten auch sie.
Die Security vor Ort rannte in Richtung der Rückseite der Bühne und sprach dabei hastig in Funkgeräte.
Dann schoss der vordere der beiden Apache-Helikopter mit einem Geräusch wie von Millionen Kubikmetern Dampf, die durch ein Ventil zischen, eine Hellfire-Rakete in eines der leeren Geschäfte. Ein Donnern, als wären zwei Züge kollidiert. Feuer, Glas und Ziegelbrocken flogen in einer Explosion hoch über den Platz.
Ben ließ vor Schreck sein Handy fallen und hob es hastig wieder auf. Drake hörte den Schrei, der sich wie eine Flutwelle ausbreitete, und spürte, dass der Herdentrieb die Menge erfasst hatte. Ohne eine Sekunde nachzudenken, schnappte er sich Ben und stieß ihn über die Absperrung, bevor er selbst darüber sprang. Sie landeten unsanft neben dem Laufsteg.
Die Chain Gun des Apache-Helikopters donnerte los – laut und tödlich. Das Geräusch war ohrenbetäubend. Drake warf sich instinktiv auf Ben, aber die Kugeln waren über die Menge hinweg abgefeuert worden und riefen eine Panik hervor. Die Schreie erhöhten den Lärmpegel noch.
Drake winkte Ben, ihm zu folgen, und rannte am Fuße des Laufstegs entlang. Einige der Models streckten die Hände aus, um ihnen hochzuhelfen. Drake rappelte sich auf und blickte über die wogende Menschenmasse, die zu den Ausgängen strömte. Dutzende versuchten auf den Laufsteg zu klettern, wobei ihnen die Models und Mitarbeiter halfen. Schreie erfüllten die Luft und die Panik breitete sich weiter aus. Feuer erhellte die Dunkelheit und das dumpfe Tschuck-Tschuck der Helikopterrotoren übertönte den Tumult.
Die Chain Gun erklang erneut und beschoss die Gebäude am Rand der Menge. Es war ein albtraumhaftes Geräusch, das kein Zivilist jemals ertragen sollte.
Drake sah sich um. Hinter ihm kauerten Models. Odins Schild war vor ihm. Drake drehte sich um und half einigen der Models, in Sicherheit zu klettern. Er gab ihnen hastig zu verstehen, in Deckung zu gehen, als hinter der Bühne Soldaten in schusssicheren Westen auftauchten. Drakes erster Impuls bestand darin, sich selbst zwischen Ben, die flüchtenden Models und die Soldaten zu stellen, aber er riskierte es, ein paar Schnappschüsse von dem Schild zu machen, wodurch sich alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Besser, die Soldaten konzentrierten sich auf ihn als auf einen Unbeteiligten, der nicht wusste, was er tat.
Mit der anderen Hand schob er seinen jungen Mitbewohner weiter in die Richtung, in die die Models davongerannt waren.
»Hey!«, schrie ein Soldat und funkelte Drake böse an. Er richtete die Maschinenpistole auf ihn. So etwas passierte doch nicht in York, nicht in dieser Welt. York bestand aus Touristen, Eiscreme und Amerikanern auf Tagesausflug. Es war sicher, beschaulich und der Ort, den Drake gewählt hatte, um ein neues, ruhiges Leben zu beginnen.
Der Soldat baute sich direkt vor ihm auf. »Gib mir das!«, schrie er auf Englisch, aber mit einem dicken deutschen Akzent. »Gib mir das!«
Er griff nach der Kamera. Drake schlug nach seinem Unterarm und drehte ihm die Maschinenpistole aus der Hand. Dem Soldaten stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Drake reichte hinter seinem Rücken die Kamera unbemerkt an Ben und hörte, wie er sich entfernte.
Die Maschinenpistole richtete er sorgsam auf den Boden, als drei weitere Soldaten auf ihn zukamen.
»Du!« Einer der Soldaten hob seine Waffe.
Drake hatte die Augen halb geschlossen, aber er hörte einen heiseren Schrei: »Gib ihm die Kamera, Idiot. Ich will nicht jemanden kaltblütig im Fernsehen erschießen.«
Der neu auf der Bildfläche erschienene Soldat nickte Drake zu. »Gib mir erst die Waffe und dann die Kamera«, sagte er mit schleppendem deutschen Akzent.
Drake ließ die Maschinenpistole auf den Boden scheppern. »Ich hab sie nicht.«
Der Commander nickte seinen Untergebenen zu. »Durchsucht ihn.«
»Das war noch jemand anderes …« Der erste Soldat hob die Waffe auf, sah verlegen aus. »Er … er ist weg.«
Der Commander trat direkt vor Drake. »Idiot. Wir wollen diese Bilder. Auf die eine«, er grinste hinter seiner Maske, »oder andere Weise.«
Ein Gewehrlauf wurde gegen Drakes Stirn gedrückt, dessen Gesichtsfeld nur noch aus einem wütenden Deutschen und fliegendem Speichel zu bestehen schien. »Ich sagte, durchsucht ihn!«
Als ihn die Soldaten abtasteten, wurde ihm klar, dass es so ausgesehen hatte, als habe er sie fotografiert. Trotz der Sturmmasken hatten sie wohl den Befehl, nichts zu riskieren, wenn es um ihre Identitäten ging. Er sah zu, wie Odins Schild, offenbar präzise koordiniert, unter den Anweisungen eines weiteren Maskierten mit Sturmmaske und weißem Anzug geklaut wurde. Der Mann schien seinen Männern mit weit ausladenden Gesten Befehl zu erteilen, dann kratzte er sich am Kopf, aber sagte nichts. Sobald der Schild sicher verstaut war, deutete er mit einem Funkgerät ungefähr in Drakes Richtung und versuchte anscheinend die Aufmerksamkeit des Commanders zu erregen.
Der Maskenmann, der das Sagen hatte, seufzte vernehmlich und hielt sein Funkgerät ans Ohr, aber Drake beobachtete weiter den Mann im weißen Anzug.
»Wir sehen uns in Paris«, sagten die Lippen des Mannes in das Funkgerät.
Der Commander murmelte: »Morgen um sechs.«
Die Spezialausbildung bei der Armee war immer noch nützlich, dachte sich Drake. Lippenlesen war eine der speziellen Anforderungen.
Dann sagte der Commander: »Da.« Er stand direkt vor Drake, sah sich seine Kreditkarten und den Presseausweis an. »Glückspilz«, meinte der Mann schleppend. »Der Boss sagt minimale Opfer, also bleibst du am Leben … fürs Erste. Aber«, er wedelte mit Drakes Geldbeutel, »wir haben deine Adresse. Und wir werden dich finden.«
York, England
Als er viel später, nach einer endlosen Befragung durch die Polizei, wieder zu Hause war, reichte Drake Ben einen entkoffeinierten Filterkaffee und sah sich mit ihm die Fernsehberichterstattung über die Ereignisse des Abends an.
Odins Schild war gestohlen worden. Die guten Nachrichten waren, dass niemand gestorben war. Die brennenden Helikopter wurden meilenweit entfernt gefunden, an einer Stelle zurückgelassen, wo drei Highways zusammentrafen, die Insassen waren lange verschwunden.
»Die haben die Show von Frey ruiniert«, meinte Ben, nur halb im Ernst. »Die Models haben schon ihre Koffer gepackt und sind weg.«
»Und ich hab noch die verdammten Laken gewechselt«, sagte Drake mit einem breiten Grinsen. »Na ja, ich bin sicher, Frey, Prada und Gucci werden es überleben.«
»Und sie haben meinem Dad das Wort abgeschnitten.«
Drake schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Der wird in drei Minuten oder so wieder anrufen.«
»Machst du dich über mich lustig, Alter?«
Drake lachte. »Nein. Du bist nur zu jung, um es zu verstehen.«
Ben wohnte nun seit etwa neun Monaten mit Drake zusammen, und in der Zeit waren sie von Fremden zu guten Freunden geworden. Sie hatten sich in der Abendschule kennengelernt, bei einem acht Wochen langen Fotografiekurs, den Ben als Teil seines Studiums geleitet hatte. Als Ben erwähnte, dass er pleite war und irgendwo unterkommen musste, erließ Drake ihm die Miete im Tausch gegen sein fotografisches Fachwissen. Ben trug das Herz auf der Zunge, vielleicht ein Zeichen von Unschuld und zugleich eine liebenswerte Eigenschaft. Drake ließ sich durch den Enthusiasmus des Jungen ablenken. Er hielt die Erinnerungen an seine eigene elende Vergangenheit in Schach.
Drake selbst war umgänglich und bodenständig, mit dem Gespür eines Soldaten für Kameraderie und dem entsprechenden Humor. Jemand hatte ihn einmal »James Bond in Jeans« genannt. Auch wenn er sich geschmeichelt gefühlt hatte, war Drake bei dem Vergleich unwohl. Er trug weder dazu bei, möglichst unauffällig zu bleiben, noch dass er sich von seiner Zeit in der Armee lösen konnte.
Ben stellte die Tasse hin. »Gute Nacht, Kumpel. Ich werde mal meine Schwester anrufen.«
»Gute Nacht.«
Die Tür schloss sich und Drake lehnte sich zurück und schaute eine Weile Sky News. Als ein Bild von Odins Schild gezeigt wurde, richtete er sich auf und sah genauer hin.
Nachdem er eine Wiederholung einer früheren Nachrichtensendung gesehen hatte, nahm er die Kamera, mit der er sich seinen Lebensunterhalt verdiente und steckte die Memory Card ein, mit dem Plan, sich die Bilder bei Gelegenheit anzusehen. Er war immer noch fasziniert von dem, was der Soldat zu ihm gesagt hatte, dass sie sich »später sehen« würden. Sie hatten eindeutig die Fotos gewollt. Aber wieso? Er ging zum PC, überprüfte vorher aber noch einmal alle Türen und Fenster. Das Haus war schon vor Jahren einbruchsicher gemacht worden, als er noch in der Armee gedient hatte. Er glaubte zwar grundsätzlich an das Gute im Menschen, aber wenn ihn der Krieg – und seine alte Freundin und einstige Geliebte, Mai Kitano – eines gelehrt hatten, dann dass man niemals blind auf etwas vertrauen sollte. Man sollte immer einen Plan haben und einen zweiten in der Hinterhand – einen Plan B. Mai hatte ihm mehr über Kriegführung beigebracht als irgendwer sonst in seinem Leben, inklusive des SAS, aber die Zeit und schwierige Erfahrungen hatten sie einander entfremdet. Nun war sie ganze Welten entfernt.
Er googelte Odin und Odins Schild. Der Wind draußen frischte auf, rauschte um die Dachkanten und heulte lauter als ein Investmentbanker, dessen Bonus man auf vier Millionen gekürzt hatte. Ihm wurde bald klar, dass der Schild eine große Sache war. Ein bedeutender archäologischer Fund, der größte jemals in Island. Einige Indiana-Jones-Typen hatten die ausgetretenen Pfade verlassen, um einen alten Eisgang zu untersuchen. Ein paar Tage später hatten sie den Schild ausgegraben, aber dann fing einer der größten Vulkane Islands zu grummeln an und weitere Ausgrabungen mussten verschoben werden.
Derselbe Vulkan, der vor kurzem die Aschewolke über Europa verursacht hat, dachte Drake, und dafür sorgte, dass die Leute nicht in Urlaub fliegen konnten.
Drake nippte an seinem Kaffee und lauschte auf das Heulen des Windes. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug Mitternacht. Er hatte mit nur ein paar Google-Suchen einen ganzen Berg an Informationen gefunden. Vielleicht wurde er langsam alt, aber er dachte sich, dass Ben wohl mehr damit anfangen konnte als er. Die erstaunlichsten Nachrichten waren die, dass der Schild auf ein so hohes Alter datiert worden war, das dieses der allgemeinen Lehrmeinung widersprach und überkommene Paradigmen infrage stellte.
Er las einen kurzen Artikel darüber, wie sich Kohle bildete, aber seine Augenlider wurden schwer und er widmete sich schnell etwas anderem. Die nächste erstaunliche Entdeckung war irgendein unbekanntes, offensichtlich menschengemachtes Material in der Legierung des Schilds. Die meisten Historiker waren der Meinung, dass es vor so langer Zeit gar nicht hätte existieren dürfen.
Die Wissenschaftler verglichen dieses neue Material mit Starlite, einer tatsächlichen Erfindung der Siebziger- und Achtzigerjahre. Bevor teure Anwendungen entwickelt wurden, führten die NASA und das Atomic Weapons Establishment Tests an dem Material durch und umhüllten rohe Eier damit. Dann richtete man für fünf Minuten einen Schweißbrenner auf die Eier. Sie blieben dennoch kühl genug, um sie mit bloßen Händen aufzuheben. Das Material widerstand Temperaturen von bis zu 10.000 Grad Celsius. Die NASA und viele andere Firmen aus dem Hightech-Bereich zeigten Interesse, aber die Zusammensetzung des Materials wurde von seinem Erfinder nie bekanntgemacht und aus Angst vor Reverse Engineering auch keine Proben davon herausgegeben. Ob der Erfinder fürchtete, sein Material könne für die Waffenentwicklung oder anderweitig missbräuchlich verwendet werden, erfuhr nie jemand. Er starb 2011, ohne den Herstellungsprozess jemals bekanntgemacht zu haben, und bis zum heutigen Tag wurde es nie repliziert.
Drake las, dass der Schild zumindest teilweise aus einigen derselben Polymere und Copolymere bestand, von denen man vermutete, sie seien in Starlite enthalten gewesen, aber das vergrößerte nur das Mysterium, welches das Artefakt bereits umgab. Er überflog noch einige weitere Artikel und erfuhr, dass die Oberfläche von Odins Schild mit Schnitzereien verziert war, die alle eingehend von Wissenschaftlern untersucht wurden, und dass J.R.R. Tolkiens umherwandernder Zauberer Gandalf auf Legenden über Odin basierte.
Aber das meiste waren einfach zufällig zusammengewürfelte Informationen, völlig unbestätigt. Kein Grund, ein gefährliches Verbrechen in aller Öffentlichkeit zu begehen. Die Symbole oder Schriftzeichen, die den äußeren Rand des Schilds verzierten, hatte man übersetzt und hielt sie für eine uralte Form von Odins Fluch:
Himmel und Hölle sind nur vorübergehende Unwissenheit,
Es ist die unsterbliche Seele, die zum Richtigen oder Falschen neigt.
Es gab keine antike Schrift, um diesen »Fluch« zu interpretieren oder zu erklären, aber er galt als authentisch. Zumindest wurde er den Wikingern zugeschrieben, wenn nicht Odin selbst.
Drake lehnte sich in seinem Stuhl zurück und ließ die Ereignisse des Abends noch einmal Revue passieren.
Etwas ging ihm nicht aus dem Kopf. Der Mann in Weiß hatte die Worte »Wir sehen uns in Paris« mit den Lippen geformt, und der andere hatte erwidert: »Morgen um sechs.« Sorge nagte an Drake, als er darüber nachdachte, wie gefährlich diese Männer waren und dass sie ihn direkt gewarnt hatten.
Wir werden dich finden.
Aber wenn Drake den offensichtlichen Weg einschlagen würde, dann brachte er Bens Leben in Gefahr, nicht zu reden von seinem eigenen.
Vielleicht lassen sie es auf sich beruhen.
Ein Zivilist hätte vielleicht nichts unternommen, aber ein Soldat ließ sich nicht gern bedrohen. Er kam zum Schluss, ihre Leben seien sowieso schon in Gefahr und neue Informationen immer willkommen. Die Polizei hatte die Diebe verloren. Sie waren wie vom Winde verweht und wussten, wer Drake war. Der Gedanke beunruhigte ihn. Auch wenn er nach der ruhelosen Recherche dieser Nacht die Sache auf sich beruhen lassen würde, war er dennoch fasziniert von der dreisten Attacke, dem Diebstahl und den weiteren Plänen der Diebe.
Er googelte Odin + Paris.
Ein Ergebnis stach ihm ins Auge.
Odins Pferd Sleipnir war im Louvre ausgestellt.
Odins Pferd? Drake kratzte sich am Kopf. Für einen Gott hatte der Kerl ja einige sehr materielle Dinge besessen. Mit einem Klick rief Drake die Homepage des Louvre auf. Anscheinend war eine kleine Skulptur von Odins sagenumwobenem Pferd vor Jahren in den Bergen in Schweden gefunden worden. Drake las weiter und war bald so fasziniert von den vielen Geschichten über Odin, dass er fast vergessen hätte – er war ein Gott der Wikinger, nur ein Mythos.
Der Louvre? Drake grübelte darüber. Vielleicht lassen sie es auf sich beruhen … aber der Gedanke war eher eine schwache Hoffnung, als dass er tatsächlich daran geglaubt hätte.
Er trank seinen Kaffee aus, fühlte sich plötzlich müde und riss sich vom Computer los.
Einen Augenblick später war er eingeschlafen.
Er wachte beim Geräusch eines quakenden Frosches auf; sein kleiner Wachposten mit eingebautem Bewegungsmelder. Ein Eindringling rechnete vielleicht mit einem Alarm oder einem Hund, aber er würde nie die kleine grüne Gartenfigur neben der Mülltonne für etwas Verdächtiges halten – und Drake war darauf trainiert, einen leichten Schlaf zu haben.
Er war am Computertisch eingeschlafen, mit dem Kopf auf den Armen; nun war er sofort hellwach und schlich in den dunklen Flur. Die Hintertür klapperte. Glas zerbrach. Nur Sekunden waren seit dem Froschquaken vergangen.
Sie waren drin.
Drake duckte sich und sah zwei Männer den Raum betreten, Maschinenpistolen ein wenig nachlässig im Anschlag. Die Bewegungen routiniert, aber keineswegs anmutig.
Die wären vor sieben Jahren kein Problem gewesen, dachte er.
Aber jetzt?
Das würden sie gleich herausfinden.
Drake wartete in den Schatten und hoffte, der alte Soldat in ihm ließ ihn nicht im Stich.
Zwei. Ein Vorausteam. Kein gutes Zeichen, denn das bedeutete, die Eindringlinge wussten, was sie taten. Eine Strategie für solche Situationen hatte Drake schon vor Jahren geplant, als sein Regiment zum Ziel einer Extremistengruppe geworden war. In der Zeit danach hatte er sich einfach nicht die Mühe gemacht, die Routine zu ändern. Die Extremisten waren an persönliche Informationen gekommen, aber in Großbritannien neutralisiert worden, bevor sie etwas damit anfangen konnten. Nun nahm Drakes alter Plan vor seinem geistigen Auge wieder Gestalt an.
Als der Lauf der Waffe des ersten Soldaten aus der Küche ragte, schnappte Drake danach, zog ihn auf sich zu und hebelte ihn dann mit Gewalt in die Gegenrichtung. Gleichzeitig machte er einen Schritt auf seinen Gegner zu und drehte sich, womit er ihm die Waffe entriss und hinter ihm zum Stehen kam.
Der zweite Soldat war kurzzeitig starr vor Schreck. Mehr brauchte es nicht. Drake schoss ihm in den Kopf. Dann drehte er sich, feuerte einen weiteren Schuss auf den ersten Soldaten ab, noch bevor der zweite auf die Knie gestürzt war.
Renn!, dachte er. Jetzt kam es auf Geschwindigkeit an.
Er sprintete die Treppe hoch und rief nach Ben, wobei er eine weitere Salve aus der Automatikwaffe über seine Schulter richtete. Er kam im oberen Stockwerk an, rief erneut und knallte dann gegen Bens Tür. Sie flog auf. Ben stand in der Jogginghose da, das Handy in der Hand, schieres Entsetzen verzerrte seine Züge.
»Keine Sorge«, sagte Drake mit mehr Zuversicht in der Stimme, als er tatsächlich in sich trug. »Vertrau mir. Das ist schließlich mein Zweitjob.«
Ben stellte wenigstens keine Fragen. Drake konzentrierte sich. Er hatte die ursprüngliche Luke zum Dachboden des Hauses verschlossen und dann eine zweite in diesem Raum installiert. Anschließend hatte er die Schlafzimmertür verstärkt. Es würde einen zu allem entschlossenen Eindringling nicht lange aufhalten, aber auf jeden Fall bremsen.
Alles Teil des Plans.
Er verriegelte die Tür, stellte sicher, dass die integrierten schweren Bolzen auch in den verstärkten Rahmen ragten und zog dann die Leiter zum Dachboden herab. Ben kletterte als Erster eilig hinauf und Drake folgte ihm eine Sekunde später. Der Dachboden war riesig und mit Teppichboden ausgelegt. Ben stand nur da und staunte. Die gesamten Wandflächen nach Osten und Westen wurden von großen maßgefertigten Regalen dominiert, vollgestopft mit Schallplatten seiner Lieblingsrockbands aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, außerdem CDs und alte Kassetten.
»Sind das alles deine, Matt? Ich wusste ja, dass du Oldie-Rock magst, aber …«
Drake gab keine Antwort. Die Wahrheit – nämlich dass es der klägliche Rest der Dinge war, die Alyson und er gesammelt und genossen hatten – war zu kompliziert, um sich im Moment damit auseinanderzusetzen. Er ging quer durch den Raum zu einem Kistenstapel, der eine Luke verbarg – eine Dachluke, hoch genug, um hindurchzukriechen.
Drake drehte eine Kiste um, die auf dem Teppich stand. Ein fertig gepackter Rucksack fiel heraus, den er sich über die Schultern streifte.
»Klamotten?«, flüsterte Ben.
Er klopfte mit der Hand auf den Rucksack. »Hab ich.«
Als Ben immer noch ausdruckslos geradeaus starrte, verstand Drake, wie verängstigt er war. Ihm wurde klar, dass er sich ein wenig zu einfach wieder in den alten Soldaten zurückverwandelt hatte. »Kleidung, Handys, Geld, Reisepässe, iPad, Ausweise.«
Er verschwieg die Waffe, die Munition, das Messer …
»Wer sind die, Matt?«
Ein Donnern von unten. Ihr unbekannter Feind knallte gegen Bens Schlafzimmertür und hatte wohl erst jetzt gemerkt, dass er Drake unterschätzt hatte.
»Zeit zu gehen.«
Ben drehte sich ohne weiteren Kommentar um und krabbelte in die windgepeitschte Nacht. Drake eilte ihm nach und zog mit einem letzten Blick auf die Wände voller CDs und Kassetten die Luke hinter sich zu.
Der Wind zerrte mit gierigen Fingern an ihnen, als sie das rutschige Dach betraten. Ben trat vorsichtig auf, rutschte mit den nackten Füßen auf den Betonschindeln aus. Drake hielt seinen Arm fest und wünschte sich, sie hätten Zeit gehabt, ein Paar Schuhe für ihn zu finden.
Eine starke Bö heulte um den Kamin, traf Ben direkt von vorn und er stolperte auf die Kante zu. Drake packte ihn, hörte einen Schmerzensschrei, aber ließ nicht los. Nach einer Sekunde hatte er seinen Freund von der Dachkante zurückgezogen.
»Nicht mehr weit«, flüsterte er. »Wir sind fast da, Kumpel.«
Drake sah, dass Ben panisch war. Die Blicke des jungen Mannes schossen zwischen der Dachluke und der Dachkante hin und her, dann auf den Garten und wieder zurück. Entsetzen verzerrte sein Gesicht. Sein Atem ging zu schnell; bei dieser Geschwindigkeit würden sie es nie schaffen.
Drake warf einen Blick in Richtung Tür, machte sich auf alles gefasst und drehte ihr dann den Rücken zu. Wenn irgendwer da durch kam, würden sie ihn zuerst sehen. Er packte Ben an den Schultern und sah ihm in die Augen.
»Ben, du musst mir vertrauen. Vertrau mir. Ich verspreche, ich kriege dich hier raus.«
Bens Augen fokussierten wieder und er nickte schließlich, immer noch völlig verängstigt, aber bereit, sein Leben in Drakes Hände zu legen. Er drehte sich um und tat entschlossen einen Schritt voran. Drake sah Blut unter seinen Füßen hervorlaufen, das in die Regenrinne tropfte. Die Schindeln waren scharfkantig genug, einem die Haut aufzuschlitzen. Sie kletterten über das Dach des Nachbarhauses auf den Wintergarten und ließen sich hinabrutschen. Ben glitt aus und fiel nach halber Strecke, aber Drake war zuerst gelandet und konnte seinen Sturz abbremsen.
Dann hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Im Nachbarhaus waren die Lichter an, aber niemand zu sehen. Hoffentlich hatten sie die Schüsse gehört und die Polizei war unterwegs.
Drake packte Ben fest an den Schultern. »Super gemacht. Noch so eine Nummer und ich kauf‘ dir einen neuen Klettergurt. Lass uns abhauen.«
Ben schniefte. »Wer zur Hölle ist da oben?«
Drake sah in Richtung des Dachbodens und die versteckte Luke. Der Vorsprung, den sie hatten, schmolz schnell dahin.
»Deutsche.«
»Was? So Zweiter-Weltkrieg-Brücke-am-Kwai-Deutsche?«
»Ich glaube, das waren die Japaner. Und nein, ich denke, die hier hatten eher nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun.«
Sie waren bereits am hinteren Ende des Nachbargartens angekommen und kletterten über den stabilen Holzzaun.
Direkt auf eine belebte Straße.
Zwei Minuten vom nächsten Taxistand entfernt.
Drake lief wild entschlossen auf die wartenden Wagen zu. Seine Soldateninstinkte waren wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Wie Mickey Rourke, wie Kylie, wie Hawaii Fünf-Null hatten sie sich nur eine Auszeit gegönnt und auf den richtigen Moment für ein ruhmreiches Comeback gewartet.
Er war sich mittlerweile sicher, um sie beide zu beschützen, musste er den Angreifer zuerst erwischen.
Paris, Frankreich
Die Maschine erreichte den Flughafen Charles De Gaulle um 9 Uhr am selben Morgen. Drake und Ben landeten mit nichts weiter als Drakes Rucksack als Gepäck. Sie hatten sich umgezogen und neue unregistrierte Prepaid-Handys vorbereitet. Das iPad war aufgeladen. Das meiste Bargeld war weg – für den Flug ausgegeben. Drake hatte seine Waffe entsorgt, als feststand, wohin die Reise ging und bevor sie das Flugzeug bestiegen hatten.
Während des Fluges hatte er Ben auf den neuesten Stand über Deutsche und Wikinger gebracht und ihn gebeten, bei der Recherche zu helfen, solange er herauszufinden versuchte, wer es auf sie abgesehen hatte. Je mehr er über sie herausfand, desto schneller konnte er auf diese Bedrohung reagieren. Bens einziger Kommentar war: »Vielleicht sollte ich Karin bitten, uns zu helfen.«
Drake redete es ihm aus. Familienangehörige in die Sache hineinzuziehen war das Letzte, was sie wollten, und seine Schwester, auch wenn sie sich extrem gut mit Computern auskannte, würde nur für weitere Gefahr und Ablenkung sorgen.
Sie verließen den Flughafen und ein kalter Pariser Nieselregen bereitete ihnen einen ungemütlichen Empfang. Drake hatte beinahe damit gerechnet, dass ihre Verfolger schon auf sie warteten, aber sie schienen nicht über die Ressourcen zu verfügen, um so schnell zu reagieren. Ben sah ein Taxi und wedelte mit dem Reiseführer, den er gekauft hatte. Als sie eingestiegen waren, sagte er: »Äh … Rue … Croix? Das Hotel gegenüber dem Louvre?«
Das Taxi fuhr los. Der Gesichtsausdruck des Taxifahrers, der es auf sein Ziel zusteuerte, verriet, dass er selbst keinerlei Ziele im Leben hatte. Als das Hotel vierzig Minuten später in Sichtweite kam, sah es erfrischend untypisch für Paris aus. Es gab eine große Lobby, Aufzüge, in die mehr als eine Person passte, und verschachtelte Korridore voller Zimmer.
Bevor sie eincheckten, hob Drake am Geldautomaten in der Lobby sein restliches Guthaben ab – etwa 500 Euro. Ben runzelte die Stirn, aber Drake versuchte, ihn mit einem Augenzwinkern zu beruhigen. Er wusste, was sein cleverer Freund dachte, noch bevor er es aussprach: »Du pfeifst also auf die elektronische Überwachung und hinterlässt eine Geldspur?«
»Das ist die Idee dabei, Kumpel. Wart‘s mal ab.«
Er zahlte eines der Zimmer mit der Kreditkarte und hatte vorher sichergestellt, das gegenüberliegende Zimmer bar bezahlen zu können. Sobald sie oben waren, betraten sie das Bargeld-Zimmer und Drake richtete sich auf die Überwachung ein.
»Unsere Chance, ein paar Fliegen mit einer Klappe zu schlagen«, sagte er und sah Ben an, der das Zimmer kritisch beäugte.
»Was meinst du?«
»So finden wir heraus, wie gut sie sind. Wenn sie bald auftauchen, dann haben sie was drauf, und das bedeutet vermutlich Ärger. Wenn nicht, na ja, ist genauso wichtig, das zu wissen. Und du kriegst die Gelegenheit, dein neues Spielzeug auszuprobieren.«
Ben schaltete das iPad an. »Und das geht definitiv heute um sechs Uhr über die Bühne?«
»Das vermute ich mal schwer.« Drake seufzte. »Mein Lippenlesen ist etwas eingerostet, aber es waren nur ein paar Worte. Und das passt zu den wenigen Fakten, die wir über den Louvre und Sleipnir kennen.«
»Nun, dann mach‘ mal Platz, alter Mann …« Ben ließ die Finger knacken. Jetzt, wo er sich nützlich machen konnte, statt zu fliehen, kam sein Selbstvertrauen wieder zum Vorschein, aber er war noch nie ein großer Fan von zu viel Action gewesen. Drakes Ansicht nach gehörte Ben zu der Sorte Menschen, die man mit ihrem Vornamen rief oder mit einem Spitznamen – meistens Blakey – und die nie cool genug waren, dass man ihren Nachnamen verwendete.
Wie zur Bestätigung setzte sich Ben auf und sah Drake besorgt an.
»Wieso sind die hinter uns her?«
Drake zuckte die Achseln. Er wollte nicht zu sehr ins Detail gehen, um seinen Freund nicht in Panik zu versetzen. »Einfach Pech«, sagte er. »Denen hat wohl nicht gefallen, dass ich Fotos von ihnen gemacht habe.«
»Aber woher wusstest du, dass die hinter uns her sein würden?«
»Hab ich nicht.« Drake legte die Stirn in Falten.
»Aber du hast doch letzte Nacht alles recherchiert, als wenn … als wenn …« Bens verhaltener Kommentar blieb unvollendet.
»Ich weiß, wie solche üblen Typen ticken«, gab Drake zu. »Und ich weiß, zu was die fähig sind. Und wie sie operieren. Um zu überleben, sollte man vorbereitet und denen immer einen Schritt voraus sein.«
Drake sah durch den Türspion. »Je länger die brauchen«, murmelte er, »desto besser unsere Chancen.«
Es dauerte länger als erwartet. Ben war nicht mehr ängstlich und intensiv mit dem iPad beschäftigt, als Drake ein halbes Dutzend breiter Kerle vor der gegenüberliegenden Tür stehen sah. Sie knackten das Schloss und betraten das Zimmer. 30 Sekunden später kam das Team wieder zum Vorschein, die Männer sahen sich verärgert um und schwärmten aus.
Drake machte ein entschlossenes Gesicht.
Ben sagte: »Das ist wirklich interessant, Matt. Es soll angeblich neun Teile von Odin geben, die auf der ganzen Welt verstreut sind. Einer ist das Schild, das Pferd ein weiterer. Das wusste ich gar nicht, aber das steht da alles.«
Drake hörte ihn kaum. Er dachte angestrengt nach. Die bösen Jungs waren vielleicht keine Special Forces, aber Ben und er steckten trotzdem in großen Schwierigkeiten, wenn die sie wirklich umlegen wollten. Sie konnten sich verstecken oder wegrennen, aber keine der beiden Optionen war nach Drakes Geschmack. Er wusste aus Erfahrung, wenn eine kriminelle Organisation den finsteren Plan gefasst hatte, jemanden zu finden, gab es nicht viel, was ihnen im Weg stand. Wer waren die? Nur Diebe, die den Schild verkaufen wollten? Oder waren Ben und er in irgendwas Größeres hineingestolpert? Er wusste nur, er wurde wegen etwas verfolgt, das er entweder gesehen oder auf dem Laufsteg geknipst hatte, und sein Instinkt riet ihm, ihnen einen Schritt vorauszubleiben. Dafür musste er herauskriegen, mit wem sie es zu tun hatten.
Schweigend trat er von der Tür zurück und tippte eine Nummer auf seinem Handy ein.
Der Anruf wurde beinahe sofort angenommen. »Ja?«
»Hier ist Drake.«
»Ich bin schockiert. Ist ja lange her, Kumpel.«
»Ich weiß.«
»Ich wusste doch, dass du noch mal anrufst.«
»Aber nicht, weshalb du denkst, Wells. Ich brauche etwas.« Er machte eine Pause und wartete auf die unvermeidliche Antwort. Wells war sein alter Kommandant beim SAS gewesen, und er war mit ihm in Kontakt geblieben, nachdem er das Regiment verlassen hatte. Er war einer der wenigen Menschen, von denen Drake wusste, dass er ihnen vollkommen vertrauen konnte.
»Natürlich tust du das. Also rede mit mir über Mai.«
Wells war vorsichtig und testete ihn mit einem vorher verabredeten Code, um zu sehen, ob Drake nicht bedroht wurde. Das Problem: Mai war eine alte Flamme aus Zeiten in Tschetschenien, Tokio und Thailand, bevor Drake Alyson geheiratet hatte – und nicht einmal Ben sollte Zeuge dieser alten, wohlgehüteten Geheimnisse sein.
»Codename – Shiranu, Ort – Phuket. Typ – mal sehen – gelegentlich exotisch … meistens tödlich.«
Ben spitzte die Ohren.
Wells klang vergnügt: »Exotisch? Ist das das Beste, was dir einfällt?«
»Im Moment – ja.«
»Jemand da?«
»Ja.«
»Alles klar. Okay, Kumpel, was willst du?«
»Ich muss die Wahrheit wissen, Wells. Ich brauche die unbearbeiteten Infos, die nicht in den Nachrichten und im Internet auftauchen. Die Wahrheit über den Diebstahl von Odins Schild und die Deutschen, die ihn gestohlen haben. Besonders über die Deutschen. Echte Aufklärungsdaten vom MI5 und SAS, nicht die Bröckchen, die man der Öffentlichkeit hinwirft.«
»Steckst du in Schwierigkeiten?«
»Gewaltig.« Seinen Commander log man nicht an, ehemaliger oder nicht.
»Brauchst du Hilfe? Sam, Jo und die Jungs würden sofort alles stehen und liegen lassen, um dir zu helfen. Natürlich inoffiziell.«
»Noch nicht.«
»Du hast dir die Hilfe verdient, Drake. Sag‘ nur ein Wort und die stehen auf der Matte. Jederzeit.«
»Werde ich.«
»Okay. Und übrigens – redest du dir immer noch ein, du wärst einfach nur beim guten, alten SAS gewesen?«
Drake zögerte. »Das ist zumindest eine akzeptable Erklärung, das ist alles.«
Er legte auf. Seinen ehemaligen Commander um Hilfe zu bitten war nicht einfach gewesen, aber Bens Sicherheit war wichtiger als jede Form von Stolz. Er linste erneut durch den Türspion, sah nur einen leeren Korridor und setzte sich neben Ben.
»Neun Teile von Odin hast du gesagt? Was soll das heißen?«
Ben zeigte auf das Display. »Nun … ich verfolge gerade die Spur dieser neun Teile. Nicht, dass sie sorgfältig versteckt wären oder so. Neun ist anscheinend eine besondere Zahl in der nordischen Mythologie. Odin hat sich selbst neun Tage und neun Nächte an etwas gekreuzigt, das man den Weltenbaum nennt, hat gefastet und hatte einen Speer in der Seite, genau wie Jesus Christus und das viele Jahre vor Jesus. Das sind Fakten, die von wirklichen Forschern zusammengetragen wurden. Es könnte sogar sein, dass diese Geschichte die Erzählung von Jesus Christus beeinflusst hat. Der Speer ist das dritte Relikt und steht in Verbindung mit dem Weltenbaum, auch wenn ich keinerlei Hinweise entdeckt habe, wo wir ihn finden können. Der legendäre Standort des Baums ist in Schweden. An einem Ort namens Uppsala.«
»Langsam, langsam. Steht da irgendwas über Odins Schild oder sein Pferd?«
Ben zuckte die Achseln. »Nur, dass der Schild einer der größten archäologischen Funde aller Zeiten war und um den Rand herum die Worte stehen: Himmel und Hölle sind nur vorübergehende Unwissenheit, es ist die unsterbliche Seele, die zum Richtigen oder Falschen neigt. Offensichtlich ist das Odins Fluch, aber niemand war bisher in der Lage herauszubekommen, was es bedeuten soll.«
»Vielleicht ist das einer dieser Flüche, die man einfach live erleben muss.« Drake grinste.
Ben ignorierte ihn. »Hier steht, das Pferd ist eine Skulptur. Eine weitere Skulptur, Odins Wölfe, steht im naturhistorischen Museum in New York.«
»Seine Wölfe?« Drake schwirrte langsam der Kopf.
»Er ritt auf zwei Wölfen in den Kampf. Anscheinend.«
Drake runzelte die Stirn. »Weiß man, wo all die neun Teile stecken?«
Ben schüttelte den Kopf. »Einige fehlen, aber …«
Drake unterbrach ihn. »Aber was?«
»Nun, es hört sich vielleicht albern an, aber da hat sich schon so eine Art Legende gebildet. Etwas darüber, dass man alle neun Relikte von Odin zusammenbringen soll und das Grab der Götter finden. Mehrere Gelehrte beziehen sich darauf.«
»Standard eben«, sagte Drake. »All diese antiken Götter sind von Legenden umgeben. Mich verwundern all die materiellen Bezüge auf Odin, wenn der Kerl doch ein Gott gewesen sein soll.«
Ben musterte ihn. »Schon mal von Euhemerismus gehört?«
Auf Drakes Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. »Euhemer-was?«
»Euhemerismus. Der Versuch, mythologische Bezüge und Figuren als eine echte Reflexion tatsächlicher historischer Ereignisse und Personen rational zu interpretieren. Die originalen Geschichten wurden umgeformt, übertrieben oder verändert, während jede davon wieder und wieder erzählt wurde. Viele Menschen glauben, dass es König Artus wirklich gegeben hat, aber er besaß sicher kein magisches Schwert und lebte in einem Märchenschloss. Die Legende wird zur Legende, indem sie reich ausgeschmückt wird. Euhemeros sagte, die Mythologie sei getarnte Geschichte. Das könnte die Bezüge auf Odin erklären.«
»Aber hat Odin nicht gelebt, lange bevor es Menschen gab? Sein Schild soll Millionen Jahre alt sein, sagt man.«
Ben zuckte die Achseln. »Wir dürfen nicht die historischen Verweise darauf vergessen, dass sich das Grab von Zeus auf Kreta befindet, von Pythagoras im dritten Jahrhundert entdeckt. Varro und andere haben das Grab auch schon für sich beansprucht, aber niemand war sich über des Ortes sicher.«
Drake seufzte. »Verdammte Schande, würde ich sagen.«
Ben nickte und sah auf die Uhr. »Auch Internet-Zauberer müssen mal was essen.« Er dachte eine Sekunde nach. »Und ich glaube, mir fallen gerade ein paar neue Songtexte für die Band ein. Wie wäre es mit Croissants und Brie zum Brunch?«
»Schinkensandwich hört sich besser an.«
Drake öffnete die Tür einen Spalt, sah sich um und gab Ben dann ein Zeichen, ihm zu folgen. Er sah das Lächeln auf dem Gesicht seines Freundes, aber auch die Erschöpfung in den Augen. Ben verbarg sie gut, aber er konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten.
Drake ging zurück ins Zimmer und verstaute alle ihre Habseligkeit in dem Rucksack. Während er die schweren Gurte festzurrte, hörte er, wie Ben leise »Hi« sagte und sein Herz schien einen Moment auszusetzen vor Angst, was ihm erst das zweite Mal in seinem Leben passierte.
Oh nein.
Das erste Mal war es an diesem schicksalsschweren Abend passiert, an dem Alyson ihn verlassen hatte und etwas von unüberbrückbaren Differenzen redete – du führst dich auf, als wären wir in einem verdammten Bootcamp. Es war der letzte Satz, den sie je zu ihm gesagt hatte, bevor sie bei dem Autounfall ums Leben gekommen war.
Er rannte zur Tür, jeder Muskel in seinem Körper angespannt, und sah dann das alte Ehepaar, das langsam den Korridor entlangging. Danke. Er atmete tief durch, fasste sich.
Aber Ben bemerkte das blanke Entsetzen in seinen Augen, eine Sekunde, bevor er es verborgen hatte. Dummer Fehler.
»Keine Sorge«, sagte Ben mit einem schmalen Lächeln. »Ich bin okay.«
Drake nahm einen zittrigen Atemzug und ging dann als Erster die Treppe hinab, alle Sinne gespannt. Er checkte die Lobby, sah keine Bedrohung und trat auf die Straße hinaus.
Wo war wohl der nächste kleine Seitenstraßenimbiss? Er wählte willkürlich eine Richtung und sie ließen den Louvre hinter sich.
Der dicke Mann aus München mit der Präzision eines Hirnchirurgen sah sie sofort. Er rief sich das Foto ins Gedächtnis und erkannte den kräftig gebauten und gut ausgebildeten Mann aus Yorkshire und seinen langhaarigen Freund in Sekunden. Er fixierte sie im Fadenkreuz.
Er verlagerte seine Position, der hohe Standort gefiel ihm gar nicht, genauso wenig wie der weiße Splitt, der sich ihm in die fleischigen Extremitäten bohrte.
In sein Schultermikro flüsterte er: »Hab sie im Visier.«
Die Antwort kam überraschend schnell. »Töte sie.«
Paris, Frankreich
Drei Kugeln wurden in schneller Folge abgefeuert.
Die erste wurde von dem Stahltürrahmen neben Drakes Kopf abgelenkt und flog als Querschläger die Straße entlang, traf eine alte Frau am Arm. Sie drehte sich um die eigene Achse und stürzte. Die Blutspritzer sahen aus wie ein Fragezeichen.
Die zweite peitschte an Bens Kopf vorbei.
Die dritte traf den Beton, auf dem Ben stand, eine Nanosekunde, nachdem Drake ihn wie ein Footballspieler zu Boden gerissen hatte. Die Kugel prallte vom Beton ab und schlug durch das Hotelfenster hinter ihnen.
Drake drehte sich um und zerrte Ben rückwärts hinter eine Reihe geparkter Autos. »Ich hab dich«, flüsterte er mit Nachdruck. »Weiter.«
Er versuchte den Kopf weit unten zu halten, aber erhaschte einen Blick durch ein Autofenster und nahm eine Bewegung auf einem Dach wahr, in der Sekunde, als das Fenster zerbarst.
»Beschissener Schütze!« Sein Yorkshire-Dialekt wurde deutlicher, wenn das Adrenalin ihn durchströmte. Er scannte die Gegend. Zivilisten rannten durcheinander, schrien, schufen jede Menge Ablenkung. Aber das änderte nichts. Der Schütze wusste genau, wo sie waren. Das war ein Profi.
Und er war sicher nicht allein.
Drake sah drei Typen, die er schon vorher beim Schlossknacken beobachtet hatte. Sie stiegen aus einem großen, dunkel lackierten Ford Mondeo und hielten entschlossen auf Ben und ihn zu.
»Zeit abzuhauen.«
Drake schlich seitwärts an zwei weiteren Autos entlang, bis zu der Stelle, wo er eine junge Frau gesehen hatte, die hysterisch in ihrem Auto weinte. Zu ihrer Überraschung machte er die Tür einen Spalt auf und hatte kurz ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so entsetzt ansah.
Er behielt ein Pokerface. »Raus.«
Immer noch kein Schuss. Die Frau krabbelte aus dem Wagen, die Angst hatte sie anscheinend halb gelähmt. Ben rutschte hinein und versuchte dabei so tief geduckt wie möglich zu bleiben. Drake folgte ihm eilig und drehte den Schlüssel.
Er atmete durch, legte einen Gang ein und schoss schräg aus dem Parkplatz heraus. Sie hinterließen eine Spur aus schwarzem, qualmendem Gummi.
Ben schrie: »Rue de Richelieu!«
Drake rechnete mit einer Kugel und fuhr Schlangenlinien. Er hörte den metallischen Knall, als sie am Motorgehäuse abprallte und weiter raste. Die überraschten Schlossknacker ließen sie am Straßenrand zurück und sahen, wie sie zu ihrem Auto eilten.
Drake riss das Steuer nach rechts, dann links und wieder links.
»Rue Saint-Honore«, rief Ben und reckte den Hals, um das Straßenschild zu sehen.
Sie gerieten in dichteren Verkehr. Drake versuchte, so schnell wie möglich zu fahren, und wechselte mit dem Wagen – zu seiner Freude als Autonarr ein alter Mini Cooper – ein ums andere Mal die Spur, dabei immer ein Auge auf den Rückspiegel gerichtet.
Der Schütze vom Dach war lange weg, aber der Mondeo war da und blieb an ihnen dran.
Drake bog rechts ab, dann wieder rechts – und hatte Glück mit der Ampel. Der Louvre sauste linker Hand vorbei. Das war nicht gut: Die Straßen waren zu belebt, zu viele Ampeln. Sie mussten aus dem Stadtzentrum von Paris raus.
»Rue De Rivoli!«
Drake warf Ben einen verwunderten Blick zu. »Wieso, verdammt noch mal, schreist du ständig die Straßennamen herum?«
Ben starrte ihn an. »Ich weiß nicht! Hilft es denn?«
»Nein!«, schrie Drake über den Motorlärm zurück, während er eine Nebenstraße nahm und die Rue De Rivoli rasend schnell hinter sich ließ.
Eine Kugel prallte vom Heck des Wagens ab. Das war gar nicht gut; die meinten es ernst. Diese Leute waren arrogant und mächtig genug, sich einen feuchten Dreck darum zu scheren, wen sie verletzen könnten, und sie hatten keine Angst vor den Konsequenzen.
Warum waren die neun Relikte von Odin so wichtig für sie? Während der Flugreise hatte er sich immer wieder gefragt, wie bedeutend dieser Trip war und wieso er dem allen weiter nachgehen sollte, aber innerhalb von 24 Stunden ein zweiter Versuch, sie umzubringen, zeigte überdeutlich, in welcher Gefahr sie schwebten. Ben und er waren eine Nummer auf der Kill-Liste eines Unbekannten – herauszufinden wieso, war eine Notwendigkeit.
Drake glaubte fest, dass es die Bilder waren, die er geknipst hatte, von den Männern, die diesen dreisten Raub begangen hatten, und weil er Körperbau und Statur des Kerls in Weiß festgehalten hatte. Das musste es sein – es gab keine andere Erklärung. Der Mann in Weiß und seine Söldnerfreunde wollten nicht erkannt werden.
Sie konnten sich nicht verstecken, und die würden nie aufhören, nach ihnen zu suchen.
Kugeln trafen Beton und Stahl, schossen in unvorhersehbaren Bahnen um den rasenden Mini herum.
In diesem Augenblick klingelte Bens Handy. Er fischte es umständlich aus der Tasche und sah dabei aus, als würde er sich gleich die Schulter verrenken. »Mom?«
»Scheiße.« Drake fluchte leise. Der Kerl konnte einfach keinen Anruf von seiner Mom ignorieren. Sie war stets gestresst und selbst ein verpasster Anruf konnte zu viel für ihre Nerven sein.
»Mir gehtʼs gut, danke. Und dir? Wie gehtʼs Dad?« Ben verzog das Gesicht, während er jeden Nerv in seinem Körper zwang, ruhig zu bleiben.
Der Mondeo kam langsam dem Heck des Mini näher. Blendende Frontlichter füllten den Rückspiegel, zusammen mit den Gesichtern der drei johlenden Deutschen. Die Bastarde schienen das zu genießen.