Heinz-Dieter Herbig
Die Meerschaumgeborene
Das kurze, dramatische Leben der Simonetta Vespucci
Eine Novelletta
Simonetta Vespucci war erst 17 und so schön, dass sie zum Spielball politischer Intrigen in Florenz wurde. 1476 wollte sie der Prinz von Neapel für sich allein als Liebessklavin haben und drohte andernfalls mit Krieg. Hilflos musste Botticelli mit ansehen, wie das Kind als Friedensgarantie geopfert wurde. Er wollte sie retten und wurde Zeuge einer so brutalen Vergewaltigung, dass Simonetta daran starb. Aus Scham. Mit 23 Jahren.
Durch ihren Tod entstand eines der schönsten Gemälde der italienischen Renaissance, das uns heute noch ergreift.
Durch diese Novelletta weiß man auch, warum.
© 2024 Heinz-Dieter Herbig
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN: 978-3-384-19088-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition
Mythos am Ligurischen Meer
Wie aus Zucker glänzte der romanische Palazzo Cattaneo in Portovenere durch Zypressen und Zitronenbäumen hindurch unter seinem roten Schieferdach in der prallen Mittagssonne des 17. Aprils 1458. Davor tobten ein älterer Adeliger und ein kleines Mädchen.
„Und jetzt den Esel!“ kreischte die Fünfjährige.
Onkel Piero sog die Luft tief ein …„Iiiiii“… und stieß sie wieder aus … „Aaaaaa!“
Da lachte Simonetta albern auf und fragte, ob man auch drauf reiten darf. Der Onkel machte seinen Rücken krumm; sie sprang hinauf – und los ging’s im Galopp hinaus bis zu den Klippen am Meer. Sie schmiegte sich an seinen Hals und fand den Ritt so wunderbar. Sie jauchzte. Sie liebte das Leben. Dort krochen sie zum Felsenrand und staunten: Meeresrauschen, Möwen kreischten …
„Siehst du den Schaum da unten?“ raunte Onkel Piero nun geheimnisvoll.
„Ja“, raunte sie zurück, „Was ist damit?“
„Dort wurde eine Göttin geboren, die uns heute noch verwöhnt und quält …“
„Welche Göttin denn?“
„Pst!“, wisperte er, um den heiligen Schaum nicht mit Tönen zu besudeln, „Portovenere heißt ‚Hafen der Venus …“
„Und weshalb quält sie einen so?“, hauchte Simonetta nur noch.
„Weil wir ihre Schönheit nicht ertragen können. Wenn etwas wirklich schön ist, das tut weh. Dir rast das Herz; die Gedanken flattern wie die Möwen da drunten am Strand. Du schläfst nicht mehr, weil eine Sehnsucht deinen Bauch aushöhlt, die du nicht wie Hunger stillen kannst. Du atmest immer schwerer. Und dann …“
Da wurde Simonetta vom Palazzo aus gerufen. Also schnell wieder auf Onkel Pieros Rücken zurückgaloppiert.
Vor Besorgnis hatte die Mutter, rund gebaut mit einem lieblichen Mausgesicht zwischen schwarzen Ringellöckchen, unter den Bögen der Arkaden mit beiden Händen über den Augen nach ihr Ausschau gehalten.
„Piero!“ staunte Cattochia Cattaneo dell Volta, „was wollt Ihr denn hier?“
Er lud die süße Last von seinem Rücken.
„Euch warnen! Ihr seid in Gefahr!“
Sie gingen rasch ins Haus; die kleine Simonetta hinterher. Viel verstand sie nicht; nur ein Wort ragte aus den Wogen der Warnung hoch empor: Die Medici – grell wie die Sonne, die uns nicht nur wärmt und bräunt …
„Aber wir schulden ihnen schon zu viel!“, klagte die Mutter.
„Das ist es ja. Sie brauchen Geld. Der König von Neapel droht mit Krieg; deshalb treiben sie die Schulden jetzt gnadenlos mit Söldnern ein. In Fiesole haben sie schon ganze Villen ausgeräumt und die Bewohner massakriert oder vertrieben. Nächste Woche sind sie hier. Oh Santa Maria, diese Sonne ist die Sünde, Cattochia. Sie wird uns noch alle versengen.“
„Mama“, wollte Simonetta wissen, „was ist die Sünde?“
Da hob er sie zu sich empor …
„Wenn du groß bist, hol ich dich nach Florenz. Dort wirst du die Sünde kennenlernen“, er küsste ihre linke Wange, „Und wenn du dann so schön wie die Venus aus dem Meer sein wirst, dann zeigen wir’s den bösen, bösen Medici …“
Er sprang aufs Pferd und ritt davon.
I.
1.
Schon tags drauf floh die Familie nach Piombino am Tyrrhenischen Meer in ein altes und ziemlich bröckliges Haus am Porte Felesia mit Blick auf Elba. Eng waren die Gassen inmitten römischen Gemäuers. Hier wird der Stein zum Backstein in der Sonne. Hier stirbt man an Langeweile und nicht an seinen Schulden. Außerdem stank es hier nach faulem Fisch.
Zwar tauchte Onkel Piero immer öfter auf. Aber er hatte keine Zeit mehr für die heranwachsende Göttin. Er verschwand mit dunklen Kapuzenmännern im Weinkeller; mit den Pazzi und Capponi, den Salviati und Riario. Dort brodelte eine Verschwörung gegen die Medici.
Denn ihr Ruf war mit der Zeit immer bedrohlicher geworden. Sie untergraben die Demokratie. Sie morden meuchlings mit einem Lächeln auf den Lippen und erpressen dich mit deinen Schulden. Dabei soll Florenz unter ihrer Fuchtel zu einer Weltmetropole aufgeblüht sein. Maler, Poeten und Bildhauer verschönern die Stadt. Und der Dom hat eine Kuppel bekommen, so rot und rund wie der Vollmond in einer Sommernacht. Ja, eine ganz neue Moral soll daraus hervorgewachsen sein … „Genießt das Leben!“ hieß es neuerdings, nachdem im Mittelalter nur gebüßt und gebetet worden war. Ein Ruf, der bis ans Tyrrhenische Meer gedrungen war und in der neunjährigen Simonetta eine Sehnsucht weckte, so süß wie der Ritt auf ihres Onkels Rücken. Was ist die Sünde? Funkelt sie genauso gefährlich wie die Medici?
Onkel Piero hatte ihr mal ein Medaillon seines Erzfeindes gezeigt.
„So sieht sie aus, die böse Sonne.“
Schwarze Locken und eine Nase, groß wie die Nase eines griechischen Gottes, der sich in einen Stier verwandelt hatte, um Simonetta auf seinem Rücken zu entführen: Giuliano de’ Medici … Ist dann die Sehnsucht eine Sünde, die immer heftiger mit ihrem Körper wuchs … nicht nach Onkel Piero, obgleich sein verschwitztes Gesicht dahinter manchmal auftauchte, sondern nach jenem Höllenparadies am Arno, wo die Häuser viel prächtiger und die Farben noch bunter sein müssen.
Bald träumte sie von immer wilderen Ritten ans Meer und fand dort die Venus gar nicht mehr so fromm, im Gegenteil: Schauer durchrieselten sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, warm und immer wärmer wurde ihr ums Herz.
Kaum war sie elf, explodierte etwas in ihr nach heiß durchträumter Nacht. So süße Säfte hatten sich in ihr zusammengezogen, innig, wohlig, dass Gott sie dafür bestrafen musste. Blut im Bett! Es tat auch weh. Was hatte sie da angestellt?
Die ganze Bettwäsche war so dunkelrot durchtränkt, dass sie in ihrer Panik der Mama alles beichtete; sie wäre auch freiwillig in ein Kloster gegangen, um in aller Ewigkeit zu sühnen. Doch Gott verblüfft, wenn er nicht straft: die Mutter schimpfte nicht. Im Gegenteil! Vergnügt verkündete sie ihrem Ehemann am Frühstückstisch:
„Gott hat unser Gebet erhört, Gaspare! Simonetta kann endlich heiraten. Wir sind sie los!“
Halleluja! Dem Vater leuchteten die Augen auf. Ja, er betrachtete sie mit einem Mal so merkwürdig entzückt, dass ihr ganz schummrig davon wurde.
„Was redest du denn da?“ rief er aus, „das Kind ist jetzt so schön geworden“ – er dehnte das Wort „schön“ wie die Wehmut eines schmachtenden Sängers zur Mandoline – „da können wir sie doch nicht einfach so ‚verheiraten’. Ah! Bah! Da müssen wir den höchsten Preis aushandeln!“
Oh, er hatte Hoffnungen auf seine Tochter, der Papa Gasparone. Er brauchte Geld, viel Geld. In Portovenere hatte er Olivenbäume und Weinhänge zurücklassen müssen. In Piombino lebte er vom Fisch. Reich wird man davon auch nicht. Auch stinken tut’s gewaltig.
Entzückt starrte er den verwirrten Engel an.
„Wir werden sie in pures Gold verwandeln! Wir verheiraten sie in die höchsten Kreise Italiens hinein! Da reicht es nicht zu beten, die Mandoline zu spielen oder zu sticken, geliebtes Kind – dafür muss man …“ – er benutze ein Wort, von dem er selbst kaum eine Ahnung hatte – „geistreich sein, mitreden können! Man muss …“, er spitzte seine Lippen, um das Kostbarste herauszuflöten, „gebildet sein!“
2.
Aber wie macht man jemanden geistreich, der eigentlich nicht zur Nachdenklichkeit neigt und nicht mal liest, weil er nicht lesen kann? Man besorgt ihm einen Lehrer – was gar nicht mal so teuer war.
Ronaldo Rocculini kam aus dem kleinen Dorf Sulmona in den Abruzzen, (heimlich von den Cattaneo-Kindern als „Abruzzen-Zwerg“ verlacht): ein dürres Männlein auf krummen Beinen, 32, mit wenig grauen Haaren über leuchtenden, sehr klugen Augen und einer nasalen Stimme. Er war sofort von der Vierzehnjährigen entzückt und …
… flog mit ihr in den Gedanken bis zum Himmel hinauf. Da siehst du, was die Sünde ist, mein Kind: ein Tanz der Sterne! Sie verbergen sich, solang die Sonne scheint. Doch kaum erklimmt der Mond das schwarze Firmament, funkeln sie wie die Verheißung. Dort hinten aber, dieser strahlendste Stern, ist zugleich ist die allerschlimmste Sünde: „Venus“ wird er hier unten genannt.
„Ich dachte, sie wäre eine Göttin und käme aus dem Meer?“
„Das wurde sie in der Griechischen Mythologie, wo man das Weltall mit unserer menschlichen Seele versehen hatte.“
„Und was ist an ihr so sündig?“
„Weil Dass sie uns permanent betrügt …“
Das klang verheißungsvoll genug. Denn seit Filippo Brunelleschi vor ein paar Jahren die Perspektive entdeckt hatte, begreifen wir: Nichts ist so, wie es aussieht. Schräg scheint ein Schrank, sobald man ihn von halber Seite sieht. Und was ist die Zeit? Sie rinnt dahin und macht uns immer älter und wird nicht mal gesehen. Dagegen war schon um 1430 in Spanien die erste Uhr mit Federantrieb erfunden worden. Seitdem tickt die Zeit. Kannst du sie hören?
„Wir leben mitten in einer Revolution, Simonetta“, rief der inspirierte Lehrer aus, „Seit der Brille sehen wir schärfer, dank des Sprengstoffs sind wir stärker, und mit Öl malen wir, als hätte uns Gott einen Pinsel in die Hand gedrückt. Wir schaffen uns auf der Leinwand eine Welt, die uns gefällt. Das ist der Sinn der Sünde, Simonetta: Wir täuschen, tricksen und betrügen … am allerliebsten uns selbst. Und ab heute …“ – er sah ihr verschwörerisch in die Augen – „trickst und täuschst du munter mit …“
Er brachte ihr also nicht nur Lesen, Schreiben und die wundersame Kombinierbarkeit von Zahlen bei; er schürte ihre Eitelkeit. Wie guckt man, wenn man schön sein will? Wie glättet man seine Haut durch duftende Essenzen? Und das Wichtigste: Wie bewegt man sich bei Hof? Da trampelt man nicht watschelnd über Marmorböden. Man schwebt. Man eignet sich einen so aufrechten Gang auf Zehenspitzen an, als berühre der Fuß den Boden kaum.
Er machte es ihr mit ausgestreckten Armen vor. Und siehe da: der Zwerg wirkt plötzlich elegant – ja schien seine Größe zu verdoppeln dank hoher Sohlen, die er erfunden hatte … für Simonetta zur Unterstützung ihres elfengleichen Gangs auf Zehenspitzen und für sich zur Verlängerung seiner allzu kurzen Beine. Man schwebt drauf nicht nur elfengleich, man fühlt sich auch viel leichter … Die Anmut war geboren.
Das bündelte der Abruzzen-Zwerg in seinem berühmten
Trattato sulla natura del femminile,
einem „Traktat über das Wesen des Weiblichen.“ Von Simonetta inspiriert schuf er darin das Idealbild einer Frau – die nicht nur Kinderpopos abwischt oder einem Mann gehorcht, sondern aus den komplizierten Windungen ihres Hirns und Herzen, wo die widersprüchlichsten Gefühle hausen, die Welt entdeckt. „L’intelligenza“ … ist nicht umsonst weiblichen Geschlechts. Er schuf: Das feminine Zeitalter, das bald die gesamte Renaissance ausmachen wird.
3.
1472 war ein Hochzeitskandidat aufgetaucht. Nero Ferraro stammte aus der Lombardei und war dort mit der Herstellung von Zirkeln, Linealen und allerlei geometrischen Geräten zur Berechnung der Welt zu Geld und Ansehen gekommen. Schön war er nicht, auch nicht besonders klug; schmächtige Figur, verschlagener Blick, kurzes Stoppelhaar und präzise Vorstellungen:
Geld ist Zeit in Zahlen
Rasch hatte er sich reich gerechnet – geriet jetzt jedoch ins Schwitzen. War der blanke Blick von Simonetta, der Wuchs ihrer Taille gleich einer Pinie und Brüste, rund wie Weintrauben, 70 Goldflorin wert, die Papa Gaspare für sie haben wollte? (Davon könnte man sich schon eine Segelfregatte leisten, vielleicht sogar ein kleines Haus am Meer.)
Zwar schmolzen seine Zahlen wie Wachs in der Sonne, wenn sie ihn ansah. Aber wer kann sich sowas leisten? Der Schwiegervater drängte schon. Ein zweiter Hochzeitskandidat war aufgetaucht, schöner und reicher. Da schlug er ein – und geriet erst recht ins Schwitzen: Ein Ochse wurde geschlachtet, Fasanen gerupft, Früchte kandiert, Wein in Fässern aus Chianti herabgerollt, Musikanten verlangten ein Vermögen für ihre Dudeleien …
So eine Hochzeit in der Toskana mag zwar das Fest aller Feste unterm Sternenzelt sein und du hast die schönste Frau Italiens (mit Kirchengarantie für ihre Treue) in deinem Bett, aber das Geld, das schöne, schöne Geld! Herr im Himmel: Ihm zerplatzte schon der Kopf von all den tropfenden Zahlen aus Wachs …
Noch verzweifelter war Simonetta. Drunten im Keller hatte die Verschwörung gebrodelt – immer giftiger und lauter. Bis es gekracht hatte. Schwerter hatten geklirrt und Weinfässer waren gerollt. Plötzlich blieb der Onkel fort. Seit Wochen schon …
Und so tat sie etwas, das eine katholische Kaufmannstochter im Bereich des Fischgewerbes niemals tun darf, um das Heil ihrer Seele zu bewahren: Sie schrieb heimlich einen Brief nach Florenz:
„Habt Ihr mich total vergessen, Onkel Piero – während ich hier eine Rechenmaschine heiraten soll? Hat Euch die böse Sonne in Florenz schon ganz versengt? Und was soll aus Eurer armen Simonetta werden?“
4.
Dieser Brief, der all ihre Hoffnungen und Ängste enthielt, flatterte in eines der prachtvollsten Eckpaläste von Florenz: in die Villa Vespucci im Borgo Ognissanti, nahe am Ufer des Arnos.
Piero Vespucci war zu Geld gekommen. Durch Verrat an seine eigene Verschwörung. Bestochen von den Medici, war er mit geblähten Segeln in den fernen Orient gereist … und hatte von dort so exotische Gewürze, weiche Wolle, Seide und Gemälde von einer Farbenpracht nach Hause gebracht, als hätte Gott dort die Landschaft noch bunter ausgemalt als in Florenz.
Der Orient! Die Entdeckung des Eros aus den Wogen des Islam – wo das Schachspiel und das Haremskonfekt, „Marzipan“ genannt, erfunden worden waren. Sie hatten ein medizinisches und mathematisches Wissen, von denen man im ausgehenden Mittelalter nur träumen konnte. Die Vereinigung von Geist, Religion und Sinnlichkeit – das muss das Paradies auf Erden sein. Piero Vespucci, der Onkel des berühmten Amerigo Vespucci, nach dem Amerika benannt wurde, hatte Marokko für Florenz entdeckt.
Geblendet stand der junge Lorenzo de’ Medici vor der Pracht des schrägen Halbmondes und bekam eine Ahnung, was noch alles aus seiner Heimat werden könnte.
„Du bist ein Sohn der Stadt“, hatte er Piero genannt und damit in die Reihe der Privilegierten unter dem Wappen der Medici … den fünf roten Kugeln auf goldenem Grund über einer blauen Kugel, die drei goldene Lilien enthält … aufgenommen. Er schenkte ihm drei Segelfregatten, richtete ihm den Palazzo Inconti in der Via de ’Servi und die Villa Ridolfi („Il Ronco“) in der Via San Felice a Ema ein – und hielt ihn so, wie alle seine Feinde, unsichtbar in Schach.
Vespucci war unter die Kaufleute geraten.
Aber darunter brodelte noch immer seine revolutionäre Seele: Jetzt wollte er Florenz merkantil erobern. Er wollte die Pracht von Lorenzo, dem Prächtigen, überbieten – und zwar mit der Verführung unserer Augen, mit Gemälden. Das hatte er vom Orient gelernt: Bilder dringen unmittelbarer in deine Seele ein als das Wort; du siehst, was du noch nie gesehen hast, weil’s gar nicht existiert. Aber deine Phantasie bekommt ganz neue Farben. So war es ihm gelungen, den berühmten Sandro Botticelli in seinem Palazzo zu beherbergen. „Dein Pinsel, Bruder Botticelli, soll von nun an meine Waffe sein.“
Da kam Simonettas Brief gerade recht. Sein Sohn Marco war nämlich in eine Affäre geschlittert, unschön, peinlich, fast fatal; wenn das herauskäme, wären die Vespucci ruiniert gewesen. Deshalb plante der gewitzte Onkel:
Die böse Sonne wird vor Neid erblassen, wenn ich zwei Märchen, das Märchen von der knospenden Lilie vom Lande – die Lilie im Wappen von Florenz gilt als Symbol der Reinheit, Schönheit und Vergänglichkeit – und das Märchen vom Zauber des Orients, in ein rauschendes Fest auf dem Turnier zu Ehren von Lorenzo, dem Prächtigen, vereinige.
5.
Er stattete seine größte Fregatte mit den üppigsten Genüssen des Orients aus und reiste mit geblähten Segeln nach Piombino am Golf von Tyrrhenòs.
Dort läuteten gerade die Glocken der Concattedrale di Sant’Antimo zu einer Hochzeit auf dem Lande; gerade betraten die Brautleute die vollgefüllte Kirche, während der Chor das „Alleluja“ von Antonio Squarcialupi von beiden Emporen aus sang. Da unterbrach die Kunde von einem fremden Schiff im Hafen den frommen Gesang. Man wusste ja nie, ob Freund oder Feind; vielleicht musste man sein Leben retten?
Gerade wollte Monsignore Petucci mit erhobenen Händen das Sakrament der Liebe beschwören, da flog das Portal zur Kathedrale auf, die Sonne prallte grell ins dunkle Kirchenschiff – und ein kräftiger, bärtiger Mann betrat in blaugoldgestreiften Pumphosen über schwarzen Strumpfhosen wie der Schatten Gottes die Kirche. Ihm folgten schwarze Diener mit großen Kisten voller Gold und überquellender Früchte auf dem Buckel. Piero Vespucci, der berühmte Vertreter des Paradieses in der Toskana, kniete vor Cattochia und Gaspare Cattaneo nieder und rief aus:
„So darf man seinen Schatz nicht verschleudern, den Gott Euch gab!“
„Onkel Piero!“ rief Simonetta und flog ihm vom Altar herab um den Hals. Nein, er machte nicht „I-A“ und ritt auch nicht mit ihr auf dem Rücken über alle Bänke hinweg aus dem Gotteshaus hinaus. Aber er wirbelte sie so beglückt herum, als wäre ihr Leben bald ein Karussell, das immer schneller kreist.
„Ich komme im Auftrag von Florenz“, lachte er, „und meines Sohnes Marco, der schon soviel von dir gehört hat, dass er keine Nacht mehr richtig schläft!“
„Signor!“ empörte sich da Nero Ferraro vom Altar herab, „Die Braut ist mein!“
„Dein ist das“, rief Piero zurück und wies auf seine Kisten, „zähl nach, ob sich der Handel lohnt.“
Und so hockte er, der Igel aus der Lombardei, mit heißem Kopf über den Kisten und rechnete sich aus, wie gewinnbringend der Verzicht sein kann.
II.
Da stand sie mit wehenden Locken auf dem Bug von Pieros Fregatte, die mit geblähten Segeln in den Hafen von Marina di Pisa einfuhr, und staunte: Woher die vielen Leute am Hafen, die jubelten, als käme sie vom Himmel herab? Wer kannte sie überhaupt? Oder war ihr das heikelste Nachrichtensystem der Welt vorausgeeilt, das eine Botschaft durch die Winde zu verbreiten scheint: das Gerücht, das nicht umsonst so ähnlich wie „Gerüche“ klingt – genauso wenig kann man’s fassen, essen und beweisen.
Auf hohen Hacken schritt die Fünfzehnjährige vom Schiff herab, als schwebte sie, an Land; die Augen sittsam zu Boden gesenkt, am ganzen Körper zitternd. Da verstummte die Masse und bildete ein Spalier zur Kalesche. Wenn je der Geist einer Epoche in eine Menschengestalt geschlüpft ist, wenn wir alle nur Ausdruck eines Zeitgeistes sind, dann stieg dort die aufkeimende Renaissance höchstpersönlich in eine Kutsche aus schwarz lackiertem Zedernholz.
Auf der Fahrt nach Florenz sah sie durchs Fenster der Kutsche von Fiesoles Anhöhe herab: den hohen, schlanken Glockenturm von Giotto und die rote, runde Kuppel vom Dom …
… eine Meisterleistung architektonischer Feinberechnung: die Bildung der Spitze durch emporstrebende Rundbögen, die ihre statische Stabilität nur durchs eigene Gewicht erhält. Lang vor Newton muss Filippo Brunelleschi (der ja auch die Perspektive entdeckt hatte) die Schwerkraft herausgefunden haben. Denn die Verstrebungen stützen sich gegenseitig, das Eigengewicht fügt alle verzahnten, dreieckigen Ziegelsteine ineinander – und schon ragt in den Himmel, was eigentlich zusammenstürzen müsste. „Er hatte den Himmel herausgefordert“, staunte Vasari über ihn. Und wirklich: Das wahre Wunder unserer Welt sind die Naturgesetze.
Kaum hatten sie das Stadttor San Gallo passiert, läuteten alle Glocken in Florenz – natürlich nicht ihretwegen, sondern zu Ehren Johannes des Täufers, dem Schutzpatron der Stadt, und zur Vorbereitung eines Turniers, das Florenz schon damals weltberühmt gemacht hatte. Seitdem florierte der internationale Handel. Seitdem strömten alle Rassen und Nationen nach Florenz. Schon jetzt, zehn Tage davor, gärte es in den Straßen, als würde bald was Wunderbares kommen.
Überwältigt schob Simonetta das Fenster herunter und steckte ihren Lockenkopf heraus. An Marktständen und botteghe vorbei – kleine, offene Werkstätten, die neben den prächtigen Palazzi und Tavernen das Stadtbild prägten – ratterte ihre Kutsche durch Arkaden und Steinbögen hindurch; sie sah spätmittelalterliche Tuchfabriken, Mühlen und Kiesfischer am Arno. Überall wurde gebaut und gehandelt, verkauften Frauen Fische, Vasen und Gardinen, Kinder spielten auf den riesigen Plätzen mit bunten Bällen aus Lederresten. Aber am seltsamsten kam ihr der Ponte Vecchio vor, wo Kaufläden wie Bienenwaben an der Brücke hingen. Alles lebte, stank und glitzerte in der Nachmittagssonne.
Ein Blumenhändler sah ihr staunendes Gesicht mit den flatternden Locken und schenkte ihr im Vorüberfahren eine weiße Lilie und rief: „Willkommen du Schönste aller Schönen in der schönsten Stadt der Welt!“ schrie er ihr nach, „Hier wird gehurt und gebetet, gelacht und gelogen. Von hier aus fährt man direkt in die Hölle.“
Sie wurde bleich und konnte sich kaum davon erholen; schon ging’s vom Arno aus nach links empor: Da stand sie, die Villa Vespucci an der Ecke zum Borgo Ognissanti mit versammelter Dienerschaft vorm Portal. Die Kutschentür flog auf.
Da kam er ihr entgegen, der Prinz ihrer Hoffnung. Aber je näher er kam, desto beklommener wurde ihr Blick. Sein Bauch wurde immer runder, sein Blick immer glubschiger. Oh Santa Maria, war das ihre Zukunft in Florenz?: eine fettleibige, verschämte Bulldogge mit vollen Lippen und schwarzem, krausem Haar. Entsetzt sah sie zu ihrem Onkel hoch.
„Du sollst ihn nicht lieben, schönes Kind, du sollst ihn heiraten! Er öffnet dir das Tor zum Höllenparadies.“
Da begriff sie, was hinter dem Pathos der Entführung steckt: die Schönheit ist ein Instrument zur Macht – nur dazu da, um das Volk zu blenden: Kunst, Religion und Politik dienen dieser Gottheit. Deshalb wurde sie nach Florenz entführt. Daher die Schätze zu ihrer Befreiung.
Piero Vespucci hatte Lorenzo de’ Medici ins rechte Ohr geflüstert: „Dieses Kind wird Euren Glanz erhöhen. Aber das geht nur, wenn sie nicht an Eurer Seite als Hausfrau oder Geliebte, sondern haarscharf daneben, als meine Schwiegertochter ein Spannungsverhältnis zwischen Eurer und meiner Familie aufbaut, das diese Stadt in Atem hält. Wie die Kuppel vom Dom nur auf ein Spannungsverhältnis durch das Gewicht aus Schwerkraft beruht. Bewundert sie! Aber liebt sie nicht! Hebt sie auf den Podest Eurer Verehrung! Aber rührt sie nicht an. So wird sie in den Augen des Volkes eine Göttin werden. Und Florenz hat ein lebendiges Symbol, so schön wie die Stadt.“
So und nur so hatten die Medici ihre Machtpolitik entfalten können: als pure Augenwischerei.
Dann, dachte Simonetta, muss die Hochzeit nicht unbedingt das Ende einer großen Leidenschaft bedeuten. Im Gegenteil! Ich heirate Florenz! Da kommt es auf den Bulldoggen an meiner Seite gar nicht an. Bald werde ich die Medici kennenlernen – und Giuliano … der ja als Stier schon längst in meinem Herzen wohnt.
So schritt sie an der erhobenen Hand von Marco Vespucci in den Palast – und war überwältigt von der Pracht des Hauses. Schränke aus der Bourgogne, Teppiche aus Isfahan, bunte Tapeten und ionische Säulen waren nur die äußeren Merkmale einer gehobenen Lebensart, die dein Herz ausweitet. Man muss nur von einer Fruchtschale voller Äpfel, Datteln und Weintrauben naschen und sich tief aufatmend auf eine Daunenmatratze ausstrecken, um den Sinn von Luxus zu begreifen: Warte nicht aufs Paradies im Jenseits! Hier plätschert der Fluss und zwitschern die Vögel! Hier weht der Wind durch die Pinien und Zypressen! Sperr deine Augen auf und lausche: das ist die Renaissance.
1.
Acht Tage vorm Turnier wurde geheiratet – pompös in der Basilica di San Lorenzo. Schon die Kirche ist pure Augenwischerei.
Kommt man rein, scheint das Schiff durch die Arkaden so lang gezogen, als gäb es gar kein Ende. Ja, innen wirkt die Kirche viel größer als von außen. Wie kann das sein? Filippo Brunelleschi hatte die linearen Verhältnisse des Raums ganz auf den Betrachter zugeschnitten. Die Wände weiß, das Licht ganz hell; hier besticht nur das Spiel mit Raum und Räumlichkeit. Kaum Farben. Keine Fresken. Und dann die Orgel: aus gepumpter Luft durch Pfeifenröhren entsteht ein Klang, als brause Gott vom Chorgebälk herab.
Simonetta war total verwirrt und liebte zugleich die Täuschung. Sie hebt einen hoch, sie macht einen froh, ich möchte fortan nur noch täuschen und getäuscht werden. Denn die Täuschung, das muss die Sünde sein …
Sie fing gleich damit an. Wieder kniete sie andächtig vorm Altar. Wieder beschwor der Erzbischof Rinaldo Orsini mit erhobenen Händen Gott und die Liebe. Und wieder flog das Portal zur Basilika auf, die Sonne prallte grell ins dunkle Kirchenschiff.
Ein junger Mann setzte sich in die erste Reihe, links seitlich vom Altar, schlug seine schlanken Beinen in schwarzrotgelbgestreiften Strumpfhosen übereinander: Giuliano de’ Medici, das Herz von Florenz – schwarze Locken, kalter Blick und eine Nase, die gut und gern das Doppelte einer gewöhnlichen Nase aufwies, aber so schlank und geschmeidig, wie sich auch Lippen, Kinn und Wangen zu einem Ausdruck fügten, der merkwürdig harmonisch wirkt. Er maß sie ab mit kühlem Blick. Er rechnete – nicht mit Zahlen, sondern mit jeder Pore ihrer Haut. So muss man sein, um in Florenz zu blühen. Alles wird berechnet. Sogar die Leidenschaft.
Ob das wohl „florentinisch“ war? überlegte Simonetta, während sie auf die Frage des Erzbischofs mit sittsam gesenkten Augen „Si“ hauchte. Ja, könnte man fortan nicht jene Balgerei, die man gemeinhin Liebe nennt und für die es nur vulgäre Namen gibt, „florentisieren“ nennen?
Dann will ich von Giuliano so florentisiert werden, dass ich durch ihn alles sehe: wie raffiniert berechnet die Basilika von Innen ist und wie bunt die Menschen gekleidet sind, die flackernden Kerzen auf dem Altar und die Sonnenstrahlen, die durchs Kirchenfenster dringen.