Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Frauen, Leben, Freiheit" – die Schlagwörter wühlen auf. "Liebe" müsste noch hinzugefügt werden, die im Iran am meisten unterdrückt wird. Wie hat es mit diesem wunderbaren Land so weit kommen können? – das schilderte mir die 17-jährige Fattaneh Mâllaha. Sie war 1987 nach Deutschland geflohen, musste aber bald wieder zurückkehren, um ihren Verlobten aus dem grausamsten Staatsgefängnis des Orients zu befreien: Evin. Ein authentisches Abenteuer wie aus Tausendundeine Nacht. Wir lernen den Islam "von innen her" kennen. Fatans Innigkeit führt wie ein unterirdischer Strom zu einem Leseerlebnis, das stärker als ein Film sein kann. Denn"Islam" bedeutet wörtlich "Hingabe". Und das ist der Roman.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 345
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Heute schockiert der Iran. .Dabei war er mal die Wiege des Abendlandes gewesen. Wie hat es so weit kommen können? – das schilderte mir die 17-jährige Fattaneh Mâllaha. Sie war 1987 nach Deutschland geflohen, musste aber bald wieder zurückkehren, um ihren Verlobten aus dem grausamsten Staatsgefängnis des Orients zu befreien: Evin.
Ein authentisches Abenteuer wie aus Tausendundeine Nacht. Die Pracht der Moscheen, die melancholische Heiterkeit der Iraner, die Schönheit des Menschenschlags und eine Natur zwischen Alborzgebirge und Kaspischem Meer, wie von Gott geküsst. Wer nie in einer Wüste war, ahnt nicht einmal: am Rand zum Tod vertieft sich euer Leben – all das erlebt man nicht nur im Iran, sondern auch hochkonzentriert in diesem Roman.
Heinz-Dieter Herbig, 1951 in Fleckeby/Schleswig-Holstein geboren, schrieb Hörspiele, Essays, „Mythos Tod“, „Die Exzessiven“, ein Fernsehspiel, den Roman „Hitlers Nichte“; konträr dazu das Theaterstück „Herzilein – kein Volksstück“ über die Macht der Medien, das durch Lisa Fitz populär geworden ist und seit über fünfzehn Jahren in diversen Theatern, auch in Österreich und in der Schweiz, gespielt wird. Er lebt in Köln und entdeckt im höheren Alter immer mehr die unergründlichen Tiefen des Schreibens.
Heinz-Dieter Herbig
Fatan
Der liebenswerte Orient
Roman
© 2024 Heinz-Dieter Herbig
Druck und Distribution im Auftrag des Autors
Cover von Shima Abedinzade über Pixabay
Coverbearbeitung & Design: Lokman Berzati
Verlag: [email protected]
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN: 978-3-347-97883-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition
Für Fatan,die das alles überlebt hat
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Erster Teil
Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Zweiter Teil
Kapitel I.
Kapitel II.
Kapitel III.
Kapitel IV.
Kapitel V.
Kapitel VI.
Kapitel VII.
Kapitel VIII.
Kapitel IX.
Kapitel X.
Dritter Teil
Kapitel I.
Kapitel II.
Epilog
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Kapitel I.
Epilog
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
273
274
275
276
277
278
279
280
281
282
283
284
285
286
287
288
289
290
291
292
293
294
295
296
297
298
299
300
301
302
Erster Teil
Noch war die Sonne über Isfahan nicht aufgegangen; noch lagen die türkisblauen Kuppeln der Moscheen blass in der Morgendämmerung. Da schlichen zwei dunkle Gestalten zu den beiden Minaretten Menār Jombān vom Mausoleum des Amu Abdollah Soqla.
„So komm doch, so komm!“ flüsterte das Mädchen erregt, „das musst du erleben, sonst wirst du’s mir nicht glauben!“
Sie zog ihn in den linken Turm. Hintereinander huschten sie die enge Wendeltreppe hoch zu einem kleinen Raum, der vom Mond hellblau beleuchtet war. Hier umarmten und küssten sie sich …
… und das Unglaubliche geschah: allmählich passte sich Menār Jombān – „der schwankende Turm“ – ihren Bewegungen an. Er schaukelte das Paar in eine Leidenschaft hinein, die hierzulande streng verboten war. Gerade löste sie ihre Haare auf …
Da fielen Schüsse. Im Nu war der Turm von pasdarans, den „Söldnern Gottes“, (wie sie sich selber nannten) umzingelt. Sie wurden aus dem Turm gezerrt.
„Dast-awiz! Dast-awiz!“ schrie ein Soldat.
Ali wehrte sich und wurde mit Gewehrkolben zusammengeschlagen.
Nur Fatan konnte fliehen – während die Muezzins von den Minaretten aller schiitischen Länder herab riefen:
„Ashâdu an la ilâhâ illâ llâh –
Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet –
und Ali sein einziger Erbe.“
I.
1.
Fatanneh floh mit ihrer Mutter am 17. Dezember 1983 über Pakistan nach Deutschland und landete in einem Kölner Asylantenheim: düster, dreckig, kalt und nass.
„Fatan, ist das richtig, was wir tun?“
„Das weiß ich nicht, Mama.“
Um Mitternacht, als ihre Mutter vor Erschöpfung eingeschlafen war, kniete die 17-jährige auf den feuchten Betonfußboden nieder und weinte. Durch ihre Tränen sah sie den schrägen Halbmond hinterm Fenstergitter und schrie ihn an, weil sie Gott in ihrer Angst und Wut nicht anschreien mochte (und auch nicht wusste, wo von hier aus Mekka lag). Bewegt der Mond die Meere nicht? Und scheint er nicht genauso mild in Teheran?
„Mond“, schrie sie auf persisch in die Nacht, „ich will nie mehr so alleine sein. Hörst du? Nie, nie wieder!“
2.
Am nächsten Morgen strolchte sie durchs vorweihnachtliche Köln. Tannenbäume, Lichterketten, Hektik und Gedränge auf den Weihnachtsmärkten. Fremd kam ihr die Welt im Westen vor. Sie hatte Hunger. Die Gerüche von Backfisch und Lebkuchen stiegen wie ein Schwindel bis ins Gehirn hinauf. Den Duft kannte sie: so roch’s auch im größten Bazâr Teherans, im Bâzâr-e-Bozorg.
Es war kalt. Also huschte sie, um sich aufzuwärmen, in eine kleine Kapelle an der Kupfergasse und rieb sich dort erst einmal die Augen: War das Allahs Antwort auf ihr Mondgeschrei: eine schwarze Madonna aus Holz? War die Mutter Jesu eine Sklavin aus Nordafrika?
„Hör zu, du Mutter von Isamasih!“ – wie Jesus im Islam genannt wird (wo er nebst Moses und Abraham als Prophet verehrt wird) – „Was soll ich tun?“ hoch schlug ihr Herz, da traute sie ihren Augen nicht: Bewegte die Barockfigur ihre Lippen?
„Hol Hilfe!“ meinte sie gehört zu haben. Oder war ihr nur der Hunger ins Gehirn gestiegen? Aber sie beschloss, dem unheimlichen Rat zu folgen – und fand schon bei ihrer Rückkehr ins Asylantenheim eine Hilfe vor.
3.
Klein, dick und verträumt mit treuen, lieben Augen hinter einer randlosen Brille – das war Bijani Narizami (der aus melodischen Gründen ein „i“ an seinen Vornamen gehängt hat). Er war sofort in Fatanneh verknallt. Der Dolmetscher des Kölner Asylantenheims kam aus Yazd und glaubte an Ahura Mazda, den Gott vor allen Göttern – das Wesen der Welt aus Feuer, Licht und Luft; die Heilige Flamme, die vor über tausendfünfhundert Jahren in der Âtashkade in Yazd von Zarathustra entfacht worden war.
Bijani besorgte den beiden Frauen eine kleine Wohnung im Belgischen Viertel und einen Job im Café Pomp auf der Lindenstraße. Zunächst spülte sie dort Tassen und Gläser und kehrte den alten, durchlatschten Parkettfußboden. Derweil brachte ihr Bijani die deutsche Sprache bei.
„Züge, Fatan, sag mal: ‚Züge’.“
„Ssiege.“
„Zzzüüge!“
„Ssssiege.“
Sie wird’s nie lernen, weil Umlaute im Persischen nicht vorkommen, auch X und Z dort selten sind und Konsonanten nicht so geknallt werden. Aber aus Fatans Mund klang die deutsche Sprache so geschmeidig wie Schuberts Ballettmusik.
„Fatan, sag mal: König!“
„Honig.“
„Lassen wir’s!“
Immerhin verstand sie bald genug, um Bestellungen aufzunehmen und zu servieren. Im Nu verwandelte sie das Pomp in einen persischen Bazâr. All ihren Bewegungen schien eine gewisse Melancholie beigemischt, als zögere sie eine Sekunde, bevor sie zugriff oder ging – ein Schmelz in ihre Gesten wie eine leise Melodie auf einer Sitar.
4.
Nouruz kam. Am 1. Farwardin 1363 (für uns am 21. März 1984) wird das Neue Jahr in Persien eingeläutet. Bijani hatte die beiden Damen ins Apadana, ein Iranisches Restaurant auf dem Mauritiussteinweg, geladen – und war noch becircter von Fatanneh.
Sie trug sowas wie einen sặri, ein enges, indisches Wickelgewand aus dunkelblauem Satin mit Silberfäden durchzogen; ihr krauses Haar hatte sie in den Nacken gebunden, wodurch die Züge ihres Gesichtes besonders deutlich hervortraten. Bijani hatte etwas auf dem Herzen. Er schwitzte. Er stotterte.
„I…ich bin arm, dick und nichts auf dieser Welt, ich weiß. Aber Fatan, sieh mich jetzt bitte mal genauer an: Werde ich nicht schön und schlank, falls ich … reich werden sollte?“
„Was sind das für dämliche Gedanken, Bijani?“
„Die besten, die ich je hatte!“ – jetzt sprudelte er vor Überzeugungskraft – „Diese verdammte Armut! Dieses: ‚ein heruntergekommener Perser in Deutschland’ sein. Alle sind besser gekleidet als ich. Alle bewegen sich eleganter. Alle sprechen flüssiger und fahren ein Auto. Ich kann dich in diesem Pomp nicht länger ertragen, Fatan. Ich … ich kann nicht mehr einschlafen, wenn ich fürchten muss, dass du …“
Er hatte schon zuviel gesagt … und insbesondere nicht das, was er eigentlich sagen wollte. Nochmals sammelte er alle Flüssigkeit in seinem Mund. Schweißperlen rannen nun von seiner Stirn herab.
„Fatan, wenn ich dich ansehe – insbesondere deinen Nasenrücken, der so glatt ist wie eine Rutschbahn in den Iran, oder deine Augen, die Rauschgift für meine Seele sind – dann … dann weiß ich, dass ich alles schaffen kann. Alles! Ich hole dich und deine Mutter aus dieser Lage raus. Ich … ich gebe dir Geld und …“
„Nein.“
„Ich meine, ohne was dafür zu wollen und ohne, dass für dich daraus die geringste Verpflichtung entsteht.“
Jetzt schwitzte er am ganzen Körper.
„Lieber Bijani! Das ist ja alles lieb von dir. Du bist überhaupt viel zu lieb, aber …“
„Darf ich dir nicht wenigstens … dienen?“
„Bijani, ich fühle alles, was ich fühle, für Ali. Und wenn ich an das Gefängnis in Teheran denke, dann …“
„Du weißt doch überhaupt nicht, was das ist: Evin“, unterbrach er sie barsch, weil plötzlich Ärger in ihm hochschoss, „Evin ist einer der grausamsten Staatsgefängnisse des Orients. Täglich wird da gefoltert und hingerichtet. Weißt du, ob dein Ali überhaupt noch lebt?“
Das hätte er besser nicht gefragt.
„Und da sitzen wir hier?“ rief Fatan verzweifelt aus und sprang auf, „da essen wir und … und tun nicht alles dafür, um meinen Ali zu retten?“ – sie schlug sich gegen die Stirn – „ich muss blind, taub und benebelt nach Köln geflohen sein. Ich schließe ihn täglich und nächtlich in meine Arme und flehe zu Gott, ihn mir heil und ganz und gesund zurückzugeben und … und tue nichts … um … um …“
„Aber Kind, was willst du denn tun?“ fragte die Mama bekümmert.
„Wie heißt der deutsche Rechtsanwalt, den du kennst? Wo wohnt er?“
„Dr. Robert Schermer“ stotterte er so überrumpelt, dass es wie Drrobertschermer klang – „Aber du willst ihn doch jetzt nicht …“
„Wo er wohnt, will ich wissen.“
„Fatan! Es ist zehn Uhr abends. Und wir haben Nouruz!“
„Nicht für einen Ungläubigen. Also sag mir endlich, wo er wohnt.“
5.
Gegenüber von St. Pantaleon, der ältesten Kirche Kölns, unterhielt Schermer seine Anwaltskanzlei – eine kleine Dreizimmerwohnung, die eher wie ein Budapester Caféhaus oder ein Antiquariat aus Existentialistenzeiten aussah. Hierhin lief Fatan in ihrem viel zu engen sặri …
… schellte – er öffnete, sie redete, „Sssiege, Honig“, er staunte. Ein großer, schlanker Herr mit dünnen, dunkelblonden Haaren, einer faltigen Stirn, fülligen Lippen und ironischem Blick. 40 wird er wohl schon sein.
Fatan setzte sich vor seinen unaufgeräumten Schreibtisch und … entfachte ein Feuerwerk aus Tausendundeine Nacht:
„Iran ist nicht der Iran, wie er in euren Zeitungen steht, Herr Drrobertschermer. Tschadors, Auspeitschungen oder Fanatiker, die sich die Stirn aufritzen und blutend und grölend über Teherans Straßen laufen – das ist nicht der Iran, der unser Herz berührt. Das ist eine Hysterie, so … so wie Hitler eine Hysterie in Deutschland war. Iran ist so melodisch wie die persische Schrift, die in Wellen dahinfließt und übrigens in arabischer Manier von rechts nach links gelesen wird, also umgekehrt, Herr Drrobertschermer! Wussten Sie das? So muss man den Iran verstehen.“
„Dann drehen wir von jetzt ab einfach alles um …“
„Genau! Und dann werden Sie sehen und einsehen: Wir sind Gottes Staat, Herr Rechtsanwalt. Aber warum hungern die Menschen in diesem Staat? Warum liegen unsere Felder brach? Warum ist aller Glanz aus Teherans Straßen verschwunden? Überall diese schrecklichen Porträts Chomeinis“ – ihr standen Tränen in den Augen – „Dieser finstere Blick! Diese buschigen Augenbrauen! Wo ist der Bauchtanz? Wo ist die santur, unsere Musik? Wussten Sie, dass Ayatollah Chomeini die Musik verboten hat?“ – jetzt flossen die Tränen, schwarz vor Schminke, ihre Wangen herab – „Alle Cafés und Restaurants sind geschlossen! Alle Frauen wurden aus den führenden Berufen vertrieben. Alle Frauen wurden verschleiert. Was ist Gott für ein Gott, wenn er die Schönheit dieser Welt nicht mehr genießt? Wenn er uns nicht mehr genug zu essen gibt. Wenn der Staat seine Kinder auspeitscht, foltert und ganze Sippen zerreißt? Wo liegt unsere Schuld, wenn uns Gott so bestraft? Das müssen Sie herausfinden.“
„Ausgerechnet ich?“ – der vom Iran nicht die geringste Ahnung hatte … Er gab ihr ein Papiertaschentuch; sie schnäuzte kräftig hinein und beruhigte sich ein wenig.
„Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen“, sagte sie, um eine feste Stimme bemüht, „und werde dabei so ehrlich sein, wie ich noch nie in meinem Leben war. Damit Sie unsere Schuld herausfinden. Und wenn Sie sie rausgefunden haben, dann werden Sie auch Wege finden, um meinen Ali zu befreien.“
„Aber … wie soll ich denn … um alles in der Welt …“
Weil sie Eindruck auf ihn gemacht hatte. Das spürte sie. Warum ihn also nicht ganz um den kleinen Finger wickeln? Das ist im Koran nicht ausdrücklich verboten. Schnell betete sie zu Ali – nicht ihrem Verlobten im Gefängnis, sondern zum Lieblingsvetter und Schwiegersohn des Propheten – ob sie mit dem Herzen eines Ungläubigen spielen und sich seine Schlauheit zunutze machen darf. Und die Antwort aus den Himmeln kam sofort: Ja, Fattaneh, das sind die Spiele des Lebens; darin bist du auch nur ein kreiselnder Federball. Aber vor Gott ist alles, was aus Liebe geschieht, erlaubt.
„Sitzen Sie bequem? Haben Sie genügend Zigaretten im Haus? Brauchen Sie Bier, Kaffee, Whisky, Wein und womit ihr Ungläubigen sonst noch die Leere in eurem Herzen betäubt?“
„Alles da! Erzählen Sie!“
Und sie erzählte plötzlich mit ihrem „Sssssiege“ und „Honig“, als käme eine Musik am Horizont Persiens auf, tief und melancholisch. Sie wuchs zum ersten Mal über sich hinaus im Glauben: Gott spricht jetzt aus meinem Mund. Sie legte soviel Seele in ihre Erzählung, als wäre sie Shêhêrezâd, die um ihr Leben erzählte, und als würden ihre Worte die Wirklichkeit verwandeln.
„Aufgewachsen bin ich in einem Haus im Norden Teherans, im vornehmen Viertel Kharaj. Es sah wie ein Hexenhäuschen aus und hieß darum auch: Dari-Wari“
„Und was bedeutet das?“
„Unordnung. Chaos. Wir kriegten dieses Haus nie richtig rein. Aber der Garten davor hieß: pairi daēza.“
„… klingt ja fast wie ‚Paradies’ …“
„Ein persisches Wort. Wussten Sie das? Überall blühte dort der wilde rheum-ribes.
„Und was ist das?“
„Sowas wie Rhabarber, riecht aber nach Veilchen. Im Sommer lebten meine Schwester Monêreh und ich fast nur darin. Wir machten dort unsere Schularbeiten und spielten dort und aßen dort zu Abend. Papi hatte uns zwei Schaukeln gebaut. Ihr müsst nur hoch genug schaukeln, sagte er, die Augen ganz fest zumachen und euch was wünschen – dann geschieht das auch.“
„Und wenn es nicht geschieht?“
„… hast du nicht fest genug daran geglaubt.“
So einfach ist das.
„Mein Papa, Mohâmad Mâllaha, war wie Sie ein Rechtsgelehrter – aber im Justizministerium des Shâhs“ – sie sagte das nicht ohne Stolz – „Er hatte in London und Lissabon europäisches und orientalisches Recht studiert. Wir waren reich – weil die ‚Weiße Revolution’ …“ (so genannt, weil vom Shâh verordnet und kein Blut geflossen war), „… eine Welle an Wohlstand ins Land gebracht hatte. Aber nur Wohlstand für den ‚Wohlstand’, wohlgemerkt! Das Elend auf den Straßen wuchs.
Doch Dari-Wari blühte. Damals herrschte eine wunderbare Aufbruchstimmung im Haus. Papi war ständig gut gelaunt. Er liebte uns. Er war stolz auf uns. Alles war ein Kinderspiel. Bis Ali nach Dari-Wari kam.
„Der Ali, der jetzt im Gefängnis sitzt?“
„Er sollte meine Schwester heiraten. Er sah aus wie ein persischer Krieger: groß, schlank, schwarze Haare, glühende Augen – und eine Nase, so schmal und grade, persisch. Er studierte Architektur in Teheran und war der Sohn eines unbekannten Franzosen, der in der Wüste Lût verdurstet war. Er schwärmte für Ostad Ali Akbari-Isfahani, der die Scheich-Lotfollâh-Moschee in Isfahan gebaut hat. Kennen Sie ihn?“
„Nein.“
„Ali wollte ganz Teheran neu aufbauen. Teheran ist verbaut, sagte er immer. Was habt ihr aus der Perle des Orients gemacht? Ali war das Musterbild von einem Schwiegersohn! Wenn er nur nicht solche Ansichten gehabt hätte …“
„Welche Ansichten denn?“
„Dass … dass der Shâh ein Mörder wär. Dass der Shâh Gefangene foltern lässt und unser Land an Amerika verhökert. Sie können sich vorstellen, wie Papi darauf reagierte.“
„Wie?“
„Er warf ihn aus dem Haus.“
„Und Ihre Schwester?“
„… traf ihn seitdem heimlich. Was auch eine Weile gut gelang. Bis Papi dahinter kam. Er tobte, brüllte; er schlug Monêreh und sperrte sie ins Haus. Und ihrem Bräutigam wollte er die SAVAK auf den Hals hetzen. Das war damals die Geheimpolizei des Shâhs. Da bekam ich eine Heidenangst.“
„Wieso Sie?“
„Weil ich … ich … Ali liebte …“
Prüfend sah sie ihn an, wieviel weibliche Wahrheit er vertrug. Nicht viel, wie jede Frau weiß.
„Nun, wie man einen Schwager eben liebt …?“
„Nein, wie man einen Mann liebt. Ich meine, ich war erst zwölf Jahre alt, aber total, total, total in ihn verknallt. Wenn ich den Kinderkoran aufschlug, sah ich Alis Lächeln zwischen den Zeilen. Und wenn ich abwusch, nickte mir Ali aus dem Abwaschwasser entgegen. Im Fernsehen sah ich lauter Alis. Ali war Ali, der Lieblingsvetter und Schwiegersohn des Propheten, geworden. Oh, Allah im Himmel: Ali war … Schia für mich geworden.“
Da hörte er zum ersten Mal dieses seltsame Wort, das ihn tief in den Iran hineinziehen sollte …
„Was ist Schia?“
„Der direkte Weg zu Gott.“
Er staunte. Er zweifelte …
„Ich schlug den Koran willkürlich auf. ‚Was soll ich tun, Allah?’ – und lese in der 55. »Sura vom Allerbarmen«: ‚Willst du die Wohltaten deines Herrn verleugnen?’ Allah, oh Allah: Ali war meine Wohltat! Ali war mein ganzes Leben. Mehr war mir noch nie gegeben worden. Ich musste Ali warnen!“
„Vor Ihrem Vater …“
„Vor der SAVAK! Nachts bin ich im Tschador aus dem Haus geschlichen. Die Straßen Teherans waren zu dieser Zeit schon ziemlich unsicher. Revolution! hieß es überall. Nieder mit dem Shâh! Man hörte immer wieder Gewehrschüsse. Und die SAVAK war überall. Ich wusste, wo Ali wohnte. In der Firdusi-Avenue, nicht weit von der Britischen Botschaft entfernt, in einem edlen, alten Haus noch aus der ersten Reza-Pahlevi-Dynastie. Er machte die Tür auf. Und da hätten Sie sein Gesicht sehen sollen!
‚Was machst du denn hier?’
‚Dich warnen, Ali! Mein Vater …’
Aber er legte nur seinen Zeigefinger auf meinen Mund und zog mich in sein Haus. Offenbar wusste er schon alles.
‚Und du hast dein Leben riskiert, nur um mich …?’
Er streichelte meine Wangen. Verstehen Sie? Sowas hatte ich noch nie gespürt. Mein ganzer Körper war in Aufruhr. Ich wollte – verstehen Sie: in der Keuschheit eines wohlerzogenen Mädchens, das den Kinderkoran auswendig kannte –, dass er mir die Kleider runterreißt. Ich wollte sterben oder leben oder alles zugleich in seinen Armen. Ich wollte, dass er in die intimsten Zonen meines Lebens eindringt und dort platzt. Ich wollte eins mit ihm werden. Ich küsste seine Hände wie die Hände meines Wohltäters. Gott kann solche Gefühle nicht verbieten. Weil sie selber göttlich sind. Wir waren wie zwei Kinder auf seiner Matratze. Er in mir. Ich bei ihm. Und er gehörte mir, mir, mir ganz allein.“
Sie sah ihn an. Auch dieser Teil der weiblichen Wahrheit schien ihn nicht weiter zu erschüttern. Also weiter!
„Da brach die Tür auf. Sechs Männer umstellten unser Bett. Sie zerrten uns heraus – ’Dast-awiz! Dast-awiz!’. Stellen Sie sich vor: Ich nackt vor sechs fremden Kerlen! Die SAVAK! Oh, ich lernte ihn hassen, unseren geliebten Shâh! Ich begriff, wogegen Revolution gemacht werden musste. Nieder mit der SAVAK! Nieder mit der Erlaubnis, in fremde Wohnungen eindringen zu dürfen! Sie schleppten uns in eine Geheimdienststelle, bei uns auch râr genannt: die Hölle. Und wie eine Hölle sah sie aus: finster, schmutzig, kalt. Ich fror. Ich schämte mich in Grund und Boden. Sie gaben mir nicht mal eine Decke. Und ihre ekelhaften Blicke! Sie fragten mich tausend Fragen, die ich alle nicht begriff. Kinderprostitution warfen sie schließlich Ali vor und sperrten ihn ins Gefängnis. Mich schickten sie nach Hause.
Das war schlimmer als ein Gefängnis. Alle mieden mich. Ich war eine Aussätzige. Ich war der Speichel aus dem Rachen des Teufels. Man sperrte mich in mein Zimmer und öffnete die Tür nur, um Reis und Ziegenmilch hineinzuschieben. Ich war eine Hure. Gott hat mich verstoßen. Und ich wusste nicht, warum.“
Schweigen. Man hörte nur das Knipsen seines Feuerzeuges. Aber seinen Augen sah man an, dass die Leidenschaften des Orients nicht ohne Eindruck auf ihn blieben.
„Und dann?“ fragte er leise.
„Ich habe mir den Kopf kahlrasiert und lange vor der Islamischen Revolution das Tschador übergestülpt. Ich ging nicht mehr zur Schule. Gott, wenn du mich so belohnst, dann will ich dich bestrafen. Sieh, ich blühe nicht mehr. Ich verwelke, bevor ich dir mein Leben schenken kann.“
„Und seitdem sind Sie nicht mehr …?
„Ich bekam Privatstunden bei einer râhebe – so nennt man bei uns die Frauen, die ihr ganzes Leben Allah geweiht haben. Zugleich schrie mein Körper. Ich habe das noch nie erlebt. Mein Körper schrie nach Alis Händen. Ich wurde verrückt im Kopf. Ich betete nicht mehr. Ich weinte nicht mehr.
Die Revolution brach aus. Schüsse auf den Straßen. Explosionen. Menschen schrien. Teheran brannte. Der Shâh floh aus dem Land. Ich habe noch im Fernsehen gesehen, wie er auf dem Flughafen Dowshan Tappeh weinte. Papa verlor seine Arbeit. Mama ihre Schönheit – die durch mich ohnehin schon einige Risse bekommen hatte. Sie litt unter mir. Und wir verloren Dari-Wari. Wir mussten in eine âlunak in der Vorstadt ziehen.“
„Was ist das?“
„Eine Baracke aus Pressholz und Lappen, die keinen Keller hat. Wissen Sie, wie kalt die Winter in Teheran sind? Und wissen Sie, wie der Hunger deine Gedanken, deine Seele, Gut, Böse, ja Gott in dir auffressen kann? Wo warst du, Gott, als meine Mami von einem pasderan vergewaltigt wurde? Wo warst du, Gott, als sich mein Papa das Gesicht zerkratzte und einen seelischen Tod starb, weil sein Körper noch nicht sterben konnte? Wo ist Gott, wenn du hungerst, frierst und blutest? Der Druck im Bauch und die Flauheit in den Gliedern ist noch nicht einmal das Schlimmste. Dass du zum Tier wirst, ist so schlimm. Dass du in allen Menschen, die essen, den Teufel siehst. Dass du Gott nicht mehr kapierst. Meine Mami war von dem ‚Söldnern Gottes’ schwanger geworden. Meine Mami rammte sich ein Messer in den Bauch. Warum ließ Gott sie überleben? Warum lebten wir überhaupt noch?
Ich war nicht mehr die Fatan, die Sie hier vor sich sehen und die zur Schwarzen Madonna betet. (Gott, wie tief bin ich hier schon gesunken!) Ich war … vielleicht mehr Fatan, als ich es jetzt bin und jemals war.“
Sie weinte – linste aber dabei durch die Tränen, wie ihre Geschichte auf ihn wirkte, und war beruhigt: Der Herr schien erschüttert. Oh, es geht noch weiter, du Ungläubiger, der noch nicht mal weiß, wer Allah ist. Wir haben den Tiefpunkt unserer Erzählung noch lange nicht erreicht.
Er gab ihr wieder ein Papiertaschentuch. Sie dankte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und verschmierte dabei hässlich ihre schöne Schminke.
„Eines Morgens stand ich auf und schrie zu Gott: Hörst du, Gott, ich werde jetzt alles machen, alles, um aus dem Elend herauszukommen! Das kannst du mir nicht erzählen, Gott, dass dieses Elend ‚eine Erziehung’ oder ‚eine Prüfung’ oder aus deiner verkorksten Sicht, wie manche glauben, eine Gnade ist. Sie lieben ja die Märtyrer im Iran. Oh, sie sind ganz versessen darauf. Aber ich will keine Märtyrerin sein. Hörst du, Gott? Das ist keine Gnade, was hier passiert. Das ist: šhejtan! Und wenn šhejtan jetzt regiert, dann gelten Gottes Gesetze nicht mehr. Dann ist alles erlaubt.
Ich schminkte mich … mit Blut. Wir hatten natürlich keine Schminke oder Farbe mehr im Haus. Aber wenn man Blut mit Erde mischt, kommt so eine schwarze Kleie heraus, die ganz phantastisch haftet. So alt war ich schon, dass ich die Wirkung des Lidschattens kannte. Die kennt in Persien jedes Kind. Für die Lippen nahm ich pures Blut. Und für die Augen meine Blut-Erde-Erfindung, auf die ich richtig stolz gewesen war. Ich wusste nicht, was ich wollte und wozu. Aber ich steckte mir ein verrostetes Küchenmesser unters Hemd. Entweder in Teheran sterben oder mit Brot nach Hause kommen. Hielten mich alle nicht sowieso für eine Hure?
Vermutlich sah ich wie eine Vogelscheuche aus“, sie lachte leise unter Tränen, „Aber ich fühlte mich: verdorben und gefährlich. Ich wollte … Chomeini töten, seine Revolutionswächter verführen, Gott selber in die Hölle schicken – was weiß ich. Nicht sterben, platzen wie eine Bombe wollte ich. So kam ich auf dem Seh-Rahe-Jaleh-Platz, dem späteren Platz der Märtyrer, an.
Ich hatte Glück. Tausende Menschen tummelten sich dort. Irgendwas wurde erwartet. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Chomeini wird eine Rede halten. Stellen Sie sich das mal vor! Ayatollah Chomeini persönlich! Gott hatte mich nicht umsonst hierher geschickt. Und ich hatte noch ein weiteres Glück: Dank der Haare, die inzwischen keine fünf Zentimeter gewachsen waren, hielt man mich für einen schmutzigen Bengel. Als Mädchen wäre ich vermutlich sofort verhaftet worden. Ich war ja ohne Tschador. Und ich war, was man unter dem neuen Regime als tödliche Provokation empfand: geschminkt.
Der Ayatollah erschien – und ich kann Ihnen die Wirkung dieses Mannes über allen Männern auf ein kleines Mädchen gar nicht schildern. Sah Mohammed nicht so aus? Und Ali und Hussein und alle zwölf Imame zusammen? Man sagt: Er blickt so finster, dieser neue Ayatollah. Auch seine Stimme erschreckte mich; sie klang wie aus Blech. Aber was er sagte …
So spricht Gott. Ich meine, ich hab nicht mal richtig kapiert, was er da sagte. Aber ich kapierte doch, dass dies unmöglich aus dem Kopf eines einzelnen Mannes stammen konnte. Als hätte er alles, was uns quält, am eigenen Leib erlebt. Als wäre Mohammed für Sekunden in seinen Kehlkopf geschlüpft und grölt: Wisst ihr nicht, dass ich alles weiß? Gott ist nicht da, eure Qualen zu lindern. Gott ist kein Arzt und kein Balsam auf euren Ängsten. Gott hat das Elend auf der Erde nie verhindert. Er hat sogar seinen zweitliebsten Propheten gekreuzigt. Und wenn mir auch das Herz bricht, wenn ich eure Augen sehe, und wenn ich auch weiß, wie sehr ihr unter dem Shâh gelitten habt. Dann frage ich doch: Dieses Land hat Öl! Dieses Land hat Wiesen, Weizen, Bäume, Blumen ohne Ende – warum hungert dieses Land? Wenn alles in meiner Macht Stehende getan wird, damit der Hunger aus euren Bäuchen verschwindet, so weiß ich doch: Das ist nicht Gottes Aufgabe, das ist der Menschen Aufgabe, sich gegenseitig zu achten und zu helfen und zu nähren und zu lieben. Was will Gott? Wir können über den Willen des Allmächtigen immer nur rätseln. Aber wir haben ein Buch, das uns Mohammed geschenkt hat …
Wie soll ich sagen: Er redete über Allah, wie ich noch nie über Allah habe reden hören. Allahu Akbar! Gott ist der Größte und keiner ist über Gott! Ich glaube übrigens nicht, dass das besonders originell war, was er da erzählte. Aber er hatte … einen Tonfall … eine … eine Innigkeit … Dieser Mann begriff Gott. Das spürte ich. Und das spürte offenbar jeder in der Menge. Wie sie zuhörten! Als wären die Worte, die er sagte, … Brot. Als könnte man sie essen. Ja, als hätten wir seit zehn Jahren auf nichts anderes gewartet als auf das, was wir alle längst kannten. Schia sagt nichts über Gott. Schia sagt nur: Du glaubst an Gott, und doch hungerst du. Du glaubst an Allah und leidest doch unter der Liebe. Du glaubst an Allah – und stirbst. Nichts ändert der Glaube – und ändert doch alles … indem er einen Schleier über deine Schmerzen legt. Und so hatte Chomeini alles in mir verändert. Wollte ich vorher morden und sterben, so wollte ich jetzt nur noch glauben. Aber es kam so dumm. Es lief so unglaublich dämlich ab.“
„Inwiefern?“
„Chomeini wollte ‚das Elend segnen’ – oder sowas Ähnliches. So ganz hatte ich den Zusammenhang nicht begriffen. Er hatte geschrien: ‚Ihr seid es, die Ärmsten der Armen seid es, die Allahs Wille vollstrecken.’
Die Masse glühte gerade vor Stolz. Da kam er auf den idiotischen Gedanken, aus der Masse des Elends einen zu wählen, den er sozusagen stellvertretend für alle segnen wollte. Und da ich dank meiner Schminke am elendesten aussah, ließ er mich von zwei kräftigen Mullahs auf die Bühne heben. Als ob das Leben nicht schon verworren genug wäre. Unter Zehntausenden, die vor ihm die Erde küssten, wählte er mich zum Stellvertreter des hungernden Iran. Ich hatte schließlich ein verrostetes Küchenmesser unter meinem Hemd! Ich war gerade dabei, Hure oder Mörderin oder beides zu werden. Ich hatte meine Eltern, meine Schwester und meinen Geliebten ins Elend gestürzt. Und dafür ehrt mich Gott? Mir platzte der Kopf vor Scham. Und die Tränen rollten mir nur so aus den Augen. Allahu Akbar! Damit sind später im iran-irakischen Krieg vor den Panzern Kindern hergelaufen, um die irakischen Mienenfelder zum Explodieren zu bringen. Allahu Akbar!Gott ist der Größte! Und Gott ist keine Rechenaufgabe, Herr Drrobertschermer. Gott tut nicht alles, was du dir wünschst.“
„Und was geschah dann?“
„Durch die Tränen hatte sich meine schöne Schminke übers ganze Gesicht verschmiert. Da hätten Sie mal das Entsetzen in Chomeinis Augen sehen sollen! Ich muss wohl wie šhejtan persönlich ausgesehen haben. Auch die Mullahs – zwei kräftige Kerle – sind fast von der Bühne gefallen. Da ergriff mich Ali Chamenei …“
„Ali Chamenei …?“
„Nicht mit Ruhollah Chomeini zu verwechseln! Ali Chamenei war sein engster Stellvertreter und ist heute der oberste Boss des Mullahregimes. Wir nennen ihn: Den feuerspeienden Drachen aus dem Hintern des Herrn. Er packte mich an den Armen und musste wohl gespürt haben, dass dies nicht die Arme eines Jungen waren. Er riss mir das Hemd vom Leib. Und vor der entsetzten Masse stand ein splitternacktes Mädchen mit einem Küchenmesser in der Hand. Allahu Akbar!“
„Und dann?“
„Der Rest ging schnell. Ich wurde von der Bühne gezerrt und landete innerhalb weniger Minuten im berüchtigten Gefängnis von Evin. Und dann das Geräusch, dieses schnelle, metallene Klack-Klack-Klack, als sich die Zellentüre schloss. Als saust ein Fallbeil herunter. Als würde die Tür motašacceram sagen.“
„Was heißt das?“
„Danke!“
„Danke???“
Sie zuckte die Achseln.
„Was soll ich sagen? Mir ging es gut in der Zelle. Ich bekam zu essen. Ich hatte es warm. Ich wusste, wo Mekka lag. Und ich konnte beten, wie ich noch nie zuvor in meinem Leben gebetet hatte. Nie war mir Gott so nah gewesen. Ich betete nicht mehr, wie ich vor dem motašacceram der Tür gebetet hatte. Früher hatte ich immer nur ‚Allah, tu dies! Tu das!’ gebetet und es nie gekriegt.
Aber jetzt … Chomeini, dieser Gott da auf der Bühne, war eine Todesmaschine. Ich glaube, 90.000 Hinrichtungen in sechs Jahren. 170.000 Verstümmelungen und Auspeitschungen. Lebe mal ohne Hände oder ohne Füße, ohne Ohren, ohne Lippen. Er ließ sogar Kinder erschießen. Im Iran bist du ab neun erwachsen. Ich rechnete mit allem. Sekündlich. Und das machte die Sekunde … kostbar. Während sie tickte, war es noch nicht passiert. Mit jedem Ticken lebte ich noch, hatte ich noch Hände, war meine Haut auf dem Rücken noch nicht zerfetzt. Was für ein Wunder, dass ich nach drei, vier Sekunden immer noch lebte. Dass ich nach dem Schlaf (und man schläft tief und köstlich, wenn man bald sterben soll) wieder aufwachte. Dass die Sonne aufging – und ich lebte immer noch und hatte immer noch beide Hände. Das ist Gottes Gnade, die Ali, der Lieblingsvetter und Schwiegersohn des Propheten, so genau gekannt hatte: Jetzt! Hier! Nicht morgen oder nächstes Jahr oder was wir uns sonst noch so im Kopf ausmalen. Jetzt und Hier. Ich glaube, mehr gibt’s übers Leben nicht zu sagen. Morgen bin ich tot.“
„Und was dann?“
Stolz zeigte sie ihm beide Hände.
„Meinen Rücken zeige ich Ihnen nicht, weil Sie sonst auf falsche Gedanken kämen. Die Tür ging auf und Ali kam herein.“
„Wie bitte?“
„Nicht der Lieblingsvetter und Schwiegersohn des Propheten. Mein Ali! Die Sonne meines Herzens. Ali war, wie alle Gefangenen des Shâhs, sofort nach der Revolution befreit worden. Und er hatte innerhalb kürzester Zeit eine Karriere bei den ‚Söldnern Gottes’, der Revolutionsgarde, den pasdarans gemacht. Er glaubte an Chomeini. Er glaubte daran, dass sich der Iran jetzt seiner ureigensten Kräfte besinnen würde. Wir haben das Schachspiel erfunden. Wir haben Aristoteles wiederentdeckt. Wir haben Gott entdeckt. Der Iran ist die Wiege des Abendlandes! Ohne uns gäbe es euch gar nicht. Keine Schrift. Keine Gebete. Keinen Glauben. Nichts.“
Ob das historisch richtig war? Aber sie war so überzeugt davon …
„Von dieser Sekunde an änderte sich mein ganzes Leben. Ali hielt noch in der âlunak auf Knien um meine Hand an.“
„Was ist das?“
„Sagte ich doch eben – obwohl es den deutschen Baracken nicht ähnlich sieht und eher den Charakter eines Zeltes aus Lappen hat. Für Monêreh brach eine Welt zusammen. Ihr Geliebter in meinen Armen! Sie zerriss sich die Kleider und zerkratzte sich das Gesicht. Sie schrie Gott an, dass sie seinen Namen noch schlimmer besudeln werde als er ihren besudelt hat. Sie hasste mich – und hasst mich heute noch.“
„Und Ihr Vater?“
„… hat Ali verziehen. Schließlich hat er unser Leben gerettet, unsere Ehre wiederhergestellt, Dari-Wari zurückgekauft, Papi wieder zu Amt und Einkommen verholfen. Ja, er ließ einen Schimmer der ehemaligen Schönheit in Mamas Gesicht wieder aufblitzen. Und Monêreh bat er um Verzeihung für die Fügungen Gottes.
Jetzt waren wir ‚verlobt’. Das ist ein besonderer Begriff im Iran. Verlobte dürfen miteinander Kaffee trinken. Sie dürfen nebeneinander auf der Straße spazieren gehen. Sie dürfen sich gemeinsam einen Kinofilm ansehen. Verlobte dürfen miteinander Schach spielen und sich sogar – wenn keiner hinguckt – küssen. Aber sie stehen vorm Ehebett und dürfen nicht hinein. Da sei Chomeini vor!
Der neue Ayatollah verachtete die Liebe nicht. Im Gegenteil. Sie war auch in seinen Augen das schönste Geschenk Gottes. (Er war selber ein treuer Ehemann und lebte bis zu seinem Tod in bescheidenen Verhältnissen.) Aber die Liebe durfte – eben weil sie ein Geschenk Gottes war – nicht nur den Körper meinen. Sie ist das Innigste, was wir zu verschenken haben. Macht daraus keine billige Lust! Die weiblichen Reize waren in seinen Augen zu übermächtig, als dass man sie auf der Straße spazierenführen durfte. Die meisten Frauen wissen mit dieser Waffe gar nicht umzugehen – und richten von daher eine Menge Schaden an. Verschleiere dich und schweige! Steigere deine Reize in der Phantasie des Mannes! Sei tabu seinen Augen! Gewinne das Herz – und schenke dich zur Belohnung seinen ganzen Sinnen nach der Hochzeit, die ‚Höchstzeit’ heißen müsste, weil ein Zenit überschritten wird.
Teheran hatte sich inzwischen total verändert. Überall diese schrecklichen Plakate mit dem finsteren Ayatollah. Der Verkehr war ein einziger Ameisenhaufen. Ein Geschrei und Gestank auf den Straßen, dass man es kaum aushalten konnte. Wir wollten es nicht bemerken. Uns ging’s ja gut.
Nur Ali hatte sich verändert in dieser Zeit. Er war mürrisch geworden. Ich fragte ihn: ‚Was ist los, mein Schatz?’ Er antwortete: ‚Wir leben in einer verlogenen Zeit’. Das war alles. Immer häufiger blieb er weg. Immer seltener kam er zum Essen. ‚Ali, erzähl mir doch nichts! Da ist doch was!’ schrie ich ihn schließlich an. Da beichtete er:
‚Chomeini ist šhejtan! Der feuerspeiende Drache, der unser Land bedroht. Kannst du das begreifen? Wie kann einer, der mit einer göttlichen Mission betraut ist, sich in den Leibhaftigen verwandeln? Gott hat nirgendwo gesagt, töte den, der dir nicht gefällt. Töte den, der anders denkt. Töte deine eigene Barmherzigkeit. Und Ayatollah Chomeini tötet … fast wahllos, möchte man meinen, fast so, als wolle er die Übervölkerung Teherans mit dem Fallbeil dezimieren. Ich begreife das nicht. Ich begreife nicht, wie einer, der den Koran auswendig kennt, sich so gegen die Schia versündigen kann. Wenn Gott nicht das Prinzip der Liebe ist, dann ist Gott nicht Gott.’
‚Bist du jetzt ein Mudjahed?’ fragte ich ihn fassungslos. (Das war die unterdrückte Opposition in unserem Land; Kommunisten oder sowas.)
Aber dazu schwieg er nur. Nun gut, die SAVAK des Shâhs war gerade aufgelöst worden. Dafür war die SAVAMA gegründet worden. Mit fast denselben Leuten. Sie war noch schlimmer.
Irgendwas stellte Ali im Untergrund an. Und wir wussten nicht, was. Er wusste, er wurde beobachtet. Er wusste, auch wir waren dadurch in Gefahr. Er sagte: ‚Reist ab, liebe Leute! Verlasst das Land! Gott kann euch hier nicht mehr beschützen.’ Papa sagte, ich bleibe. Mama sagte, ich reise. Monêreh sagte, ich heirate nach Isfahan.“
„Hat sie einen anderen Mann gefunden?“
„Sogar einen Mullah!“ – Fatan lächelte in Erinnerung – „Und was für einen! Abu Ibn Sayed: der geilste Bock, den Gott als Mann jemals erschaffen hat. Abu Ibn Sayed kaut alles, was er zwischen die Zähne kriegt. Auch Mama und ich waren vor ihm nicht sicher.“
„Und Ali?“
„… nahm den Verrückten gar nicht ernst. Dieser Mullah war nämlich komisch. Dick wie eine Tonne; alles an ihm schwabbelte. Und er konnte mit den Augen rollen … Wenn er lacht, dann bebt die Erde. Ständig riss er Zoten über den Koran. Das war zwar lebensgefährlich, aber irgendetwas schützte ihn. Weiß der Himmel was! Er hatte wohl Kontakte zu den höchsten Kreisen in der neuen Regierung. Und er aß … Gott im Himmel! Noch nie habe ich je einen Menschen so essen gesehen: ein Huhn, ein Lamm, zwei Seezungen, Datteln, Ziegenkäse, Nüsse und Weintrauben – das nannte er ‚Vorspeise’. Und den Wein soff er, als schütte er gleich das ganze Fass in seinen Schlund.“
„Ich dachte, Alkohol wär bei euch verboten?“
„Chomeini hatte sämtliche Weinberge im Südwesten Irans abbrennen lassen. Aber jetzt blüht sie wieder, die trübe Traube an den Hängen von Schiraz, deren Haut in manchen Sorten nicht mit eingestampft wird, so dass der Geschmack besonders feinherb, fast nervig ausfällt. Das kümmerte ihn nicht. Er liebte alle Gaben Gottes. Ja, er liebte Gott nur wegen dieser Gaben. Aber am allermeisten liebte er die Frauen. Chomeini hatte Charel-Now, das Hurenviertel in Teheran, auch abfackeln lassen!