Die Mensch-App - Michael Brendel - E-Book

Die Mensch-App E-Book

Michael Brendel

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Beschreibung

Was passiert eigentlich, wenn wir klicken oder wischen? "Die Mensch-App" analysiert den Einfluss von Smartphone- und Internetanwendungen auf das Leben der Nutzer/innen und die Gesellschaft. Schwerpunkt des kurzweiligen Essays ist der Begriff der Wirklichkeit, die zunehmend über Smartphone- und Tablet-Displays wahrgenommen und gedeutet wird. Ein weiterer Fokus liegt auf den Kontrollverheißungen, Kontrollmöglichkeiten und dem Kontrollverlust in der digitalen Welt. Der Autor schildert u. a., welche individuellen, aber auch pädagogischen Folgen die Allgegenwart von Smartphones hat, wie Internetunternehmen aus persönlichen Daten Geld machen und wie die Meinungsvielfalt im Internet den Autoritätsverlust von Kirche, Schule, Eltern und Medien befördert. Der Essay zeichnet auch nach, wie postfaktisches Denken und Hate Speech durch algorithmischer Entscheidungen in Facebook, Instagram und Google gefördert werden ("Filterblase"). Die Analyse schließt mit einer Neudefinition des Begriffs Medienkompetenz. Dabei stellt der Autor auch konkrete Forderungen in Richtung Schule, Politik und Medien. Der Praxisteil zeigt konkrete Maßnahmen auf, mit denen sich das Filterblase-Phänomen sowie die Datensammlung eindämmen lassen. "Die Mensch-App" gibt denjenigen Argumentations- und Entscheidungshilfen an die Hand, die bei der selbstverständlich gewordenen Nutzung digitaler Dienste im privaten und beruflichen Alltag hin und wieder ein mulmiges Gefühl beschleicht.

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Seitenzahl: 177

Veröffentlichungsjahr: 2018

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DIE MENSCH-APP

Wie Smartphone und Internetunsere Wirklichkeit verändern

Michael Brendel

Impressum

Texte: © Michael Brendel

Umschlag: © Copyright by Michael BrendelFotos: Jonathan Denney / unsplash (Umschlag); Nobuyuki Hayashi / CC BY2.0 (S. 6)(https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/);Tanja Heffner / unsplash (S. 10);Andres Urena / unsplash (S. 14);

Carl Raw / unsplash (S. 22);

Beppe Karlsson (S. 34); John Hain (S. 70); Arek Socha (S. 78); tookapic (S. 110); Ben Kerckx (S. 116);Kalle Kortelainen / unsplash (S. 124);Priscilla Du Preez (S. 126);

Ben White / unsplash (S. 146);

Vitaliy Paykov / unsplash (S. 150);Franki Chamaki / unsplash (S. 172);Verlag: Michael Brendel

Kornblumenweg 8 49808 [email protected]

 

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

1. Willkommen in der digitalen Welt!

2. Der Vergleich mit dem Spiegel

II. Kontrolle

1. Kontrolle haben

2. Kontrolle verlieren

3. kontrolliert werden

III. Wirklichkeit

1. Wirklichkeit wahrnehmen

2. Wirklichkeit deuten

3. Der Wirklichkeit entfliehen

4. Wirklichkeit schaffen

IV. Fazit und Herausforderungen

1. Rückspiegel

2. Eine neue Medienkompetenz

3. Schlussgedanken

V. Praxisteil

1. Raus aus der Filterblase!

2. Datensammlern ein Schnippchen schlagen

VI. Quellen

Vorwort und Dank

Die Arbeiten zu diesem Essay begannen im Oktober 2016, als mich die Hochschule Emden-Leer zu einem Workshop eingeladen hatte. Thema sollten die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Menschen und die Gesellschaft sein. Aus dem Workshop entwickelte ich einen Vortrag, den ich für meinen Arbeitgeber, das Ludwig-Windthorst-Haus in Lingen, zwischen Februar 2017 und Februar 2018 an verschiedenen Orten gehalten habe. Die Rückmeldungen enthielten viele interessante Aspekte, die in das Manuskript zu diesem Buch eingeflossen sind. Es wurde im Juni 2018 fertiggestellt. Mein Dank gilt meinen Kolleginnen und Kollegen im Ludwig-Windthorst-Haus, die dort eine Atmosphäre schaffen, die zur Weite im Denken anregt. Ich danke den Zuhörerinnen und Zuhörern der Vorträge für ihr fruchtbares Feedback, meiner Mutter und meinem Freund Matthias für ihre sorgsame Korrektur und meiner Familie für ihre Geduld.

I. Einleitung

1. Willkommen in der digitalen Welt!

„Das verändert alles“ – mit diesem Slogan bewarb Apple vor elf Jahren das IPhone, das Konzernchef Steve Jobs am 9. Januar 2007 auf der Technikmesse Macworld in San Francisco vorgestellt hatte. Die Attitüde des smarten Multimilliardärs bei der Vorstellung seines neuesten Produkts wurde in den Medien als großkotzig bezeichnet. Doch Steve Jobs hatte recht. Das IPhone und andere Smartphones und Tablet-PCs diverser Hersteller, die auf das IPhone folgten und ihm in Sachen Design und Nutzerfreundlichkeit und App-Angebot bald in nichts mehr nachstanden, sind heute aus der Welt nicht mehr wegzudenken. Die Erfindung aus den Apple-Laboren, mit der diese Entwicklung vor 10 Jahren ihren Anfang nahm, würdigte die Zeitung Welt Edition gar als „heimliche Gottwerdung eines Telefons“.1

Mehr als die Hälfte des weltweiten Internetverkehrs wird durch Smartphones verursacht, die sich in viele Bereiche unseres Lebens eingenistet haben: Kommunizieren, Informieren, Fotografieren, Recherchieren, Navigieren, Organisieren – für viele Menschen geht ohne ihr Smartphone nichts mehr.2

Die Grenze zwischen Smartphones und Tablets verschwimmt dabei immer mehr. Die meisten Apps funktionieren auf allen Geräten, die unter Apples Betriebssystem iOS bzw. dem von Google mitentwickelten Android betrieben werden. Und auch die Baugröße lässt keine klare Abgrenzung zwischen Smartphones und Tablets zu. So soll im Folgenden der Einfachheit halber nur von Smartphones die Rede sein, auch wenn Tablet-PCs hier selbstverständlich mit eingeschlossen sind. Zudem sind viele der in Apps bereitgestellten Dienste auch über Internetbrowser auf PCs und Notebooks abrufbar. Auch diese Nutzung soll in die Abhandlung miteinbezogen werden. Darüberhinaus wird zur Vereinfachung und leichteren Lesbarkeit im Lauftext für Personenbezeichnungen nur die männliche Form verwendet. Die Angaben beziehen sich freilich auf Angehörige beider Geschlechter.

Die folgenden Betrachtungen sind geleitet von der Frage, was eigentlich geschieht, wenn wir auf dem Smartphone herumwischen und im Internet herumklicken. Was passiert im Hintergrund, wenn wir unsere vordergründigen, kurzfristigen Informations-, Kommunikations-oder Unterhaltungsbedürfnisse am Smartphone, Tablet oder PC stillen – mit uns und unserem Wirklichkeitsbegriff, mit unseren Kommunikations-und Aktionspartnern – ja, letztlich mit unserer Gesellschaft?

Auch wenn darin kritische Töne durchklingen werden, will dieser Essay keine dumpfe Technologiekritik sein. Die Existenz der digitalen Welt und ihrer Instrumente ist ein Fakt – und ein Geschenk. Sie bringt für Millionen Menschen unglaublich viel Gutes mit sich. Wenn in dieser Abhandlung von Apps und browserbasierten Onlinediensten die Rede ist, so geschieht das im Bemühen um Sachlichkeit. Wertungen versucht der Text ebenso zu vermeiden wie vorschnell konstruierte Kausalketten. Der Autor ist weder Psychologe, noch Philosoph, noch ausgebildeter Pädagoge. Deshalb formuliert er am Ende von Sinneinheiten Fragen. Der Leser ist eingeladen, diese Fragen zum Reflektieren in die weiteren Kapitel mitzunehmen – und schließlich in seinen Alltag. Vielleicht keimen sie dort heran und nähren den bewussten, verantwortungsvollen Umgang mit Internetphänomenen. Vielleicht helfen sie gar, den Leser zu einem mündigeren Bürger zu machen, und zwar in der digitalen wie der analogen Welt. Das Ziel dieses Essays wäre dann erreicht.

Der eingangs gestellten Frage „Was geschieht, wenn wir online sind?“ seien drei Fragen beigestellt, die unsere Überlegungen begleiten sollen:

Sind wir in der digitalen Welt Subjekte oder Objekte?

Sind wir uns unserer Rolle bewusst?

Und wenn nicht: Was steht auf dem Spiel?

2. Der Vergleich mit dem Spiegel

Zu Beginn und zum Ende der Betrachtungen wollen wir in den Spiegel blicken, denn Smartphones und Internetanwendungen haben einiges mit Spiegeln gemein. Unter drei Aspekten lassen sich Smartphones und Spiegel vergleichen:

Spiegel eröffnen uns ein Stück Wirklichkeit. Ganz gleich, ob im Badezimmer, einer Umkleidekabine oder als Handtaschenaccessoire: Wenn wir in einen Spiegel hineinblicken, nehmen wir viel mehr wahr als nur eine umrahmte Silberschicht hinter Glas. Das, was sie reflektiert, halten wir für die wirkliche Welt.

Neben einem Eindruck von der Außenwelt vermittelt ein Spiegel auch ein Bild von uns selbst. Wir gehen davon aus, dass wir so sind, wie wir im Spiegel erscheinen. Er hat somit eine identitätsbildende Funktion. In Anlehnung an Descartes könnte man sagen: Speculo ergo sum.

Zudem ist ein Spiegel ein Kontrollinstrument. Er lässt uns Situationen daraufhin überprüfen, ob sie unserem Soll-Bild entsprechen, und ermöglichen manchmal eine Korrektur. Im Badezimmerspiegel überprüfen wir, ob die Frisur noch in Form ist und die Brille gerade sitzt. Ist das nicht der Fall, verrät der Spiegel nach ein paar korrigierenden Handgriffen, ob jetzt alles in Ordnung ist oder weitere Maßnahmen nötig sind. Rück-und Außenspiegel im Auto geben uns die Möglichkeit, ohne Blech-und Personenschäden auszuparken, zu überholen und abzubiegen. Und an unübersichtlichen Einmündungen warnen uns runde Verkehrsspiegel vor anderen Fahrzeugen oder heraustretenden Fußgängern.

In den folgenden Kapiteln wird erläutert werden, inwiefern auch Smartphones, Tablets und Onlinedienste ein Spiegel der Realität sind. Sie sind zugleich Kontrollwerkzeuge, ebenso wie sie Zeugen eines Kontrollverlustes sind. Mit ihnen bilden wir unsere individuelle Identität, ebenso wie wir durch sie Identität erlangen.

Ist es Zufall, dass ein Handspiegel genauso gehalten wird wie ein Smartphone?

II. Kontrolle

1. Kontrolle haben

a) ... über meinen Tag

Evernote, Onenote, Wunderlist, Remember the Milk – Das Angebot an Aufgaben-Apps in den App-Stores ist riesig. Sie helfen uns bei der Organisation unseres dienstlichen oder privaten Alltags. Der Bedarf ist offenkundig da: Die App des kalifornischen Unternehmens Evernote Corporation ist heute allein auf 1,5 Mio. Android-Geräten installiert.3 Apps wie diese dienen als unser persönliches Schwarzes Brett, das wir mit Aufgaben, Notizen und Erinnerungen vollpinnen können. Mag es dort auch noch so chaotisch aussehen: Was wir dort einmal angeheftet haben, kann aus unserem Kopf raus, ohne dass es vom Vergessenwerden bedroht wird. Es belastet uns nicht mehr. Einkaufslisten, die zu erledigenden Arbeiten im Büro oder eine Sammlung von Ideen für das nächste Meeting – Sie liegen auf einem Server, und uns damit nicht mehr im Weg. Die Cloud-Technologie spielt hier ihr ganzes Potential aus. Denn das Abspeichern auf einem Webserver anstatt auf dem einzelnen Gerät ermöglicht einen Zugriff von überall. Viele Aufgaben-Dienste ermöglichen das Bearbeiten der Listen am Dienst-PC über den Browser ebenso wie per App am Smartphone oder Tablet, auf Wunsch sogar parallel. So sind unsere Aufgaben und Ideen jederzeit per Knopfdruck abrufbar. Aufgaben-Apps geben unserem Tag Struktur, so dass wir unser Gehirn nicht mit dieser Struktur belasten müssen. Jedes Häkchen, das wir nach Erledigung unserer Pflicht wonnevoll vor die erfüllte Aufgabe setzen, erfüllt uns mit Zufriedenheit.

Wir haben das Gefühl, unser Leben im Griff zu haben.

b) … über meine Gesundheit

Die digitale Welt macht unsere Gesundheit greifbar. Nach Branchenangaben nutzt jeder dritte Deutsche einen Fitness-Tracker.4 Diese sogenannten Gadgets, also elektronische Armbänder, Smartwatches oder Fitness-Apps, können den Puls messen und aufzeichnen, Schritte zählen und den Schlafrhythmus analysieren. Über Erweiterungen, die ans Smartphone oder Tablet angeschlossen werden, können auch der Blutdruck oder Blutzucker gemessen und protokolliert werden.

Fitness-Tracker verheißen uns Kontrolle über unseren Körper. Wer seine Vitalfunktionen jederzeit ablesen kann und Unregelmäßigkeiten nicht nur fühlt, sondern schwarz auf weiß sieht, hat das Gefühl, seine Gesundheit im Griff zu haben, seinen Körper zu beherrschen. Der sogenannte Quantify Self-Trend, der eine genaue Vermessung des eigenen Körpers verfolgt, bringt das Lebensgefühl der totalen physischen Kontrolle auf den Punkt. Und Fitness-Gadgets dürften da erst der Anfang sein: Der Markt für flexible Sensoren, die in Kleidung eingenäht werden können oder als Pflaster auf der Haut getragen werden können, wird sich Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2022 verdreifachen.5

c) … über mein Haus

Es ist seit Jahren Trendthema auf Computer-ebenso wie auf Einrichtungsmessen: Smart Home oder Intelligentes Wohnen.

Schätzungen zufolge werden in Deutschland im Jahr 2018 2,6 Mrd. Euro mit internettauglichen Haushaltsgeräten umgesetzt werden, in den USA werden es über 18 Mrd. Euro sein.6 Das intelligente Heim beherbergt Kühlschränke, die ihren Inhalt analysieren und beim Online-Lieferdienst automatisch nachbestellen, wenn das Bier zur Neige geht. Die zu Hause autark herumwirbelnden Staubsaugerroboter melden ins Büro, wenn der Auffangbehälter voll ist. Und aus dem Winterdomizil heraus kann der Hausbesitzer seine Heizungsanlage auf die baldige Rückkehr der Urlauber vorbereiten.

Die Kommandozentrale für sein intelligentes Heim hat er mit in die Sonne genommen – sein Smartphone, das über den heimischen Internetrouter auf alle vernetzten Geräte im trauten Heim zugreift.

d) … über meine Kinder

„Hier hast du ein paar Groschen zum Telefonieren, wenn was ist…“ – Wer vor 1990 geboren ist, kennt diesen Satz aus seiner Teeniezeit (auch das ein Ausdruck, den später Geborene wohl nicht mehr kennen). Ausgesprochen haben ihn Eltern, bevor die jugendlichen Sprösslinge nachmittags oder abends das Haus verließen. Das war natürlich ein Ausdruck der elterlichen Fürsorge: Bis in die 1990er Jahre waren Telefonzellen bei aufgeschürften Knien, verpassten Bussen oder Heimweh der einzige Draht nach Hause. Alle anderen Probleme mussten die Heranwachsenden ohne elterliche Hilfe lösen.

Heute sind Telefonzellen weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden, Groschen gibt es seit der Einführung des Euros ebenfalls nicht mehr, und der Draht nach Hause steckt als Smartphone in der Hosentasche und braucht schon längst keinen Draht mehr.

Das bedeutet, dass Eltern für Kinder heute immer in Rufweite sind, ebenso wie Kinder für Eltern. Das ununterbrochene Erreichbarsein, sei es durch Anrufe oder Textnachrichten, mindert zweifellos die Sorge von Vätern und Müttern um das Wohlergehen ihres Nachwuchses. Anhand des Onlinestatus von Facebook oder des Messengers Whatsapp lässt sich, sofern nicht absichtlich deaktiviert, erkennen, wann die Tochter oder der Sohn zuletzt das Handy in der Hand hatte. So ist der Nachwuchs auch außerhalb der gemeinsamen vier Wände in gewisser Weise unter elterlicher Kontrolle. Den Jugendlichen wiederum gibt die Erreichbarkeit ein Gefühl der Sicherheit, sofern diese nicht durch absichtliches Offlinegehen oder vorübergehend durch Akku-oder Netzprobleme unterbunden wird.

Smartphones vermitteln also Sicherheit, Nähe, stärken vielleicht sogar die Familienbande. Doch werden damit Situationen, in denen Kinder tatsächlich auf sich allein gestellt sind, selten. Das Erlernen von Selbstständigkeit, Verantwortung und Problemlösungskompetenz, also das, was wir gemeinhin Großwerden nennen und wofür die elterliche Abstinenz elementar ist, ist durch die ständige gefühlte Nähe in Gefahr. Wollen Jugendliche sie retten, müssen sie den Impuls, die Eltern zu kontaktieren, absichtlich unterdrücken. Auf der anderen Seite stehen auch Mütter und Väter in der Verantwortung nicht unbeabsichtigt zu Helikoptereltern zu werden. Denn die durch digitale Medien mögliche elterliche Kontrolle – „Wann kommst du?“, „Wo bist du?“ – ist zwar ein Ausdruck von Sorge, aber nicht von Vertrauen in die Selbständigkeit ihrer Kinder.

e) Kontrolle haben – Fragen zum Reflektieren

Wenn die Fitness-App während des Workouts ausfällt und die Einheit nicht protokolliert – hat sie dann überhaupt stattgefunden? Oder müssen wir sie erst noch manuell nachtragen, damit der langfristige Fitnesstrend auch aussagekräftig ist?

Sind Aufgaben, die wir erledigt haben, obwohl sie nicht in der Aufgaben-App eingetragen waren, wirklich erledigt? Ist nur das gültig, was eingetragen und abgehakt ist?

„Wie geht es dir?“ – Können wir diese Frage beantworten, ohne auf unsere Smartwatch oder in unsere Fitness-App zu schauen?

Wie lernen Kinder Eigenverantwortung, wenn die Eltern immer erreichbar sind?

2. Kontrolle verlieren

a) … über meinen Speicher

Über Jahrhunderte hinweg waren Bücher das Symbol für das Wissen der Welt. Wer etwas recherchieren wollte, ging in die Bibliothek und suchte sich durch Register und Mikrofiche-Platten. Wer etwas nicht vergessen wollte, schrieb es in ein Notizbuch. Wer etwas nachschlagen wollte, nahm ein Lexikon zur Hand, ein Wörterbuch oder ein Telefonbuch.

Diese Zeiten sind vorbei. Der gesamte Buchbestand der größten Bibliothek der Welt, der Library of Congress in Washington, wäre einer Schätzung aus dem Jahr 2000 zufolge im digitalisierten (sprich: gescannten) Zustand 208 Terabytes groß.7 Diese Informationsmenge wurde 2014 im Facebook-Netzwerk in anderthalb Stunden erzeugt.8 Doch nicht nur die Datenmenge, die das Internet bereithält, auch die schnelle Verfügbarkeit der Informationen sprechen für die digitalen Dienste. Die Wikipedia als größte Online-Enzyklopädie der Welt, Onlinewörterbücher, Übersetzungsdienste und Fachdatenbanken im Netz – und nicht zuletzt die Kontakt-Apps unserer Smartphones – haben in vielen Bereichen längst Bücher ersetzt.

Doch die sind nicht das einzige Opfer der digitalen Revolution. Die dauernde Verfügbarkeit von Informationen hat auch Teile unseres Gedächtnisses ersetzt.

Die US-Psychologin Betsy Sparrow hat in mehreren Tests belegen können, dass wir uns Informationen nicht mehr merken, wenn wir wissen, wo sie liegen. Das Internet sei zu einem externen Gedächtnis geworden, so Sparrow.9 Wenn wir Aufgaben-Apps nutzen und uns auf die digitale Verfügbarkeit von Terminen, Kontakten oder Vokabeln verlassen, um dann für andere Dinge den Kopf frei zu haben, sollte uns bewusst sein, dass unser Kopf dann tatsächlich frei ist – frei von Inhalten, die wir noch Jahrtausendwende gewusst haben.

Wer Sparrows These in Zweifel zieht, dem sei empfohlen, sich gedanklich in die Vorzeit des Internets zu begeben: Wie viele Telefonnummern konnten wir uns vor 15 oder 20 Jahren merken? Wie viele sind es heute? Aber wir wissen ganz sicher, in welchem Gerät und bei welchem Dienst wir nachschauen müssen, nicht wahr?

Ein anderes Beispiel für den Einfluss der digitalen Welt auf unseren Speicher ist der Gebrauch der Smartphonekamera. Der Branchenverband Bitkom geht für 2017 von weltweit 1,2 Billionen aufgenommenen Digitalfotos aus, von denen 85 Prozent aus Smartphones stammen.10 Jeden Tag werden also 2,8 Mrd. Handyfotos gemacht.Natürlich ist es praktisch, jede schöne oder auch erschreckende Situation jederzeit festhalten zu können.

Doch wie viele – vor allem schöne – Situationen nehmen wir aufmerksam wahr und genießen wir so sehr, dass sie sich in unser Gedächtnis einbrennen, wenn die Kamerataste quasi jederzeit am Anschlag ist?

b) … über den Raum

Zu den Diensten, auf die Smartphonenutzer am wenigsten verzichten möchten, gehört die Navigation. Einer Umfrage des Mobilfunkbetreibers Telefonica zufolge ist für jeden zweiten die Möglichkeit „zu jeder Zeit im Alltag“ navigieren zu können wichtiger als z. B. die Nutzung Sozialer Netzwerke oder Onlineshopping.11

Auch der massive Preisverfall bei Navigationsgeräten hat seinen Anteil daran, dass das Lesen von Straßenkarten oder das umständliche Herumhantieren mit Faltplänen heute wie ein Relikt aus der Steinzeit wirkt.

Der Vergleich hinkt zwar, denn der Orientierungssinn von Menschen in der Steinzeit war außerordentlich gut ausgeprägt – angesichts langer Märsche zur Essensbeschaffung sogar eine lebensnotwendige Eigenschaft. In Zeiten von Lieferdiensten und Navis wird der Orientierungssinn aber weniger benötigt, und auch hier entscheidet unser Hirn knallhart: Dann schalte ich das Ding eben aus. Der britische Navigationsexperte Roger McKinlay, ehemals Chef der Königlichen Akademie für Navigation, warnt: „Wenn wir sie nicht pflegen, werden unsere natürlichen Fähigkeiten zum Navigieren verkümmern, während wir uns immer mehr auf smarte Geräte verlassen.“12

c) … über meinen Willen

Gibt’s etwas Neues auf Instagram?

Hat jemand meinen Facebookpost kommeniert?

Wie viele Likes hat mein Foto von gestern Abend?

Viele Apps geben uns das Gefühl, ständig etwas zu verpassen. Laut einer Studie checken wir alle 18 Minuten unser Smartphone. Mithilfe einer App, die sich 60.000 Nutzer zur Kontrolle ihres eigenen Smartphoneverhaltens installiert hatten, konnten der Molekularpsychologe Christian Montag und der Informatiker Alexander Markowetz genau ablesen, wofür das Gerät wann aus der Hosentasche genommen wurde.13 Andere Untersuchungen wie die des IT-Dienstleisters Tecmark aus England gehen von einer noch häufigeren Nutzung aus. Die Zahl der geschätzten täglichen Handykontakte, nach der die Forscher 2.000 Erwachsenen befragten, lag im Durchschnitt bei 221.14

„Smartphone-Apps funktionieren wie Glücksspielautomaten“, resümiert Markowetz. „Wir betätigen sie immer wieder, um uns einen kleinen Kick zu holen.“ Und wenn der Kick einsetzt – eine neue Whatsapp-Nachricht, eine Reaktion auf ein Posting, eine interessante Nachricht im Newsticker – werden wir vom Gehirn belohnt. Christian Montag hält für möglich, dass bei einem erfolgreichen Smartphonecheck das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird.15Was wir suchen, wenn wir anlasslos das Handy zücken, wird als Serendipity-Moment beschrieben. Das ist ein Begriff, der nur schwer aus dem Englischen zu übersetzen ist. Freude über ein überraschendes Ereignis beschreibt Serendipity vielleicht am besten. Und die heute verfügbaren Apps verstehen ganz hervorragend, uns mit der Aussicht auf einen Serindipity-Moment zu locken.

d) … über mein Sozialverhalten

Messenger-Apps und Soziale Netzwerke beeinflussen, wie wir mit Menschen umgehen. Wenn wir eine Freundschaftsanfrage auf Facebook erhalten, fühlen wir uns geschmeichelt: Da hat ein anderer Mensch aufrichtiges Interesse an mir! Vielleicht kenne ich ihn ja tatsächlich, aus der Schule oder dem Verein. Dann ist es schön, jetzt auch digital vernetzt zu sein!

Wem kommt bei solch einer virtuellen Bauchpinselung in den Sinn, dass eingehende Freundschaftsanfragen nur selten eine selbst initiierte Handlung des Anfragenden sind? Facebook empfiehlt seinen Nutzern immer wieder Personen, die sie kennen könnten – Freunde von Freunden, ehemalige Klassenkameraden oder Menschen, die zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt gelebt haben. Die Trefferwahrscheinlichkeit ist erstaunlich hoch, so ausgereift sind die Algorithmen des größten Sozialen Netzwerks der Welt. Das heißt aber auch, dass dieser Algorithmus über die Verbindung von zwei Menschen in diesem Netzwerk mitbestimmt.

Auch der Newsfeed bzw. die Startseite, also die Liste der eingehenden Statusmeldungen meiner Facebookfreunde und abonnierter Seiten16, hat Einfluss darauf, mit wem die Nutzer agieren. Denn auch die wird durch Facebooks Algorithmen gesteuert. Es werden standardmäßig also nicht die neuesten Beiträge von Freunden und abonnierten Seiten angezeigt, was eine gewisse Neutralität bedeuten würde, sondern die sogenannten Topmeldungen. Die chronologische Sortierung muss der Nutzer selbst einstellen und sie ist nur in der Browserversion verfügbar, nicht in der offiziellen App. Zudem setzt sich diese nach wenigen Stunden wieder auf die Topmeldungen zurück.17 Welches System hinter der Auswahl der Beiträge steckt, ist Facebooks Geheimnis. Kriterien dürften die Anzahl der bisherigen Likes und Kommentare unter der Statusmeldung und die Popularität des Autors sein, wie viele Freunde er also hat und wie stark seine Beiträge sich verbreiten. Denkbar ist, dass auch die Involvierung eines Werbekunden von Facebook für eine Aufnahme in die Topmeldungen sorgt.

In Kapitel III. 1. i kommen wir auf Facebooks Sortiersystem zurück.

Auch Whatsapp, der Facebook-Messenger und andere Messengerdienste wie beispielsweise Snapchat beeinflussen unsere soziale Interaktion. Vor allem die Lesebestätigungen hinter Nachrichten haben Auswirkungen auf den Umgang mit Freunden und Bekannten, weil sie den Zwang zum Antworten beinhalten. Psychologe Christian Montag erklärt das Problem: „Whatsapp hat ja einen Mechanismus, der uns unter Druck setzt, sofort zu reagieren: die blauen Haken. Wenn ich sehe, die andere Person hat meine Nachricht gelesen und reagiert aber nicht, dann kann mich das unter Umständen kränken.“18

Eine telefonische Rückrufbitte lässt sich einige Stunden zurückstellen. Eine Emailantwort auch. Doch in Messengern bestimmt nicht allein der Empfänger den Zeitpunkt einer Antwort.

Auch in der Liebe mischt die Internettechnologie kräftig mit. Allein in Deutschland gibt es 2.500 Partnerbörsen, die das zielgenaue Finden von Lebenspartnern oder -partnerinnen versprechen, indem sie die Interessen, Vorlieben und Persönlichkeiten der Nutzer mit denen anderer Suchenden abgleichen.19 Dieses Algorithmus gesteuerte Matching spart den Kunden Zeit und erspart im besten Falle Enttäuschungen. Darüber hinaus scheint diese Art der Partnervermittlung sogar ziemlich erfolgreich zu sein. Einer US-Studie zufolge sind online zustande gekommene Partnerschaften beständiger als in der analogen Welt entstandene.20

e) … über meine Konzentration

Die App von Montag und Markowetz belegt, was viele Smartphonenutzer sich selbst wohl nur ungern eingestehen: Smartphones bestimmen unseren dienstlichen und privaten Alltag. Emails, Eilmeldungen, Whatsapp-Nachrichten – es vergeht keine Stunde, in der das Gerät nicht piepst, vibriert oder blinkt. Die 180 Minuten durchschnittliche Nutzungsdauer sind für Christian Montag aber nicht das Hauptproblem an Smartphones. Es ist vielmehr die Aufteilung: „Wir unterbrechen uns den ganzen Tag. Das heißt, wir können uns auf nichts mehr konzentrieren, weil wir permanent das Gerät schon in der Hand haben, um mal irgendwas zu checken“.21

Zwei US-Universitäten haben in einer gemeinsamen Studie den Einfluss von Handybenachrichtigungen auf die Konzentration untersucht. Das Ergebnis: Probanden, die für die Studie sämtliche Benachrichtigungen aktiviert hatten, zeigten bereits nach kurzer Zeit einen deutlich höheren Grad an Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität. Die weiteren Symptome, mangelndes Fokussierungsvermögen, Zappeln und Rastlosigkeit, haben die Forscher sogar mit denen des ADHS-Syndroms verglichen, ohne ADHS jedoch in einen kausalen Zusammenhang mit den Benachrichtigungen zu stellen.22 Der Leiter der Studie, der Psychologe Kostadin Kushlev von der University of Virginia, hält die Ergebnisse aber nichtsdestotrotz für beunruhigend:“Die Ergebnisse zeigen einfach, dass die dauernde digitale Stimulation zu einer gestiegenen, problematischen Aufmerksamkeitsstörung in der modernen Gesellschaft führt.“23