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Krieg und Intrigen, Ehre und Tod, Liebe und Hass.
Das Königreich Rillanon befindet sich im Krieg. Doch nicht nur der Feind von außen bedroht den Frieden, denn Intrigen und Verrat beherrschen den Königshof, und so wird viel zu spät auf die Invasion reagiert. Der Magierlehrling Pug und sein bester Freund, der junge Krieger Tomas, wissen nichts von den Geschehnissen bei Hofe. Für sie bedeutet dieser Krieg eine Möglichkeit, sich zu beweisen und vielleicht sogar Ruhm zu erlangen – bis sie Teil der Intrigen werden und den wahren Schrecken des Krieges begegnen.
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Seitenzahl: 598
Buch
Das Königreich Rillanon befindet sich im Krieg. Doch nicht nur der Feind von außen bedroht den Frieden, denn Intrigen und Verrat beherrschen den Königshof, und so wird viel zu spät auf die Invasion reagiert. Der Magierlehrling Pug und sein bester Freund, der junge Krieger Tomas, wissen nichts von den Geschehnissen bei Hofe. Für sie bedeutet dieser Krieg eine Möglichkeit, sich zu beweisen und vielleicht sogar Ruhm zu erlangen – bis sie Teil der Intrigen werden und den wahren Schrecken des Krieges begegnen.
Autor
Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego im Süden Kaliforniens. Viele Jahre lang hat er Rollenspiele und Computerspiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt Midkemia seiner Romane. Die in den 80er Jahren begonnene Saga ist bereits ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens.
Raymond Feist bei Blanvalet:
Die Midkemia-Saga: 1. Der Lehrling des Magiers, 2. Der verwaiste Thron, 3. Die Gilde des Todes
Weitere Titel in Vorbereitung
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Raymond Feist
Die
Midkemia-Saga 1
Der Lehrling des Magiers
Deutsch von Dagmar Hartmann
Die Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel »The Riftwar Saga 1:
Magician Apprentice« bei Bantam Books, New York.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 1982 by Raymond Feist
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1984 by Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
Karte: © Melanie Korte
HK · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18444-5V001
www.blanvalet.de
Der Sturm
Der Sturm war losgebrochen.
Pug tänzelte am Klippenrand entlang. Seine Füße fanden kaum Halt, während er sich seinen Weg zwischen den Prellen hindurchbahnte. Seine dunklen Augen suchten in den Tümpeln unter den Klippen nach den stacheligen Wesen, die der Sturm dorthin getrieben hatte. Seine jungen Muskeln zeichneten sich unter dem dünnen Hemd ab, als er den Sack mit den Sandkriechern und Krabben zurechtrückte, die er bereits aus diesem Wassergarten gefischt hatte.
Der Meeresschaum glitzerte in der Nachmittagssonne, und der Westwind zerzauste sein sonnengebleichtes braunes Haar. Pug stellte seinen Sack ab, vergewisserte sich, dass er fest verschnürt war, und hockte sich dann auf einen Sandflecken. Noch war der Sack zwar nicht voll, aber Pug freute sich über eine Extra-Stunde, in der er sich ausruhen konnte. Megar, der Koch, würde ihm keinen Ärger machen, auch wenn er lange fortblieb, wenn nur der Sack möglichst voll war. Den Rücken an einen großen Felsbrocken gelehnt, döste Pug schon bald in der Sonne ein.
Ein kalter, nasser Sprühregen weckte ihn Stunden später. Erschrocken riss er die Augen auf. Er wusste sofort, dass er viel zu lange geblieben war. Westwärts über dem Meer verkündeten rollende, sich ballende Wolken einen weiteren Sturm. Unter ihnen hing der Regen wie ein dunkler Schleier. Stürme waren im Frühsommer an diesem Teil der Küste sehr häufig. Im Süden ragten die hohen Zinnen von Seglers Gram empor, reckten sich gen Himmel, während die Wellen gegen die Klippen krachten. Hinter den Brechern setzten die Wogen weiße Kappen auf. Dies war ein sicheres Zeichen, dass der Sturm bald losbrechen würde. Pug wusste, dass er in Gefahr war, denn bei einem Sommersturm lief jeder, der sich am Strand befand, Gefahr zu ertrinken. Wenn sie heftig genug waren, sogar jeder auf dem Flachland dahinter.
Er packte seinen Sack und lief nordwärts, in Richtung Burg. Als er zwischen den Tümpeln hindurchlief, spürte er, wie der Wind immer kälter und feuchter wurde. Schatten senkten sich auf die Erde, als sich die ersten Wolken vor die Sonne schoben, und leuchtende Farben wurden zu mattem Grau. Draußen auf der See zuckten die ersten Blitze aus den schwarzen Wolken, und das ferne Grollen des Donners übertönte das Brausen des Meeres.
Als er das erste Stück offenen Strandes erreichte, lief Pug schneller. Der Sturm näherte sich mit größerer Geschwindigkeit, als er es für möglich gehalten hatte, und trieb dabei die steigende Flut vor sich her. Als er die zweite Reihe der Priele erreichte, erstreckten sich noch knapp drei Meter trockenen Sands zwischen dem Rand des Wassers und den Klippen.
So schnell es ging eilte Pug über die Felsen. Er sprang, verschätzte sich und kam schlecht auf. Er fiel in den Sand und umklammerte seinen Knöchel. Als hätte sie nur darauf gewartet, rollte in diesem Augenblick eine Welle auf ihn zu und verschluckte ihn vorübergehend. Blindlings schlug er um sich und fühlte, wie sein Sack fortgespült wurde. Verzweifelt grabschte er danach, warf sich nach vorn – aber sein Knöchel gab unter ihm nach. Er ging unter, schluckte Wasser. Spuckend und hustend hob er den Kopf. Er stand gerade wieder, als eine zweite Welle – höher noch als die erste – ihn hart gegen die Brust traf. Wieder fiel er um, diesmal auf den Rücken. Pug war mit dem Spiel in den Wellen aufgewachsen, aber jetzt brachten der Schmerz in seinem Knöchel und der Angriff der Wellen selbst ihn, den geübten Schwimmer, an den Rand der Verzweiflung, ja, einer Panik. Er kämpfte dagegen an und schnappte nach Luft, als die Welle zurückrollte. Halb schwamm, halb kroch er auf die Klippen hinauf.
Oben angelangt stützte er sich gegen den Stein, belastete den verletzten Knöchel so wenig wie möglich und schob sich vorsichtig vorwärts. Mit jeder Welle stieg das Wasser höher. Als er endlich eine Stelle erreichte, von der aus er auf den Weg nach oben gelangen konnte, reichte ihm das Nass schon bis zur Taille. Er brauchte seine ganze Kraft, um sich auf den Weg hochzuziehen. Danach blieb er keuchend einen Moment dort liegen. Dann kroch er über den Weg. Auf diesem schlüpfrig-steinigen Untergrund wollte er seinem geschundenen Knöchel nicht trauen.
Die ersten Tropfen fielen bereits, als er weiterkroch. Er verkratzte sich Knie und Schienbeine auf dem Felsen, bis er endlich den grasigen Gipfel erreichte. Erschöpft fiel Pug vornüber, keuchend von dem anstrengenden Aufstieg. Die vereinzelten Tropfen wurden allmählich zu einem leichten, aber ständigen Regen.
Als er wieder zu Atem gekommen war, setzte sich Pug auf und untersuchte seinen geschwollenen Knöchel. Er tat weh, aber er ließ sich bewegen. Er war also nicht gebrochen! Er würde den ganzen Weg nachhause hinken müssen, aber nachdem er gerade der Gefahr zu ertrinken entgangen war, fühlte er sich relativ wohl.
Pug würde durchnässt und unterkühlt in der Stadt ankommen. Dort würde er sich eine Bleibe suchen müssen, denn die Tore der Burg waren schon für die Nacht geschlossen. Und mit seinem verletzten Knöchel wollte er nicht versuchen, über die Mauer hinter den Ställen zu klettern. Außerdem würde nur Megar mit ihm schimpfen, wenn er warten und sich erst am nächsten Tag in die Burg schleichen würde. Sollte man ihn allerdings erwischen, wie er über die Mauer kletterte, hätten Schwertmeister Fannon oder Pferdemeister Algon bestimmt viel Schlimmeres als nur Worte für ihn auf Lager.
Während er sich ausruhte, wurde der Regen immer dichter. Der Himmel verdunkelte sich, als Sturmwolken die späte Nachmittagssonne verschluckten. Wut auf sich selbst, weil er den Sack mit den Sandkriechern verloren hatte, trat an die Stelle seiner Erleichterung. Sein Missbehagen wurde noch größer, als er über seine Dummheit nachdachte, eingeschlafen zu sein. Wenn er wach geblieben wäre, hätte er den Rückweg ohne Eile antreten können. Er hätte sich dann nicht den Knöchel verrenkt und Zeit genug gehabt, im Flussbett nach glatten Steinen zu suchen, die er für seine Schleuder so schätzte. Das konnte er jetzt vergessen, und es würde mindestens eine Woche vergehen, ehe er wieder herkommen konnte. Wenn Megar nicht statt seiner einen anderen Jungen schicken würde, was ziemlich wahrscheinlich war, da er mit leeren Händen zurückkehren würde.
Pug wurde allmählich bewusst, wie ungemütlich es war, im Regen zu sitzen. So beschloss er weiterzuziehen. Er stand auf und prüfte seinen Knöchel. Der tat immer noch weh, aber Pug konnte damit gehen. Er hinkte über das Gras zu jener Stelle, wo er seine Habe zurückgelassen hatte, und hob seinen Rucksack, seinen Spazierstock und seine Schlinge auf. Er fluchte laut, als er entdeckte, dass sein Rucksack aufgerissen war. Sein Brot und der Käse fehlten. Das waren Waschbären gewesen, möglicherweise auch Zauneidechsen, dachte er. Er schleuderte den leeren Sack zur Seite und schimpfte auf sein Pech.
Dann holte er tief Luft, stützte sich schwer auf seinen Stock und trat den Weg über die flachen Hügel an, die die Klippen von der Straße trennten. Überall standen kleine Baumgrüppchen, doch zu Pugs Bedauern gab es keinen besseren Schutz in der Nähe. Wenn er sich unter einen der Bäume stellte, würde er ebenso nass werden, als wenn er gleich bis zur Stadt weiterwanderte.
Der Wind wurde stärker. Schon fühlte ihn Pug eisig kalt an seinem nassen Rücken. Er schauderte und beschleunigte seinen Schritt, so gut er es vermochte. Die kleinen Bäume fingen an, sich im Wind zu neigen, und Pug hatte das Gefühl, eine riesige Hand stieße ihn in den Rücken. Als er die Straße erreichte, wandte er sich nach Norden. Er hörte den verwunschenen Ruf des großen Waldes im Osten. Der Wind pfiff durch die Zweige der uralten Eichen und ließ den Wald noch düsterer erscheinen. Wahrscheinlich war es im Wald jetzt nicht gefährlicher als auf der Straße des Königs. Trotzdem standen dem Jungen die Haare zu Berge, als er an die Geschichten von Gesetzlosen und anderen, weniger menschlichen Missetätern dachte.
Pug huschte über die Straße und fand ein wenig Schutz im Graben, der daneben entlangführte. Der Wind wurde noch stärker, Regen brannte in seinen Augen, und Tränen liefen über seine schon nassen Wangen. Ein Windstoß packte ihn, und vorübergehend verlor er das Gleichgewicht. Er musste vorsichtig auftreten, um nicht in unerwartet tiefen Pfützen die Balance zu verlieren.
Fast eine Stunde lang humpelte er durch den immer stärker werdenden Wind. Die Straße führte nun nach Nordwesten, und damit schlug ihm der heulende Wind fast voll ins Gesicht. Pug lehnte sich vor, sein Hemd blähte sich hinter ihm. Er schluckte kräftig, um die in ihm aufsteigende Panik zu unterdrücken. Er wusste, dass er in Gefahr war, denn der Sturm tobte weit wütender, als es sonst in dieser Jahreszeit üblich war. Große gezackte Blitze stießen auf die dunkle Landschaft herab, Bäume und Straße wurden in hartes, strahlendes Weiß getaucht. Rumpelnder Donner dröhnten über ihm. Jetzt war seine Angst vor dem Sturm ebenso mächtig wie die vor eingebildeten Räubern und Trollen. Er beschloss, zwischen den Bäumen nahe der Straße entlangzugehen. Dort würde der Wind ein wenig durch die Eichen abgehalten werden.
Als er sich dem Wald näherte, ließ ihn ein krachendes Geräusch auf der Stelle verharren. Im Dämmerlicht des Sturmes konnte er nur schwach die Gestalt eines schwarzen Waldebers ausmachen, der aus dem Unterholz hervorbrach. Das Schwein taumelte aus dem Gebüsch, stolperte und raffte sich sogleich wieder auf. Pug konnte es ganz deutlich sehen, wie es dastand und ihn anstarrte, wobei es den Kopf von einer Seite zur anderen schwenkte. Die beiden großen Stoßzähne schienen im schwachen Licht zu glühen. Regenwasser tropfte daran herab. Die Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Das Tier stampfte mit den Füßen. Wildschweine waren immer schlechter Laune, aber gewöhnlich mieden sie Menschen. Dieses hier war jedoch durch den Sturm in Panik geraten, und Pug wusste, dass er schwer verletzt, ja, getötet werden konnte, wenn es ihn angriff.
Er stand stocksteif da und war bereit, sich mit dem Stock zu wehren. Aber er hoffte, dass das Schwein in den Wald zurückkehren würde. Der Eber hob den Kopf und prüfte den Geruch des Jungen im Wind. Seine rosigen Augen schienen zu glühen, während es unentschlossen zitterte. Ein Geräusch ließ es zu den Bäumen herumfahren. Dann senkte es den Kopf und griff an.
Pug schwang seinen Stock. Er traf den Kopf des Schweins an der Seite. Dann ging er zu Boden, weil das Schwein gegen seine Brust prallte, aber mit der Schulter, nicht mit den Stoßzähnen. Ein Gewicht senkte sich auf seinen Körper. Pug bedeckte das Gesicht mit den Händen, presste dabei die Arme dicht an die Brust und erwartete, aufgespießt zu werden.
Nach einem kurzen Augenblick bemerkte er, dass sich das Schwein nicht mehr rührte. Er ließ die Hände von seinem Gesicht sinken und stellte fest, dass das Schwein über seinen Beinen lag. Ein schwarzgefiederter Pfeil ragte aus seiner Seite.
Pug schaute zum Waldrand hinüber. Ein Mann, in braunes Leder gekleidet, stand dort und umwickelte hastig einen langen Bogen mit einem öligen Tuch. Nachdem die kostbare Waffe vor dem Regen geschützt war, kam der Mann zu dem Jungen und dem Tier hinüber.
Er trug einen Umhang mit Kapuze. Sein Gesicht war nicht zu sehen, als er neben Pug aufs Knie niedersank. »Alles in Ordnung, Junge?«, rief er über den Lärm des Windes hinweg. Dann hob er den toten Eber von Pugs Beinen. »Irgendwas gebrochen?«
»Ich glaube nicht«, brüllte Pug zurück und untersuchte sich selbst. Seine rechte Seite schmerzte, und auch seine Beine schienen zerschunden. Mit seinem noch immer schmerzenden Knöchel war das Maß für diesen Tag seiner Meinung nach übervoll, aber nichts schien gebrochen oder auf Dauer beschädigt zu sein.
Große, fleischige Hände stellten ihn wieder auf die Beine. »Hier«, kommandierte der Mann und reichte ihm seinen Stock und Bogen. Pug nahm sie, während der Fremde mit einem großen Jagdmesser geschickt den Eber zerlegte. Er vollendete seine Arbeit und wandte sich dann Pug zu. »Komm mit, Junge. Du bleibst am besten bei meinem Herrn und mir. Es ist nicht weit, aber wir sollten uns beeilen. Dieser Sturm wird noch schlimmer. Kannst du laufen?«
Pug machte einen unsicheren Schritt und nickte. Ohne ein weiteres Wort schulterte der Mann das Schwein und nahm seinen Bogen. »Komm«, wiederholte er und wandte sich dem Wald zu. Mit forschen Schritten holte er aus, und Pug hatte Mühe mitzukommen.
Der Wald hielt den Sturm nur in geringem Maße ab, sodass eine Unterhaltung unmöglich war. Ein kurzer Blitz erhellte die Szene für einen Augenblick, und Pug konnte einen Blick auf das Gesicht des Mannes werfen. Er versuchte sich zu erinnern, ob er den Fremden schon früher einmal gesehen hatte. Er sah wie alle Jäger und Waldbewohner aus, die in den Wäldern von Crydee hausten: breitschultrig, groß und offenbar sehr kräftig. Er hatte dunkles Haar, einen dunklen Bart und das raue, wettergegerbte Gesicht eines Mannes, der die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbringt.
Ein paar schreckliche Augenblicke lang fragte sich der Junge, ob der Mann einer Bande Gesetzloser angehören mochte, die sich tief im Herzen des Waldes verbarg. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Kein Gesetzloser würde sich mit einem offensichtlich armen Knaben aus der Burg abgeben.
Dann fiel ihm ein, dass der Mann seinen Herrn erwähnt hatte. Pug vermutete daher, dass es sich um einen Freisassen handelte, einen, der mit einem Landbesitzer auf dessen Grund lebte. Er würde für ihn arbeiten, würde ihm aber nicht wie ein Leibeigener gehören. Die Freisassen wurden frei geboren und gaben einen Teil ihrer Ernte oder Herde als Austausch für die Benutzung des Landes ab. Er musste ein freier Mann sein. Kein Leibeigener durfte einen Langbogen besitzen. Aber Pug konnte sich nicht erinnern, dass es im Wald Landbesitz gab. Es war ein Rätsel für den Knaben, aber die Verletzungen des Tages vertrieben bald all seine Neugier.
Nach einer kleinen Ewigkeit trat der Mann in ein Dickicht von Bäumen. Pug hätte ihn in der Dunkelheit fast verloren, denn die Sonne war schon vor geraumer Zeit untergegangen. Jetzt fehlte auch noch das wenige Licht, das trotz des Sturmes noch da gewesen war. Er folgte dem Mann mehr nach dem Geräusch seiner Schritte und nach dem Tastsinn als mit den Augen. Pug hatte das Gefühl, sich auf einem Weg zu befinden, der zwischen den Bäumen hindurchführte, denn da war kein Unterholz, in dem sich seine Füße verfingen. Von der Stelle aus, wo sie sich noch vor wenigen Augenblicken befunden hatten, musste dieser Weg schon bei Tag schwierig zu finden sein, und in der Nacht war dies schier unmöglich, wenn man nicht wusste, wo er verlief.
Schließlich traten sie auf eine Lichtung, in deren Mitte ein kleines steinernes Häuschen stand. Licht fiel aus einem einsamen Fenster, und Rauch stieg aus dem Kamin auf. Sie überquerten die Lichtung, wobei sich Pug darüber wunderte, wie relativ mild der Sturm auf diesem Fleckchen Wald war.
Als sie die Tür erreichten, trat der Mann beiseite. »Geh du nur immer hinein, Junge. Ich muss das Schwein häuten.«
Pug nickte benommen, stieß die Tür auf und trat ein.
»Mach die Tür zu, Junge! Sonst erkälte ich mich, und du bist schuld an meinem Tode!«
Pug gehorchte ganz schnell. Dann drehte er sich um und sah sich um. Das Innere des Häuschens bestand aus einem einzelnen kleinen Raum. An einer Wand befand sich die Feuerstelle, mit einem großen Herd davor. Ein leuchtendes, fröhliches Feuer prasselte und verbreitete warmen Schein. Neben der Feuerstelle stand ein Tisch, hinter dem eine schwere, in Gelb gekleidete Gestalt ruhte. Das graue Haar und der Bart bedeckten fast das gesamte Gesicht mit Ausnahme der lebhaften blauen Augen, die im Feuerschein funkelten. Eine lange Pfeife ragte aus dem Bart hervor, und enorme Wolken aus hellem Rauch stiegen aus ihr auf.
Pug kannte den Mann. »Meister Kulgan …«, setzte er an, denn der Mann war der Magier und Ratgeber des Herzogs, eine vertraute Gestalt in der Umgebung der Burg.
Kulgan sah Pug an und sagte mit seiner tiefen, rollenden, mächtigen Stimme: »Also kennst du mich?«
»Ja, mein Herr. Aus der Burg.«
»Wie lautet dein Name, Knabe?«
»Pug, Meister Kulgan.«
»Jetzt erinnere ich mich.« Der Magier wedelte mit einer Hand. »Aber nenn mich nicht ›Meister‹, Pug – obwohl ich zurecht als ein Meister meiner Kunst bezeichnet werde.« Fröhliche Fältchen zeigten sich um seine Augen. »Ich bin zwar von höherer Geburt als du, aber nicht um vieles. Sieh, dort am Feuer hängt eine Decke, und du bist durchnässt. Häng deine Kleider zum Trocknen auf, und dann setz dich her.« Er deutete auf eine Bank, die sich ihm gegenüber befand.
Pug tat, wie ihm geheißen, behielt aber den Magier die ganze Zeit über im Auge. Kulgan war zwar Mitglied des herzoglichen Hofes, aber immer noch ein Magier, und das machte Pug misstrauisch. Gewöhnlich wurde Kulgan vom einfachen Volk nicht sehr geschätzt. Es war noch gar nicht so lange her, da hätte man ihn mit Steinen aus Crydee vertrieben. Seine Stellung bei Hofe sorgte zwar dafür, dass er von den Bürgern geduldet wurde, aber alte Ängste vergingen nur langsam.
Nachdem Pug seine Kleider aufgehängt hatte, setzte er sich. Er fuhr zusammen, als er ein Paar roter Augen entdeckte, die ihn unter dem Tisch hervor anstarrten. Ein schuppiger Kopf erhob sich über die Tischplatte und musterte den Jungen.
Kulgan lachte. »Keine Angst, Knabe. Fantus frisst dich nicht.« Er legte die Hand auf den Kopf der Kreatur, die neben ihm auf der Bank hockte, und rieb über deren Brauenknochen. Das Wesen schloss die Augen und gab ein leises, sanftes Brummen von sich, ähnlich dem Schnurren einer Katze.
Pug schloss den Mund, der ihm vor Überraschung offen geblieben war. Dann fragte er: »Ist das wirklich ein Lindwurm, mein Herr?«
Der Magier lachte. »Manchmal denkt er es, Knabe. Fantus ist ein Feuerdrache und mit dem Lindwurm verwandt, aber kleiner von Statur.« Die Kreatur öffnete ein Auge und richtete es auf den Magier. »Aber mit ebenbürtigem Herzen«, fügte Kulgan hastig hinzu, und der Drache schloss sein Auge wieder. Kulgan sprach leise, machte eine Verschwörermiene. »Er ist sehr schlau. Pass also auf, was du zu ihm sagst.«
Pug nickte als Zeichen, dass er das tun würde. »Kann er denn Feuer atmen?«, fragte er mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen. Für jeden dreizehnjährigen Jungen war selbst ein Verwandter eines Lindwurms schon Grund genug zu scheuer Ehrfurcht.
»Wenn er in der Stimmung ist, dann kann er schon eine oder zwei Flammen speien. Aber er scheint nur selten in der Stimmung zu sein. Ich glaube, das ist auf das gute Futter zurückzuführen, das er von mir bekommt. Seit Jahren musste er nicht mehr jagen. Deshalb ist er wohl ein bisschen aus der Übung, was die Künste der Lindwürmer angeht. Ehrlich gesagt, ich verwöhne ihn schrecklich.«
Diese Bemerkung beruhigte Pug ein wenig. Wenn der Magier diese Kreatur so sehr mochte – so fremdartig sie auch war –, dass er sie verwöhnte, dann wirkte er dadurch menschlicher und weniger mysteriös. Pug musterte Fantus. Er bewunderte die Art, in der das Feuer goldene Lichter auf seine smaragdgrünen Schuppen zauberte. Der Drache war etwa so groß wie ein Hund, aber mit einem langen, sehnigen Nacken, an dessen Ende ein alligatorähnlicher Kopf saß. Er hatte seine Schwingen auf dem Rücken gefaltet, und zwei Klauen traten ziellos die Luft, als Kulgan ihn am Kopf kraulte. Der lange Schweif wedelte dabei nur Zentimeter über dem Boden.
Die Tür wurde geöffnet, und der große Bogenschütze trat ein, das aufgespießte Schwein vor sich haltend. Ohne ein Wort ging er zur Feuerstelle und schickte sich an, den Eber zu braten. Fantus hob den Kopf. Sein langer Hals half ihm, über den Tisch zu schauen. Die gespaltene Zunge zuckte, und schon sprang der Drache über den Tisch und watschelte zum Herd. Er suchte sich ein warmes Plätzchen vor dem Feuer und rollte sich dort zusammen, um die Wartezeit bis zum Essen zu dösen.
Der Freisasse öffnete seinen Umhang und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. »Der Sturm wird vor Morgengrauen vorüber sein, denke ich.« Er kehrte zum Feuer zurück und bereitete eine Tunke aus Wein und Kräutern zu, mit der er das Schwein dann übergoss. Pug bemerkte überrascht eine große Narbe, die über die linke Gesichtshälfte des Mannes lief. Rot und wütend leuchtete sie im Schein der Flammen.
Kulgan deutete mit seiner Pfeife auf den Freisassen. »Wie ich meinen verschwiegenen Freund hier kenne, hast du noch nicht richtig seine Bekanntschaft gemacht. Meecham, dieser Knabe hier ist Pug aus der Burg Crydee.« Meecham nickte kurz und machte sich dann wieder an die Arbeit, das Schwein zu rösten.
Pug nickte zurück, aber es war ein bisschen zu spät, sodass Meecham es nicht mehr mitbekam. »Ich habe mich noch gar nicht bei Euch dafür bedankt, dass Ihr mich vor dem Eber gerettet habt.«
»Dafür brauchst du dich nicht zu bedanken, mein Junge. Hätte ich das Tier nicht erschreckt, hätte es dich auch nicht angegriffen.« Er ging zu einer anderen Ecke des Raumes hinüber, nahm braunen Teig aus einem mit einem Tuch bedeckten Eimer und fing an, ihn zu kneten.
»Wissen Sie, Herr«, wandte sich Pug an Kulgan, »sein Pfeil hat das Schwein getötet. Es war wirklich ein Glück, dass er dem Tier gefolgt ist.«
Kulgan lachte. »Die arme Kreatur, die unser willkommener Gast beim Abendessen ist, ist genauso ein Opfer der Umstände geworden wie du selbst.«
Pug schien verblüfft. »Ich kann Euch nicht folgen, Herr.«
Kulgan stand auf, nahm einen Gegenstand vom obersten Brett seines Bücherregals und stellte ihn vor dem Jungen auf den Tisch. Er war in dunkelblauen Samt gehüllt. Pug wusste sofort, dass es sich um etwas sehr Wertvolles handeln musste, wenn es so kostbar verpackt war. Kulgan entfernte den Samt und hielt dann eine Kristallkugel in der Hand, die im Feuerschein leuchtete. Pug machte entzückt »Ah«, denn sie schien ohne Makel und war einfach prachtvoll in ihrer schlichten Form.
Kulgan deutete auf das Glas. »Diese Gabe wurde von Althafain aus Carse entwickelt. Er ist ein mächtiger Zauberkünstler, der mich eines solchen Gedankens für würdig hielt, wohl weil ich ihm in der Vergangenheit ein-, zweimal einen Gefallen getan habe. Am heutigen Tage erst kehrte ich aus der Gesellschaft des Meisters heim und erprobte seine Gabe. Blicke tief in die Kugel, Pug.«
Pug heftete seinen Blick auf das Kristall und sah das Flackern der Flammen, die tief im Innern zu zucken schienen. Das Zerrbild des Raumes verschmolz und begann zu tanzen, als seine Augen sich bemühten, jeden einzelnen Aspekt innerhalb der Kugel zu erspähen. Sie verflossen und vermischten sich miteinander, wurden plötzlich dunkel und undeutlich. Ein sanftes weißes Schimmern in der Mitte der Kugel trat an die Stelle des roten Feuerscheins, und Pug fühlte, wie sein Blick von der freundlichen Wärme gefangengenommen wurde. Es war die Wärme in der Küche der Burg, schoss es ihm noch durch den Kopf.
Plötzlich verschwand das milchige Weiß in der Kugel, und Pug konnte vor seinen Augen die Küche sehen. Der fette Koch Alfan machte Pasteten und leckte sich die süßen Krümel von den Fingern. Dies erregte den Zorn Megars, des obersten Kochs, denn er hielt das für eine abscheuliche Angewohnheit. Pug lachte über die Szene, und sie verging. Plötzlich war er sehr müde.
Kulgan hüllte die Kugel in den Stoff und legte sie wieder fort. »Du hast dich sehr gut angestellt, Knabe«, sagte er nachdenklich. Einen Augenblick lang betrachtete er den Jungen, als würde er über etwas nachdenken. Dann setzte er sich. »Ich hätte nicht gedacht, dass du in der Lage bist, gleich beim ersten Versuch ein so klares Bild zu schaffen. Aber in dir scheint mehr zu stecken, als es den Anschein hat.«
»Mein Herr?«
»Schon gut, Pug.« Kulgan machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Ich habe dieses Spielzeug zum ersten Mal benutzt. Ich wollte herausfinden, wie weit ich meine Blicke senden kann, als ich dich auf dem Weg zur Straße entdeckte. Aus deinem Hinken und deiner mitgenommenen Erscheinung schloss ich, dass du die Stadt niemals erreichen würdest. So schickte ich Meecham aus, um dich zu holen.«
Pug schien verlegen durch die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde. Röte stieg ihm in die Wangen. Mit der hohen Selbsteinschätzung eines Dreizehnjährigen erklärte er: »Das wäre nicht nötig gewesen, mein Herr. Ich hätte die Stadt beizeiten erreicht.«
Kulgan lächelte. »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Der Sturm ist außergewöhnlich heftig für diese Jahreszeit und sehr gefährlich für Reisende.«
Pug lauschte dem sanften Klopfen der Regentropfen auf dem Dach der Hütte. Der Sturm hatte offenbar nachgelassen, und Pug zweifelte an den Worten des Zauberers. Als hätte dieser seine Gedanken gelesen, äußerte Kulgan: »Du solltest mir glauben, Pug. Diese Lichtung wird nicht nur durch die hohen Baumstämme ringsum geschützt. Würdest du dich hinter den Ring aus Eichen begeben, der die Grenzen meines Besitzes kennzeichnet, würdest du den Sturm in seiner vollen Wut zu spüren bekommen. Meecham, was meinst du zu diesem Wind?«
Meecham legte den Brotteig nieder, den er knetete, und dachte einen Moment lang nach. »Fast so schlimm wie der Sturm, bei dem vor drei Jahren sechs Schiffe aufgelaufen sind.« Er machte eine kurze Pause, als müsse er seine Schätzung noch einmal überdenken. Dann nickte er bestätigend. »Ja, fast so schlimm, aber er wird nicht so lange anhalten.«
Pug dachte an den Sturm vor drei Jahren zurück, bei dem eine Handelsflotte auf die Felsen von Seglers Gram getrieben worden war. Als er seinen Höhepunkt erreicht hatte, waren die Wachen auf den Burgmauern gezwungen gewesen, in ihren Türmen zu bleiben, andernfalls wären sie herabgeblasen worden. Wenn dieser Sturm ebenso heftig war, dann war Kulgans Zauber mächtig, denn hier in seiner Hütte hörte sich der Sturm eher wie ein Frühlingsregen an.
Kulgan lehnte sich auf seiner Bank zurück und steckte sich wieder die Pfeife an. Als er eine große, weiße Rauchwolke ausstieß, wurde Pugs Aufmerksamkeit von einem Bücherregal gefesselt, das sich hinter dem Magier befand. Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er versuchte zu lesen, was auf den Buchrücken stand. Aber es gelang ihm nicht.
Kulgan zog eine Braue hoch. »So, du kannst also lesen, was?«
Pug zuckte zusammen. Er fürchtete, den Magier beleidigt zu haben, indem er versucht hatte, in sein Reich vorzudringen. Kulgan, der seine Verlegenheit spürte, beruhigte ihn. »Schon gut, Knabe. Es ist kein Verbrechen, die Buchstaben zu kennen.«
Pug fühlte, wie sein ungutes Gefühl wich. »Ich kann ein bisschen lesen, mein Herr. Megar, der Koch, hat mir gezeigt, wie man die Aufschriften auf den Kisten liest, die im Keller gelagert werden. Ich kenne auch ein paar Zahlen.«
»Soso, auch ein paar Zahlen«, wiederholte der Magier gutmütig. »Na, du bist mir ja mal ein seltener Vogel.«
»Das Buch da, mein Herr, was ist das?« Pug deutete auf ein in kostbares dunkelbraunes Leder gebundenes Werk. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Einen Augenblick bedachte Kulgan den Jungen mit einem Blick, der in Pug gleich wieder ein ungutes Gefühl hervorrief. Doch dann lächelte der Zauberer. »Das ist die Geschichte dieses Landes, Knabe. Es ist das Geschenk des Abtes eines Ishaperianer-Klosters. Es handelt sich um die Übersetzung eines Textes aus Kesh, der mehr als einhundert Jahre alt ist.«
Pug nickte. »Was besagt sie?«
Wieder sah Kulgan den Jungen als, als würde er versuchen, etwas in ihm zu sehen. Dann sagte er: »Vor sehr langer Zeit, Pug, gehörten alle diese Lande, vom Endlosen Meer über die Grauen Turmberge bis hin zum Bitteren Meer, zum Kaiserreich Groß-Kesh. Ganz weit im Osten gab es ein kleines Königreich, auf einer Insel namens Rillanon. Es wuchs und verschlang die benachbarten Inselreiche, und schließlich wurde es zum Königreich der Inseln. Später dehnte es sich noch weiter aus, und jetzt nennen wir es einfach nur noch das Königreich. Wir, die wir in Crydee leben, sind Teil dieses Königreichs. Aber wir sind so weit entfernt von seiner Hauptstadt, wie es nur möglich ist, wenn man noch innerhalb seiner Grenzen sein will. Vor vielen, vielen Jahren aber vernachlässigte das Kaiserreich Groß-Kesh diese Lande, denn es befand sich in einem langen, blutigen Konflikt mit seinen Nachbarn im Süden, den Konföderierten Keshs.«
Pug war ganz fasziniert von der Größe verlorener Kaiserreiche, aber dennoch so hungrig, dass es ihm nicht entging, dass Meecham ein paar kleine dunkle Brote in den Ofen schob. Er wandte sich wieder dem Magier zu. »Wer waren die Konf…?«
»Die Konföderierten Keshs«, sagte Kulgan für den Jungen. »Nun, das war eine Gruppe kleiner Nationen, die jahrhundertelang Tribut an Groß-Kesh zahlen mussten. Ein Dutzend Jahre, ehe dieses Buch geschrieben wurde, vereinigten sie sich dann gegen ihre Unterdrücker. Jede Nation für sich allein war nicht in der Lage, sich gegen Groß-Kesh zu stellen, aber vereint glaubten sie sich ihm gewachsen. Doch beide Seiten waren einander ebenbürtig, und der Krieg zog sich über viele Jahre hin. Das Kaiserreich war gezwungen, die Legionen aus den nördlichen Provinzen abzuziehen und nach Süden zu schicken. So blieb der Norden offen für die Vorstöße des neuen, jüngeren Königreiches. Es war Herzog Borrics Großvater, der jüngste Sohn des Königs, der die Armee nach Westen führte und so das Westliche Reich vergrößerte. Seit damals wird alles, was einst zu der alten kaiserlichen Provinz Bosania gehörte – mit Ausnahme der Freien Städte von Natal – als Herzogtum Crydee bezeichnet.«
Pug überlegte einen Augenblick, ehe er sagte: »Ich glaube, ich würde eines Tages gern einmal in dieses Groß-Kesh reisen.«
Meecham schnaubte, was wohl ein Lachen sein sollte. »Und als was würdest du gern reisen? Als Freibeuter?«
Pug fühlte, wie sein Gesicht rot anlief. Freibeuter waren heimatlose Männer, die gegen Bezahlung kämpften. Man achtete sie kaum höher als Gesetzlose.
»Vielleicht wirst du das eines Tages tun, Pug«, meinte Kulgan. »Der Weg ist lang und voller Gefahren, aber man hat schon davon gehört, dass eine tapfere Seele die Reise überlebt hat.«
Das Gespräch am Tisch wandte sich allgemeineren Themen zu, denn der Magier war länger als einen Monat in der südlichen Burg von Carse gewesen und wünschte jetzt das Neueste aus Crydee zu erfahren. Als das Brot fertig war, tischte Meecham es noch heiß auf, zerlegte dann das Schwein und stellte Teller mit Käse und Gemüse vor sie hin. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Pug so gut gegessen. Obwohl er in der Küche arbeitete, stand ihm als Burgjungen nur ein mageres Mahl zu.
Zweimal während des Essens ertappte Pug den Magier dabei, dass er ihn aufmerksam musterte. Als das Essen beendet war, räumte Meecham den Tisch ab, während sich Kulgan und Pug weiter unterhielten. Ein einziges Stück Fleisch war übrig geblieben. Kulgan warf es zu Fantus hinüber, der vor dem Feuer lag. Der Drache öffnete ein Auge, um sich den Bissen anzusehen. Einen Moment lang grübelte er. Er hatte die Wahl zwischen seinem gemütlichen Plätzchen und dem saftigen Fleisch. Dann bewegte er sich die notwendigen zehn Zentimeter vor, schlang die Belohnung in sich hinein und schloss dann wieder sein Auge.
Kulgan entzündete seine Pfeife und sagte: »Welches sind deine Pläne, wenn du das Mannesalter erreicht hast, Knabe?«
Pug kämpfte mit dem Schlaf, aber Kulgans Frage ließ ihn wieder völlig wach werden. Die Zeit der Auswahl, bei der die Knaben aus der Stadt und der Burg als Lehrlinge ausgesucht wurden, war nahe, und Pug klang ganz aufgeregt, als er erwiderte: »Am Mittsommer-Tag hoffe ich, unter Schwertmeister Fannon in die Dienste des Herzogs treten zu dürfen.«
Kulgan betrachtete seinen zierlichen Gast. »Ich hätte gedacht, du hast noch ein, zwei Jahre Zeit bis zur Lehrzeit, Pug.«
Pug errötete. Er war der kleinste Junge seines Alters in der Burg. »Megar, der Koch, meint, ich würde später groß«, erklärte er mit einem leicht trotzigen Unterton. »Niemand weiß, wer meine Eltern waren, also habe ich keine Ahnung, was ich zu erwarten habe.«
»Aha, eine Waise, ja?« Meecham zog eine Braue in die Höhe – seine bislang ausdrucksvollste Geste.
Pug nickte. »Eine Frau, die behauptet hat, mich auf der Straße gefunden zu haben, hat mich bei den Priestern von Dalas in der Bergabtei abgegeben. Sie haben mich in die Burg gebracht, weil sie nicht für mich sorgen konnten.«
»Ja«, warf Kulgan ein, »ich erinnere mich noch, wie diejenigen, die dem Schutz der Schwachen dienen, dich zur Burg brachten. Du warst noch ein Säugling. Nur der Freundlichkeit des Herzogs ist es zu verdanken, dass du heute ein freier Mann bist. Er hielt es für besser, womöglich dem Sohn eines Leibeigenen die Freiheit zu schenken, als sie vielleicht dem Sohn eines freien Mannes zu nehmen. Ohne Beweis hätte er das Recht gehabt, dich als Leibeigenen zu behandeln, wenn er es gewollt hätte.«
»Ein guter Mann, der Herzog«, bemerkte Meecham.
Pug hatte die Geschichte seiner Herkunft schon Hunderte von Malen von Magya in der Küche der Burg vernommen. Er war völlig erschöpft und konnte kaum mehr die Augen offen halten. Kulgan bemerkte es und machte Meecham ein Zeichen. Der große Freisasse nahm ein paar Decken von einem Bord und bereitete dem Jungen eine Schlafstätte. Als er damit fertig war, war Pug bereits mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlummert. Die Hände des riesigen Mannes hoben ihn sanft vom Hocker und legten ihn auf die Decken, dann deckte er ihn zu.
Fantus öffnete die Augen und betrachtete den schlafenden Jungen. Er gähnte herzhaft, krabbelte zu Pug hinüber und kuschelte sich an ihn. Pug verlagerte im Schlaf sein Gewicht ein wenig und legte einen Arm über den Nacken des Drachen. Dieser brummte zufrieden ganz tief hinten in der Kehle, und dann schloss er wieder die Augen.
Der Lehrling
Im Wald herrschte Stille.
Pug und Tomas gingen langsam den Pfad entlang. Sie hatten kein bestimmtes Ziel und ausreichend Zeit. Pug schoss mit einem kleinen Stein auf ein eingebildetes Ziel. Dann wandte er sich zu seinem Kameraden um. »Du glaubst doch nicht, dass deine Mutter wütend war, oder?«
Tomas lächelte. »Nein, sie versteht, wie das ist. Sie hat schon andere Jungs am Tag der Auswahl erlebt. Und ehrlich gesagt, wir waren heute mehr ein Hindernis als eine Hilfe in der Küche.«
Pug nickte. Er hatte einen wertvollen Topf mit Honig fallen gelassen, als er ihn zu Alfan, dem Pastetenkoch, hatte tragen sollen. Dann war ihm ein ganzes Tablett mit frischen Brotlaiben umgekippt, als er es aus dem Ofen gezogen hatte. »Ich habe mich heute wirklich wie ein Tölpel benommen, Tomas.«
Tomas lachte. Er war ein großer Junge mit sandfarbenem Haar und leuchtend blauen Augen. Er lächelte gern und oft und war deshalb überall in der Burg gern gesehen – obwohl er ein Talent dafür hatte, sich und anderen Probleme zu bereiten. Er war Pugs bester Freund, fast schon ein Bruder, und aus diesem Grund wurde Pug von den anderen Jungen akzeptiert, denn sie alle sahen in Tomas ihren heimlichen Führer.
»Du warst auch nicht ungeschickter als ich«, meinte Tomas. »Hast glatt vergessen, das Fleisch hochzuhängen.«
Pug grinste. »Na ja, jedenfalls sind die Hunde des Herzogs jetzt glücklich.« Er kicherte, dann prustete er los. »Sie ist wütend, was?«
Tomas fiel in das Lachen seines Freundes ein. »Wahnsinnig. Dabei haben die Hunde bloß ein bisschen gefressen, ehe sie sie verscheucht hat. Außerdem ist sie vor allem wütend auf Vater. Sie behauptet, die Auswahl wäre für alle Handwerksmeister nur ein Vorwand, um Pfeife rauchend herumzusitzen, Bier zu trinken und sich den ganzen lieben langen Tag Geschichten zu erzählen. Sie sagt, die wüssten schon jetzt ganz genau, wer welchen Burschen auswählen wird.« Damit wurde er auf einmal ernst. »Sie ist stets missmutig, wenn er nicht in der Küche ist, um alles dort zu überwachen. Deshalb hat sie uns heute Morgen auch aus der Küche gejagt, damit sie ihre Laune nicht an uns auslässt. Oder an dir«, fügte er mit einem rätselhaften Lächeln hinzu. »Ich könnte schwören, du bist ihr Liebling.«
Wieder lachte Pug. »Nun, ich mache weniger Ärger.«
Tomas stieß ihn spielerisch in die Rippen. »Du meinst wohl, du lässt dich nicht so oft erwischen.«
Pug hob seine Schleuder, die er noch in der Hand hielt. »Wenn wir mit ein paar Rebhühnern oder Wachteln zurückkommen, findet sie ihre gute Laune vielleicht wieder.«
Tomas lächelte. »Möglich.« Er zog seine eigene Schleuder hervor. Beide Jungen konnten hervorragend damit umgehen. Tomas war der unangetastete Meister unter den Jungen, aber Pug stand ihm nur um weniges nach. Es war unwahrscheinlich, dass einer der beiden einen Vogel im Flug treffen würde. Sollten sie jedoch auf einen stoßen, der sich gerade ausruhte, so bestand durchaus die Möglichkeit, dass einer von ihnen ihn traf. Außerdem hatten sie so etwas zu tun und würden die Auswahl vielleicht für einige Zeit vergessen.
Sie spielten also Jäger und staksten übertrieben leise den Pfad entlang. Tomas ging voraus, als sie den Weg verließen und auf den Tümpel zugingen, der in nicht allzu weiter Ferne lag. Es war unwahrscheinlich, dass sie an diesem Morgen Wild erspähen würden, aber wenn, dann am ehesten in der Nähe des Tümpels.
Die Wälder im Nordosten der Stadt Crydee waren weniger furchterregend als der große Wald im Süden. Viele Jahre lang hatte man hier Bäume gefällt, um deren Holz zu verarbeiten, und jetzt wirkten die Wälder luftiger und heller. Die Jungen aus der Burg hatten oft im Laufe der Jahre hier gespielt. Mit nur wenig Einbildungskraft verwandelten sich die Wälder in wundersame Stätten herrlichster Abenteuer. Großartige Heldentaten hatten hier stattgefunden, waghalsige Fluchten waren geglückt, Herausforderungen waren todesmutig gemeistert worden, und die stummen Bäume waren Zeugen von spektakulären Duellen und Schlachten geworden, als die Jungen ihren Träumen Gestalt verliehen. Bösartige Kreaturen, mächtige Monster und Gesetzlose – all sie waren bekämpft und vernichtet. Oft war dies einhergegangen mit dem Tod eines großen Helden, der seinen trauernden Kameraden noch ein paar angemessene letzte Worte mit auf den Weg gegeben hatte. Und all das schafften sie so schnell, dass sie immer noch rechtzeitig zum Essen wieder in der Burg waren.
Tomas erreichte eine kleine Anhöhe, von der aus man den Tümpel überblicken konnte. Sie wurde durch junge Buchensetzlinge abgeschirmt. Er schob vorsichtig einen Zweig beiseite und blieb ehrfürchtig stehen. »Schau nur, Pug«, flüsterte er. Am Ufer des Tümpels stand ein Hirsch, den Kopf hoch erhoben. Es war ein altes Tier. Das Fell um die Nüstern war ganz weiß, und seinen Kopf krönte ein prächtiges Geweih.
Pug zählte schnell. »Er hat vierzehn Enden.«
Tomas nickte zustimmend. »Das muss der älteste Bock im ganzen Wald sein.« Der Hirsch schien etwas bemerkt zu haben. Sein Ohr zuckte nervös. Sie blieben ganz still, denn sie wollten eine so schöne Kreatur nicht erschrecken oder gar vertreiben. Eine lange, stumme Minute lang musterte der Hirsch mit geblähten Nüstern die Anhöhe.
Tomas berührte Pug an der Schulter und neigte den Kopf zu einer Seite. Pug folgte Tomas’ Blick und entdeckte eine Gestalt, die schweigend auf die Lichtung trat. Es handelte sich um einen großen Mann in waldgrüner Lederkleidung. Er trug einen Langbogen über dem Rücken und ein Jagdmesser am Gürtel. Die Kapuze seines grünen Umhangs war zurückgeworfen, und mit festen, gleichmäßigen Schritten ging er auf das Tier zu. »Das ist Martin«, bemerkte Tomas.
Auch Pug hatte den Jagdmeister des Herzogs erkannt. Martin war ein Waise wie Pug. In der Burg war er als »Langbogen« bekannt, weil niemand so gut wie er mit dieser Waffe umgehen konnte. Die Jungen mochten Martin Langbogen, denn zu ihnen war er immer freundlich, während er sich von den Erwachsenen fernhielt. Als Jagdmeister war er gleichzeitig der Förster des Herzogs. Seine Pflichten hielten ihn oft tagelang von der Burg fern, manchmal sogar für Wochen. Dann suchte er mit seinen Fährtenlesern nach Spuren von Wilderei, möglichen Brandgefahren, Trollen oder Gesetzlosen, die in den Wäldern hausten. Aber wenn er in der Burg war und nicht gerade eine Jagd für den Herzog vorbereitete, dann hatte er immer Zeit für die Jungen. Seine dunklen Augen blickten immer fröhlich, während sie ihn mit Fragen überhäuften oder Geschichten aus den Landen in der Nähe von Crydees Grenzen von ihm hören wollten.
Martin hatte den Hirschen erreicht, streckte sacht seine Hand aus und berührte den Nacken des Tiers. Der große Kopf fuhr hoch, dann stupste der Hirsch mit der Schnauze an Martins Arm. »Wenn ihr langsam herauskommt und still seid«, sagte Martin leise, »lässt er euch vielleicht in seine Nähe.«
Pug und Tomas wechselten einen überraschten Blick und traten dann auf die Lichtung. Langsam gingen sie am Tümpel entlang. Der Hirsch folgte jeder ihrer Bewegungen mit seinem Kopf, wobei er leicht bebte. Martin tätschelte ihn beruhigend. Tomas und Pug erreichten schließlich den Jäger. »Berührt ihn, aber ganz langsam und vorsichtig, damit er nicht erschrickt«, forderte Martin sie auf.
Tomas streckte zuerst die Hand aus, und der Hirsch zitterte unter seinen Fingern. Pug hob die Hand, und schon trat das Tier einen Schritt zurück. Martin sagte ein paar Worte zu dem Hirsch, in einer Sprache, die Pug noch nie zuvor gehört hatte, und das Tier stand still. Pug berührte es und war erstaunt, wie weich das Fell war.
Plötzlich wich der Hirsch zurück und wandte sich um. Mit einem einzigen Satz war er im nächsten Moment zwischen den Bäumen verschwunden. Martin Langbogen schmunzelte. »Auch gut. Wäre nicht gut, wenn er zu zutraulich würde. Würde zu schnell über dem Feuer eines Wilddiebes enden.«
»Er war wunderschön, Martin«, flüsterte Tomas.
Langbogen nickte, den Blick immer noch auf die Stelle gerichtet, an der das Tier verschwunden war. »Das ist er, Tomas.«
»Ich dachte, du jagst Hirsche, Martin«, sagte Pug. »Wie …«
»Der alte Weißbart und ich haben so etwas wie ein Abkommen miteinander, Pug. Ich jage nur Junggesellen unter den Hirschen, Böcke ohne Kühe, oder Kühe, die zu alt sind zum Kalben. Wenn Weißbart eines Tages seinen Harem an einen jüngeren Bock verliert, dann erlege ich ihn vielleicht. Jetzt lässt jeder den anderen in Frieden. Der Tag wird kommen, da werde ich ihn über den Schaft meines Pfeils hinweg ansehen.« Er lächelte den Jungs zu. »Bis dahin werde ich nicht wissen, ob ich den Pfeil fliegen lasse oder nicht.« Er verstummte für eine Weile, als wäre der Gedanke an Weißbarts Altwerden traurig für ihn. Dann meinte er: »Und was bringt zwei so kühne Jäger am frühen Morgen in die Wälder des Herzogs? Da müssen doch noch tausend Dinge zu tun sein, wo heute Nachmittag das große Mittsommerfest stattfindet.«
»Meine Mutter hat uns aus der Küche gejagt«, antwortete Tomas. »Wir haben ihr mehr Ärger als sonst gemacht. Mit der Auswahl heute …« Seine Stimme erstarb, und er war plötzlich ganz verlegen. Martins geheimnisvoller Ruf beruhte zum großen Teil auf einer Geschichte zu jener Zeit, als er nach Crydee gekommen war. Als sein Tag für die Auswahl gekommen war, hatte der Herzog ihn direkt dem alten Jagdmeister zugeteilt. Er hatte nicht wie die anderen Knaben seines Alters vor den versammelten Handwerksmeistern erscheinen müssen. Dieser Verstoß gegen eine der ältesten Traditionen hatte viele Bewohner der Stadt beleidigt, obwohl keiner es gewagt hätte, Herzog Borric seine Gefühle offen zu zeigen. So war Martin Gegenstand ihres Zorns geworden, nicht der Herzog. Im Laufe der Jahre hatte Martin gezeigt, dass die Entscheidung des Herzogs mehr als gerechtfertigt gewesen war, aber noch immer waren die meisten Leute wütend über seine Sonderbehandlung an jenem Tage.
»Tut mir leid, Martin«, entschuldigte sich Tomas.
Martin nickte. »Verstehe schon, Tomas. Ich musste diese Ungewissheit vielleicht nicht selbst ertragen, aber ich habe schon viele andere auf den Tag der Auswahl warten sehen. Und seit vier Jahren stehe ich selbst unter den Meistern. So weiß ich ein wenig von euren Sorgen.«
»Aber du bist nicht bei den anderen Meistern!«, platzte es aus Pug heraus.
Martin schüttelte den Kopf. »Ich hatte gehofft, dass euch das entgehen würde. Aber du hast einen scharfen Verstand, Pug.«
Tomas brauchte eine Weile, bis er begriff, wovon die beiden sprachen. »Dann wählst du keine Lehrlinge aus!«
Martin legte einen Finger an die Lippen. »Kein Wort, Bursche. Nein, mit dem jungen Garret, den ich im letzten Jahr wählte, habe ich jetzt eine vollständige Gruppe von Fährtenlesern.«
Tomas war enttäuscht. Mehr als alles andere wünschte er sich, bei Schwertmeister Fannon in den Dienst zu treten. Aber sollte er nicht als Soldat gewählt werden, dann hätte er das Leben eines Försters, unter Martin, vorgezogen. Jetzt war ihm seine zweite Wahl versagt. Er grübelte einen Augenblick. Dann erhellte sich sein Gesicht. Vielleicht hatte ja Martin ihn nicht ausgewählt, weil Fannon es bereits getan hatte.
Pug bemerkte den Wechsel von Hochstimmung und Traurigkeit bei seinem Freund und wandte sich an Martin. »Du warst mehr als einen Monat lang nicht mehr auf der Burg, Martin. Wo hast du gesteckt?«
»Ich war in Elvandar. Königin Aglaranna hat jetzt zwanzig Jahre lang um ihren Gatten, den Elbenkönig, getrauert, und es gab ein großes Fest.«
Die Antwort überraschte Pug. Für ihn – wie für die meisten Menschen in Crydee – waren die Elben legendäre Wesen. Aber Martin hatte seine Jugend nahe den Elbenwäldern verbracht und war einer der wenigen Menschen, die nach Belieben in diese Wälder im Norden kommen durften. Auch das war etwas, was Martin Langbogen von den anderen unterschied. Martin hatte den Jungen schon früher über die Elben erzählt, doch dies war das erste Mal, dass er von seiner Beziehung zu ihnen sprach. Pug stammelte: »Du hast mit der Elbenkönigin gefeiert?«
»Nun ja, ich saß an dem Tisch, der am weitesten vom Thron entfernt war. Aber ich war da.« Er bemerkte die stille Frage in ihren Augen und fuhr fort: »Wisst ihr, als Knabe wurde ich von den Mönchen aus Silbans Abtei großgezogen. Das ist in der Nähe des Elbenwalds. Ich hab mit Elbenkindern gespielt, und ehe ich hierherkam, ging ich mit Prinz Calin und seinem Cousin Galain auf die Jagd.«
Tomas konnte vor Aufregung kaum stillhalten. Elben hatten für ihn etwas besonders Faszinierendes an sich. »Hast du König Aidan gekannt?«
Martins Augen wurden schmal und seine Haltung plötzlich steif. Tomas bemerkte Martins Reaktion. »Tut mir leid, Martin. Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Martin schüttelte den Kopf. »Nicht deine Schuld, Tomas. Die Elben sprechen die Namen derjenigen nicht mehr aus, die sich auf die Reise zu den Gesegneten Eilanden begeben haben, schon gar nicht, wenn sie zu früh gestorben sind. Sie glauben, dass man, wenn man es tut, die Reisenden von ihrer Fahrt dorthin zurückruft und ihnen damit die letzte Ruhe verwehrt. Ich respektiere ihren Glauben. Aber um deine Frage zu beantworten: Ich habe ihn nie gesehen. Er wurde getötet, als ich noch ein kleiner Junge war. Aber ich habe die Geschichten seiner Taten gehört, und er war ein guter und weiser König.« Martin sah sich um. »Es geht auf Mittag zu. Wir sollten in die Burg zurückkehren.«
Er schritt auf den Pfad zu, und die Jungs gingen neben ihm her. »Wie war das Fest, Martin?«, wollte Tomas wissen.
Pug seufzte, als der Jäger anfing, von den Wundern Elvandars zu erzählen. Auch ihn faszinierten die Geschichten über die Elben, aber nicht annähernd so sehr wie Tomas. Martins Stimme plätscherte in seinen Ohren dahin, während Pugs Gedanken erneut zu der bevorstehenden Auswahl wanderten. Immer wieder sagte er sich, dass er keinen Grund zur Sorge hatte, aber es war nutzlos: Er machte sich Sorgen! Er ertappte sich dabei, dass er dem kommenden Nachmittag mit Furcht entgegensah.
Die Knaben standen im Hof. Es war Mittsommer, der Tag, der ein Jahr beendete und ein neues beginnen ließ. Heute wurde jeder in der Burg ein Jahr älter. Für die älteren Knaben war das sehr wichtig, denn dies war der letzte Tag ihrer Jungenzeit. Heute war die Auswahl.
Pug zupfte am Kragen seiner neuen Tunika. Sie war nicht wirklich neu – es war eine alte von Tomas –, aber die neueste, die Pug je besessen hatte. Magya, Tomas’ Mutter, hatte sie für den Jungen ausgebessert, um sicherzustellen, dass er sich vor dem Herzog und seinem Hofstaat sehen lassen konnte. Magya und ihr Mann, Megar der Koch, waren fast so etwas wie Eltern für den Waisenjungen. Sie pflegten ihn, wenn er krank war, sorgten dafür, dass er zu essen bekam, und verpassten ihm Ohrfeigen, wenn er sie verdiente. Außerdem liebten sie ihn, als wäre er Tomas’ Bruder.
Pug schaute sich um. Die anderen Jungen trugen alle ihre besten Kleider, denn dies war einer der wichtigsten Tage in ihrem jungen Leben. Ein jeder würde vor den versammelten Handwerksmeistern und dem Hofstaat des Herzogs stehen, und man würde jeden im Hinblick auf seine Eignung als Lehrling begutachten. Es war ein Ritual, dessen Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichten, denn die Wahl war bereits getroffen. Die Handwerker und die Angestellten des Herzogs hatten viele Stunden damit verbracht, über die Verdienste eines jeden Jungen zu sprechen, und sie kannten alle schon den Knaben, den sie aufrufen würden.
Es hatte sich im Laufe der Jahre als sehr vernünftig erwiesen, die Jungen im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren in allen Handwerkskünsten arbeiten zu lassen. So konnte man später den am besten geeigneten Jungen in der jeweiligen Kunst unterweisen. Außerdem gab es dadurch eine Unmenge halbgelernter Handwerker für die anderen Berufe, sollte es sich einmal als notwendig erweisen. Das Schlechte an dem System war, dass es immer wieder ein paar Knaben gab, für die keine Lehrstelle ausgewählt wurde. Für diejenigen, die an sich zweifelten, war es eine sorgenvolle Zeit.
Pug schlurfte geistesabwesend mit seinen bloßen Füßen durch den Staub. Im Gegensatz zu Tomas, der scheinbar alles gut machte, was er anfing, bemühte sich Pug oft zu sehr und verdarb damit alles. Er schaute sich um und stellte fest, dass auch ein paar der anderen Jungs Zeichen von Anspannung zeigten. Einige machten raue Witze und taten so, als kümmerte es sie überhaupt nicht, ob sie gewählt würden oder nicht. Andere waren wie Pug in Gedanken versunken und grübelten vielleicht darüber, was sie tun würden, wenn man sie nicht auswählte.
Sollte er nicht ausgewählt werden, stünde es Pug – wie den anderen auch – frei, Crydee zu verlassen, um in einer anderen Stadt Arbeit zu finden. Wenn er blieb, musste er das Land des Herzogs als Freisasse bewirtschaften, oder er konnte eines der Fischerboote übernehmen. Beide Aussichten waren gleichermaßen reizlos, aber er konnte sich nicht vorstellen, Crydee zu verlassen.
Pug dachte an das, was Megar ihm am Abend zuvor gesagt hatte. Der alte Koch hatte ihm geraten, sich nicht zu viele Sorgen wegen der Auswahl zu machen. Pug fragte sich, ob Megar seine eigene Auswahl schon vergessen hatte und sich nicht mehr daran erinnerte, dass die nicht gewählten Knaben vor der ganzen Versammlung von Handwerksmeistern, Haushältern und neu erwählten Lehrlingen stehen mussten, ihren Blicken ausgesetzt, bis auch der letzte Name aufgerufen worden war und sie in Schande entlassen wurden.
Pug biss sich auf die Unterlippe und versuchte, seine Nervosität zu verbergen. Er würde nicht von den Höhen von Seglers Gram springen, wenn man ihn nicht gewählt hätte, wie dies in der Vergangenheit schon einige getan hatten. Aber er konnte den Gedanken auch nicht ertragen, denjenigen gegenüberzustehen, die gewählt worden waren.
Tomas, der neben seinem kleineren Freund stand, stieß Pug mit einem Ellbogen in die Rippen, denn der Herold des Herzogs war hinaus auf den Balkon getreten, von dem aus man den Hof überblicken konnte, und gab den Wachen ein Zeichen. Die kleine Tür in dem großen Tor wurde geöffnet, und die Handwerksmeister traten ein. Sie überquerten den Hof, bis sie zu Füßen der breiten Treppe standen. Wie es die Tradition erforderte, standen sie mit dem Rücken zu den Jungen gewandt und warteten auf den Herzog.
Die riesigen Eichentüren der Burg schwangen langsam und schwerfällig auf, Leibwachen in der braunen und goldenen Livree des Herzogs schossen hindurch und nahmen ihre Plätze auf den Stufen ein. Auf jedem Überwurf prangte die goldene Möwe von Crydee. Darüber saß eine kleine, goldene Krone, die den Herzog als Mitglied der königlichen Familie auswies.
»Höret!«, rief der Herold. »Seine Gnaden, Borric conDoin, dritter Herzog von Crydee, Prinz des Königreiches, Lord von Crydee, Carse und Tulan, Gouverneur des Westens und Generalritter der Königlichen Armeen, mutmaßlicher Erbe des Thrones von Rillanon.«
Der Herzog wartete geduldig, bis die Liste vollständig war. Dann trat er hinaus ins Sonnenlicht.
Obwohl er bereits jenseits der Fünfzig war, bewegte sich der Herzog von Crydee noch immer mit der Geschwindigkeit und dem kräftigen Schritt des geborenen Kriegers. Sah man einmal vom Grau an den Schläfen seines dunkelbraunen Haares ab, wirkte er um mindestens zwanzig Jahre jünger, als er war. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, wie immer in den vergangenen sieben Jahren, denn seither betrauerte er den Verlust seiner geliebten Gattin Katherina. An seiner Seite hing in einer schwarzen Scheide ein Schwert mit silbernem Griff.
Der Herold erhob die Stimme: »Ihre Königlichen Hoheiten, die Prinzen Lyam conDoin und Arutha conDoin, Erben des Hauses Crydee, Hauptmann-Ritter der Armee des Königs im Westen, Prinzen des Königlichen Hauses von Rillanon.«
Beide Söhne traten vor und stellten sich hinter ihren Vater. Die beiden jungen Männer waren sechs und vier Jahre älter als die Lehrlinge – der Herzog hatte erst spät geheiratet –, aber der Unterschied zwischen den verlegenen Kandidaten für eine Lehrstelle und den Söhnen des Herzogs bestand aus weit mehr als aus ein paar Jahren Altersunterschied. Beide Prinzen wirkten ruhig und selbstbewusst.
Lyam, der Ältere, ein blonder, kräftiger Riese, stand zur Rechten seines Vaters. Sein offenes Lächeln erinnerte an seine Mutter, und er sah immer so aus, als würde er jeden Augenblick loslachen. Er trug eine hellblaue Tunika und gelbe Beinkleider. Sein kurz gestutzter Bart war ebenso blond wie sein schulterlanges Haar.
Wo Lyam wie Licht und Tag war, war Arutha wie Schatten und Nacht. Er war fast ebenso groß wie sein Bruder und sein Vater, aber während diese beiden kräftig gebaut waren, war er schlank, fast hager. Er trug eine braune Tunika und rostfarbene Beinkleider. Sein Haar war dunkel, sein Gesicht glatt rasiert. Alles an Arutha vermittelte ein Gefühl von Hast und Eile. Seine Stärke lag in seiner Schnelligkeit: eine schnelle Klinge, ein schneller Verstand. Sein Humor war trocken und oft scharf. Während Lyam von den Untertanen des Herzogs offen geliebt wurde, wurde Arutha aufgrund seiner Fähigkeiten respektiert und bewundert, aber vom Volk nicht mit Wärme bedacht.
Zusammen schienen die beiden Söhne das komplexe Wesen ihres Vaters in sich zu vereinen, denn der Herzog wies sowohl Lyams robusten Humor als auch Aruthas düstere Stimmungen auf. Sie waren in ihrem Temperament fast genaue Gegensätze, würden aber dem Herzogtum und dem Königreich beide noch gute Dienste erweisen, wenn es an der Zeit war. Der Herzog liebte seine Söhne.
Wieder meldete sich der Herold. »Prinzessin Carline, Tochter des königlichen Hauses.«
Das schlanke, graziöse Mädchen, das daraufhin aus der Burg trat, war im selben Alter wie die Knaben, die unten standen. Es zeigte aber bereits die Haltung eines Menschen, der zum Regieren geboren wurde, und hinzu kam die Schönheit ihrer verstorbenen Mutter. Ihr zartgelbes Gewand stand in bestechendem Kontrast zu ihrem fast schwarzen Haar. Ihre Augen waren so blau wie die von Lyam, und dieser strahlte, als sie jetzt den Arm ihres Vaters ergriff. Selbst Arutha zeigte eines seiner seltenen halben Lächeln, denn auch er liebte seine Schwester.
ENDE DER LESEPROBE