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"Die Montagsgedichte" gehen auf die Jahre 1928 bis 1930 zurück, in denen der junge Kästner wöchentlich ein Gedicht in der Berliner Zeitung Montag Morgen veröffentlichte. Als bissige Anmerkungen zum Zeitgeschehen liefern diese Gedichte ein schillerndes Panorama des Alltags in der Weimarer Republik und dem Berlin der 20er Jahre. Dabei rückt die große Politik genauso in den Blick wie die Jagd nach einem als Nachtgespenst verkleideten Einbrecher, das traditionelle Berliner Sechstagerennen, die damals aktuelle Sommermode oder ganz einfach das Wetter. Zugleich nimmt Kästner immer wieder die kleinen und großen menschlichen Schwächen seiner Zeitgenossen aufs Korn und erweist sich dabei einmal mehr als unbestechlicher Humanist mit Witz und Herz.
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Seitenzahl: 104
Vorwort von Marcel Reich-Ranicki
Nie wollte er aufhören zu glauben, dass die Menschen besser werden könnten, »wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht«. Er, der Autor düsterer und resignierter, bissiger und bitterer Gedichte, war in Wirklichkeit Deutschlands hoffnungsvollster Pessimist und der deutschen Literatur positivster Negationsrat. Er gehört zu den Moralisten, die zugleich Spaßmacher sind. Er ist ein Conférencier, der keine Hemmungen hat zu predigen. Und er ist ein Prediger, der gern und stolz die Narrenkappe trägt. In allem, was er geschrieben hat, dominiert unmissverständlich und dennoch unaufdringlich das Pädagogische. Mithin ein Schulmeister gar? Aber ja doch, nur eben Deutschlands amüsantester und geistreichster.
Er war witzig. Also nahm man ihn nicht ganz ernst. Aber er hatte Anmut und Charme. Also hielt man ihn für etwas unseriös. Er war sehr erfolgreich, ja, er wurde – wie seine Zeitgenossen Tucholsky und Ringelnatz, Fallada und Zuckmayer – ein typischer Volksschriftsteller. Also misstraute man ihm. Während andere das Bedürfnis hatten, sich einzureihen, bei einer politischen Organisation Schutz zu suchen oder sich mit ihr ganz zu identifizieren, blieb Kästner zwischen den Fronten und Parteien. Seine beharrliche Ablehnung der ideologischen Rezepte traf logischerweise in allen Parteien, gelinde gesagt, auf wenig Gegenliebe. Aber damit hat es auch zu tun, dass viele seiner Gedichte aus der Weimarer Zeit bis heute überlebt haben und einige sogar überraschend aktuell sind.
In den zwanziger Jahren, als es darum ging, den Lesern, die von Trakl’scher Trauer, vom Rilke’schen Rhythmus und vom George’schen Gepränge begeistert und betört waren und vom expressionistischen Schrei genug hatten, eine Dichtung schmackhaft zu machen, die deutsch und dennoch nützlich wäre, damals, als Poesie für den Alltag das Gebot der Stunde hieß, da war Kästner einer von jenen »Gebrauchspoeten«, die »Gebrauchslyrik« zu liefern entschlossen waren. Gedichte sollten, meinte er 1929, »seelisch verwendbar« sein, er verstand sie als Notizen »im Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart«, wogegen ihm »die Bekanntgabe persönlicher Stimmungen« geradezu verwerflich schien. »Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung, / doch um zu dichten, schrieb er nie.« Er meinte Lessing, aber es gilt auch für ihn selber.
Was seine Protokolle aus dem Leben der modernen Großstadt zunächst auszeichnet, ist ihre vor dem Hintergrund der deutschen Lyrik gar nicht so selbstverständliche Unmittelbarkeit und Deutlichkeit. Der Lyriker Kästner wagte es, gleich und immer zu sagen, worauf es ihm ankam. Unzählige Leser waren ihm dafür dankbar; nur dass viele Kritiker es ihm nicht verzeihen wollten. Die kunstvolle Machart dieser melodischen und oft einschmeichelnden Verse ist nie recht anerkannt worden. Gewiss, die formale Erneuerung der Poesie war seine Sache nicht. Meist verließ er sich auf die herkömmlichsten und populärsten Formen der deutschen Lyrik, zumal auf die vierzeilige und sechszeilige Strophe mit Reim und regelmäßigem Rhythmus. Doch die alten Schläuche füllte er mit neuem Wein. In der traditionellen, oft volksliedhaften Strophe tauchte die saloppe Umgangssprache der späten zwanziger Jahre auf: Alltagsphrasen, Zeitungswendungen und Reklameslogans, auch der Behördenjargon, auch der Slang der Militärs. In dieser Poesie ist die Rede von Schreibmaschinen und Schinkenbroten, von Krediten und Bilanzen, von Bardamen und Abtreibungen. Das von Kästner am häufigsten angewandte Prinzip war die Übernahme des Konventionellen für die (möglichst überraschende) Mitteilung des Aktuellen.
Und das Aktuelle – das ist die Krise. Dieses Lebensgefühl artikulieren die Gedichte Kästners aus den Weimarer Jahren: Sie lassen die allgemeine Unsicherheit spürbar werden, sie registrieren die Symptome sowohl der politischen als auch der persönlichen, sowohl der wirtschaftlichen als auch der sexuellen Krise. Daraus ergeben sich die wichtigsten Motive seiner Lyrik: die Hilflosigkeit des Individuums und die Enttäuschung der missbrauchten Generation, Arbeitslosigkeit und Kulturmüdigkeit, Resignation und Abschiedsstimmung. Der Titel Falladas, Kleiner Mann – was nun?, ist zugleich das Motto der Lyrik Kästners. Er, der Sänger der kleinen Leute und der Dichter der kleinen Freiheit, gehört mittlerweile zu den Klassikern der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die jetzt durch den Atrium Verlag ermöglichte Neulektüre der Montagsgedichte führt vor Augen, wie Kästner arbeitete. Wach, mitten im urbanen Berliner Leben, mit dem genauen, oft schonungslosen Blick für Zeittrends und Zeitgenossen und mit dem unbedingten Willen, die Modernität und Liberalität der Weimarer Republik zu verteidigen. Es war nicht sein Stil, sich in den Gegner zu verbeißen, Kästners bevorzugte Mittel waren Spott und Ironie. Wo die Gegner standen, das wusste er freilich genau: Ein ums andere Mal entblößt er den Militarismus, die Macht der Großindustrie, dumpfen rechten Nationalismus, die Neureichen, das Spießertum im kulturellen Leben.
Es ist der typische Kästner-Ton, der uns in diesen Gedichten entgegentritt, verbunden mit vertrauten Sujets: Bahnreise, Klatsch und Tratsch, die Einsamkeit des Städters (und immer wieder Selbstmord), die Geistlosigkeit der Massenvergnügungen, Touristik, die Erotik des Alltags. Natürlich tritt die geliebte Mutter immer wieder in Erscheinung, und wir erhalten einen kleinen Einblick in Kästners Reisen und Urlaube, zum Beispiel in Paris und Dänemark, an der Ostsee oder in den Alpen.
Kästner war einer der besten Kenner der Berliner Theater- und Literaturszene. Seine vielen Theaterkritiken und Buchrezensionen, aber auch seine Veranstaltungsberichte und Reportagen bilden den Erfahrungshintergrund für zahlreiche der hier versammelten Gedichte. In den Jahren 1928 bis 1930 sind wir Zeuge eines rastlos produktiven und ambitionierten Schriftstellers, der sich auf dem Weg zum Ruhm befindet. Der junge Kästner der Weimarer Jahre ist immer noch nicht vollständig erschlossen; er verbleibt bislang im Schatten des Kinderbuchklassikers und des Moralisten. Es ist an der Zeit, das zu ändern und ihm seine Lebendigkeit zurückzugeben. Diese Gedichte tragen dazu bei.
Die Gustavs
Im wunderschönen Monat Mai
Befuhr ein Mann mit seinem Pferde
Ein großes Stück der kleinen Erde.
Ein Redakteur war auch dabei.
Selbstverständlich.
Man fuhr von Wannsee nach Paris.
Zwei Völker winkten mit den Mützen.
Auch schien es der Idee zu nützen,
Dass unser Kutscher Gustav hieß.
Selbstverständlich.
Obwohl er nicht Französisch kann,
Hat er sich mit Paris verständigt.
Denn dort, wo das Verstehen endigt,
Fängt die Verständigung erst an:
Selbstverständlich.
Wer nach Paris will, braucht Geduld,
Raketenflug hat keinen Zweck.
Wer langsam fährt, kommt schnell vom Fleck.
Daran sind nicht die Kutscher schuld,
Selbstverständlich.
Was sollen Völker mit Genies?
Wir Völker wollen Gustavs haben,
Die langsam, aber sicher traben!
Und das gilt nicht nur für Paris,
Selbstverständlich.
11. Juni 1928
Der Droschkenkutscher Gustav Herrmann (1859 – 1938) war am 2. April 1928 in Berlin aufgebrochen und traf nach mehrwöchiger Fahrt am 4. Juni in Paris ein, wo er eine aufsehenerregende Rede über deutsch-französische Verständigung hielt. Ein anderer Gustav, auf den Kästner anspielt, ist der damals amtierende Außenminister Stresemann (1878 – 1929), dem aufgrund seiner Verständigungspolitik gegenüber Frankreich zusammen mit seinem Amtskollegen Aristide Briand 1926 der Friedensnobelpreis verliehen worden war.
Strafprozess auf Kugellagern
Es war einmal ein Konzern,
Der sah begreiflicherweise
Die niedrigen Lieferpreise
Der Konkurrenz nicht gern.
Verhandlungen hatten versagt.
Da wurde Riebe von Norma
(natürlich nur pro forma)
Beim Staatsanwalt verklagt.
Denn Norma dachte hierbei,
Dass Riebe nach einer Blamage
Thema: Werkspionage
Billig zu haben sei.
Doch während die zwei sich nach Kräften
Vor Gericht, in Stuttgart, bespien,
Verhandelten sie in Berlin
Von wegen Millionengeschäften.
Sie hatten schließlich auch Glück,
Vereinigten sich gütlich
Und zogen die Klage gemütlich
Am Tage des Urteils zurück.
Nun kann der Trust express
Die Kugellager verteuern!
Und von Armeleute-Steuern
Bezahlt der Staat den Prozess!
Man weiß nicht, was soll es bedeuten …
Herr Staatsanwalt, prost, zum Wohl!
Das schwedische Monopol
Lässt für Sie Glocken läuten.
Was denkt nun ein Mann wie Kahn?
Man singt bei Norma und Riebe:
»Und das hat mit ihrem Betriebe
Die deutsche Justiz getan!«
18. Juni 1928
In einem Industriespionageprozess, den der Norma-Konzern gegen die Werke Kahn und Riebe angestrengt hatte, kam es am 12. Juni 1928 zu einer Einigung, die eine Monopolbildung in der Kugellagerindustrie bedeutete.
Und lass uns wieder von dem Wetter reden …
Nun haben wir das Wetter satt!
Wann tritt denn bloß der Sommer ein?
Vorm Jahre fand er freitags statt,
und diesmal soll er mittwochs sein.
Die Welt ist grau. Der Regen fließt.
Es friert der Mensch, sosehr er kann.
Doch wenn er hustet oder niest,
fängt es noch mehr zu regnen an.
Zuweilen regnet es nicht mehr.
Dann wird die Welt von neuem nass.
Vom Himmel hoch, da kommt es her.
Kann so ein Himmel nichts als das?
Ach, er besteht aus nichts als Loch!
Das war doch vor dem Krieg nicht so.
Da stimmte der Kalender noch.
Da gab es Sonnenschein en gros.
Man lag im Sande ausgestreckt
und wurde, wenn man wurde, braun,
und die Verdauung war perfekt.
Das war ein Kaiserwetter, traun!
Nun steht man fensterwärts und gähnt.
Die Welt ist feucht von A bis Z!
Die Frau, die gegenüber lehnt,
stützt sehr viel Brust aufs Fensterbrett.
Wir blicken seitwärts, weil uns graut.
Der Wind geht kalt. Es regnet fein.
Die Jahreszeiten sind versaut.
Der Mensch ist voller Gänsehaut.
Grüß Gott, es hat nicht sollen sein!
25. Juni 1928
16 Tage, die die Welt erschütterten
Hindenburg
fragt Hermann Müller,
ob er will.
Natürlich will er!
Weil er aber
die Partein
zu viel fragt,
erklärt man: Nein!
Daraufhin
hält er die Große
Koalition
für Traumpsychose.
»Hermann Müller
heute neu!«,
ruft die Ull-
lustrierte treu.
Und so sucht,
bei diesen Zeiten!,
Müller nach
Persönlichkeiten …
Stresemann
sagt zu, doch Scholz
ist verletzt.
Es heißt, aus Stolz.
Wirth sagt zu.
Das Zentrum hetzt.
Wirth wird wieder
abgesetzt.
Endlich hat er
die Minister,
und sie tun fast
wie Geschwister –
Müller-Kabinett,
das schmeckt,
wenn man es
so hört, wie Sekt.
Das wird gehen
bis August.
Wandern ist
des Müllers Lust!
2. Juli 1928
Der Sozialdemokrat Hermann Müller (1876 – 1931) erhielt am 12. Juni von Reichspräsident Hindenburg den offiziellen Auftrag, eine Regierungskoalition »auf möglichst breiter Grundlage« zu bilden. Nach 16-tägigen Verhandlungen konnte Hindenburg schließlich die Mitglieder des sogenannten »Kabinetts der Persönlichkeiten« ernennen, dem, neben Reichskanzler Müller, u. a. Außenminister Stresemann, Innenminister Severin, Justizminister Koch-Weser, Finanzminister Hilferding, Wehrminister Groener angehörten.
Die »Ull-lustrierte« meint die Berliner Illustrirte Zeitung (sic!) aus dem Ullstein Verlag, die bis zum Ende der Weimarer Republik eine Auflage von rund zwei Millionen erreichte.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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