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Dieser Band versammelt Marcel Reich-Ranickis ganz persönliche Kästner-Favoriten. Seine Auswahl von 121 Gedichten enthält neben bekannten auch unbekanntere Gedichte des "Sängers der kleinen Leute und Dichters der kleinen Freiheit", wie Reich-Ranicki Erich Kästner charakterisiert: "Erich Kästner hatte nicht mehr und nicht weniger zu bieten als Grazie und Esprit, Humor und Vernunft und gehört mittlerweile zu den Klassikern der deutschen Literatur des vergangenen Jahrhunderts."
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Seitenzahl: 111
Erich Kästner
Ein Dichter gibt Auskunft
121 Gedichte Ausgewählt und mit einem Essay von Marcel Reich-Ranicki
Wir haben die Frauen zu Bett gebracht,
als die Männer in Frankreich standen.
Wir hatten uns das viel schöner gedacht.
Wir waren nur Konfirmanden.
Dann holte man uns zum Militär,
bloß so als Kanonenfutter.
In der Schule wurden die Bänke leer,
zu Hause weinte die Mutter.
Dann gab es ein bisschen Revolution
und schneite Kartoffelflocken;
dann kamen die Frauen, wie früher schon,
und dann kamen die Gonokokken.
Inzwischen verlor der Alte sein Geld,
da wurden wir Nachtstudenten.
Bei Tag waren wir bureau-angestellt
und rechneten mit Prozenten.
Dann hätte sie fast ein Kind gehabt,
ob von dir, ob von mir – was weiß ich!
Das hat ihr ein Freund von uns ausgeschabt.
Und nächstens werden wir dreißig.
Wir haben sogar ein Examen gemacht
und das Meiste schon wieder vergessen.
Jetzt sind wir allein bei Tag und bei Nacht
und haben nichts Rechtes zu fressen!
Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
anstatt mit Puppen zu spielen.
Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
soweit wir vor Ypern nicht fielen.
Man hat unsern Körper und hat unsern Geist
ein wenig zu wenig gekräftigt.
Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
in der Weltgeschichte beschäftigt!
Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
für uns zum Säen und Ernten.
Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
Noch einen Moment. Bald ist es so weit!
Dann zeigen wir euch, was wir lernten!
Wir hämmern auf die Schreibmaschinen.
Das ist genau, als spielten wir Klavier.
Wer Geld besitzt, braucht keines zu verdienen.
Wir haben keins. Drum hämmern wir.
Wir winden keine Jungfernkränze mehr.
Wir überwanden sie mit viel Vergnügen.
Zwar gibt es Herrn, die stört das sehr.
Die müssen wir belügen.
Zweimal pro Woche wird die Nacht
mit Liebelei und heißem Mund,
als wär man Mann und Frau, verbracht.
Das ist so schön! Und außerdem gesund.
Es wär nicht besser, wenn es anders wäre.
Uns braucht kein innrer Missionar zu retten!
Wer murmelt düster von verlorner Ehre?
Seid nur so treu wie wir, in euren Betten!
Nur wenn wir Kinder sehn, die lustig spielen
und Bälle fangen mit Geschrei,
und weinen, wenn sie auf die Nase fielen –
dann sind wir traurig. Doch das geht vorbei.
Man reist von einer Stadt zur andern Stadt.
Vier Schinkenbrote hat man schon gegessen.
Der Zug fährt gut. Die Fahrt geht glatt.
Man rechnet aus, ob man Verspätung hat,
und fühlt sich frei von höhern Interessen.
Man blickt durchs Fenster. Gänzlich ohne Zweck.
Man könnte ebenso die Augen schließen.
Dann schielt man nach dem Handgepäck.
Am Zug tanzt Schnee vorbei. Ein Dorf im Dreck.
Und Rhomboide. Doch das sind sonst Wiesen.
Man gähnt. Und ist zu faul, die Hand zu nehmen.
Man überlegt schon, ob man müde ist …
Die Dame rechts soll sich was schämen!
Wenn ihre Hüften bloß nicht näher kämen!
Wie schnell der Mensch das Müdesein vergisst.
Man überlegt sich, ob man ihr entweiche.
Sie lehnt sich an. Und tut, als wär’s im Traum.
Da sieht man draußen plötzlich eine Eiche!
Es kann auch Ahorn sein. Das ist das Gleiche.
Denn eins steht fest: Es ist ein Baum!
Und da entsinnt man sich. Und ist entsetzt:
Seit zwanzig Jahren sah man keine Felder!
Das heißt, man sah sie wohl. Doch nicht wie jetzt!
Wann sah man denn ein Blumenbeet zuletzt?
Und wann zum letzten Male Birkenwälder?
Man hat vergessen, dass es Gärten gibt.
Und kleine Vögel drin, die abends flöten.
Und blaue Veilchen, die die Mutter liebt …
Und während sich die Dame näher schiebt,
greift man gefasst zu weitren Schinkenbröten.
(Ein Vater singt:)
Schlaf ein, mein Kind! Schlaf ein, mein Kind!
Man hält uns für Verwandte.
Doch ob wir es auch wirklich sind?
Ich weiß es nicht. Schlaf ein, mein Kind!
Mama ist bei der Tante …
Schlaf ein, mein Kind! Sei still! Schlaf ein!
Man kann nichts Klügres machen.
Ich bin so groß. Du bist so klein.
Wer schlafen kann, darf glücklich sein.
Wer schlafen darf, kann lachen.
Nachts liegt man neben einer Frau,
die sagt: Lass mich in Ruhe.
Sie liebt mich nicht. Sie ist so schlau.
Sie hext mir meine Haare grau.
Wer weiß, was ich noch tue.
Schlaf ein, mein Kind! Mein Kindchen, schlaf!
Du hast nichts zu versäumen.
Man träumt vielleicht, man wär ein Graf.
Man träumt vielleicht, die Frau wär brav.
Es ist so schön, zu träumen …
Man schuftet, liebt und lebt und frisst
und kann sich nicht erklären,
wozu das alles nötig ist!
Sie sagt, dass du mir ähnlich bist.
Mag sich zum Teufel scheren!
Der hat es gut, den man nicht weckt.
Wer tot ist, schläft am längsten.
Wer weiß, wo deine Mutter steckt!
Sei ruhig. Hab ich dich erschreckt?
Ich wollte dich nicht ängsten.
Vergiss den Mond! Schlaf ein, mein Kind!
Und lass die Sterne scheinen.
Vergiss auch mich! Vergiss den Wind!
Nun gute Nacht! Schlaf ein, mein Kind!
Und, bitte, lass das Weinen …
Anmerkung: Noch nie hat die Frau so wenig und der Mann so viel Kindersinn gehabt wie heute.
(Mit einer Kindertrompete zu singen:)
Wem Gott ein Amt gibt, raubt er den Verstand.
In Geist ist kein Geschäft. Macht Ausverkauf!
Nehmt euren Kopf und haut ihn an die Wand!
Wenn dort kein Platz ist, setzt ihn wieder auf.
Der Gott, den Arndt das Eisen wachsen ließ,
schuf auch das Blech und ähnliche Metalle.
Vergesst es nie: Ihr seid im Paradies!
Seid hoffnungsvoll. Und meidet die Krawalle.
Macht einen Buckel. Denn die Welt ist rund.
Wir wollen leise miteinander sprechen:
Das Beste ist totaler Knochenschwund.
Das Rückgrat gilt moralisch als Verbrechen.
Nehmt dreimal täglich eine Frau zum Weib.
Pro Jahr ein Kind. Und Urlaub. Sonst die Pflicht.
Das Leben ist ein sanfter Zeitvertreib.
Spuckt euch vorm Spiegel manchmal ins Gesicht.
Nehmt Vorschuss! Lasst euch das Gehalt verdoppeln!
Tagsüber pünktlich; abends manchmal Gäste.
Es braust ein Ruf von Rüdesheim bis Oppeln:
»Der Schlaf vor Mitternacht ist doch der beste!«
Ich möchte einen Schrebergarten haben,
mit einer Laube und nicht allzu klein.
Es ist so schön, Radieschen auszugraben …
Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!
Es ist schon so. Der Frühling kommt in Gang.
Die Bäume räkeln sich. Die Fenster staunen.
Die Luft ist weich, als wäre sie aus Daunen.
Und alles andre ist nicht von Belang.
Nun brauchen alle Hunde eine Braut.
Und Pony Hütchen sagte mir, sie fände:
die Sonne habe kleine, warme Hände
und krabble ihr mit diesen auf der Haut.
Die Hausmannsleute stehen stolz vorm Haus.
Man sitzt schon wieder auf Caféterrassen
und friert nicht mehr und kann sich sehen lassen.
Wer kleine Kinder hat, der fährt sie aus.
Sehr viele Fräuleins haben schwache Knie.
Und in den Adern rollt’s wie süße Sahne.
Am Himmel tanzen blanke Aeroplane.
Man ist vergnügt dabei. Und weiß nicht wie.
Man sollte wieder mal spazierengehn.
Das Blau und Grün und Rot war ganz verblichen.
Der Lenz ist da! Die Welt wird frisch gestrichen!
Die Menschen lächeln, bis sie sich verstehn.
Die Seelen laufen Stelzen durch die Stadt.
Auf dem Balkon stehn Männer ohne Westen
und säen Kresse in die Blumenkästen.
Wohl dem, der solche Blumenkästen hat!
Die Gärten sind nur noch zum Scheine kahl.
Die Sonne heizt und nimmt am Winter Rache.
Es ist zwar jedes Jahr dieselbe Sache,
doch es ist immer wie zum ersten Mal.
Die Welt ist rund. Denn dazu ist sie da.
Ein Vorn und Hinten gibt es nicht.
Und wer die Welt von hinten sah,
der sah ihr ins Gesicht!
Zwar gibt es Traum und Mondenschein
und irgendwo auch eine kleine Stadt.
Das ist nicht anders. Denn das muss so sein.
Und wenn du tot bist, wirst du davon satt.
Mensch, werde rund, Direktor und borniert.
Trag sonntags Frack und Esse.
Und wenn dich wer nicht respektiert,
dann hau ihm in die Fresse.
Sei dumm. Doch sei es mit Verstand.
Je dümmer, desto klüger.
Tritt morgen in den Schutzverband.
Duz dich mit Schulz und Krüger.
Nimm ihre Frauen oft zum Übernachten.
Das ist so üblich. Und heißt Freiverkehr.
Es lohnt sich nicht, die Menschen zu verachten.
Und weil die Welt bewohnt wird, ist sie leer.
Es gibt im Süden Gärten mit Zypressen.
Wer keine Lunge hat, wird dort gesund.
Wer nichts verdient, der braucht auch nicht zu essen.
Normale Kinder wiegen neu acht Pfund.
Du darfst dich nicht zu oft bewegen lassen,
den andern Menschen ins Gesicht zu spein.
Meist lohnt es nicht, sich damit zu befassen.
Sie sind nicht böse. Sie sind nur gemein.
Ja, wenn die Welt vielleicht quadratisch wär!
Und alle Dummen fielen ins Klosett!
Dann gäb es keine Menschen mehr.
Dann wär das Leben nett.
Wie dann die Amseln und die Veilchen lachten!
Die Welt bleibt rund. Und du bleibst ein Idiot.
Es lohnt sich nicht, die Menschen zu verachten.
Nimm einen Strick. Und schieß dich damit tot.
Mein lieber Junge! Das war natürlich sehr schade,
dass Du zu meinem Geburtstag nicht kamst. Und nur schriebst.
Die Nelken waren sehr schön. Und Bratwurst hatten wir grade.
Weil ich doch hoffte Du kämst. Und Du doch Bratwurst so liebst.
Tante Isolde hat mir eine Lackledertasche geschenkt.
Nur Vater der hatte es gänzlich vergessen.
Ich war erst traurig. Wo er doch sonst stets an alles denkt.
Aber es gab viel zu tun, mit dem Kaffee, und dann mit dem Abendessen.
Und wie geht es Dir sonst und bist Du den trockenen Husten los?
Das macht mir Sorgen mein Kind. Und das darf man nicht hinhängen lassen.
Nächstens schick ich Dir Umlegekragen. Waren die letzten zu groß?
Ja wenn Du zu Hause wärst dann würden die Kragen schon passen.
Ach Krauses älteste Tochter hat kürzlich ein Kind gekriegt!
Wer der Vater ist weiß kein Mensch. Und sie soll es selber nicht wissen.
Ob denn das wirklich nur bloß an der Gymnasialbildung liegt?
Und schick bald die schmutzige Wäsche. Der letzte Kartong war schrecklich zerrissen.
Mein Kostüm habe ich umfärben lassen. Jetzt ist es marineblau.
Lass Dein Zimmer heizen. Wir machen schon lange Feuer.
Das Fleisch das kaufe ich jetzt bei unsrer Gemüsefrau
da ist es zehn Pfennige billiger. Ich finde es trotzdem noch teuer.
Drei Monate bist Du nun schon nicht zu Hause gewesen.
Lässt es sich wirklich nicht mal und wenn’s auf zwei Tage ist machen?
Erst vorgestern habe ich eine Berliner Zeitung gelesen.
Fritz sieh Dich bloß vor! Da passieren ja grässliche Sachen!
Ist das Essen auch gut in dem Restaurant wo Du isst?
Lass Dir doch abends von Deiner Wirtin zwei Eier auf Butter braten.
Das wird alles anders, wenn Du erst richtig verheiratet bist.
Ich weiß schon Du hast keine Lust. Das ist schade da lässt sich nicht raten.
Unser neuer Zimmerherr der hat eine richtige Braut.
Die ist mitunter bei ihm. Sonst bin ich mit ihm ganz zufrieden.
Die Hausmannsfrau hat sie gesehn. Und sagte gestern ganz laut,
das wäre nicht immer dieselbe. Ich müsste das endlich verbieten.
Hast Du in eurem Geschäft schon wieder mal Ärger gehabt?
Schreib mir nur alles und sieh Dich recht vor mit den Mädelsgeschichten.
Es wäre doch schade um Dich. Denn Du bist doch sonst so begabt.
Wie schnell ist was los mit dem Arzt und den Vormundschaftsgerichten.
Sonst geht es uns allen wenn man das Schlechte nicht rechnet famos.
Ich hoffe dasselbe von Dir. Was wollte ich gleich noch sagen?
Das Papier ist zuende. Leb wohl! Bei Ehrlichs ist wieder was los.
Ich will nur den Brief noch ganz schnell in den Bahnhofsbriefkasten tragen.
Da fällt mir noch etwas ein. Doch es geht schon gar nicht mehr her.
Kannst Du’s auch lesen? Frau Fleischer Stefan traf ich jetzt im Theater.
Was die Erna ist, ihre Tochter. Die liebt Dich längst schon. Und sehr.
Ich find sie recht nett. Na schon gut. Auch viele Grüße von Vater!
Nun wirft der Herbst die Blätter auf den Markt.
Na ja, das musste wohl so kommen.
Und Lehmanns Tochter hat man eingesargt.
Hat die ein Glück gehabt, genau genommen …
Das Jahr wird alt und zieht den Mantel an.
Der Bettler vis-à-vis hat keinen.
So ist das Leben. Es ist nicht viel dran.
Frau’n können lachen, denn sie dürfen weinen.
Wozu die Blätter bunt sind, wenn sie fallen?
Na ja, man muss nicht alles wissen wollen.
Mir geht’s nicht gut. Und ähnlich geht es allen.
Sogar die Drüsen sind geschwollen!
Wer kommt denn dort aus meinem Haus?
Ach, das ist Paul. Ob ich ihn rufe?
Er sieht etwas wie seine Schwester aus.
Wahrscheinlich: Achtung Zwischenstufe!
Das ist ein Wetter. Um drin zu ersaufen.
Sowas von Regen war noch gar nicht da.
Paar neue Schuhe müsste ich mir kaufen …
Und Haareschneidenlassengehen muss ich auch. Na ja.
Anmerkung: Über dieses Gedicht musste Hildegard beinahe weinen.
Und plötzlich steht man wieder in der Stadt,
in der die Eltern wohnen und die Lehrer
und andre, die man ganz vergessen hat.
Mit jedem Schritte fällt das Gehen schwerer.
Man sieht die Kirche, wo man sonntags sang.
(Man hat seitdem fast gar nicht mehr gesungen.)
Dort sind die Stufen, über die man sprang.
Man blickt hinüber. Es sind andre Jungen.
Der Fleischer Kurzhals lehnt an seinem Haus.