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Eigentlich wollte der Berliner Fleischermeister Külz einfach nur mal seinem Alltag entfliehen. Ohne seiner Familie Bescheid gesagt zu haben, hat er sich für ein paar Tage nach Kopenhagen abgesetzt. Ein bisschen in der Stadt herumschlendern, Baumwerke besichtigen, dem Leiblichen frönen, mal weg von dem üblichen Alltagstrott zwischen Fleischerhaken und Blutwurst. Doch beim genüsslichen Verzehr einer Schlachteplatte auf der Terrasse des noblen Hotel D'Angleterre macht er die Bekanntschaft von Fräulein Trübner. Sie erzählt ihm, dass sie die Privatsekretärin eines steinreichen Kunstsammlers sei, der gerade eine wertvolle Miniatur erstanden habe. Sie sei nun mit der schwierigen Aufgabe betraut, dieses Prachtstück unversehrt nach Berlin zu schaffen. Allerdings habe sie längst die Befürchtung, dass sie verfolgt würde. Fräulein Trübner bittet Fleischermeister Külz um Hilfe. Er solle die Miniatur mit nach Berlin nehmen, ihn würde niemand verdächtigen. In der Zwischenzeit könne sie mit aller weiblichen Raffinesse die Verfolger abschütteln. Für Fleischermeister Külz ist so ein Abenteuer eine willkommene Abwechslung, und er willigt ein. Doch schon auf der Schiffspassage gelingt es den Ganoven, das Kunstwerk zu entwenden. Jetzt gilt es wiederum, die Gauner zu überlisten und die Miniatur wiederzubekommen. Es beginnt eine turbulente Reise, die die Beteiligten nach Warnemünde, Rostock und Berlin führt. Typisch Kästner: eine rasante Kriminalkomödie mit überraschenden Wendungen, ein Klassiker und immer wieder ein Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 224
Das erste Kapitel
Papa Külz isst einen Aufschnitt
Jener Platz in Kopenhagen, an dem die Königliche Oper steht, heißt der Kongens Nytorv. Es ist ein außerordentlich freundlicher, geräumiger Platz. Und will man ihn mit der Muße betrachten, auf die er Anspruch hat, setzt man sich am besten vors Hotel d’Angleterre.
Unter freiem Himmel, vor der Front des Hotels, stehen in langen Reihen Stühle und Tische. Gäste aus aller Welt sitzen nebeneinander, lassen sich sorgfältig bedienen und finden sich notgedrungen mit den Annehmlichkeiten des Lebens ab. Übrigens kehren kein Stuhl und kein Gast dem Platz den Rücken. Man sitzt wie im Parterre eines vornehm bewirtschafteten Freilichttheaters, blickt gemeinschaftlich zur Fassade des Opernhauses hinüber und ergötzt sich an dem heiteren Treiben, das die Kopenhagener Bürger ihren Fremden darzubieten gewohnt sind.
Es ist schon recht sonderbar mit diesem Kongens Nytorv! Man mag jahrelang nicht mehr in Dänemark gewesen sein, und inzwischen gab’s auf jeden Fall in etlichen Staaten Revolution, vielleicht wurde der Usurpator von Afghanistan von den Parteigängern seines Cousins aufgeknüpft, und in Japan stürzten bei einem Erdbeben mindestens zehntausend Häuser ein, als seien sie aus Altenburger Skatkarten erbaut gewesen – wenn man dann wieder aus der Amagergade herauskommt, sich nach links wendet und zum d’Angleterre blickt, sitzen noch immer jene eleganten Frauen und distinguierten Fremden, in fünf Reihen gestaffelt, vorm Hotel, unterhalten sich in einem Dutzend Sprachen, mustern geduldig das fröhliche Treiben und verbergen mühsam hinter der Gelassenheit ihrer Mienen, wie gut die dänische Küche schmeckt.
Am Kongens Nytorv steht die Zeit still.
Infolge dieses Umstandes erübrigt es sich begreiflicherweise, den Zeitpunkt näher zu bestimmen, an dem Fleischermeister Oskar Külz den Platz überquerte und aufs Hotel d’Angleterre zusteuerte.
Külz trug einen grünen imprägnierten Lodenanzug, einen braunen Velourshut und einen buschigen, graumelierten Schnurrbart. In der rechten Hand hielt er einen knorrigen Spazierstock, in der linken Griebens Reiseführer für »Kopenhagen und Umgebung«.
Vor der Balustrade, hinter der die vordersten Tische standen, machte er halt und blickte nachdenklich und zögernd über die an den Stuhlketten aufgereihten Gäste hin. Hierbei bemerkte er, dass sich eine sehr geputzte und lackierte Dame flüsternd zu ihrem Begleiter beugte und dass dieser ihn musterte und milde belächelte, als gelte es, etwas zu verzeihen.
Das war entscheidend. Hätte jener Herr nicht gelächelt, so wäre Fleischermeister Külz weitergegangen. Und dann hätte die Geschichte, die jetzt allmählich beginnt, einen anderen Verlauf nehmen müssen, als sie schließlich und tatsächlich nahm.
So aber murmelte Külz das Wort »Schafszipfel« und setzte sich protzig und breitspurig an ein freies Tischchen. Damit geriet er in das Räderwerk von Ereignissen, die ihn zwar nichts angingen und die ihn doch in kürzester Zeit fünf Pfund seines Lebendgewichts kosten sollten.
Als Külz sich setzte, stöhnte der zierliche Stuhl vor Schmerz auf. Ein Pikkolo flitzte herbei und fragte: »Please, Sir?«
Der Gast schob den Velourshut ins Genick. »Menschenskind, ich kann kein Dänisch. Bring mir ein Töpfchen Helles! Aber ein großes Töpfchen.«
Der Pikkolo verstand nichts, verneigte sich und verschwand im Hotel. Külz rieb sich die Hände.
Dann tauchte ein befrackter Kellner auf. »Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?«
Der Gast blickte misstrauisch hoch. »Mit einem großen Pilsner«, erklärte er. »Schicken Sie mir nun noch den Geschäftsführer auf den Hals, oder ist es Ihnen lieber, wenn ich ein schriftliches Gesuch einreiche?«
»Ein Pilsner, sehr wohl!«
»Und was zum Essen. Einen kleinen Aufschnitt, wenn’s nicht zu viel Umstände macht. Mit verschiedenen Wurstsorten. Mich interessiert eure dänische Wurst beruflich. Ich bin ein Berliner Fleischermeister.«
Der Kellner verriet nicht, was er dachte, verneigte sich stattdessen und verschwand.
Külz stellte seinen Spazierstock an die Balustrade, stülpte den braunen Velourshut auf den vergilbten Horngriff und lehnte sich wohlgemut zurück. Die Stuhllehne ächzte.
Er betrachtete Stuhl und Tisch und sagte bekümmert: »Die reinsten Konfirmandenmöbel!«
Diese Bemerkung brachte es mit sich, dass ein Fräulein, das allein am Nebentisch saß, lachen musste.
Oskar Külz war überrascht. Er drehte den Oberkörper halbrechts, machte eine ungeschickte Verbeugung und sagte: »Entschuldigen Sie vielmals!«
Das Fräulein nickte ihm munter zu. »Wieso? Ich bin auch aus Berlin.«
»Aha!«, erwiderte er. »Deshalb sprechen Sie deutsch!« Anschließend wurde ihm die bodenlose Tiefsinnigkeit seiner Schlussfolgerung klar. Er schüttelte, ärgerlich über sich selber, den Kopf und stellte sich, da ihm nichts Klügeres einfiel, vor. »Mein Name ist Külz«, sagte er.
Sie schlug die Hände zusammen. »Sie sind Herr Külz? Nein, das ist lustig! Dann kaufen wir ja unser Fleisch bei Ihnen!«
»Bei Oskar Külz?«
»Das weiß ich nicht. Gibt es denn mehrere Külze?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Am Kaiserdamm.«
»Das ist Otto, mein Jüngster.«
»Eine ausgezeichnete Fleischerei«, versicherte sie.
»Doch, doch. Aber von Leberwurst versteht er nichts. Da sollten Sie mal bei Hugo Leberwurst kaufen! Das ist mein zweiter Junge. In der Schlossstraße in Steglitz. Der macht Leberwurst! Meine Herren!«
»Ein bisschen weit, wenn man am Kaiserdamm wohnt«, meinte sie. »Trotz seiner Leberwurst.«
»Dafür hat Hugo nun wieder keine blasse Ahnung von Fleischsalat. Der ist ihm nicht beizubringen!«, erklärte Vater Külz streng.
»So, so«, sagte das Fräulein.
»Fleischsalat, das ist die Spezialität von Erwin. Dem Mann meiner ältesten Tochter. In der Landsberger Allee. Erwin macht Ihnen eine Mayonnaise – dafür lassen Sie alles andere stehen und liegen, Fräulein!«
»Und wo ist Ihr eigenes Geschäft?«, fragte sie eingeschüchtert. Die vielen Fleischermeister begannen ihr langsam über den Kopf zu wachsen.
»In der Yorckstraße«, sagte er. »Im vorigen Oktober hatte ich das dreißigjährige Jubiläum. Mein Bruder Karl hat’s im nächsten Jahr. Im April. Nein, im Mai.«
»Ihr Herr Bruder ist auch Fleischer?«, fragte sie besorgt.
»Natürlich! Mit drei Schaufenstern! Am Spittelmarkt. Und Arno, mein Ältester, auch. Der hat seinen Laden am Breitenbachplatz. Na, und Georg, mein anderer Schwiegersohn, hat sein Geschäft in der Uhlandstraße. Dabei wollte Hedwig, meine zweite Tochter, alles andere eher heiraten – einen Lehrer oder einen Klavierspieler oder einen Feuerwehrmann, nur keinen Fleischer! Und dann hat sie doch den Georg genommen. Der war bei mir zwei Jahre lang erster Geselle.«
»Um alles in der Welt!«, sagte das Fräulein erschöpft. »Lauter Fleischer! Davon kann man ja träumen!«
»Es ist Schicksal!«, meinte Külz. »Mein Großvater war Fleischer. Mein Vater war Fleischer. Mein Schwiegervater war Fleischer. Uns liegt das Wurstmachen gewissermaßen im Blut.«
»Ein schönes Bild«, behauptete das Fräulein.
In diesem Augenblick kam der Oberkellner. Er schob einen Rolltisch, behutsam wie einen Kinderwagen für Zwillinge, vor sich her. Auf dem Rolltisch befanden sich ein Glas Bier und eine Platte mit Wurst und Braten.
Wenn ein Fleischermeister beim Anblick einer Wurstplatte erschrickt, muss das besondere Gründe haben.
Külz erschrak sehr.
»Das ist wohl ein Missverständnis«, sagte er. »Ich habe einen kleinen Aufschnitt bestellt, und Sie bringen eine Platte für zwölf Personen!«
Der Kellner zuckte die Achseln. »Der Herr wollte die dänische Wurst studieren.«
»Aber doch nicht bis Weihnachten!«, knurrte Külz.
Seine Nachbarin lachte und meinte: »Sie sind ein Opfer Ihres Berufs. Beißen Sie die Zähne zusammen, lieber Herr Külz, und lassen Sie sich’s gut schmecken!«
Auf dem Kongens Nytorv trippelten Tauben. Blau, grau und silbergrün war ihr Gefieder. Sie nickten eifrig mit den Köpfen. Weswegen sie mit den Köpfen nickten, lässt sich schwer beurteilen. Vielleicht war es nur eine schlechte Angewohnheit? Wenn ein Auto des Weges kam, flogen sie auf. Wie Wolken, die zum Himmel heimkehren.
Fleischermeister Külz ergriff Messer und Gabel. »Dazu bin ich nun ausgerissen«, murmelte er erschüttert.
Etliche Reihen weiter hinten, neben dem Hoteleingang, saßen zwei Herren und lasen. Vielleicht hielten sie die Zeitungen auch aus anderen Gründen vors Gesicht. Man hat sich seit Gutenbergs epochaler Erfindung zu sehr daran gewöhnt, anzunehmen, dass alle Leute, die etwas Gedrucktes vors Gesicht halten, tatsächlich lesen. Ja, wenn das so wäre!
Im vorliegenden Falle war es jedenfalls nicht so. Die beiden Herren lasen keineswegs, sondern benutzten die Zeitungen als Versteck. Über den Rand der Blätter hinweg beobachteten sie Fleischermeister Külz und das Berliner Fräulein. Der eine der Herren sah ungefähr wie ein Heldentenor aus, der sich seit seinem vierzigsten Jahre mit Rotwein statt mit Gesang beschäftigt hat. Nicht mit dem Anbau des Rotweins, sondern mit dessen Verbrauch. Die Nase konnte – will man sich eines musikalischen Ausdrucks bedienen – ein Lied davon singen. Sie war blaurot und erinnerte an Frostbeulen.
Der andere Herr war klein und unterernährt. Auch sein Gesicht war nicht mehr ganz neu. Die Ohren saßen ungewöhnlich hoch am Kopf. Wie bei einer Eule. Zudem standen sie ab, und der Sonnenschein machte sie transparent.
»Sicher eine bestellte Sache«, meinte der Tenor. Seine Stimme klang genau so, wie seine Nase aussah.
Der Kleine schwieg.
»Es soll wie ein zufälliges Zusammentreffen wirken«, fuhr der andere fort. »Ich glaube nicht an Zufälle.«
Der kleine Herr mit den verrutschten Ohren schüttelte den Kopf. »Es ist trotzdem Zufall«, meinte er. »Dass der alte Steinhövel dem Mädchen jemanden schickt, ist denkbar. Dass er einen Riesen schickt, der in Kopenhagen als Tiroler auftritt, ist Blödsinn. Ebenso gut könnte er dem Kerl ein Schild umhängen und draufschreiben, worum sich’s handelt.«
»Wäre mir entschieden lieber«, sagte der Rotweinspezialist. »Immer diese Unklarheiten.«
Der Kleine lachte. »Du kannst ja rübergehen und fragen.«
Der andere knurrte, trank sein Glas leer und füllte es wieder. »Und warum hat sie ihr Hotelzimmer noch nicht gekündigt?«
»Weil sie erst morgen abreist.«
»Und weil sie auf den Tiroler gewartet hat! Pass auf, ich habe recht! So wahr ich Philipp Achtel heiße!«
»Ach, du himmlische Güte!« Der Kleine kicherte. »So wahr du Philipp Achtel heißt? Nur genauso wahr?«
Herr Achtel wurde ärgerlich. »Lass deine Anspielungen!«, sagte er. Seine Stimmer klang noch verrosteter als vorher. Und er fuhr sich nervös mit der Hand übers Haar.
»Es ist schon ganz hübsch nachgewachsen«, erklärte der Kleine und zwinkerte belustigt. »Man sieht dir wirklich nicht an, dass du noch gar nicht lange aus dem Sanatorium zurück bist.«
»Halte deine Schandschnauze!«, sagte Herr Achtel. »Der Tiroler frisst übrigens wie ein Scheunendrescher.«
Der Kleine stand auf. »Ich rufe den Chef an. Mal hören, was er von Scheunendreschern hält.«
Beharrlich vertilgte Fleischermeister Külz eine Scheibe Wurst nach der andern. Aber es war eine Sisyphusarbeit. Schließlich legte er Besteck und Serviette beiseite, blickte unfreundlich auf die Platte, die noch reich beladen war, und zuckte die Achseln. »Ich geb’s auf!«, murmelte er und lächelte dem hübschen Fräulein zu.
»Hat’s geschmeckt?«
Er nickte ermattet. »Alles, was recht ist. Die Dänen verstehen was von Wurst.«
Der Oberkellner kam und räumte ab.
Külz holte eine Zigarre hervor und rauchte sie voller Empfindung an. Dann schlug er ein Bein übers andre und meinte: »Wenn mich meine Alte hier sitzen sähe!«
»Warum haben Sie denn Ihre Frau Gemahlin nicht mitgebracht?«, erkundigte sich das Fräulein. »Musste sie im Geschäft bleiben?«
»Nein, es war eigentlich anders«, erwiderte Külz elegisch. »Sie weiß gar nicht, dass ich in Kopenhagen bin.«
Das Fräulein blickte ihn erstaunt an.
»Meine Söhne wissen auch nichts davon«, fuhr er verlegen fort. »Meine Töchter auch nicht. Meine Schwiegersöhne auch nicht. Meine Schwiegertöchter auch nicht. Meine Geschwister auch nicht. Meine Enkel auch nicht.« Er machte eine Atempause. »Ich bin einfach getürmt. Schrecklich, was?«
Das Fräulein hielt mit ihrem Urteil zurück.
»Ich konnte plötzlich nicht mehr«, gestand Herr Külz. »Am Sonnabendabend ging’s los. Wieso, weiß ich selber nicht. Wir hatten im Laden viel zu tun. Ich ging über den Hof und wollte im Schlachthaus einen Spieß Altdeutsche holen. Ich blieb vor den Schlachthausfenstern stehen. Der zweite Geselle drehte Rindfleisch durch den Wolf. Wir verkaufen nämlich sehr viel Geschabtes. Ja, und da sang eine Amsel.« Er strich sich den buschigen Schnurrbart. »Vielleicht war gar nicht die Amsel daran schuld. Aber mit einem Male fiel mir mein Leben ein. Als hätte der liebe Gott auf einen Knopf gedrückt. Zentnerschwer legten sich alle Kalbslenden, Rollschinken, Hammelkeulen und Schweinsfüße der letzten dreißig Jahre auf meine Seele. Mir blieb die Luft weg!« Er zog nachdenklich an der Zigarre. »Mein Leben ist natürlich nichts Besondres. Aber mir hat’s genügt. Immer wenn ich dachte: ›Nun hast du dir ein paar Groschen gespart‹, wollte eines der Kinder heiraten. Und dann musste man einem der Jungen oder einem der Schwiegersöhne ein Geschäft kaufen. Oder es kam der Bruder oder ein Schwager und hielt die Hand hin. Nie habe ich für mich selber Zeit gehabt.« Er senkte den grauen Schädel. »Na ja, und gerade als mir das einfiel, sang dieses Mistvieh von einer Amsel. Sehen Sie, Fräulein, so ein langes Leben – und weit und breit nichts als Wurstspeile, Eisschränke, Hackklötze, Darmbestellungen und Pökelfässer! Das hält kein Schwein aus, geschweige ein Fleischer!« Der alte Mann hob müde die Hände und ließ sie wieder sinken. Und sein treuherziges Gesicht war voller Trauer.
»Und dann?«, fragte das Fräulein behutsam.
»Dann holte ich erst einmal den Spieß Altdeutsche nach vorn. Und nach Geschäftsschluss rechneten wir ab. Es war genau wie an jedem Sonnabend. Aber ich tat alles wie ein aufgezogener Automat. Und später fuhren wir zu Hedwig und Georg. Otto und seine Frau waren auch da. Und wir sprachen vom Umsatz, von den Engrospreisen und von den Kindern. Fritz hätte aus der Schule den Keuchhusten mitgebracht. Und der kleine Kurt hätte gesagt, wenn er erst groß wäre, würde er Obermeister in der Fleischerinnung.«
Oskar Külz zog sein Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirn, auf der sich die Längsfalten wie unbeschriebene Notenlinien ausnahmen.
»Ich liebe meine Familie«, sagte er, »und meinen Beruf liebe ich auch. Aber plötzlich hing mir das alles zum Hals heraus. Die Wurstmaschine, die ich geworden bin, blieb mit einem Ruck stehen. Kurzschluss! Aus! Soll man wirklich nur arbeiten? Und soll man wirklich nur an andere denken? Ist die Welt dazu schön, damit man, ohne sich umzudrehen, vom Schlachthof geradenwegs auf den Friedhof galoppiert? Jeder Mensch denkt gelegentlich einmal an sich selber. Und nur der olle Külz soll das nicht dürfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollte man den Amseln polizeilich das Singen verbieten. Kann sein. Kann sein, auch nicht. Das ist nicht mein Gebiet. Am Sonntagmorgen, früh um fünf Uhr, stand ich jedenfalls auf. Sagte Emilie, meiner Frau, ich wollte in Bernau Selbmann besuchen. (Er und ich, wir waren seinerzeit miteinander bei Schmitz in Potsdam Gesellen.) Dann steckte ich mir Geld ein und fuhr auf den Stettiner Bahnhof. Dort sah ich nach, wann ein Schnellzug führe. Möglichst weit weg. Und am Sonntagnachmittag war ich in Kopenhagen.«
Er lächelte in der Erinnerung an seine Flucht. Er lächelte wie ein Junge, der die Schule geschwänzt hat. Das wirkte, vor allem im Hinblick auf seinen buschigen grauen Schnurrbart, wie ein Lächeln mit sehr, sehr viel Verspätung.
»Herr Külz«, meinte das Fräulein. »Sie sind ein alter Sünder.«
»Nicht doch!«
»Haben Sie sich wenigstens tüchtig umgeschaut?«, fragte sie.
»O ja«, sagte er. »Es reicht. Ich war in Roskilde. Ich war drüben in Malmö. Ich war an Hamlets Grab. Obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob er drinliegt. Ich war oben in Gilleleje und habe im Meer gebadet. Liebes Fräulein, dass man nicht früher angefangen hat, sich die Welt anzusehen – ich könnte mich stundenlang backpfeifen.«
»Und wie oft«, fragte sie, »haben Sie Ihrer Familie geschrieben?«
»Überhaupt nicht«, erklärte er. »Die werden sich wundern, wie lange ich in Bernau bleibe!«
»Entschuldigen Sie«, sagte das Fräulein ernst, »aber das geht entschieden zu weit! Ihre Frau hat doch spätestens am Montag früh in Bernau angerufen und erfahren, dass Sie gar nicht dort waren!«
»Glauben Sie?«, fragte er. »Das sähe Emilie ähnlich.«
»Vielleicht glaubt man, dass Ihnen ein Unglück zugestoßen ist! Ihre Familie wird in tausend Ängsten schweben.«
»Soll sie schweben!«, bemerkte er gelassen. »Külz will auch mal seine Ruhe haben. Man ist ja schließlich kein Weihnachtsmann!«
Das Fräulein schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ich weiß natürlich nicht genau, wie einem als Fleischermeister und Großvater zumute ist.«
»Eben«, meinte er.
»Aber eines weiß ich. Dass Sie jetzt schleunigst eine Ansichtskarte besorgen und Ihrer Frau schreiben. In der Hotelhalle gibt es Karten.«
Külz blickte das Fräulein von der Seite an.
Sie sagte: »Ich bitte darum.«
Er gab sich einen Ruck, stand auf, schritt ins Hotel und murmelte: »Schon wieder unterm Pantoffel!«
In der Hotelhalle war ein Kiosk. Külz holte seine Lesebrille aus dem Futteral, setzte sie auf und musterte die Ansichtskarten. Nach längerem Suchen entschied er sich für eine prachtvolle Hafenansicht, hielt die Karte der Verkäuferin entgegen und sagte: »Dazu eine Sechspfennigmarke. Oder kostet es nach Deutschland mehr?«
Die Verkäuferin hing an seinen Lippen.
»Eine Sechspfennigmarke«, knurrte er. »Ein bisschen dalli!«
Da meinte neben ihm ein kleiner Herr, der sich durch viel zu hoch gelegene Ohren auszeichnete: »Sechspfennigmarken werden Sie hier kaum bekommen. Sie würden Ihnen auch nicht viel nützen.«
»Dann muss sie mir eben eine Zwölf- oder Fünfzehnpfennigmarke geben!«
Der kleine Herr schüttelte den Kopf. »Die gibt’s hier auch nicht.«
»Das ist mir unverständlich. Wer Postkarten verkauft, hat auch Briefmarken zu haben.«
Der kleine Herr lächelte, und dabei rutschten seine Ohren noch höher. »Marken gibt’s hier schon«, sagte er. »Aber keine deutschen. – Vielleicht versuchen Sie’s mal mit dänischen?«
Das zweite Kapitel
Irene Trübner hat Angst
Der kleine Herr war sehr hilfsbereit gewesen. Guten Menschen bereitet es ja immer Vergnügen, anderen zu helfen. Sie sind Epikureer und befriedigen, indem sie Gutes tun, ihre moralische Lust.
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