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Hemdchen, Höschen, Unterröcke wehen spitzenleicht durch die Luft. Kleider, Schuhe, Kappen fliegen hinterher. Auch Schmuck. Falsche Steine. Buntes Glas. Die Mädchen, die nacheinander von draußen hereinkommen, reißen sich das Zeug vom Leibe.
Die Garderobieren fangen alles mit sicherem Griff und stellen auf den Tischen, vor den Spiegeln ringsum, die neuen Kombinationen nach ihren Lauflisten zusammen. Stumm, gewandt - sie alle jenseits der Vierzig, keine Konkurrenz mehr. Schweißtropfen auf der Stirn. Melancholie in dunklen Augen. Denn jetzt sind wir an der Reihe. Wir, denen Paris gehört am Tag und in der Nacht. Und wir haben keine Angst...
Die nackte Hexe von Asia Philippi (Jahrgang 1972) ist ein Roman, der auf ganz wunderbare Weise die Zügellosigkeit und die betörende Sinnlichkeit der 1960er und 1970er Jahre einfängt und dabei so lichtempfindlich bleibt wie ein Nouvelle-Vague-Film.
Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman in seiner Reihe APEX EROTIK.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
ASIA PHILIPPI
Die nackte Hexe
Roman
Apex Erotik, Band 2
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE NACKTE HEXE
Vorwort
Mädchenspiele
Ein Fest bei Robert
Schweiß, Staub und Tränen
Die Retter werden die Opfer sein
Ein Attaché und sein Chauffeur
Vor der Kamera
Voyeure
Norbert
Das Ende eines Mannequins
Inge hoch Inge
Ankunft und Abschied
Serge
Nachwort
Hemdchen, Höschen, Unterröcke wehen spitzenleicht durch die Luft. Kleider, Schuhe, Kappen fliegen hinterher. Auch Schmuck. Falsche Steine. Buntes Glas. Die Mädchen, die nacheinander von draußen hereinkommen, reißen sich das Zeug vom Leibe.
Die Garderobieren fangen alles mit sicherem Griff und stellen auf den Tischen, vor den Spiegeln ringsum, die neuen Kombinationen nach ihren Lauflisten zusammen. Stumm, gewandt - sie alle jenseits der Vierzig, keine Konkurrenz mehr. Schweißtropfen auf der Stirn. Melancholie in dunklen Augen. Denn jetzt sind wir an der Reihe. Wir, denen Paris gehört am Tag und in der Nacht. Und wir haben keine Angst...
Die nackte Hexe von Asia Philippi (Jahrgang 1972) ist ein Roman, der auf ganz wunderbare Weise die Zügellosigkeit und die betörende Sinnlichkeit der 1960er und 1970er Jahre einfängt und dabei so lichtempfindlich bleibt wie ein Nouvelle-Vague-Film.
Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman in seiner Reihe APEX EROTIK.
Tag für Tag kommen Mädchen an in Paris.
Auf allen Bahnhöfen der großen Stadt.
So wie auch ich eines Morgens im April hier angekommen bin auf der Gare du Nord. Müd und zerschlagen nach nachtlanger Fahrt in einem muffigen Abteil mit blinden Fenstern.
Und ging zögernd in einem Strom Menschen durch die verrußte Bahnhofshalle hin, einem fernen Licht entgegen. Bis ich unversehens draußen auf dem Platz im blauen Wehen des Frühlings stand, in diesem Wind, der vom Meer kommt.
Ich hob meine Arme auf - vergessen Hunger und Müdigkeit - und dachte nur immer: Ich bin angekommen. Mein Leben beginnt.
Ich ging immer geradeaus: Faubourg St. Denis. Boulevard de Sébastopol und du Palais und endlich: Boul Mich’-Land, Straße, Traum der Jugend. Es waren die Tage der Kastanienblüte. Weiße und rote Kerzen hoch auf windbewegten Zweigen. Ihr Licht schimmerte in den Augen der jungen Mädchen, die irgendwo aufgebrochen waren wie ich - der Sehnsucht, dem Glück, der Hoffnung entgegen. Dieser Sehnsucht, die nun dein Schicksal wird, diesem Glück, das in Tränen vergeht, dieser Hoffnung, die zehnmal in Verzweiflung erstickt, ehe sie sich einmal wie im Märchen erfüllt...
Siebzehn Jahre lachen jeder Warnung ins Gesicht. Zwanzig Jahre glauben unerschütterlich an sich selbst.
Aber ich habe diese Erinnerungen, Eindrücke, Wachträume von Paris, die unvergesslich in mir leben, nicht aufgeschrieben, um zu warnen, zu mahnen, zu erschrecken.
Vielmehr will ich euch, meine jungen Schwestern, die ihr ankommt in diesem Augenblick, die ihr morgen ankommen werdet, nur ein wenig zur Seite gehen. Euch sagen, damit ihr gewappnet seid, was euch erwartet in dieser hellen, zärtlichen Stadt. In dieser grausamen, mitleidlosen, verfluchten Stadt. Heute vielleicht werdet ihr geliebt wie nie zuvor, und morgen werdet ihr wie nie zuvor allein sein. Wenige Schritte nur an eurer Seite, bleib’ ich bald schon zurück, während ihr weitergeht. Euren Träumen entgegen.
Hinein in diese Welt der Männer, in der es mehr Niederlagen als Siege für uns gibt. Aber die Niederlagen sind schöner als der Sieg.
Paris hat kein Ende, und die Erinnerung eines jeden Menschen, der dort gelebt hat, ist von der jedes anderen Menschen verschieden, sagt Hemingway.
Ich erzähle von meiner Zeit, von den wilden glücklichen Tagen, da ich mit Inge über diese Straßen und Plätze ging.
Und ich sage alles, wie es war - offen und frei heraus -, in einem, wie ich hoffe, fröhlichen Buch.
Anja.
Hemdchen, Höschen, Unterröcke wehen spitzenleicht durch die Luft. Kleider, Schuhe, Kappen fliegen hinterher. Auch Schmuck. Falsche Steine. Buntes Glas. Die Mädchen, die nacheinander von draußen hereinkommen, reißen sich das Zeug vom Leibe.
Die Garderobieren fangen alles mit sicherem Griff und stellen auf den Tischen, vor den Spiegeln ringsum, die neuen Kombinationen nach ihren Lauflisten zusammen. Stumm, gewandt - sie alle jenseits der Vierzig, keine Konkurrenz mehr. Schweißtropfen auf der Stirn. Melancholie in dunklen Augen. Denn jetzt sind wir an der Reihe. Wir, denen Paris gehört am Tag und in der Nacht. Und wir haben keine Angst.
Von draußen herein Musik der kleinen Band mit Frankie- boys neuestem Hit. Samt Sound. Dazwischen Gelächter und ein wenig Beifall. Die nackten Mädchen summen mit: Strangers in the night - während sie die Modelle wechseln. Seide rauscht.
Dazu dieser Dunst aus Schweiß und Parfüm, der den fensterlosen Raum erfüllt und mir den Atem nimmt, fast das Bewusstsein.
»Anja, sind Sie fertig?«, sagt Madame Beatrice von ihrem hohen Dirigentenpult her, und wie immer zucke ich zusammen beim Peitschenklang ihres Anrufs.
»Sofort, Madame!«, schreie ich im Durcheinander der Stimmen und Stoffe zurück. Ich habe nur noch die Schuhe zu wechseln.
Den Breitschwanzmantel, goldblond und leicht wie Haut auf Haut, hab’ ich schon übergeworfen - das letzte Stück der Pelzkollektion, das ich gleich auf den Steg bringen werde.
»Schick«, sagt Inge neben mir, die in der Agenturkartei als Ghislaine vermietet wird, vierhundert Franc pro Tag, »den klauen wir.« Und ist im nächsten Augenblick von einem Höschen entzückt, das sie gerade übergestreift hat. Mittelpunkt des Brautkomplets, das sie nach mir als Schluss der Schau vortragen wird: »Sieh dir das mal an. Kann man der Braut doch gar nicht ausziehen, so hübsch ist das.« Windet sich dabei nach allen Seiten vor dem Spiegel und seufzt: »Überhaupt blöd, dass wir die hübschesten Sachen immer nur unterm Kleid tragen dürfen. Von morgen ab geh’ ich nur noch im Slip über die Champs-Élysées.«
Sie könnte sich das leisten. Sie ist wunderbar gewachsen. Helle Haut mit rotblondem Haar, das golden durch das Spitzendreieck des Höschens schimmert. Sie allein bekommt an solchen Abenden so viele Briefe, Blumen und Einladungen wie wir anderen zusammen.
»Anja, ich warte auf Sie!« Madame Beatrices Stimme ist noch schärfer geworden, klingt nach ernstem Verweis. Ich stehe auf und stolpere vorwärts. Diese verdammten Goldschuhe sind viel zu eng, tun fürchterlich weh, sind eine wahre Pein.
Beatrice setzt mir eine Goldkappe aufs Haar. Ich fühle, wie ihre Hände zittern. Ihre dunklen Augen sind nahe vor mir. Und diese schmalen Lippen, die ich stöhnend kenne, werden weich und flüstern: »Ich habe gestern auf dich gewartet und werde heute wieder warten. Du wirst kommen, nicht wahr?«
»Ich werde kommen«, sage ich genauso leise.
Denn auf dieser Welt gibt’s nichts umsonst.
Beatrice hatte mich aufgenommen, als ich damals, von einer Stunde zur andern, das schöne helle Haus der Madame Rose Chardonne verlassen musste. Aus keinem anderen Grund, als dass aus meiner Liebe zu Paris, fast ohne mein Zutun, auch eine Liebe zu verschiedenen Parisern geworden war, die gemeinsam den Namen Chardonne trugen. Und sie konnten sich nicht einig werden, wem ich gehören sollte. So wurde Abschied daraus. Madame Rose hatte ich im Jardin du Luxembourg kennengelernt. Drei Tage nach meiner Ankunft auf der Gare du Nord. Und ich besaß schon keinen Centime und kein Hotelzimmer mehr. Mein Frühstück bestand aus langen Streifen Aprilsonne auf meiner Haut.
Da sprach sie mich an von Bank zu Bank. Fragte ein bisschen um mich herum und bot mir schließlich eine Stellung als Kindermädchen bei ihren Zwillingen an, die da irgendwo über die Kieswege tobten. Madame zahlte mir Kost und Logis und ein wenig Geld für ganz gewiss wenig Mühe - au pair, wie sie das nannte. Dazu viel freie Zeit, auch zum Studium der französischen Sprache. Und die hab’ ich dann wirklich ganz gut bei ihr gelernt, einbegriffen den Doppelsinn von »au pair«, der von Madame und Monsieur Chardonne gern mit sich paaren übersetzt wurde. Und ich wäre wohl noch heute in ihrem Haus, hätte ihrer beider wilde Eifersucht auf mich das Bleiben nicht unmöglich gemacht.
Wir weinten alle drei bei unserm Abschied. Ausgenommen die grässlichen Zwillinge, die sich freuten, mich loszuwerden. Denn ich hatte sie, mit und ohne Grund, immer dann versohlt, wenn Madame und Monsieur aus dem Hause waren.
Da man nirgendwo so leicht wie hier von Hand zu Hand, von Bett zu Bett, von Freundschaft zu Freundschaft gehen kann, genügte ein Telefongespräch, und ich teilte von einer Stunde zur anderen nun Wohnung und Bett mit Beatrice, einer früheren Freundin von Madame Rose, die ich schon länger kannte. Aber sie hatte nicht deren zärtlichen Mund, deren sanfte Hände. Bei ihr war alles härter, unerbittlicher, fordernder - wie bei einem Mann. Und ihre Liebe zu mir wurde das, was ich am wenigsten ertragen kann: eine beständige Tyrannei. Weshalb ich sie dann auch verließ, um mit Inge zusammenzuziehen, der ich beim Tanzen in einer Diskothek begegnete. Da verließen wir wie auf Verabredung unsere Partner und blieben zunächst für drei Tänze und dann für immer zusammen. Im Arrondissement XVI, Passy, bewohnten wir seitdem ein Appartement, dessen Kosten wir uns teilten, und auch, was in ihm geschah.
Doch hat, was ich jetzt bin und kann, mit Beatrice begonnen, meiner dunkeläugigen Wächterin.
Schon in der ersten Nacht, als sie mich aufdeckte im Bett, sagte sie unter Küssen und Streicheln: »Kind, du hast dich verschwendet bei Rose Chardonne. Du bist, was wir suchen. Diese langen Beine, der schöne Popo, die hohe Brust, die schmalen Augen. Voilà, du hast die Ausstattung, die zur Karriere gehört.«
So begann ich am nächsten Tag schon durch ihr Zimmer zu laufen, mich zu drehn und zu wenden. Aufrecht, mit Büchern auf dem Kopf. Lernte zu lächeln auf Anruf und in jede Richtung. Beatrice war dabei eine ebenso strenge Lehrerin wie Liebende. Als damalige Direktrice ließ sie mich zunächst bei Dessès als Aushilfe über den Steg gehen, wobei ich schnell an Sicherheit gewann. Ich gefiel. Fotografen hatten wachsenden Erfolg bei ihren Journalen mit dem tatarischen Schnitt meiner Augen, der mir immer als Makel erschienen war. Denn ich liebe blaue Augen, groß und hell, wie sie zum Beispiel Inge hat. Auf Dessès folgte Jacques Heim, folgten Ricci, Cardin, Lapidus. Stufe um Stufe ging es aufwärts. Und jede Stufe war ein Schritt weg von Beatrice. Bis ich auf die tanzende Inge traf, die mich endgültig von ihr befreite.
Aber noch immer wollte Beatrice meine Freiheit nicht anerkennen. Forderte noch immer, als ich mich längst schon losgekauft glaubte.
Da wehte Diane in einem nachtblauen Kaminkleid vom Steg herein und stieß mich an, während ich noch immer vor Beatrice stand:
»Raus, Anja!«
»Hier, deine Karte«, sagte Beatrice.
»Ja«, sagte ich, ohne sie anzusehen.
»Du wirst kommen?«
»Ja«, sagte ich. Ein leiser Gongschlag ertönte. Sie strich mir über die Schulter und schob mich zärtlich hinaus.
Meine Füße schmerzten in den zu engen Schuhen, doch Musik hüllte mich ein, der Scheinwerfer zog mich vorwärts.
Rene, unser schwuler kleiner Schwätzer, dem ich die Nummernkarte gegeben hatte, sagte hinter mir die Daten meines Goldmantels an. Mit seiner vollen Stimme klang das wie ein Liebesgedicht: »Anja zeigt Ihnen: Ballade pour un future - Breitschwanzmantel in Bernsteinfarbe - beachten Sie die Tatzenverschlüsse und die Hongkong-Schlitze, die jeden Schritt enthüllen, schwingen lassen und wieder verhüllen.«
Links und rechts unter mir sah ich die Augen der Frauen, die mich den Steg entlang verfolgten - ausdruckslos, prüfend, lächelnd, bewundernd und spöttisch. Immer die gleichen klatschten mir zu.
So wie ich es gewohnt war bei diesen Vorführungen. Dies war ein Abend wie alle anderen auch.
Bis ich ihn plötzlich vor mir sah. Sein braunes schmales Gesicht. Diese Augen unter dunkelbuschigen Brauen, die ich kannte - von der Terrasse des Cafés Deux Magots, wo sie mich an jedem Nachmittag empfingen, wenn ich mit Inge durch die schwingende Glastür kam. Ruhig sah er dann von der Zeitung auf und blieb mit seinen Augen bei mir, bis wir aufstanden, um an ihm vorüber die Terrasse wieder zu verlassen. Er war mir vertraut; aber wir hatten noch kein Wort miteinander gesprochen.
Nun saß er am Ende des Stegs ganz allein vor dem Ecktisch, vor dem ich wenden musste, um zurückzugehen.
Wie war er hierhergekommen? Jetzt erst, da die Schau doch schon dem Ende zuging?
Schritt vor Schritt ging ich den vertrauten Augen entgegen, die niemals belästigten, sondern immer nur zu warten schienen. Immer näher zu ihm hin. Mein Herz schlug bis in die Schläfen hinauf. »Der Mantel ist auf Seide gearbeitet, mit Innentaschen versehen«, sagte Rene hinter mir. Und, wie es üblich ist, öffne ich bei dieser Innenbeschreibung die Tatzenverschlüsse, schlage die Seiten weit auseinander, um das Angesagte zu zeigen - und wusste im selben Augenblick, dass ich, bis auf die Hüfthalter, die meine Strümpfe hielten, nackt war darunter. Nach der schwarzen Unterwäsche der beiden Trauerkleider, die ich vorher gezeigt hatte, wollte ich meine eigene Wäsche wieder anziehen - aber da sprach Inge auf mich ein, da rief Beatrice mich an, da hing mir die Garderobiere diesen Mantel schon um, dazu dieser Dunst, der mir den Atem nahm... ich hatte alles vergessen.
Wie versteinert vor Schreck, unfähig mich zu rühren, stand ich vor dem vertrauten Fremden. Fühlte seinen Blick auf meiner Brust, auf meinen Hüften, auf meinem Schoß - ganz ohne Frechheit und Forderung. In einer Art ruhiger Zärtlichkeit, die mir Wohltat und mich endlich löste. Ich ging weiter auf ihn zu. In sein plötzliches Lächeln hinein.
Ich lächelte zurück. Nur dunkel noch weiß ich, dass an den Tischen hinter ihm Gelächter aufstieg, Geflüster, Geraune, Köpfe bewegten sich, schoben sich höher, grinsten. Ich sah nur ihn. Fühlte seinen Blick auf dem glatten dunklen Dreieck zwischen meinen Schenkeln, hatte seltsamerweise nicht das Verlangen, mich vor ihm zu verhüllen, und zeigte mich ihm in einer seltsamen Mischung von Scham und Stolz. Für Bruchteile einer Sekunde vielleicht, die erfüllt waren von den Bildern dieses Morgens.
Da hatten Inge und ich, wie von Zeit zu Zeit üblich, wieder einmal unser heiteres Hairing abgehalten, wie Inge es gern nannte. Dabei saßen wir einander gegenüber im Bett und schnitten uns unter viel Gelächter das von Natur unordentliche Gekräusel auf jenem moosdichten Dreieck zurück, das der Fremde da unten mit lächelndem Wissen zu betrachten schien.
Wusste er, sah auch er, an was ich mich erinnerte unter seinen Blicken?
Das seltsame Wechselspiel zwischen meinen Erinnerungen und den dunklen Augen da unten, das wohl nur den Bruchteil einer Sekunde, für mich aber Ewigkeiten gedauert hatte, schwand mit einem halben Wimpernschlag dahin. Die Augen des Fremden schienen mich anzusehen wie am Morgen einer Liebesnacht.
Ich hob den Kopf, hörte deutlicher das Geraune, Geflüster, Gelächter vor mir. Schlug den Mantel dicht um mich zusammen und lief wie gejagt, ohne auf die Musik zu achten, über den Steg in die Garderobe zurück.
Dort waren die Mädchen schon zur Schlusspolonaise angetreten, ohne etwas von meinem Abenteuer bemerkt zu haben.
Hinter Inge, die heute, als Braut vom Dienst, in der Mitte der Reihe ging, kehrte ich auf den Steg zurück.
Jedoch mein fremd-vertrauter Bewunderer, nach dem ich sofort Ausschau hielt, war schon verschwunden.
Dies schien mir ein sicheres Zeichen dafür zu sein, dass er mich unten am Saalausgang abholen würde. Er, auf den ich Wochen hindurch gewartet hatte. Ich war bereit für ihn.
Sich zum ersten Mal zu enthüllen vor den Augen eines Mannes, den man liebt oder zu lieben beginnt, ist sehr aufregend, ein wunderbares Erschauern.
Wenn man hundertmal, tausendmal in immer anderen Kleidern, Kostümen, Komplets über einen Laufsteg gegangen ist, weiß man, dass alles Verhüllen nur die immer neue Aufforderung zum Enthülltwerden ist.
Mode ist die wahre Philosophie der Frauen - ständige Verwandlung, um die Liebe beständiger zu machen.
Ich blinzelte ins Morgenlicht, schloss die schmerzenden Augen wieder und blinzelte noch einmal. Und fuhr hoch und riss die Augen auf.
Das war nicht mein Zimmer, nicht mein Bett. Über dem offenen Fenster blähte der Morgenwind eine Gardine, die ich nicht kannte. Wo war ich?
Ich rieb mir die Augen. Aber je besser ich nun sah, desto fremder das Zimmer.
Ich stützte mich auf, sah mich um. Die blaue Decke glitt an mir herunter. Ich war nackt.
In wessen Wohnung aber? In wessen Bett? Da neben mir hatte jemand geschlafen. Ich fühlte die Wärme noch, sah das zerwühlte Kissen. Drüben auf dem schwarzen Lederstuhl lagen mein weißes Kleid, mein Slip, die dunkle Zopfperücke.
Hatte er mich mitgenommen? Er - auf den ich so lange gewartet hatte, in dessen Blick ich nackt hineingegangen war gestern Abend?
Bis dahin wusste ich alles noch. Sah sein Lächeln noch vor mir, mit dem er mich empfangen hatte.
Von da an aber war alles Nebel in meinem Kopf.
Hatte ich wirklich in seinen Armen gelegen in dieser Nacht - und wusste nichts mehr davon?
Ich rutschte aus dem fremden Bett und wankte über dicke Teppiche einem fernen Geräusch von fließendem Wasser entgegen. Irgendjemand musste also noch in dieser unbekannten Wohnung sein: da im Badezimmer, durch dessen angelehnte Tür ich nun vorsichtig meinen schmerzenden Nebelkopf schob.
Um eine Überraschung zu sehen, die sehr bekannte Züge trug.
Inges Kopf schwamm da hoch auf Seifenschaum in der Badewanne, wie abgelöst von ihr, denn ihr Körper war nicht zu erkennen.
»Sag mal, wo sind wir hier eigentlich?«, fragte ich eintretend. Ihr auf dem Schaum schwimmender Kopf fing an zu lachen. »Und wie sind wir hierhergekommen?«
Der Kopf schwamm näher heran und lachte immer noch.
»Lass doch das blöde Lachen!«, sagte ich: »Wo sind wir hier?«
»Schau dich erst mal im Spiegel an«, sagte der Kopf.
Ich patschte über Marmor zum Spiegel hin, sah ein vergrämtes Mädchen vor mir, mit hängenden Armen, etwas nach vorn fallenden Schultern, mit festen kleinen Brüsten, die sich aber seltsam verändert hatten.
Schwarze Striche, deren Herkunft ich mir nicht erklären konnte, markierten da die beiden rosigen Brustknospen.
»Was ist denn das?«, fragte ich erschrocken, wagte nicht genauer hinzublicken.
Inge prustete in den Schaum hinein: »Deine Augenwimpern, Süße.« Eine Metamorphose, die von Picasso hätte gemalt sein können: Meine Augenwimpern umrahmten schwarz die Spitzen meiner Brüste, zwinkerten mir unverschämt entgegen.
»Wie kommen die dahin?«, sagte ich verblüfft, während ich die dunklen Streifen, die mir auf den Lidern fehlten, von der Brust riss.
»Die hast du gestern Abend selbst dahin geklebt«, sagte freudig Inge. »Sah wirklich fabelhaft aus.«
»Da muss ich ziemlich blau gewesen sein?«
»Du warst bis unter die Haarwurzeln voller Champagner. Ich zwar auch. Aber du verträgst nichts.«
»Wirklich nicht, da hast du recht. Mir brummt der Schädel. Von wessen Champagner?«
»Robert Noirot hat uns gestern nach der Modenschau abgeholt und mit hierher in seine Wohnung genommen. Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr?«
»Robert Noirot?«, sagte ich fassungslos. Nicht also mein fremder Bewunderer. Langsam begann ich mich zu erinnern. Und ich glaube, ich wurde rot, da nun der Vorhang hinter meiner Stirn hochging und ich die Bilder der Nacht immer deutlicher wieder vor mir sah.
Robert Noirot, dessen Name Inge genannt hatte, war ein großer Mann von etwa vierzig Jahren, mit breiten Schultern und kahlem Schädel, der aussah wie ein Kosakenhetman. Wir kannten ihn aus den Ateliers der Haute Couture, aus denen er Stimmungsberichte in alle Welt hinaus schrieb. Indes konnte er sich von den Honoraren dieser Arbeiten die kostbare Wohnung, in der wir uns befanden, bestimmt nicht verdient haben. Offenbar flössen ihm Einkünfte aus anderen, geheimnisvollen Quellen zu.
Von seinen Festen, die er von Zeit zu Zeit gab, sprachen die Eingeweihten mit Augenzwinkern. Es galt als Auszeichnung, dazu eingeladen zu werden. Eine zweifelhafte Auszeichnung, wie mir nach den Abenteuern dieser Nacht schien.
»Komm in die Wanne«, sagte Inges Kopf. In der Tat hatte ich ein heftig aufsteigendes Bedürfnis nach Reinigung. Froh darüber, Inges unsichtbare Körperteile unterm Schaum zu fühlen, umschloss ich sie in der engen Wanne fest mit meinen Beinen und dachte den immer deutlicher aufsteigenden Bildern der vergangenen Nacht nach. Je klarer ich sie vor mir sah, umso mehr schien es mir, es seien das Erlebnis auf dem Steg, der über meiner Nacktheit geöffnete Mantel, die Augen meines unbekannten Freundes aus dem Deux Magots in Wahrheit nur Traum, Halluzination, verwirrte Wünsche gewesen. Und die Wirklichkeit hatte begonnen, als nicht mein unbekannter Freund, sondern der uns recht bekannte Robert Noirot uns vor dem Portal in der Rue Royale erwartete. Dieser mächtige Mann, vor dem ich von der ersten Begegnung an mit Neugier gemischte Furcht empfand.
Erst während er uns an seinen Bärenpranken zum wartenden Wagen führte, erfuhr ich, dass Inge diese Verabredung mit ihm getroffen hatte. Und da von meinem halluzinativen Bewunderer, den ich erwartet hatte, weit und breit nichts zu sehen war, folgte ich ihr ohne Widerspruch.
Kaum waren wir in den weißledernen Rücksitzen des großen Wagens versunken, gab uns Robert schon übergroße Zigaretten aus seinem goldenen Etui, von denen wir später glaubten, sie seien geimpft gewesen. Denn wir fühlten uns nach den ersten Zügen schon von kribbelnder Heiterkeit erfüllt. Bei jedem Wort von Robert Noirot, bei jedem Stopp vor einer Ampel oder jähem Anfahren wieder, über jede Kleinigkeit vor uns und um uns brachen wir in mädchendummes Gelächter aus, während der chinesische Chauffeur den Wagen über die Avenue de Friedland und Foch zum Bois hin steuerte, wo wir uns in die lange Reihe langsam flanierender Wagen einreihen mussten.
Vom Duft der Mainacht, die warm in die offenen Fenster drang, war nichts zu riechen, weil Benzindämpfe ihn überdeckten. Aber das Grün der ersten sprossenden Blätter wölbte sich über uns. Unsere Erregung steigerte sich. Wir winkten den Wagen zu, die uns begegneten oder manchmal auch überholten. »Seid vorsichtig!« warnte uns Robert Noirot. Aber da geschah schon, was er vorausgesehen hatte. Einige der Wagen, denen wir zugewinkt hatten, hielten vor uns am Straßenrand, andere fuhren uns auch, wo es möglich war, dicht zur Seite. Ihre Insassen warfen uns Kusshände zu. Beugten sich aus den offenen Fenstern, uns näher zu sehen, unsere Hände zu berühren. Riefen uns übermütige Frechheiten zu, die wir nur halb verstanden.
»Was wollen die alle?«, sagte Inge erschrocken.
Robert lachte: »Mit euch schlafen. Ich habe euch gewarnt. Das ist hier der Boulevard des Rendezvous. Da muss man auf einiges gefasst sein.«
»Ist das jeden Abend so?«, fragte ich.
»Jeden Abend, bis in die Nacht hinein«, sagte Robert. »Aber am meisten an diesen Abenden im Frühling.«
»Fahren wir schnell weiter«, sagte Inge, die sonst gar nicht schüchtern war.
»Schnell geht nicht, Mademoiselle«, sagte der Chauffeur mit seinem chinesisch singenden Französisch und wies gelassen auf die Stockung hin, in der wir warten mussten.
Schon sprangen die Männer aus den Wagen hinter uns, neben uns, vor uns.
»Mit uns!«, sagte ein Herr von rechts zu Inge.
»Mit uns!«, baten Madame und Monsieur, beide etwa vierzig Jahre alt, die ihren Mercedes verlassen hatten, um mich näher anzusehen. Es schien wieder einmal Madame zu sein, die mich entdeckt hatte. Ein Typ wie Rose Chardonne.
Robert hob seine gewaltigen Pranken: »Excusez, messieurs-dames - wir sind auf dem Weg zu einer Party. Aber morgen oder übermorgen sind wir gern wieder hier.«
»Abgemacht, morgen um diese Zeit!«, sagte lachend der junge Mann, der neben Inge beinahe durch das Fenster kroch. »Ihr seid ja süß, ihr beiden. Ihr werdet auch meiner Frau gefallen. Ich freu mich auch auf Sie, Monsieur.« Robert winkte ab. Rasch fuhr der Chauffeur weiter, als sich die Stauung vor uns plötzlich auflöste.
»Und was wollen die da vorn, die ständig mit ihren Scheinwerfern blinzeln?«, sagte Inge, die allmählich ihre alte Kessheit wiedergewann.
»Leuchtfeuer der Liebe«, sagte Robert höchst poetisch und spöttisch zugleich. »Wir brauchen nur zurückzublinzeln und anzuhalten. Dann fahren sie heran. Man schaut sich an. Man prüft sich und fährt, wenn man sich gefällt, miteinander in die Wohnung des einen oder anderen. Man trinkt ein wenig, zieht sich aus, schläft miteinander, durcheinander, übereinander, ohne mehr voneinander zu wissen, als dass da Männer und Frauen sind, die einander suchen für eine Stunde, einen flüchtigen Abend. Ohne einen Namen zu wissen, trennt man sich wieder. Voilà, c’est tout.«
»Fabelhaft«, sagte Inge. »Bitte, Robert, blinzeln wir dieses Coupe mit dem hübschen jungen Paar vor uns an. Die sind schon zweimal an uns vorbeigefahren.«
»Ein andermal«, sagte Robert Noirot und ließ Monsieur Tronc, den Chauffeur, in einen dunkleren Seitenweg einbiegen: »Für heute haben wir andere Pläne.«
Je weiter wir den Windungen des schmalen Weges in den Bois hinein folgten, umso mehr dunkle Gestalten tauchten rechts und links im Schatten der Büsche auf. Sie alle junge Farbige, wie mir schien, da ihre Gesichter sich kaum aus der Dunkelheit hoben. Sie winkten uns zu, lachten mit blitzenden Zähnen, liefen manchmal auch eine kleine Strecke neben dem leis rollenden Wagen her.
Im nächsten umbuschten Rondell hielt ein Wagen mit einer einzelnen Dame am Steuer, die da mit zwei jungen Negern verhandelte. Bei der nächsten Biegung war es eine dicke ältere Dame, die einen knabenhaften, dunkelhäutigen Jungen aus dem Fenster eines Chevrolet heraus tätschelte, während ihr livrierter Chauffeur ein Gesicht machte, als spräche seine Chefin mit dem Prinzen von Wales.
Inge stieß mich lachend an, wir wandten uns um und konnten noch sehen, wie der dunkle Junge jetzt in dem großen Wagen verschwand, der schnell nach der anderen Seite davonfuhr.
Auch unser Wagen hielt am Wegesrand. Von allen Seiten, wie durch Zauberruf, kamen dunkle Gestalten.
Drei vielleicht zwanzigjährige Farbige unterschiedlicher Größe standen unversehens vor meinem heruntergekurbelten Fenster und öffneten wortlos die Reißverschlüsse ihrer Blue Jeans, um mir freimütig vorzuweisen, was Mutter Natur ihnen für den Lebenskampf mitgegeben hatte. Soviel Unmittelbarkeit verschlug mir den Atem. Auf der anderen Seite schien das gleiche Zeremoniell vor sich zu gehen, wie ich den leisen Rufen entnahm, die Inge von sich gab.
Plötzlich griff der größere und hübschere Bursche vor mir nach meiner Hand, damit ich die Qualitäten seiner Kraft nachprüfen möge. Es war wie auf dem Jahrmarkt, wo Hausfrauen das Geflügel auf die fleischige Brust hin befühlen.
»Hundert Franc, Madame!«, sagte der Junge.
Verwirrt sah ich in seine schwarzen Augen.
»Achtzig Franc!«, sagte er. »Bitte, Madame, Sie werden zufrieden sein.« Man konnte kaufen und handeln hier.
Indes hatte Robert Noirot einen Neger herbeigewinkt, der still im Hintergrund geblieben war. Ein schöner Bursche, breitschultrig, mit glänzender Haut und einem intelligenten Gesicht.
Robert sprach leise auf ihn ein. Der Bursche nickte stumm. Und schon fuhren wir weiter.
Inge schimpfte mit lachendem Vorwurf: »Was soll das, Robert? Willst du uns Appetit machen? Und dann davonfahren?«
»Dein Appetit wird noch gestillt werden heut Abend«, sagte Robert gleichmütig, während wir, der Porte de la Muette entgegen, den Bois wieder verließen, der, wie uns schien, an diesem Abend die Begierde von ganz Paris unter seinen bebenden Blättern barg.
Georges, Roberts behäbiger Butler, empfing uns im Vorraum der Penthouse-Wohnung, die sich Robert in der Nähe des Funkturms ausgebaut hatte, mit kühlem Champagner. Eine Wohltat nach dem Staub der Vorführung und der Garderobe, der uns noch in der Kehle saß. Aus den Nebenräumen hörten wir Musik und Stimmengewirr, während wir die Gläser in einem Zug in uns hineinschütteten und lachend husten und prusten mussten.
»Wie ist die Stimmung?«, fragte Robert.
»Großartig, wie immer«, meldete Georges. »Man wartet auf den Chef und Madame la Comtesse.«
»Warten ist immer gut«, sagte Robert, »es muss Steigerungen geben. Außerdem haben unsere beiden Schönheiten hier mit dem Abschminken und Umziehen länger gebraucht, als ich dachte.« Dabei schob er mir eine schwarze, Inge eine rote Halbmaske über die Augen.
»Was soll das?«, sagte Inge erstaunt.
»Dies ist ein Maskenfest, bei dem keiner den anderen kennt«, sagte Robert, während er die Tür zum Salon öffnete und uns hineinschob: »Viel Spaß, ihr beiden.«