Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie - Otto Bauer - E-Book

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie E-Book

Otto Bauer

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Beschreibung

Als Student lernte Bauer die etwas älteren Parteifreunde Max Adler, Rudolf Hilferding und Karl Renner kennen; mit ihnen gründete er den Verein "Zukunft" als Schule für Wiener Arbeiter, die Keimzelle des Austromarxismus. Aufmerksam wurde man auf ihn, als er 1907, erst 26 Jahre alt, dieses 600 Seiten starkes Werk über die Nationalitätenfrage vorlegte, die er - anders als Karl Renner - mit dem Prinzip der Kulturautonomie einer konstruktiven Lösung zuführen wollte. Inhalt: Karl Marx - Biografie und Bibliografie Sozialdemokratie - Basiswissen zur Entstehung Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie Vorwort I. Die Nation § 1. Der Nationalcharakter § 2. Die Nation als Naturgemeinschaft § 3. Naturgemeinschaft und Kulturgemeinschaft § 4. Die nationale Kulturgemeinschaft der Germanen im Zeitalter des Sippschaftskommunismus § 5. Die ritterliche Kulturgemeinschaft im Zeitalter der Grundherrschaft § 6. Die Warenproduktion und die Anfänge der bürgerlichen Kulturgemeinschaft § 7. Die Kulturgemeinschaft der Gebildeten im frühkapitalistischen Zeitalter § 8. Der moderne Kapitalismus und die nationale Kulturgemeinschaft § 9. Die Verwirklichung der nationalen Kulturgemeinschaft durch den Sozialismus § 10. Der Begriff der Nation § 11. Nationalbewusstsein und Nationalgefühl § 12. Kritik der nationalen Werte § 13. Nationale Politik II. Der Nationalstaat § 14. Der moderne Staat und die Nation § 15. Das Nationalitätsprinzip III. Der Nationalitätenstaat § 16. Österreich als deutscher Staat § 17. Das Erwachen der geschichtslosen Nationen § 18. Der moderne Kapitalismus und der nationale Hass § 19. Der Staat und die nationalen Kämpfe § 20. Die Arbeiterklasse und die nationalen Kämpfe IV. Die nationale Autonomie § 21. Das Territorialprinzip § 22. Das Personalitätsprinzip § 23. Nationale Autonomie der Juden? V.

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Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie

Otto Bauer

Inhalt:

Karl Marx – Biografie und Bibliografie

Sozialdemokratie - Basiswissen zur Entstehung

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie

Vorwort

I. Die Nation

§ 1. Der Nationalcharakter

§ 2. Die Nation als Naturgemeinschaft

§ 3. Naturgemeinschaft und Kulturgemeinschaft

§ 4. Die nationale Kulturgemeinschaft der Germanen im Zeitalter des Sippschaftskommunismus

§ 5. Die ritterliche Kulturgemeinschaft im Zeitalter der Grundherrschaft

§ 6. Die Warenproduktion und die Anfänge der bürgerlichen Kulturgemeinschaft

§ 7. Die Kulturgemeinschaft der Gebildeten im frühkapitalistischen Zeitalter

§ 8. Der moderne Kapitalismus und die nationale Kulturgemeinschaft

§ 9. Die Verwirklichung der nationalen Kulturgemeinschaft durch den Sozialismus

§ 10. Der Begriff der Nation

§ 11. Nationalbewusstsein und Nationalgefühl

§ 12. Kritik der nationalen Werte

§ 13. Nationale Politik

II. Der Nationalstaat

§ 14. Der moderne Staat und die Nation

§ 15. Das Nationalitätsprinzip

III. Der Nationalitätenstaat

§ 16. Österreich als deutscher Staat

§ 17. Das Erwachen der geschichtslosen Nationen

§ 18. Der moderne Kapitalismus und der nationale Hass

§ 19. Der Staat und die nationalen Kämpfe

§ 20. Die Arbeiterklasse und die nationalen Kämpfe

IV. Die nationale Autonomie

§ 21. Das Territorialprinzip

§ 22. Das Personalitätsprinzip

§ 23. Nationale Autonomie der Juden?

V. Die Entwicklungstendenzen der nationalen Kämpfe in Österreich

§ 24. Die innere Entwicklung Österreichs zur nationalen Autonomie

§ 25. Österreich und Ungarn

VI. Wandlungen des Nationalitätsprinzips

§ 26. Nationale Autonomie und Nationalitätsprinzip

§ 27. Die Wurzeln der kapitalistischen Expansionspolitik

§ 28. Die Arbeiterklasse und die kapitalistische Expansionspolitik

§ 29. Der Imperialismus und das Nationalitätsprinzip

§ 30. Der Sozialismus und das Nationalitätsprinzip

VII. Programm und Taktik der österreichischen Sozialdemokratie

§ 31. Das Nationalitätenprogramm der sozialdemokratischen Arbeiterpartei

§ 32. Die politische Organisation

§ 33. Die nationale Frage in den Gewerkschaften

§ 34. Die Taktik der Sozialdemokratie

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Otto Bauer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849606770

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Karl Marx – Biografie und Bibliografie

Geboren am 5. Mai 1818 in Trier, studierte Jurisprudenz, Nationalökonomie, Philosophie, promovierte 1841 in Berlin, begründete 1843 mit A. Rüge in Paris die »Deutsch-französischen Jahrbücher«, ging nach Belgien, wo er ausgewiesen wurde, dann wieder nach Frankreich, wo ihm dasselbe widerfuhr, lebte dann in London, gestorben 14. März 1883 daselbst.

M., der Begründer des »wissenschaftlichen« Sozialismus (gegenüber den »ideologischen« Utopien älterer Lehren) ist von Hegels Begriff des dialektischen Prozesses, von L. Feuerbachs Radikalismus und Positivismus, sowie von französischen Denkern beeinflusst. Der Hegelsche Gedanke, dass alles Sein ein »Prozess« ist, eine dialektische Selbstbewegung, ist ihm sympathisch. Nur hat Hegel die Dinge auf den Kopf gestellt, indem er alles aus Ideen ableitet. Die richtige Methode ist, die naturnotwendige, gesetzliche Entwicklung der Dinge und Verhältnisse selbst zu untersuchen und den realen treibenden Kräften der historisch-sozialen Entwicklung, die in den Köpfen der Handelnden zu Motiven werden, nachzugehen. Wenn diese »materialistische« Geschichtsauffassung, die gleich zur »ökonomischen« wird, alle Geschichte, alles Geistesleben, alle Kultur aus dem Wirken natürlicher Mächte ableitet, so darf nicht vergessen werden, dass M. zu diesen Mächten auch die menschlichen Kräfte und Strebungen rechnet, welche innerhalb des Ablaufes der Ereignisse auch eine dynamisch-aktive Rolle spielen, so wenig sie imstande sind, den (aus der Natur dieser und anderer Kräfte notwendig resultierenden) Lauf der Dinge abzuändern. Zwar nicht der Wille, aber alle Willkür ist hier ausgeschaltet.

Ohne ihren Willen gehen die Menschen soziale Verhältnisse ein, welche zugleich ökonomische Verhältnisse sind, indem die Gesellschaft eine ökonomische Struktur besitzt, in die wir hineingeboren werden. Die technisch bedingten Produktionsverhältnisse bilden nun die »reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen«. »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« »Mit der Erwerbung neuer Produktionskräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art. ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.« Die ökonomischen Faktoren sind also die letzten und eigentlich wirksamen Agentien der Geschichte, die anderen, »ideologischen« Gebilde (Religion usw.), wirken auch mit, ja sie wirken sogar auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zurück, aber sie wirken nicht primär, sondern nur als Reflexe, Abhängige des Ökonomischen und des von diesem bedingten Sozialen (z. B, der Klassenverhältnisse). Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nun so, dass der ökonomische Untergrund, der sich verändert hat, mit dein überlebten juristischen und ideologischen Oberbau in Widerspruch gerät, der zu einer sozialen Veränderung führt, wobei es zu Klassenkämpfen kommt. Der Widerspruch zwischen der sozialisierten, kollektiven Produktionsweise des Großbetriebes und der individualistischen, »anarchischen« Rechts- und Eigentumsordnung, die das Kapital in den Händen weniger Kapitalsmagnaten anhäuft und immer mehr Proletarier schafft, dieser Widerspruch sprengt endlich die kapitalistische Hülle, welche die Produktion fesselt. Die »Expropriateure«, die –»Ausbeuter« des »Mehrwertes« (= unbezahlte Arbeitszeit), den die Arbeiter schaffen, werden jetzt selbst expropriiert, das Eigentum an Produktionsmitteln wird kollektiv, die Gesellschaft wird sozialistisch, der nur dem Klasseninteresse dienende Staat hört auf und es herrscht jetzt die Vereinigung produktiver Menschen. Diese Gesellschaftsordnung kommt »von selbst«, d.h. infolge der historisch-sozialen Triebkräfte; sie kommt, wenn die Verhältnisse es fordern, höchstens können wir die Entwicklung beschleunigen.

Den Marxismus vertreten (außer M.s Mitarbeiter Fr. Engels) Kautsky, Bebel, F. Mehring, Bernstein (Revisionist), Cunow, C. Schmidt, M. Adler, O. Bauer, Woltmann (zum Teil), Lafargue (Schwiegersohn M.s), Labriola, Plechanow, Loria, Kelle-Krausz u. a.

SCHRIFTEN: Die heilige Familie (mit F. Engels), 1845 (gegen Bruno Bauer). – Misère de la philosophie, 1847; deutsch 1855, 3. A. 1895. – Manifest der kommunistischen Partei, 1847. – Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1859: 2. A. 1907. – Das Kapital, I. Bd., 1867, 4. A. 1892; II. Bd, 1885, 2. A. 1893; III. Bd., 1894; 3 Bde., 2. – 5. A., 1903 f. – Theorie über den Mehrwert, 1905. – F. Mehring, Aus dem literarischen Nachlaß von K. M., F. Engels und F. Lassalle, 1902. – Vgl. P. BARTH, Die Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann, 1890. – KAUTSKY, K. M.s ökonomische Lehren, 1887. – L. WERYHO, M. als Philosoph, 1894. – PLECHANOW, Beitrage zur Geschichte des Materialismus, 1896. – A. v. WENCKSTERN, M., 1896. – L. WOLTMANN, Der historische Materialismus, 1899. – MASARYK, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, 1899. – OTTOMAR LORENZ, Die materialistische Geschichtsauffassung, 1897. – WEISENGRÜN, Das Ende des Marxismus, 2. A. 1900. – MAX ADLER, M. als Denker, 1908. – HAMMACHER, Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus, 1909. – CHARASOFF, Das System des Marxismus, 1910. – GOLDSCHEID – VORLÄNDER, Kant u. Marx, 1911.

Sozialdemokratie-Basiswissen zur Entstehung

Diejenige sozialistisch-politische Richtung und Partei, die für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft in einem demokratischen Staat erstrebt, um die sozialistischen Ideen und Forderungen verwirklichen zu können. Sie unterscheidet sich von dem Sozialismus hauptsächlich dadurch, dass sie in ihrem Programm auch bestimmte, sofort ausführbare gesetzliche Reformvorschläge im Interesse der untern Klassen aufstellt. Als Begründer der S. mag der Franzose Louis Blanc gelten. Die von ihm in den 1840er Jahren in Paris gegründete Arbeiterpartei war die erste sozialdemokratische. Dieselbe erlangte vorübergehend einen Einfluss auf die Politik in Frankreich dadurch, dass zwei ihrer Führer, L. Blanc und Albert, nach der Februarrevolution 1848 Mitglieder der provisorischen Regierung wurden; sie wurde mit andern radikalen Parteien in der Junischlacht 1848 besiegt. In Deutschland war der von F. Lassalle 23. Mai 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein die erste Organisation der S. Der einzige statutarische Zweck dieses Vereins war die »friedliche und legale« Agitation für das damals noch nicht in Deutschland bestehende allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung, um dadurch »eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft« herbeizuführen Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, der unter der Präsidentschaft Lassalles nur einige tausend Mitglieder zählte und nach Lassalles Tod (31. Aug. 1864) unter unbedeutenden Führern (Bernhard Becker, Försterling, Mende, Tölcke u. a.) sich in verschiedene, sich gegenseitig bekämpfende Parteien spaltete, gelangte erst zu größerer Bedeutung, seit das von Lassalle geforderte allgemeine Wahlrecht 1867 durch Bismarck im Norddeutschen Bund eingeführt worden war und der begabte Literat J. B. v. Schweitzer 1867 die Leitung übernahm. Als Führer der Lassalleaner in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt, vertrat v. Schweitzer dort mit andern Sozialdemokraten die Sache der S. Schon unter seiner Präsidentschaft wurde das ökonomische und politische Programm des Vereins erweitert. Als jedoch die von Hasenclever und Hasselmann vertretene radikalere Richtung siegte, wurde v. Schweitzer 1871 als ein bezahlter Agent der preußischen Regierung verdächtigt und aus dem Verein gestoßen. Unter der Führung jener beiden Männer nahm die Mitgliederzahl, nachdem inzwischen das Wahlgesetz für den Norddeutschen Bund auch das für das Deutsche Reich geworden war, in kurzer Zeit enorm zu (1873 hatte der Verein schon über 60,000 Mitglieder und in 246 Orten Lokalvereine), wurde aber auch das ökonomische und politische Parteiprogramm radikaler (Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle Staats- und Gemeindewahlen auf alle über 20 Jahre alten Personen, Abschaffung der stehenden Heere, Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer progressiven Einkommensteuer mit Freilassung der Einkommen unter 500 Tlr. und mit einem Steuerfuß von 20–60 Proz. für Einkommen über 1000 Tlr., Abschaffung der Gymnasien und höheren Realschulen, Unentgeltlichkeit des Unterrichts in allen öffentlichen Lehranstalten etc.). Hauptblatt des Vereins war der Berliner »Sozialdemokrat«. Die Forderungen und ganze Art der Agitation näherten sich immer mehr dem Programm und der Agitationsweise einer zweiten sozialdemokratischen Partei, die unter dem Einfluss von Karl Marx und der internationalen Arbeiterassoziation im August 1869 von Wilhelm Liebknecht und August Bebel begründet worden war. In der internationalen Arbeiterassoziation war seit 1866 die erste internationale und zugleich eine radikale und revolutionäre sozialdemokratische Partei entstanden. Liebknecht und Bebel, Anhänger der Internationale, setzten, nachdem sie sich lange vergeblich bemüht hatten, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in das Lager der Internationale hinüberzuführen, auf einem allgemeinen Arbeiterkongress in Eisenach im August 1869 die Gründung einer zweiten Partei, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, durch, die sich ausdrücklich als deutscher Zweig der Internationale konstituierte. Die neue »Eisenacher« Partei (spottweise auch Partei der Ehrlichen genannt), vortrefflich organisiert und dirigiert (Hauptorgan der Leipziger »Volksstaat«), entfaltete namentlich seit Anfang der 1870er Jahre eine außerordentliche Rührigkeit. Nachdem die Reichstagswahl von 1874 gezeigt hatte, dass die bis dahin sich häufig bekämpfenden beiden Richtungen ungefähr gleich stark seien, und harte Polizeimaßregeln sie einander näher gebracht hatten, vereinigten sie sich 1875 auf dem Kongress in Gotha (22.–27. Mai) zur sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Das Gothaer Parteiprogramm, ein radikal-sozialistisches, stimmte in allen wesentlichen Punkten mit dem früheren Eisenacher Programm von 1869 überein, wenn es auch einige Konzessionen an die Lassalleschen Ideen enthielt. Der »Volksstaat« (später »Vorwärts«) wurde das Hauptorgan. Die Partei nahm bei der fast vollen Freiheit, die man ihr gewährte, einen großen Aufschwung. Nach dem Jahresbericht von 1877 verfügte sie über 41 politische Presseorgane mit 150,000 Abonnenten, außerdem über 15 Gewerkschaftsblätter mit etwa 40,000 Abonnenten und ein illustriertes Unterhaltungsblatt: »Die Neue Welt«, mit 35,000 Abonnenten. Ein Hauptagitationsmittel waren die besoldeten, redegewandten Agitatoren (1876: 54 ganz besoldete, 14 zum Teil besoldete) und die nicht besoldeten »Redner« (1876: 77). Bei den Reichstagswahlen stimmten für sozialdemokratische Kandidaten 1871: 124,655,1874: 351,952,1877: 493,288. Die ganze Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre; mit großem Geschick wurden in der Presse die radikalen sozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtert und in den Arbeiterkreisen der Klassenhass geschürt und revolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung, um dieser Agitation, die zu einer ernsten Gefahr für den sozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksam entgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eine Verschärfung des Strafgesetzbuches versucht hatte, griff man nach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm (11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitation erkennen musste, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegen die S., und es erging das zunächst nur bis 31. März 1881 gültige Reichsgesetz (Sozialistengesetz) vom 21. Okt. 1878 »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S.« Es suchte die gefährliche, das öffentliche Wohl schädigende sozialdemokratische Agitation zu unterdrücken. Es verbot daher bei Strafe Vereine, Versammlungen, Druckschriften sozialistischer, sozialdemokratischer oder kommunistischer Art; Personen, die sich die sozialdemokratische Agitation zum Geschäft machten, konnten aus bestimmten Landesteilen ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. konnte aus dem gleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden; auch konnte über Bezirke und Orte, in denen durch sozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheit bedroht erschien, der sogen. kleine Belagerungszustand mit Beschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisung ansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde 1880 wiederholt, zuletzt bis 30. Sept. 1890 verlängert. Von diesem Tag ab trat es außer Kraft. Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auch nicht die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten bei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961, 1884: 549,990,1887: 763,128); aber seine strenge Handhabung hatte wenigstens für einige Jahre die in hohem Grade gefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wie sie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde, verhindert. In der deutschen S. sonderte sich seit 1878 immer entschiedener unter der Führung von Most und Hasselmann eine radikale Anarchistenpartei ab, deren Hauptorgan 1879 die von Most in London herausgegebene »Freiheit« wurde, und deren Mitglieder auch in Deutschland und Österreich eine Reihe von Attentaten gegen Beamte und von Raubmorden ausführten. Das Hauptorgan der deutschen S. und der ihr verbündeten internationalen S. wurde der seit Oktober 1879 in Zürich erscheinende »Sozialdemokrat«. Zu einer definitiven Spaltung zwischen den Anarchisten und der sogen. gemäßigten, aber noch immer radikalen und revolutionären Bebel-Liebknechtschen Partei kam es auf dem Kongress in Wyden (Schweiz) im August 1880, auf dem aber auch die »gemäßigte« Richtung aus dem Gothaer Programm in dem Satz, dass die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln ihre Ziele erstreben wolle, das Wort »gesetzlichen« strich. Nach dem 30. Sept. 1890 entwickelte sich unter den Sozialdemokraten Deutschlands alsbald eine rührige und erfolgreiche offene Agitation. Unmittelbar nach dem Erlöschen des Ausnahmegesetzes wurde ein Kongress der Partei nach Halle einberufen, die für dringend nötig erachtete Revision des Programms aber erst auf dem bald darauf (im Oktober 1891) stattfindenden Kongress in Erfurt vorgenommen. Das neue Programm bringt in einer Einleitung die allgemeinen Grundsätze, von denen ausgehend die sozialdemokratische Partei Deutschlands eine Reihe von Forderungen stellt, die noch auf der Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung verwirklicht werden sollen, und gibt eine Kritik der letzteren, in der ausgeführt wird, dass die ökonomische Entwickelung mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebs, zur Vergrößerung des Proletariats führe, und dass nur eine Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Produktion in eine sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene, Abhilfe gewähren könne. Die wesentlichsten Programmpunkte sind:

1) Allgemeines gleiches und direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen, Proportional-Wahlsystem, und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.

2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung.

3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.

4) Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.

5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und privatrechtlicher Beziehung dem Manne unterordnen.

6) Erklärung der Religion zur Privatsache.

7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts.

8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes. Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagte, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe.

9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung.

10) Stufenweise steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbgutes und Entfernung der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle etc.

Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:

1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage: a) Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Normalarbeitstages; b) Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; c) Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt, Nachtarbeit erheischen; d) eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter; e) Verbot des Trucksystems.

2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeiterverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeiterämter und Arbeiterkammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.

3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesindeordnungen.

4) Sicherstellung des Koalitionsrechts.

5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Der Frankfurter Parteitag von 1894 wählte eine Agrarkommission zur Beratung der Frage, wie die Ideen der S. auf dem Lande verbreitet werden können, und zur Ergänzung des Programms mit Rücksicht auf die ländlichen Verhältnisse. Diese Agrarkommission tagte im Februar 1895 in Berlin, ohne indessen zu brauchbaren Resultaten gelangt zu sein.

Die Parteiorganisation ist äußerlich eine ziemlich lose, indem es wegen des geltenden Vereinsgesetzes der sozialdemokratischen Partei nicht möglich ist, sich als geschlossenen Verband von Vereinen zu organisieren. Deshalb wird ihr jede Person zugezählt, die sich zu ihren Grundsätzen bekennt. Oberstes Organ ist der jährlich zusammentretende Parteitag, zu dessen Teilnahme die Delegierten der einzelnen Reichstagswahlkreise, die Reichstagsabgeordneten und die Parteileitung berechtigt sind. Die Parteileitung, die auf dem Parteitag gewählt wird, besteht aus 12 Mitgliedern, von denen 5 mit der Geschäftsführung, die 7 andern mit der Kontrolle betraut sind. Aufgabe der Parteileitung ist es, den Zusammenhang mit den Vertrauensmännern in jedem Wahlkreis zu wahren, die Parteitage einzuberufen und die Parteipresse zu kontrollieren. Am 29. Nov. 1895 war durch Verfügung des Berliner Polizeipräsidenten wegen Verletzung des Vereinsrechts der Parteivorstand aufgelöst worden, weshalb die Leitung auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion überging und von einem provisorischen geschäftsführenden Ausschuss in Hamburg übernommen wurde. Nachdem aber die Hauptbeteiligten durch Gerichtsbeschluss freigesprochen wurden, entschied man sich auf dem Parteitage zu Hamburg 1897, den Sitz der Leitung wieder nach Berlin zu legen. Der Parteitag für 1896 fand vom 11.–16. Okt. in Gotha statt und beschäftigte sich mit Arbeiterschutz, Frauenagitation und Inneren Angelegenheiten; auf dem vom 4.–9. Okt. 1897 in Hamburg stattfindenden Parteitag wurde die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen beschlossen. Weitere Parteitage wurden jeweils im Herbst: 1898 in Stuttgart, 1899 in Hannover, 1900 in Mainz, 1901 in Lübeck, 1902 in München, 1903 in Dresden, 1904 in Bremen, 1905 in Jena, 1906 in Mannheim, 1907 in Essen abgehalten. Die Einnahmen der Parteikasse betrugen 1905/06: 810,917 Mk., die Ausgaben: 880,496 Mk.

In neuerer Zeit haben sich in der deutschen S. wiederholt verschiedene Strömungen gezeigt, so die der »Jungen«, denen die Parteileitung zu terroristisch und das Vorgehen der Partei zu zahm war. Der schon auf dem Erfurter Parteitag 1891 zum Ausbruch gekommene Streit endete jedoch mit dem Siege der Parteileitung, die den Austritt der Führer der »Jungen« (Werner, Wildberger, Auerbach) durchsetzte. Anderseits suchte die Parteileitung gegen den Führer des rechten Flügels Vollmar auf dem Frankfurter Parteitag 1894 ein Misstrauensvotum zu erreichen, weil dieser allzu sehr Optimist sei und das Hauptgewicht auf die Erreichung derjenigen Forderungen lege, die auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung erreichbar sind, konnte aber damit nicht durchdringen. Dazu kommt in der jüngsten Zeit eine gemäßigtere Richtung des wissenschaftlichen Sozialismus, die hauptsächlich von Bernstein vertreten wird und dem radikalen Marxismus gegenüber ein mehr sozial-reformatorisches Programm vertritt, das sich der bürgerlichen Demokratie nähert.

Die sozialdemokratische Presse hat seit 1890 einen erheblichen Aufschwung genommen. Vor Erlass des Sozialistengesetzes verfügte die Partei über 41 politische Zeitungen, 15 Gewerkschaftsblätter, 1 illustriertes Unterhaltungsblatt und 2 wissenschaftliche Zeitschriften. 1906 zählte sie: 78 politische und 67 Gewerkschaftsblätter. Offizielles Parteiorgan ist der »Vorwärts« (Beilage: Neue Welt). Andre bedeutende Blätter sind das »Hamburger Echo«, die »Leipziger Volkszeitung«, »Münchener Post«, »Rheinische Zeitung«. An wissenschaftlichen Zeitschriften hat die Partei die Wochenschrift »Die Neue Zeit« (redigiert von Kautsky), »Der sozialistische Akademiker« und die von J. Bloch redigierten »Sozialistischen Monatshefte« (Berl., seit 1897) und die »Dokumente des Sozialismus« (hrsg. von Bernstein, das., seit 1901); Unterhaltungsblatt ist »Die neue Welt«, Witzblätter: »Der wahre Jakob« und »Süddeutscher Postillon«. Sozialdemokratische Verlagshandlungen sind die des »Vorwärts« (Berlin), J. H. W. Dietz (Stuttgart), Auern. Komp. (Hamburg), M. Ernst (München), Wörlein u. Komp. (Nürnberg).

Während von der Gesamtzahl aller Stimmen diejenigen, die auf sozialdemokratische Kandidaten entfielen, früher nur einen geringen Prozentsatz ausmachten, stellte sich 1893 der Anteil bereits nahezu auf ein Viertel.

Auch in den meisten Landtagen, in vielen Gemeindevertretungen, Gewerbegerichten etc. befinden sich Sozialdemokraten. So zählt der bayrische Landtag zurzeit 15, der württembergische 15, der sächsische 2, der badische 11 Vertreter der S.

Die in der deutschen S. herrschenden marxistischen Prinzipien fanden allenthalben im Ausland, wenn auch mit mannigfachen Änderungen, Aufnahme; allerdings haben sie nirgends eine so feste Organisation erreicht wie in Deutschland. In Österreich hat die S. in der jüngsten Zeit überraschende Fortschritte gemacht. Nachdem die Wahlreform von 1896 durch Schaffung einer neuen (5.) Kurie im Jahre 1897: 14,1901: 10 Sozialdemokraten den Eintritt in den Reichsrat ermöglicht hatte, ist deren Zahl nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1907 plötzlich auf 87 gestiegen. Die Partei verfügt über zahlreiche politische, Fach- und sonstige Blätter, von denen das bedeutendste die von dem Hauptführer der Partei, Viktor Adler, geleitete »Wiener Arbeiterzeitung« ist. Das alte Hainfelder Programm von 1888 wurde auf dem Wiener Parteitag von 1901 einer Revision unterzogen. Vgl. Schwechler, Die österreichische S. (2. Aufl., Graz 1907). Auch in Ungarn nimmt die sozialdemokratische Agitation zu, obwohl die geringere industrielle Entwickelung und die Stärke der nationalen Bewegung ihre Ausbreitung erschweren. Doch sind es hier besonders die agrarischen Verhältnisse, die ihr in vielen Teilen des Landes Vorschub leisten. In Frankreich, wo 1848 die erste sozialdemokratische Bewegung stattfand, stritten sich lange Zeit die gemäßigte Richtung Louis Blancs und die anarchistische Proudhons um die Herrschaft. Doch gewann Ende der 1860er Jahre die letztere, vertreten durch Tolain und Langlois, den Sieg. Das zeigte sich namentlich in der Pariser Kommune. Seitdem hat auch der Marxismus, besonders infolge der energischen Anstrengungen J. Guesdes und P. Lafargues, große Fortschritte gemacht. Namentlich hat die 1890 unter den Possibilisten, einer gemäßigten sozialistischen Reformpartei, ausgebrochene Spaltung, der zufolge sie sich in Allemanisten und Broussisten, nach den Führern Alleman und Brousse, schieden, der Partei Guesdes (»Le Parti ouvrier«) neue Anhänger zugeführt Neben der Arbeiterpartei (parti ouvrier) gehören noch das revolutionäre Zentralkomitee (comité révolutionaire central) und die nationale Vereinigung der Arbeitersyndikate Frankreichs (fédération nationale des syndicats ouvriers de France) der extremen Richtung an. Bei der Wahl von 1893 wurden 49 Sozialisten (1885: 2), einschließlich der sozialistischen Radikalen, bei der von 1902: 48 gewählt. Auch bei den letzten Gemeinderatswahlen sind viele Sozialisten gewählt worden, so dass sie in einigen großen Städten die Majorität in der Stadtverwaltung besitzen. 1901 bildeten sich zwei große Parteien: die Französische sozialistische Partei, welche die Allemanisten und Broussisten, und die sozialistische Partei Frankreichs, welche die übrigen Gruppen einschließt. Die Wahl von 1906 ergab 76 sozialistische Deputierte. Die bedeutendsten sozialistischen Zeitschriften sind: »Le Socialiste«, »Revue socialiste« und »Devenir social«. Weit stärker noch und fester organisiert ist die sozialdemokratische Bewegung in Belgien. Unter der Führung de Paepes und Volders' breitete sie sich in den 1880er Jahren und wieder in der jüngsten Zeit als Belgische Arbeiterpartei unter Anseele, Vandervelde, Defuisseaux und Bertrand weit aus. Nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts vermochte sie bei den Wahlen von 1894 sofort 32 Abgeordnete in die Repräsentantenkammer zu senden. Bei den im Juli 1896 stattgefundenen Wahlen wurden 41 sozialistisch-radikale Abgeordnete gewählt. In der Folge ist ihre Zahl etwas gesunken (1900: 31,1902: 34,1906: 30 Abgeordnete). Die wichtigsten Zeitungen sind: »Le Peuple« (Brüssel), »Vooruit« (Gent), »De Werker« und »L'Echo du Peuple«. Die bedeutende Blüte der belgischen S. erklärt sich zum Teil daraus, dass diese mehr als die S. in andern Ländern die Schöpfung von Gewerkvereinen und Wirtschaftsgenossenschaften betreibt und namentlich auf dem Gebiete des Konsum- und Produktivgenossenschaftswesens große Erfolge erzielt hat. Vgl. Destrée und Vandervelde, Le socialisme en Belgique (2. Aufl., Brüss. 1903); Bertrand, Histoire de la démocratie et du socialisme en Belgique (das. 1905). In England gab es zwar in den 1830er und 40er Jahren schon mächtige Arbeiterbewegungen sozialistischer Natur, so der Chartismus und die von Owen hervorgerufene, allein eine sozialdemokratische Partei konnte erst Anfang der 1880er Jahre gegründet werden: die Socialdemocratic Federation unter Führung Hyndmanns. Aus ihr schied ein Teil der Mitglieder, die anarchistisch gesinnt waren, unter Führung von W. Morris aus und bildete die Socialist League. Im streng marxistischen Sinn agitierten Aveling und die Tochter von K. Marx, Eleanor Marx. Daneben gibt es noch eine Reihe sozialistischer Lokalvereine. Am meisten Anhang hat immer noch die Socialdemocratic Federation (Zeitung: »Justice«); ihr Programm fordert die Verstaatlichung des Bodens und die allmähliche Überleitung in die sozialistische Gesellschaft. Bei den Wahlen von 1892 gelang es den Sozialisten, 3 »unabhängige«, d. h. nicht den Trades-Unions angehörige Arbeitervertreter, unter ihnen den schottischen Bergarbeiter Keir Hardie, ins Parlament zu wählen, deren Programm aber nicht eigentlich sozialdemokratisch, sondern radikalsozialreformatorisch ist. Im Januar 1893 wurde auch eine »unabhängige Arbeiterpartei« (Indepedent Labour Party) mit ähnlichem Programm begründet. 1895 wurde keiner der 28 sozialdemokratischen Kandidaten gewählt; die drei als Arbeitervertreter gewählten »Unabhängigen« waren Alliierte der liberalen Partei. Die Wahlen von 1900 ergaben 13 Arbeitervertreter, darunter J. Burns, die aber nicht alle als Sozialdemokraten bezeichnet werden können, die von 1906 deren 30. In neuester Zeit haben aber auch die Gewerkvereine namentlich die der ungelernten Arbeiter, unter dem Einfluss John Burns' dem Sozialismus sich genähert. Auf den letzten Kongressen der Trades-Unions trat überhaupt der sozialistische Gedanke in Resolutionen zugunsten der Verstaatlichung der Produktionsmittel etc. stark hervor. Gleichwohl kann man zurzeit von einer sozialistischen Arbeiterpartei im Sinne der deutschen S. nicht sprechen. In Holland hat in den letzten 20 Jahren namentlich unter dem Einfluss Domela Nieuwenhuis' eine starke sozialdemokratische Bewegung Platz gegriffen (Bund der Sozialdemokraten, Organ: »Recht voor Allen«). Neben der Domelaschen revolutionären Richtung ist seit 1894 unter Führung von Trolst und van Kol eine gemäßigte, sozialer Reformtätigkeit geneigte Fraktion (Organ: »De Nieuwe Tijd«) entstanden, welche die erstere überflügelt hat. 1906 waren in der Zweiten Kammer 7 Abgeordnete der S. In der Schweiz hat die S. erst seit Beginn der 1890er Jahre, seit der Grütliverein sich der S. anschloss, einen größeren Anhang. Im J. 1902 erfolgte eine Vereinigung und Reorganisation der verschiedenen sozialistischen Gruppen. In einzelnen Kantonen findet sich bereits eine ansehnliche Zahl von Vertretern der S.; im Nationalrat sind zurzeit 2. In Russland trat die S. lange Zeit zurück vor den nihilistischen und nationalrussischen revolutionären Bestrebungen. Erst in neuester Zeit hat auch die S. mehr um sich gegriffen und sich konsolidiert. Die beiden Hauptparteien unter der Arbeiterschaft sind die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands«, deren Programm im ganzen dem der deutschen S. ähnlich ist, und die Partei der revolutionären Sozialisten, die alle arbeitenden Elemente, auch die Bauern, vertreten will. In Schweden und Norwegen ist der agrarische Charakter des Landes der Ausbreitung der S. hinderlich, immerhin hat sie, namentlich in Schweden im Anschluss an die Gewerkvereinsbewegung, bereits größeren Umfang erreicht. In Schweden hat sie zurzeit 13 Sitze, in Norwegen deren 5 und zahlreiche Gemeindemandate inne. In Dänemark hat nicht nur die städtische Industriebevölkerung, sondern auch das Landvolk sich sozialistischen Bewegungen zugänglich gezeigt. 1906 wurden 24 sozialdemokratische Abgeordnete in das Folkething entsendet. Vgl. Helms, Die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Bewegung in Dänemark (Leipz. 1907). In Italien war, wie heute noch in Spanien, der Anarchismus bis zu Beginn der 1880er Jahre die einzige Form der Auflehnung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Erst von da ab sing die S. unter Führung Costas an, eine Rolle namentlich in Oberitalien und Sizilien zu spielen. Auf dem Kongress zu Genua (1892) wurde die italienische Arbeiterpartei gegründet. Im J. 1895 wurden 8, 1900: 33 Vertreter der S. ins Parlament gewählt, und zahlreiche Sozialdemokraten sitzen in Gemeindevertretungen. Hauptorgan ist die Tageszeitung »Avanti«. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzt die S. bis heute keine große Bedeutung, weil der Sinn des amerikanischen Volkes ähnlich dem des englischen auf die unmittelbare Verbesserung seiner Lage, auf das Erreichbare, gerichtet ist. Die wichtigste Arbeitervereinigung, die Federation of Labor (Arbeiterbund), trägt gewerkschaftlichen Charakter. Mehr dem Sozialismus nähern sich die Central Labor Unions, Vereinigungen organisierter Lohnarbeiter in großen Städten und Industriebezirken, und die 1895 gegründete Socialist Trade and Labor Alliance, ein gewerkschaftlicher Zentralverband. Eine eigentlich sozialdemokratische Vereinigung war die 1876 hauptsächlich von deutschen Eingewanderten begründete Sozialistische Arbeiterpartei Nordamerikas, deren Programm dem Gothaer der deutschen S. verwandt ist. 1897 entstand eine Sozialdemokratische Partei, die sich mit der vorgenannten 1900 auf einem Kongress in Indianapolis zur Socialistic Party zusammenschloss. Ihre Erfolge sind gering. Über den Orden der Knights of Labor s. Ritter der Arbeit.

Vgl. E. Jäger, Der moderne Sozialismus (Berl. 1873); Mehring, Die deutsche S. (3. Aufl., Bremen 1879) und Geschichte der deutschen S. (3. Aufl., Stuttg. 1906, 4 Bde.); R. Meyer, Der Emanzipationskampf des vierten Standes (2. Aufl., Berl. 1882); Scheel, Unsere sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878); Oldenberg, Die Ziele der deutschen S. (das. 1891); Schäffle, Die Quintessenz des Sozialismus (13. Aufl., Gotha 1891) und Die Aussichtslosigkeit der S. (4. Aufl., Tübing. 1893); G. Adler, Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland (Bresl. 1885), Die Entwickelung des sozialistischen Programms (in den »Jahrbüchern für Nationalökonomie«, 1891) und Artikel »S.« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaft«, Bd. 5 (hier auch ausführliche Literaturangaben über die außerdeutschen Länder); Kautsky, Das Erfurter Programm erläutert (6. Aufl., Stuttg. 1905); Kautsky und Schönlank, Grundsätze und Forderungen der S. (Berl. 1892), Handbuch für sozialdemokratische Wähler (hrsg. vom Parteivorstand, zuletzt Berl. 1907); Schippel, Sozialdemokratisches Reichstagshandbuch (das. 1902); A. Wagner, Das neue sozialdemokratische Programm (das. 1892); Laveleye, Der Sozialismus der Gegenwart (deutsch, Halle 1895); E. Richter, Die Irrlehren der S. (Berl. 1890); M. Lorenz, Die marxistische S. (Leipz. 1896); Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert (5. Aufl., Jena 1905); Wacker, Entwickelung der S. in den zehn ersten Reichstagswahlen, 1871–1898 (Freiburg 1903); Brunhuber, Die heutige S. (Jena 1906); E. Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung (Berl. 1907 ff.); Milhaud, La démocratie socialiste allemande (Par. 1903); Ely, The labor movement in America (New York 1886); Stammhammer, Bibliographie des Sozialismus und Kommunismus (Jena 1893–1900, 2 Bde.). Weitere Literatur s. unter Internationale und Sozialismus.

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie

Vorwort

In allen Staaten des europäischen Kulturkreises steht die Stellung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu den nationalen Fragen im Mittelpunkte der politischen Diskussion. In Österreich und Russland ist die nationale Frage das schwierigste Problem der inneren Politik. Aber auch die Sozialdemokratie der west- und mitteleuropäischen Nationalstaaten kann sich der Erörterung des Verhältnisses der nationalen Gemeinschaft zum Staate nicht entziehen; sind doch die nationalen Fragen mit den Problemen der auswärtigen Politik untrennbar verknüpft, die für die Arbeiterklasse aller Nationen von Jahr zu Jahr wachsende Bedeutung gewinnen.

Wollen wir die Entwicklungsrichtung der sozialdemokratischen Nationalitätenpolitik erforschen, so müssen wir den Kräften nachspüren, die, auf Millionen Arbeiter, auf Tausende Vertrauensmänner wirkend, das Bewußtsein der Arbeitermassen formen, ihre Entschließungen in allen Fragen des nationalen Lebens bestimmen. So lernen wir es, die Nationalitätenpolitik der Sozialdemokratie aus der Stellung der Arbeiterklasse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die nationale Frage als soziales Problem zu begreifen. Es gilt hier, Marx’ Methode der sozialen Forschung auf neuem Arbeitsfelde zu erproben. In diesem Sinne will meine Schrift eine „Marx-Studie“ sein.

Die nationale Gemeinschaft ist eines der kompliziertesten sozialen Phänomene, ein Komplex der verschiedenartigsten sozialen Erscheinungen. Wer erforschen will, wie das Band der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft den Willen der kämpfenden Arbeiterklasse bestimmt, muss daher auch von verschiedenen Seiten aus sein Problem in Angriff nehmen. Wollen wir dieser Aufgabe nicht völlig entsagen, so müssen wir es wagen, die Grenzen unseres engeren Arbeitsfeldes zu überschreiten, bald da, bald dort einen uns minder vertrauten Weg zu betreten. Auch ich hätte lieber auf meinem engeren Arbeitsgebiete meine gewohnte Arbeit fortgesetzt, statt mich hier, auf fremde und nicht selten unvollkommene Forschungen gestützt, um ein Problem zu bemühen, dessen Vielfältigkeit und Verworrenheit der Arbeitskraft und dem Wissen eines einzelnen eine niemals vollkommen lösbare Aufgabe setzt. Aber die kämpfende Arbeiterklasse kann nicht das Argument des Tages entbehren, weil spätere Jahre es als unvollkommen erweisen mögen. Und so manchem, der noch ratlos den Kämpfen der Klassen und Parteien gegenübersteht, wird unsere Sammlung des Materials, unsere Ordnung der Argumente, wie mangelhaft sie auch sein mag, willkommen sein als Grundlage zu weiterer Forschung.

Für meine Folgerungen und Forderungen trage ich allein die Verantwortung. Ich weiß, dass viele meiner Parteigenossen über so manches Problem der sozialdemokratischen Nationalitätenpolitik anders denken als ich. Kein billig denkender Gegner wird die Gesamtpartei für die Ansichten eines einzelnen Parteigenossen verantwortlich machen.

Der größte Teil des Buches, das ich heute der Öffentlichkeit übergebe, war bereits im Jahre 1906 geschrieben und gedruckt. Äußere Umstände haben sein Erscheinen verzögert.

Wien, den 24. Mai 1907

Otto Bauer

I. Die Nation

§ 1. Der Nationalcharakter

Die Wissenschaft hat bisher die Nation den Lyrikern, den Feuilletonisten, den Rednern in der Volksversammlung, im Parlament, am Biertisch fast ausschließlich überlassen. In einer Zeit großer nationaler Kämpfe haben wir kaum erst die ersten Ansätze zu einer befriedigenden Theorie des Wesens der Nation. Und doch bedürfen wir einer solchen Theorie. Wirkt doch auf uns alle die nationale Ideologie, die nationale Romantik ein, sind doch unter uns wenige, die auch nur das Wort deutsch auszusprechen vermöchten, ohne dass dabei ein merkwürdiger Gefühlston mitschwingen würde. Wer die nationale Ideologie verstehen und wer sie kritisieren will, kann der Frage nach dem Wesen der Nation nicht ausweichen.

Bagehot sagt, die Nation sei eine Jener vielen Erscheinungen, von denen wir wissen, was sie sind, so lange wir nicht gefragt werden, die wir aber nicht kurz und bündig erklären können.  Aber damit kann sich die Wissenschaft nicht begnügen; sie kann auf die Frage nach dem Begriff der Nation nicht verzichten. wenn sie von der Nation sprechen will. Und diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es flüchtigem Blicke vielleicht scheint. Ist die Nation eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Abstammung: Aber die Italiener stammen von Etruskern, Römern, Kelten, Germanen, Griechen und Sarazenen, die heutigen Franzosen von Galliern, Römern, Briten und Germanen, die heutigen Deutschen von Germanen, Kelten und Slaven ab. Ist es die Gemeinschaft der Sprache, die die Menschen zu einer Nation vereint.“ Aber Engländer und Iren, Dänen und Norweger, Serben und Kroaten sprechen dieselbe Sprache und sind darum doch nicht ein Volk; die Juden haben keine gemeinsame Sprache und sind darum doch eine Nation. Ist es das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, das die Nation zusammenschließt? Aber soll der Tiroler Bauer darum kein Deutscher sein, weil er sich der Zusammengehörigkeit mit Ostpreußen und Pommern, Thüringern und Elsässern nie bewusst geworden? Und dann: Was ist es, dessen sich der Deutsche bewusst wird, wenn er sich seines Deutschtums erinnerte? Was macht ihn zur deutschen Nation zugehörig, mit den anderen Deutschen zusammengehörig.? Erst muss doch wohl ein objektives Merkmal der Zusammengehörigkeit da sein, ehe man sich dieser Zusammengehörigkeit bewusst werden kann.

Die Frage der Nation kann nur aufgerollt werden aus dem Begriff des Nationalcharakters. Bringen wir den erstbesten Deutschen in ein fremdes Land, etwa mitten unter Engländer, und er wird sich sofort dessen bewusst: das sind andere Menschen, Menschen mit einer anderen Art zu denken, zu fühlen, Menschen, die auf gleichen äußeren Reiz anders reagieren als die gewohnte deutsche Umgebung. Den Komplex der körperlichen und geistigen Merkmale, der eine Nation von der anderen scheidet, nennen wir vorläufig ihren Nationalcharakter; darüber hinaus haben alle Völker gemeinsame Merkmale, die sie alle uns als Menschen erkennen lassen, und haben andererseits die einzelnen Klassen, Berufe, Individuen jeder Nation individuelle Eigenschaften, Sondermerkmale, die sie voneinander scheiden. Aber dass der Durchschnittsdeutsche vom Durchschnittsengländer verschieden ist, mögen sie auch als Menschen, als Zugehörige derselben Klasse oder desselben Berufes vieles miteinander gemein haben, und dass ein Engländer mit dem anderen in einer Reihe von Merkmalen übereinstimmt, wie sehr sie auch individuelle oder soziale Verschiedenheiten trennen mögen, ist gewiss. Die Nation wird nichts für den, der das leugnen wollte; wird der Engländer, der in Berlin lebt und deutsch sprechen kann, darum ein Deutscher?

Es ist kein Einwand gegen den Begriff des Nationalcharakters, wenn man die Verschiedenheiten der Nationen aus den Verschiedenheiten ihrer Schicksale, ihres Daseinskampfes, ihres gesellschaftlichen Aufbaues erklärt, wenn beispielsweise Kautsky die Hartnäckigkeit und Zähigkeit der Russen daraus zu erklären sucht, dass die Masse des russischen Volkes aus Bauern besteht und der Ackerbau überall schwerfällige, aber zähe und hartnäckige Naturen erzeugt.  Denn damit wird das Bestehen eines eigentümlichen russischen Nationalcharakters nicht geleugnet, es werden vielmehr die nationalen Eigentümlichkeiten der Russen zu erklären gesucht.

Dass aber sich viele immer beeilen, die Entstehung des Nationalcharakters zu erklären und sich bei ihm selbst keinen Augenblick beruhigen wollen, dankt der Begriff dem Missbrauche, der mit ihm getrieben worden ist.

Vor allem hat man dem Nationalcharakter mit Unrecht eine Dauerhaftigkeit zugeschrieben, die sich geschichtlich widerlegen lässt; es kann nicht geleugnet werden, dass die Germanen zur Zeit des Tacitus eine Reihe übereinstimmender Charaktermerkmale besaßen, die sie von anderen Völkern, etwa von den Römern derselben Zeit, unterschieden und es kann ebensowenig geleugnet werden, dass die Deutschen unserer Zeit gewisse gemeinsame, von anderen Völkern verschiedene Charakterzüge zeigen, wie immer diese Charakterzüge entstanden sein mögen. Aber darum wird doch kein Unterrichteter leugnen, dass der Deutsche von heute viel mehr mit den anderen Kulturnationen seiner Zeit gemein hat als mit den Germanen des Tacitus.

Der Nationalcharakter ist veränderlich. Charaktergemeinschaft verknüpft die Zugehörigen einer Nation während eines bestimmten Zeitalters, keineswegs aber die Nation unserer Zeit mit ihren Ahnen vor zwei oder drei Jahrtausenden. Wo wir von einem deutschen Nationalcharakter sprechen, meinen wir die gemeinsamen Charaktermerkmale der Deutschen eines bestimmten Jahrhunderts oder Jahrzehnts.

Mit Unrecht hat man oft auch übersehen, dass es neben der nationalen Charaktergemeinschaft eine ganze Reihe anderer Charaktergemeinschaften gibt, von denen die der Klasse und des Berufes die weitaus wichtigsten sind. Der deutsche Arbeiter stimmt in gewissen Merkmalen mit jedem anderen Deutschen überein; das verknüpft die Deutschen zu einer nationalen Charaktergemeinschaft. Aber der deutsche Arbeiter hat mit seinen Klassengenossen aller anderen Nationen gemeinsame Merkmale: das macht ihn zum Gliede der internationalen Charaktergemeinschaft der Klasse. Der deutsche Schriftsetzer hat zweifellos mit den Schriftsetzern aller anderen Völker gewisse gemeinsame Charakterzüge, gehört zu einer internationalen Berufsgemeinschaft.

Es wäre eine müssige Frage, ob etwa die Charaktergemeinschaft der Klasse intensiver ist als die nationale Charaktergemeinschaft oder umgekehrt. Fehlt es doch für die Messung der Intensität solcher Gemeinschaften an jedem objektiven Massstab.

Aber noch mehr ist der Begriff des Nationalcharakters dadurch kompromittiert worden, dass unkritisches Denken gemeint hat, aus dem Nationalcharakter selbst eine bestimmte Handlungsweise einer Nation erklären zu können, wie man etwa glaubte, den schnellen Wechsel der Verfassung in Frankreich damit erklärt zu haben, dass die Franzosen wie ihre gallischen Ahnen nach der Behauptung des Cäsar stets „nach Neuerungen streben“.

Cäsar beobachtete eine Unzahl von Handlungen gallischer Völkerschaften und einzelner Gallier: wie sie ihren Wohnsitz wechseln, ihre Verfassungen ändern, Freundschaften und Bündnisse eingehen und auflösen; in jeder dieser zu bestimmter Zeit an bestimmtem Orte beobachteten konkreten Handlungen erkennt nun der Beobachter etwas, was er schon an früheren Handlungen gesehen, wieder und hebt das all ihrem Handeln Gemeinsame heraus, wenn er sagt: „Sie streben stets nach Neuerungen.“ Es handelt sich also bei diesem Urteil gar nicht um ursächliche Erklärung, sondern um blosse Generalisation, Heraushebung des gemeinsamen Merkmals aus verschiedenen konkreten Einzelhandlungen. Wenn wir den Nationalcharakter beschreiben, so erklären wir damit nicht die Ursachen irgend welcher Handlungen, sondern wir beschreiben nur das, was einer großen Zahl von Handlungen der Nation und der Nationsgenossen gemeinsames Merkmal ist. Nun sieht 19 Jahrhunderte später ein Historiker den schnellen Wechsel der Verfassungsformen in Frankreich und erinnert sich hierbei des Urteils Cäsars. dass die Gallier „stets nach Neuerungen streben“. Hat er damit etwa die Geschichte der französischen Revolution aus dem angeblich von den Galliern ererbten Nationalcharakter der Franzosen erklärt? Keineswegs. Er hat nur festgestellt, dass auch die Handlungen der heutigen Franzosen ein gemeinsames Merkmal zeigen und dass dieses Merkmal dasselbe ist, das Cäsar schon als gemeinsames Merkmal der Handlungen der Gallier seiner Zeit beobachtet hat. Es handelt sich also gar nicht um ursächliche Erklärung, sondern um bloßes Wiedererkennen eines schon früher beobachteten gemeinsamen Merkmals verschiedener Einzelhandlungen. Warum die Gallier nach Neuerungen strebten und warum die Franzosen ihre Verfassungen schnell veränderten, ist damit natürlich nicht erklärt. Der Versuch, eine Handlung aus dem Nationalcharakter zu erklären, beruht auf einem Denkfehler: Er verwandelt ohne jedes Recht die Beobachtung eines gemeinsamen Merkmals an verschiedenen Einzelhandlungen in ein ursächliches Verhältnis.

Desselben Denkfehlers macht sich auch schuldig, wer die Handlungen des einzelnen Individuums aus dem Nationalcharakter seines Volkes „erklären“ zu können glaubt, zum Beispiel also der, der die Denkweise und das Wollen des einzelnen .luden aus dem jüdischen Nationalcharakter „erklärt“. Wenn Werner Sombart meint, die Juden zeichne die besondere Veranlagung für abstraktes Denken, die Gleichgültigkeit gegenüber aller qualitativen Bestimmtheit aus, die sich in der jüdischen Religion ebenso äussere wie in der Denkarbeit des jüdischen Gelehrten, wie in der Schätzung des Geldes als des von aller qualitativen Bestimmtheit entledigten Wertes , so könnte nun jemand glauben, er könne die Handlungsweise des Juden Kohn oder des Juden Mayer aus dem so erkannten Nationalcharakter des Juden „erklären“. In Wirklichkeit liegt ganz anderes vor! Sombart hat unzählige Einzelhandlungen einzelner ihm aus der Geschichte oder persönlich bekannter Juden beobachtet und aus ihren Handlungen ein gemeinsames Merkmal hervorgehoben. Wenn wir nun den einzelnen Juden beobachten und auch bei ihm jene besondere Veranlagung für abstraktes Denken wiederfinden, so erklären wir damit nicht die Handlungsweise des einzelnen Juden, sondern wir erkennen in ihr nur jenes Merkmal wieder, das Sombart früher bei den Handlungen anderer Juden beobachtet hat. Woher aber jene Übereinstimmung kommt, darüber ist damit natürlich gar nichts gesagt

Die Nation ist eine relative Charaktergemeinschaft; sie ist eine Charaktergemeinschaft, da bei der großen Masse der Nationsgenossen eines bestimmten Zeitalters eine Reihe übereinstimmender Merkmale beobachtet werden kann, und da, trotzdem alle Nationen eine Anzahl von Merkmalen als Menschen gemeinsam haben, doch eine Reihe von Merkmalen der einzelnen Nation eigentümlich ist, sie von anderen Nationen unterscheidet; sie ist keine absolute, sondern nur eine relative Charaktergemeinschaft, da die einzelnen Nationsgenossen, bei aller Übereinstimmung in den der ganzen Nation gemeinsamen Merkmalen doch überdies individuelle Merkmale (und örthche, Klassen-, Berufsmerkmale) haben, die sie voneinander unterscheiden. Die Nation hat einen Nationalcharakter. Aber dieser Nationalcharakter bedeutet nur eine relative Gemeinsamkeit der Merkmale der Handlungsweise einzelner Individuen, nicht etwa eine Erklärung dieser individuellen Handlungsweisen. Der Nationalcharakter ist keine Erklärung, sondern er ist zu erklären. Mit der Feststellung der Verschiedenheit der Nationalcharaktere hat die Wissenschaft das Problem der Nation nicht gelöst, sondern erst gestellt. Wie jene relative Charaktergemeinschaft entsteht, woher es kommt, dass alle Nationsgenossen bei aller individuellen Verschiedenheit untereinander doch in einer Reihe von Merkmalen übereinstimmen und bei aller körperlichen und geistigen Gleichartigkeit mit anderen Menschen sich doch von den Zugehörigen anderer Nationen unterscheiden, das eben wird die Wissenschaft zu begreifen haben.

Diese Aufgabe der ursächlichen Erklärung jener relativen Gemeinschaft des Charakters der Nationsgenossen wird nun nicht gelöst, sondern umgangen, wenn man die Handlungen einer Nation und ihrer Nationsgenossen aus einem geheimnisvollen Volksgeiste, einer „Volksseele“ erklären will. Der Volksgeist ist eine alte Liebe der Romantiker. In die Wissenschaft hat ihn die historische Rechtsschule eingeführt. Sie lehrt, dass der Volksgeist in den Individuen eine Gemeinschaft der Rechtsüberzeugung erzeugt, welche entweder schon an sich das Recht ist oder doch die Kraft, die das Recht setzt.  Später hat man dann nicht nur das Recht, sondern alle Handlungen, alle Schicksale der Nation als die Manifestation, die Verkörperung des Volksgeistes begreifen zu können geglaubt. Ein eigener Volksgeist, eine Volksseele, ist das Substrat, ist die Substanz der Nation, das Beharrende in allem Wechsel, die Einheit in aller individuellen Verschiedenheit, die Individuen sind bloße modi, bloße Erscheinungsweisen dieser geistigen Substanz.

Es ist klar, dass auch dieser nationale Spiritualismus auf einem Denkfehler beruht.

Meine psychischen Erscheinungen, mein Vorstellen. Fühlen. Wollen, sind Gegenstand meiner unmittelbaren Erfahrung. Die rationale Psychologie früherer Zeiten hat sie nun zu Erscheinungen an einem Beharrenden, zu Tätigkeiten eines besonderen Gegenstandes, meiner Seele, gemacht. Die zersetzende Kritik Kants hat aber alles, was die rationale Psychologie von diesem Gegenstande aussagen zu können glaubte, als das Ergebnis eines Trugschlusses erwiesen. Seither haben wir keine rationale Psychologie mehr, die die psychischen Erscheinungen als Erscheinungen der seelischen Substanz begreifen will, sondern nur eine empirische Psychologie, die die durch Erfahrung unmittelbar gegebenen psychischen Erscheinungen des Vorstellens, Fühlens, Wollens beschreibt und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander zu begreifen sucht.

Sind mir meine eigenen psychischen Erscheinungen durch Erfahrung unmittelbar gegeben, so sind dagegen die psychischen Erscheinungen der anderen erschlossen. Denn ich sehe den anderen nicht vorstellen, fühlen, wollen, sondern nur handeln: reden, gehen und stehen, kämpfen und schlafen. Aber da ich aus meiner eigenen Erfahrung weiß, dass die körperlichen Bewegungen von psychischen Erscheinungen begleitet sind, so schließe ich, dass es bei den anderen Menschen ebenso ist. Die körperlichen Bewegungen der anderen erscheinen mir unvermeidlich als die Tat ihres durch ihr Vorstellen und Fühlen bestimmten Wollens.

Die rationale Psychologie hat nun diese psychischen Erscheinungen der anderen gerade so zum Erzeugnis eines besonderen Gegenstandes gemacht, wie meine eigenen psychischen Erscheinungen zur Tat meiner Seele. Für sie ward es daher zum Problem, wie der Seelengegenstand des einen zum Seelengegenstand des anderen in Beziehung tritt. So hat man entweder individualistisch die empirischen Verhältnisse der Menschen untereinander zu Erscheinungsformen der Wechselbeziehungen der Seele zu anderen gleichartigen einfachen und beharrenden Wiesen gemacht, oder man hat universalistisch eine Gesamtseele konstruiert, eine geistige Totalität, die in der Einzelseele nur in Erscheinung tritt. Ein Nachkomme dieses, in der Einzelseele nur in Erscheinung tretenden Gesamtgeistes ist auch der Volksgeist, die Volksseele des nationalen Spiritualismus.

Wir aber kennen seit Kants Vernunftkritik keine seelische Substanz mehr, als deren Tätigkeit das psychische Geschehen begriffen werden könnte, sondern nur die empirischen psychischen Erscheinungen, die wir in ihrer Abhängigkeit voneinander begreifen. Daher verstehen wir die Beziehungen der Menschen untereinander nicht mehr als die Beziehungen jener einfachen Seelensubstanzen zueinander und ebensowenig als die Erscheinungen der einen Substanz des Weltgeistes, der in den Einzelseelen sich offenbart, sondern unsere Psychologie kennt keine andere Aufgabe mehr als das uns durch unmittelbare Erfahrung gegebene eigene Vorstellen, Fühlen und Wollen und das durch mittelbare Erfahrung gegebene Vorstellen, Fühlen und Wollen der anderen empirisch gegebenen Individuen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander zu verstehen. Nach Kants Kritik des Seelenbegriffes ist uns der „Volksgeist“ nichts anderes mehr als ein romantisches Gespenst.

An den Handlungsweisen einer größeren Anzahl von Juden fällt mir die Übereinstimmung in irgend einem Merkmale auf. Der nationale Spiritualismus sucht nun diese Übereinstimmung zu erklären, indem er eine eigene einheitliche und beharrende Substanz, den jüdischen Volksgeist, konstruiert und die Gleichartigkeit jüdischer Handlungen daraus begreift, dass jeder einzelne Jude Verkörperung eben dieses Volksgeistes ist. Aber was ist dieser Volksgeist? Entweder ein leeres Wort ohne jeden Inhalt, das nichts zu erklären vermag, am allerwenigsten so konkrete Dinge wie die Handlungen irgend eines Herrn Kohn; oder aber, wenn ich ihm einen Inhalt geben will, so muss ich in ihn jenes Gemeinsame an allen jüdischen Handlungen mitübernehmen. Ist aber der jüdische Volksgeist die abstrakte Veranlagung des Kohn und Mayer und Löwy und wie die Herren alle heißen, deren Handlungen er erklären will, dann löst er seine Aufgabe erst recht nicht: denn der Kohn und der Mayer denken dann abstrakt, weil sich der jüdische Volksgeist in ihnen verkörpert, und der jüdische Volksgeist ist Veranlagung für abstraktes Denken, weil der Kohn und der Mayer abstrakt denken. Die Erklärung aus dem Volksgeiste wird so zur Tautologie, zum analytischen Urteil: wir wollen etwas erklären, indem das. was erklärt werden soll, doch schon in dem angeblich Erklärenden selbst enthalten, die angebliche Ursache nichts anderes als eine Abstraktion aus den zu erklärenden Wirkungen ist.

Der Volksgeist kann die nationale Charaktergemeinschaft nicht erklären, weil er selbst nichts anderes ist, als der in eine metaphysische Wesenheit, in ein Gespenst verwandelte Nationalcharakter. Der Nationalcharakter selbst ist aber, wie wir bereits wissen, keine Erklärung der Handlungsweise irgend eines Individuums, sondern nur die Erkenntnis relativer Gleichartigkeit der Handlungsweisen der Nationsgenossen eines bestimmten Zeitalters. Er ist keine Erklärung, sondern er ist zu erklären. Dies nun, die Erklärung der nationalen Gemeinschaft des Charakters, ist die Aufgabe der Wissenschaft.

§ 2. Die Nation als Naturgemeinschaft

Dass Kinder den Eltern körperlich und geistig ähnlich sind, dass Geschwister einander ähneln, ist eine uralte Beobachtung. Die moderne Naturwissenschaft sucht diese Tatsache durch Beziehung auf unsere Kenntnis des Zeugungsprozesses verständlich zu machen. Die Befruchtung besteht in der Vereinigung zweier Zellen, die von einem männlichen und einem weiblichen Individuum abstammen. Das Kind gleicht Vater und Mutter, weil es aus der Vereinigung einer väterlichen und mütterlichen Zelle entsteht. Geschwister ähneln einander, weil sie aus der Vereinigung von Zellen derselben Organismen erzeugt wurden.

Seit es Hertwig gelungen ist, den Entwicklungsvorgang im Ei des Seeigels zu beobachten, kennen wir den Vorgang, aus dem das neue Lebewesen entsteht, genauer. Ein Samenfaden dringt in das Ei ein, wirft den Endfaden ab und bildet seinen Kopf im Ei zu einem kleinen Bläschen, dem Samenkern, um. Der neue Samenkern und der Kern des Eies wandern einander entgegen. Sie begegnen einander in der Mitte des Eies, legen sich dicht aneinander, platten sich an der Berührungsfläche gegenseitig ab, verlieren ihre Abgrenzung gegeneinander und bilden schließlich einen gemeinsamen Kern: so verschmelzen Samenkern und Eikern zu einem einfachen Keimkern.

Uralte, auf unzählige Einzelbeobachtungen gestützte Erfahrung lehrt uns, dass das Kind den Eltern gleicht. Die Beobachtung des Befruchtungsprozesses bei verschiedenen Lebewesen hat ergeben, dass das Kind aus der Verschmelzung einer vom väterlichen und einer vom mütterlichen Körper abgespaltenen Zelle entsteht. Die Wissenschaft schliesst daher, dass die Eigenart jedes Lebewesens durch die Qualität der Samen- und Eikerne bestimmt ist, aus deren Verschmelzung es entsteht.

Woher kommt es nun, dass Samenkern und Eikern Träger der Eigenschaften des Individuums sind, von dem sie sich abspalten, dass sie die Fähigkeit haben, die Eigenschaften eines Organismus auf einen anderen aus ihrer Verschmelzung neu entstehenden Organismus zu übertragen.“ Die Wissenschaft ist bisher noch keineswegs dahin gelangt, diese Frage auf Grund exakter Beobachtungen beantworten zu können. Wir sind daher auf Hypothesen angewiesen.

Darwin nahm an, dass alle Gewebe des Körpers kleinste Keimchen abstoßen und diese sich in den Geschlechtszellen anhäufen und verbinden. So ist es mittelbar der ganze Körper des Vaters und der Mutter, der das Kind erzeugt, denn jeder Teil sowohl des väterlichen als des mütterlichen Körpers bildet einen jener kleinen Keime. Diese Keime verbinden sich in den Geschlechtszellen, aus ihnen entsteht einerseits der Samenfaden, andererseits das Ei. Und aus der Verschmelzung von Samenkern und Eikern entsteht dann durch Wachstum und Zellteilung das Kind. So erzeugt der väterliche und mütterliche Körper den Keim und aus den Keimen entsteht das Kind. Das ist Darwins „provisorische Hypothese der Pangenesis“.

Die moderne Naturforschung hält diese Vermutung Darwins nicht mehr fest.

Sie ersetzt Darwins Hypothese der Pangenesis, nach der die Geschlechtszellen aus den von den Geweben des Körpers gebildeten und ausgesandten Keimen gebildet werden durch Weismanns Hypothese von der Dauerhaftigkeit des Keimplasmas.

Das Kind entsteht aus dem Keimkern, zu dem Samenkern und Eikern verschmolzen sind. Das Keimplasma, die Substanz dieses Keimkerns, zerfällt nun in zwei Teile: der eine Teil, das aktive Keimplasma, unterliegt einer Reihe von uns nur teilweise bekannten Veränderungen, bis aus ihm der Körper des Kindes entsteht. Der andere Teil dagegen, das inaktive Keimplasma, bleibt qualitativ unverändert; es bildet die Geschlechtszellen des Kindes. Die Geschlechtszellen des Kindes werden also nach dieser Hypothese nicht von seinem Körper gebildet, sondern entstehen unmittelbar aus den elterlichen Geschlechtszellen. Das aktive Keimplasma baut den Körper des Kindes auf, wird allmählich verbraucht und stirbt. Das inaktive Keimplasma dagegen geht von den Eltern auf die Kinder über, erhält sich im Samen oder im Ei des Kindes, ist unsterblich. Dass in der Aufeinanderfolge der Zeiten ein Geschlecht dem anderen gleicht, beruht also nach dieser Hypothese darauf, dass alle diese Geschlechter Erzeugnisse derselben Substanz sind, Erzeugnisse des von den Eltern auf das Kind übertragenen, in den Geschlechtszellen unverändert und unvergänglich weiter lebenden Keimplasmas.

Was ergibt sich nun aus der Lehre von der Vererbung für die Bestimmung des Wesens der Nation: Nehmen wir zunächst den einfachsten Fall. Eine Nation, die von einem Menschenpaar abstammt, wie es die Abstammungssagen der meisten Völker berichten, oder wenigstens von einer Sippschaft oder einer Horde. Die Charaktergemeinschaft ist hier kein anderes Problem als die Ähnlichkeit der Geschwister: sie beruht auf der Vererbung derselben Eigenschaften von gemeinsamen Ahnen. Die Nation erhält so ein materielles Substrat: das Keimplasma wird zu ihrem Träger. Vom Standpunkt der Hypothese Darwins aus gesehen, verknüpft die Zugehörigen einer Nation mit ihren ältesten gemeinsamen Stammeltern und durch diese auch miteinander jener fortwährende Prozess der Bildung der Keime aus den Geweben des Körpers und der Körpergewebe aus den Keimen. Noch einfacher stellt sich vom Standpunkt Weismanns aus der Körper als Träger des Nationalcharakters dar. Es ist das von Geschlecht auf Geschlecht in den Geschlechtszellen unverändert überlieferte Keimplasma, welches Träger der nationalen Eigentümlichkeiten ist. Könnten wir uns mit dieser Anschauung begnügen, so würden wir dem uns schon bekannten nationalen Spiritualismus einen nationalen Materialismus gegenüberstellen.

Die Tatsache des Nationalcharakters, der Gemeinsamkeit des Charakters der Zugehörigen einer Nation, ist durch die Erfahrung gegeben, die Wissenschaft will sie erklären. Der nationale Spiritualismus macht die Nation zur Verkörperung eines geheimnisvollen „Volksgeistes“; der nationale Materialismus dagegen sieht das Substrat der Nation in einer bestimmt organisierten Materie, in dem von Geschlecht auf Geschlecht übergehenden Keimplasma. Dem nationalen Spiritualismus ist die Geschichte der Nation nichts anderes als eine Erscheinungsform der nach eigenen, ihm innewohnenden Gesetzen fortschreitenden Entwicklung des Volksgeistes. Dem nationalen Materialismus dagegen ist die Geschichte der Nation die Erscheinungsform der Veränderungen des Keimpiasmas. Die ganze Weltgeschichte erscheint nun als bloßes Spiegelbild der Schicksale des Keimplasmas. Die Gebär- und Zeugungskraft der Rasse entscheidet über die Geschichte des Volkes; die Erhaltung der Reinheit des Blutes, die Vermischung der Keime verschiedener Abstammungsgemeinschaften – das sind die wahren großen Ereignisse der Weltgeschichte, die in den Lebensschicksalen der einzelnen Menschen und ganzer Nationen in Erscheinung treten.

Es kann nicht geleugnet werden, dass der nationale Materialismus eine höhere Stufe der Erkenntnis des Wesens der Nation erreicht hat als der nationale Spiritualismus. Denn wie wir bereits gesehen haben, ist der „Volksgeist“ nicht eine Erklärung der nationalen Charaktergemeinschaft, sondern eine metaphysische Umdeutung derselben, der die Ersetzung eines ursächlichen Verhältnisses durch eine Tautologie zugrunde liegt. Der nationale Materialismus knüpft dagegen an eine empirische Tatsache, an die Tatsache der körperlich bedingten Vererbung der Eigenschaften der Eltern auf die Kinder an. Die Überlegenheit des nationalen Materialismus über den nationalen Spiritualismus hat ihren letzten Grund darin, dass die Naturwissenschaft den Begriff der Materie, eines beharrenden Substrates der Naturobjekte als Bedingung ursächlicher Beziehungen des Geschehens, nicht entbehren kann, während die Psychologie seit Kants Vernunftkritik den Begriff der Seelensubstanz vollständig ausscheiden konnte. Der nationale Materialismus fusst auf dem auch unserer Naturwissenschaft noch unentbehrlichen Begriffe der Materie, der nationale Spiritualismus auf dem von der Psychologie aufgegebenen Begriffe der Seelensubstanz. Trotzdem können wir uns auch bei dem nationalen Materialismus nicht beruhigen.

Der nationale Materialismus beruht nämlich auf einem durch die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft überwundenen Kausalbegriff. Der Begriff von Ursache und Wirkung hat geschichtlich-psychologisch seine Wurzeln in der unmittelbaren Erfahrung des handelnden Menschen. Wenn ich einen Stein werfe, so ist diese Handlung von mir hervorgebracht. Ich bin Ursache, die Handlung Wirkung. Ich, die Ursache, lebe weiter, die Handlung ist im Augenblicke vollbracht. Nach dem Muster dieser unmittelbaren Erfahrung malt sich ältestes Denken jedes Verhältnis von Ursache und Wirkung aus. Wo immer etwas geschehen, ist ein lebendes Wesen – ein Gott, eine Nymphe, ein Satyr verborgen, der das Geschehene hervorbringt. Allmählich überwindet der Mensch den Kausalbegriif der Mythologie. Aber wenn auch nicht mehr immer ein lebendes Wesen, so ist doch noch immer irgend ein Objekt, ein beharrendes Sein Ursache der einmaligen vergänglichen Handlung. Dies ist der substantielle Kausalbegriff: die äußeren Gegenstände sind Träger von Kräften, welche alles bewirken, was geschieht Die Sonne hat eine Licht- und Wärmekraft, der Stein eine Fallkraft, später die Erde eine Anziehungskraft – Kräfte, die dauernd an ein bestimmtes beharrendes Sein, an eine bestimmte Substanz gebunden sind.

Es leuchtet nun ein, dass auch der nationale Materialismus auf diesem Kausalbegriffe beruht. Er ist zufrieden, hat er nur ein materielles Substrat, eine Ur-Sache für die Nation gefunden in dem von Geschlecht auf Geschlecht übergehenden Keimplasma. Diese merkwürdige Substanz ist das Beharrende in aller Veränderung, das Gemeinsame in aller Verschiedenheit; sie hat in sich die geheimnisvolle Kraft, Individuen mit bestimmter Eigenart aus sich zu erzeugen. Hat der Materialismus nur eine Ur-Sache gefunden und sie mit einer dauernd wirkenden Kraft begabt, als deren Erzeugnis alles Werdende und Seiende erscheint, so ist er zufrieden. Aber die moderne Wissenschaft hat diesen Kausalbegriff längst überwunden. Zuerst gab die Mechanik dem Begriff der Kraft neue Bedeutung. Er ist uns nun nicht mehr ein geheimnisvolles Wesen, dass in einer bestimmten Substanz verborgen ist, wie nach kindlichem Volksglauben die Dryade im Baum und die Najade in der Quelle, sondern Wechselbegriff der Masse. Beide aber verlieren ihren mythologischen Charakter, indem sie als bloße Größen betrachtet werden. Kraft ist die Beschleunigung, die an einer Masse von bestimmter Grösse hervorgebracht wird. Masse ist der Widerstand, den ein Körper einer Kraft von bestimmter Größe entgegensetzt. Die Kraft ist messbar, indem sie mit einer anderen Kraft, die auf dieselbe Masse wirkt, vergHchen wird. Die Masse ist messbar, indem sie mit einer anderen Masse, auf die dieselbe Kraft wirkt, verglichen wird. So werden zunächst Bewegungserscheinungen quantitativ vergleichbar. Die so begründete Mechanik wird nun zur Grundlage der gesamten Naturwissenschaft. Nun suchen wir nicht mehr, wie auf der Stufe des substantiellen Kausalbegriffes besonders geartete Substanzen, die als Träger geheimnisvoller Kräfte die Erscheinungen der Wärme, des Schalles, des Lichtes, der Elektrizität hervorbringen würden, sondern wir suchen Wärme, Schall, Licht. Elektrizität auf Bewegungsvorgänge desselben materiellen Substrats zurückzuführen, die qualitativen Verschiedenheiten durch Beziehung auf quantitative Veränderungen zu begreifen. So fragen wir nicht mehr nach den Substanzen als den Trägern der Kräfte, nicht mehr nach Ur-Sachen, sondern wir begreifen alles Geschehene als Umwandlung der Energie.

Wir haben nicht eine beharrende, starr wirkende Substanz auf der einen, ihre sich wandelnden Wirkungen auf der anderen Seite, sondern die eben erst bewirkte Erscheinung wird sofort selbst zur wirkenden Ursache, die selbst neue Erscheinungen hervorbringt, die erstere sofort wieder als Ursache erscheinen lassen – und so weiter in endloser Kette. Unsere Psychologie kennt keine wirkenden Seelenvermögen mehr, sondern sie studiert die aufeinanderfolgenden psychischen Erscheinungen in ihrer Abhängigkeit voneinander. Die Naturwissenschaft fragt nicht mehr nach Substanzen, die als Träger mystischer Kräfte dauernde Bedingungen veränderlichen Werdens sind, sondern sie forscht, welchen Gesetzen zufolge eine Naturerscheinung auf die andere folgt. Wobei freilich der Unterschied bestehen bleibt, dass die Psychologie den Seelensubstanzbegriff völlig eliminiert hat, während für die Naturwissenschaft doch alle Bewegung schließlich Bewegung einer letzten einheitlichen Materie bleibt, auf die sich der SubstanzbegrifF zurückgezogen hat.)

Die Ersetzung des substantiellen durch den aktuellen Kausalbegriff stellt nun auch uns unsere Aufgabe. Wir werden uns nicht damit begnügen, im Keimplasma den stofflichen Träger nationaler Eigenart, in seiner geheimnisvollen Kraft der Bestimmung der aus ihm werdenden Individuen die Kraft, die die Nation erzeugt, zu entdecken, sondern wir werden auch diese Substanz hineinstellen in das System des Geschehens, in dem alles, was Ursache ist, zugleich selbst als Wirkung verstanden werden will. Das qualitativ bestimmte Keimplasma darf uns nicht bloße Ursache bleiben, wir müssen es selbst als Wirkung begreifen. Ist eine bestimmte Materie das stoffliche Substrat der nationalen Charaktergemeinschaft, so fragen wir nun weiter nach den Ursachen, welche ihrerseits die Qualität dieser die aufeinanderfolgenden Geschlechter verknüpfenden Materie bestimmen. Wie können wir die Eigenart des die Nationsgenossen materiell verknüpfenden Keimplasmas im Zusammenhange alles Naturgeschehens ursächlich begreifen? Hier weist uns zunächst die von Darwin begründete Lehre von der natürlichen Auslese einen Weg.

Die Tatsache, von der die Lehre Darwins ausgeht, ist die individuelle Variation. Kinder desselben Elternpaares sind einander ähnlich, aber niemals einander völlig gleich. Je größer der Kreis stammesverwandter Personen ist, die wir ins Auge fassen, je weiter sich der Stammbaum einer Familie verästelt, desto auffallender werden die individuellen Verschiedenheiten der blutsverwandten Personen. Die körperlichen und geistigen Merkmale, durch die sich blutsverwandte Personen voneinander unterscheiden, sind teilweise erworbene Eigenschaften; die Individuen sind verschieden, weil ihre Umgebung, ihre Erziehung, ihre Lebensweise, ihre Schicksale verschieden waren. Zu diesen Variationen gehören nicht nur jene, die die Menschen nach der Geburt erworben haben; vielmehr sind die Individuen schon darum verschieden, weil die Lebensbedingungen, die Schicksale der Kinder im Mutterleibe niemals völlig gleich sind. Indessen ist es gewiss, dass die individuellen Verschiedenheiten blutsverwandter Personen nicht restlos aus der Verschiedenheit ihres Schicksals im Mutterleibe und nach der Geburt erklärt werden können. Neben den erworbenen gibt es auch ererbte