Sozialistische Schriften - Otto Bauer - E-Book

Sozialistische Schriften E-Book

Otto Bauer

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Beschreibung

Dieser Band enthält die folgenden Schriften des führenden Austromarxisten und österreichischen Politikers: Das Weltbild des Kapitalismus Der Faschismus Der Weg zum Sozialismus

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Sozialistische Schrifen

Otto Bauer

Inhalt:

Karl Marx – Biografie und Bibliografie

Sozialdemokratie - Basiswissen zur Entstehung

Das Weltbild des Kapitalismus

Einleitung

Gesellschaftsordnung und Weltanschauung

Die Naturauffassung des aufsteigenden Kapitalismus

Idealismus und Materialismus

Universalismus und Individualismus

Teleologie und Kausalität

Qualität und Quantität

Die Philosophie des aufsteigenden Kapitalismus

Die dogmatischen Systeme

Die kritische Philosophie

Die dialektische Philosophie

Die Weltanschauung des organisierten Kapitalismus

Marxistische Geschichtsauffassung und Philosophie

Der Faschismus

Der Weg zum Sozialismus

1. Politische und soziale Revolution

2. Die Vergesellschaftung der Großindustrie

3. Die Organisierung der Industrie

4. Die Arbeiterausschüsse

5. Die Vergesellschaftung des Großgrundbesitzes

6. Sozialisierung der bäuerlichen Wirtschaft

7. Die Sozialisierung des Wohnbodens und der Haushaltungen

8. Die Vergesellschaftung der Banken

9. Expropriation der Expropriateure

10. Die Voraussetzungen der Sozialisierung

Sozialistische Schrifen, Otto Bauer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849606756

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Karl Marx – Biografie und Bibliografie

Geboren am 5. Mai 1818 in Trier, studierte Jurisprudenz, Nationalökonomie, Philosophie, promovierte 1841 in Berlin, begründete 1843 mit A. Rüge in Paris die »Deutsch-französischen Jahrbücher«, ging nach Belgien, wo er ausgewiesen wurde, dann wieder nach Frankreich, wo ihm dasselbe widerfuhr, lebte dann in London, gestorben 14. März 1883 daselbst.

M., der Begründer des »wissenschaftlichen« Sozialismus (gegenüber den »ideologischen« Utopien älterer Lehren) ist von Hegels Begriff des dialektischen Prozesses, von L. Feuerbachs Radikalismus und Positivismus, sowie von französischen Denkern beeinflusst. Der Hegelsche Gedanke, dass alles Sein ein »Prozess« ist, eine dialektische Selbstbewegung, ist ihm sympathisch. Nur hat Hegel die Dinge auf den Kopf gestellt, indem er alles aus Ideen ableitet. Die richtige Methode ist, die naturnotwendige, gesetzliche Entwicklung der Dinge und Verhältnisse selbst zu untersuchen und den realen treibenden Kräften der historisch-sozialen Entwicklung, die in den Köpfen der Handelnden zu Motiven werden, nachzugehen. Wenn diese »materialistische« Geschichtsauffassung, die gleich zur »ökonomischen« wird, alle Geschichte, alles Geistesleben, alle Kultur aus dem Wirken natürlicher Mächte ableitet, so darf nicht vergessen werden, dass M. zu diesen Mächten auch die menschlichen Kräfte und Strebungen rechnet, welche innerhalb des Ablaufes der Ereignisse auch eine dynamisch-aktive Rolle spielen, so wenig sie imstande sind, den (aus der Natur dieser und anderer Kräfte notwendig resultierenden) Lauf der Dinge abzuändern. Zwar nicht der Wille, aber alle Willkür ist hier ausgeschaltet.

Ohne ihren Willen gehen die Menschen soziale Verhältnisse ein, welche zugleich ökonomische Verhältnisse sind, indem die Gesellschaft eine ökonomische Struktur besitzt, in die wir hineingeboren werden. Die technisch bedingten Produktionsverhältnisse bilden nun die »reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen«. »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« »Mit der Erwerbung neuer Produktionskräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art. ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.« Die ökonomischen Faktoren sind also die letzten und eigentlich wirksamen Agentien der Geschichte, die anderen, »ideologischen« Gebilde (Religion usw.), wirken auch mit, ja sie wirken sogar auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zurück, aber sie wirken nicht primär, sondern nur als Reflexe, Abhängige des Ökonomischen und des von diesem bedingten Sozialen (z. B, der Klassenverhältnisse). Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nun so, dass der ökonomische Untergrund, der sich verändert hat, mit dein überlebten juristischen und ideologischen Oberbau in Widerspruch gerät, der zu einer sozialen Veränderung führt, wobei es zu Klassenkämpfen kommt. Der Widerspruch zwischen der sozialisierten, kollektiven Produktionsweise des Großbetriebes und der individualistischen, »anarchischen« Rechts- und Eigentumsordnung, die das Kapital in den Händen weniger Kapitalsmagnaten anhäuft und immer mehr Proletarier schafft, dieser Widerspruch sprengt endlich die kapitalistische Hülle, welche die Produktion fesselt. Die »Expropriateure«, die –»Ausbeuter« des »Mehrwertes« (= unbezahlte Arbeitszeit), den die Arbeiter schaffen, werden jetzt selbst expropriiert, das Eigentum an Produktionsmitteln wird kollektiv, die Gesellschaft wird sozialistisch, der nur dem Klasseninteresse dienende Staat hört auf und es herrscht jetzt die Vereinigung produktiver Menschen. Diese Gesellschaftsordnung kommt »von selbst«, d.h. infolge der historisch-sozialen Triebkräfte; sie kommt, wenn die Verhältnisse es fordern, höchstens können wir die Entwicklung beschleunigen.

Den Marxismus vertreten (außer M.s Mitarbeiter Fr. Engels) Kautsky, Bebel, F. Mehring, Bernstein (Revisionist), Cunow, C. Schmidt, M. Adler, O. Bauer, Woltmann (zum Teil), Lafargue (Schwiegersohn M.s), Labriola, Plechanow, Loria, Kelle-Krausz u. a.

SCHRIFTEN: Die heilige Familie (mit F. Engels), 1845 (gegen Bruno Bauer). – Misère de la philosophie, 1847; deutsch 1855, 3. A. 1895. – Manifest der kommunistischen Partei, 1847. – Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1859: 2. A. 1907. – Das Kapital, I. Bd., 1867, 4. A. 1892; II. Bd, 1885, 2. A. 1893; III. Bd., 1894; 3 Bde., 2. – 5. A., 1903 f. – Theorie über den Mehrwert, 1905. – F. Mehring, Aus dem literarischen Nachlaß von K. M., F. Engels und F. Lassalle, 1902. – Vgl. P. BARTH, Die Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann, 1890. – KAUTSKY, K. M.s ökonomische Lehren, 1887. – L. WERYHO, M. als Philosoph, 1894. – PLECHANOW, Beitrage zur Geschichte des Materialismus, 1896. – A. v. WENCKSTERN, M., 1896. – L. WOLTMANN, Der historische Materialismus, 1899. – MASARYK, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, 1899. – OTTOMAR LORENZ, Die materialistische Geschichtsauffassung, 1897. – WEISENGRÜN, Das Ende des Marxismus, 2. A. 1900. – MAX ADLER, M. als Denker, 1908. – HAMMACHER, Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus, 1909. – CHARASOFF, Das System des Marxismus, 1910. – GOLDSCHEID – VORLÄNDER, Kant u. Marx, 1911.

Sozialdemokratie-Basiswissen zur Entstehung

Diejenige sozialistisch-politische Richtung und Partei, die für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft in einem demokratischen Staat erstrebt, um die sozialistischen Ideen und Forderungen verwirklichen zu können. Sie unterscheidet sich von dem Sozialismus hauptsächlich dadurch, dass sie in ihrem Programm auch bestimmte, sofort ausführbare gesetzliche Reformvorschläge im Interesse der untern Klassen aufstellt. Als Begründer der S. mag der Franzose Louis Blanc gelten. Die von ihm in den 1840er Jahren in Paris gegründete Arbeiterpartei war die erste sozialdemokratische. Dieselbe erlangte vorübergehend einen Einfluss auf die Politik in Frankreich dadurch, dass zwei ihrer Führer, L. Blanc und Albert, nach der Februarrevolution 1848 Mitglieder der provisorischen Regierung wurden; sie wurde mit andern radikalen Parteien in der Junischlacht 1848 besiegt. In Deutschland war der von F. Lassalle 23. Mai 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein die erste Organisation der S. Der einzige statutarische Zweck dieses Vereins war die »friedliche und legale« Agitation für das damals noch nicht in Deutschland bestehende allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung, um dadurch »eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft« herbeizuführen Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, der unter der Präsidentschaft Lassalles nur einige tausend Mitglieder zählte und nach Lassalles Tod (31. Aug. 1864) unter unbedeutenden Führern (Bernhard Becker, Försterling, Mende, Tölcke u. a.) sich in verschiedene, sich gegenseitig bekämpfende Parteien spaltete, gelangte erst zu größerer Bedeutung, seit das von Lassalle geforderte allgemeine Wahlrecht 1867 durch Bismarck im Norddeutschen Bund eingeführt worden war und der begabte Literat J. B. v. Schweitzer 1867 die Leitung übernahm. Als Führer der Lassalleaner in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt, vertrat v. Schweitzer dort mit andern Sozialdemokraten die Sache der S. Schon unter seiner Präsidentschaft wurde das ökonomische und politische Programm des Vereins erweitert. Als jedoch die von Hasenclever und Hasselmann vertretene radikalere Richtung siegte, wurde v. Schweitzer 1871 als ein bezahlter Agent der preußischen Regierung verdächtigt und aus dem Verein gestoßen. Unter der Führung jener beiden Männer nahm die Mitgliederzahl, nachdem inzwischen das Wahlgesetz für den Norddeutschen Bund auch das für das Deutsche Reich geworden war, in kurzer Zeit enorm zu (1873 hatte der Verein schon über 60,000 Mitglieder und in 246 Orten Lokalvereine), wurde aber auch das ökonomische und politische Parteiprogramm radikaler (Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle Staats- und Gemeindewahlen auf alle über 20 Jahre alten Personen, Abschaffung der stehenden Heere, Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer progressiven Einkommensteuer mit Freilassung der Einkommen unter 500 Tlr. und mit einem Steuerfuß von 20–60 Proz. für Einkommen über 1000 Tlr., Abschaffung der Gymnasien und höheren Realschulen, Unentgeltlichkeit des Unterrichts in allen öffentlichen Lehranstalten etc.). Hauptblatt des Vereins war der Berliner »Sozialdemokrat«. Die Forderungen und ganze Art der Agitation näherten sich immer mehr dem Programm und der Agitationsweise einer zweiten sozialdemokratischen Partei, die unter dem Einfluss von Karl Marx und der internationalen Arbeiterassoziation im August 1869 von Wilhelm Liebknecht und August Bebel begründet worden war. In der internationalen Arbeiterassoziation war seit 1866 die erste internationale und zugleich eine radikale und revolutionäre sozialdemokratische Partei entstanden. Liebknecht und Bebel, Anhänger der Internationale, setzten, nachdem sie sich lange vergeblich bemüht hatten, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in das Lager der Internationale hinüberzuführen, auf einem allgemeinen Arbeiterkongress in Eisenach im August 1869 die Gründung einer zweiten Partei, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, durch, die sich ausdrücklich als deutscher Zweig der Internationale konstituierte. Die neue »Eisenacher« Partei (spottweise auch Partei der Ehrlichen genannt), vortrefflich organisiert und dirigiert (Hauptorgan der Leipziger »Volksstaat«), entfaltete namentlich seit Anfang der 1870er Jahre eine außerordentliche Rührigkeit. Nachdem die Reichstagswahl von 1874 gezeigt hatte, dass die bis dahin sich häufig bekämpfenden beiden Richtungen ungefähr gleich stark seien, und harte Polizeimaßregeln sie einander näher gebracht hatten, vereinigten sie sich 1875 auf dem Kongress in Gotha (22.–27. Mai) zur sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Das Gothaer Parteiprogramm, ein radikal-sozialistisches, stimmte in allen wesentlichen Punkten mit dem früheren Eisenacher Programm von 1869 überein, wenn es auch einige Konzessionen an die Lassalleschen Ideen enthielt. Der »Volksstaat« (später »Vorwärts«) wurde das Hauptorgan. Die Partei nahm bei der fast vollen Freiheit, die man ihr gewährte, einen großen Aufschwung. Nach dem Jahresbericht von 1877 verfügte sie über 41 politische Presseorgane mit 150,000 Abonnenten, außerdem über 15 Gewerkschaftsblätter mit etwa 40,000 Abonnenten und ein illustriertes Unterhaltungsblatt: »Die Neue Welt«, mit 35,000 Abonnenten. Ein Hauptagitationsmittel waren die besoldeten, redegewandten Agitatoren (1876: 54 ganz besoldete, 14 zum Teil besoldete) und die nicht besoldeten »Redner« (1876: 77). Bei den Reichstagswahlen stimmten für sozialdemokratische Kandidaten 1871: 124,655,1874: 351,952,1877: 493,288. Die ganze Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre; mit großem Geschick wurden in der Presse die radikalen sozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtert und in den Arbeiterkreisen der Klassenhass geschürt und revolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung, um dieser Agitation, die zu einer ernsten Gefahr für den sozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksam entgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eine Verschärfung des Strafgesetzbuches versucht hatte, griff man nach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm (11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitation erkennen musste, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegen die S., und es erging das zunächst nur bis 31. März 1881 gültige Reichsgesetz (Sozialistengesetz) vom 21. Okt. 1878 »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S.« Es suchte die gefährliche, das öffentliche Wohl schädigende sozialdemokratische Agitation zu unterdrücken. Es verbot daher bei Strafe Vereine, Versammlungen, Druckschriften sozialistischer, sozialdemokratischer oder kommunistischer Art; Personen, die sich die sozialdemokratische Agitation zum Geschäft machten, konnten aus bestimmten Landesteilen ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. konnte aus dem gleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden; auch konnte über Bezirke und Orte, in denen durch sozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheit bedroht erschien, der sogen. kleine Belagerungszustand mit Beschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisung ansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde 1880 wiederholt, zuletzt bis 30. Sept. 1890 verlängert. Von diesem Tag ab trat es außer Kraft. Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auch nicht die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten bei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961, 1884: 549,990,1887: 763,128); aber seine strenge Handhabung hatte wenigstens für einige Jahre die in hohem Grade gefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wie sie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde, verhindert. In der deutschen S. sonderte sich seit 1878 immer entschiedener unter der Führung von Most und Hasselmann eine radikale Anarchistenpartei ab, deren Hauptorgan 1879 die von Most in London herausgegebene »Freiheit« wurde, und deren Mitglieder auch in Deutschland und Österreich eine Reihe von Attentaten gegen Beamte und von Raubmorden ausführten. Das Hauptorgan der deutschen S. und der ihr verbündeten internationalen S. wurde der seit Oktober 1879 in Zürich erscheinende »Sozialdemokrat«. Zu einer definitiven Spaltung zwischen den Anarchisten und der sogen. gemäßigten, aber noch immer radikalen und revolutionären Bebel-Liebknechtschen Partei kam es auf dem Kongress in Wyden (Schweiz) im August 1880, auf dem aber auch die »gemäßigte« Richtung aus dem Gothaer Programm in dem Satz, dass die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln ihre Ziele erstreben wolle, das Wort »gesetzlichen« strich. Nach dem 30. Sept. 1890 entwickelte sich unter den Sozialdemokraten Deutschlands alsbald eine rührige und erfolgreiche offene Agitation. Unmittelbar nach dem Erlöschen des Ausnahmegesetzes wurde ein Kongress der Partei nach Halle einberufen, die für dringend nötig erachtete Revision des Programms aber erst auf dem bald darauf (im Oktober 1891) stattfindenden Kongress in Erfurt vorgenommen. Das neue Programm bringt in einer Einleitung die allgemeinen Grundsätze, von denen ausgehend die sozialdemokratische Partei Deutschlands eine Reihe von Forderungen stellt, die noch auf der Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung verwirklicht werden sollen, und gibt eine Kritik der letzteren, in der ausgeführt wird, dass die ökonomische Entwickelung mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebs, zur Vergrößerung des Proletariats führe, und dass nur eine Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Produktion in eine sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene, Abhilfe gewähren könne. Die wesentlichsten Programmpunkte sind:

1) Allgemeines gleiches und direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen, Proportional-Wahlsystem, und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.

2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung.

3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.

4) Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.

5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und privatrechtlicher Beziehung dem Manne unterordnen.

6) Erklärung der Religion zur Privatsache.

7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts.

8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes. Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagte, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe.

9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung.

10) Stufenweise steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbgutes und Entfernung der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle etc.

Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:

1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage: a) Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Normalarbeitstages; b) Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; c) Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt, Nachtarbeit erheischen; d) eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter; e) Verbot des Trucksystems.

2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeiterverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeiterämter und Arbeiterkammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.

3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesindeordnungen.

4) Sicherstellung des Koalitionsrechts.

5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Der Frankfurter Parteitag von 1894 wählte eine Agrarkommission zur Beratung der Frage, wie die Ideen der S. auf dem Lande verbreitet werden können, und zur Ergänzung des Programms mit Rücksicht auf die ländlichen Verhältnisse. Diese Agrarkommission tagte im Februar 1895 in Berlin, ohne indessen zu brauchbaren Resultaten gelangt zu sein.

Die Parteiorganisation ist äußerlich eine ziemlich lose, indem es wegen des geltenden Vereinsgesetzes der sozialdemokratischen Partei nicht möglich ist, sich als geschlossenen Verband von Vereinen zu organisieren. Deshalb wird ihr jede Person zugezählt, die sich zu ihren Grundsätzen bekennt. Oberstes Organ ist der jährlich zusammentretende Parteitag, zu dessen Teilnahme die Delegierten der einzelnen Reichstagswahlkreise, die Reichstagsabgeordneten und die Parteileitung berechtigt sind. Die Parteileitung, die auf dem Parteitag gewählt wird, besteht aus 12 Mitgliedern, von denen 5 mit der Geschäftsführung, die 7 andern mit der Kontrolle betraut sind. Aufgabe der Parteileitung ist es, den Zusammenhang mit den Vertrauensmännern in jedem Wahlkreis zu wahren, die Parteitage einzuberufen und die Parteipresse zu kontrollieren. Am 29. Nov. 1895 war durch Verfügung des Berliner Polizeipräsidenten wegen Verletzung des Vereinsrechts der Parteivorstand aufgelöst worden, weshalb die Leitung auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion überging und von einem provisorischen geschäftsführenden Ausschuss in Hamburg übernommen wurde. Nachdem aber die Hauptbeteiligten durch Gerichtsbeschluss freigesprochen wurden, entschied man sich auf dem Parteitage zu Hamburg 1897, den Sitz der Leitung wieder nach Berlin zu legen. Der Parteitag für 1896 fand vom 11.–16. Okt. in Gotha statt und beschäftigte sich mit Arbeiterschutz, Frauenagitation und Inneren Angelegenheiten; auf dem vom 4.–9. Okt. 1897 in Hamburg stattfindenden Parteitag wurde die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen beschlossen. Weitere Parteitage wurden jeweils im Herbst: 1898 in Stuttgart, 1899 in Hannover, 1900 in Mainz, 1901 in Lübeck, 1902 in München, 1903 in Dresden, 1904 in Bremen, 1905 in Jena, 1906 in Mannheim, 1907 in Essen abgehalten. Die Einnahmen der Parteikasse betrugen 1905/06: 810,917 Mk., die Ausgaben: 880,496 Mk.

In neuerer Zeit haben sich in der deutschen S. wiederholt verschiedene Strömungen gezeigt, so die der »Jungen«, denen die Parteileitung zu terroristisch und das Vorgehen der Partei zu zahm war. Der schon auf dem Erfurter Parteitag 1891 zum Ausbruch gekommene Streit endete jedoch mit dem Siege der Parteileitung, die den Austritt der Führer der »Jungen« (Werner, Wildberger, Auerbach) durchsetzte. Anderseits suchte die Parteileitung gegen den Führer des rechten Flügels Vollmar auf dem Frankfurter Parteitag 1894 ein Misstrauensvotum zu erreichen, weil dieser allzu sehr Optimist sei und das Hauptgewicht auf die Erreichung derjenigen Forderungen lege, die auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung erreichbar sind, konnte aber damit nicht durchdringen. Dazu kommt in der jüngsten Zeit eine gemäßigtere Richtung des wissenschaftlichen Sozialismus, die hauptsächlich von Bernstein vertreten wird und dem radikalen Marxismus gegenüber ein mehr sozial-reformatorisches Programm vertritt, das sich der bürgerlichen Demokratie nähert.

Die sozialdemokratische Presse hat seit 1890 einen erheblichen Aufschwung genommen. Vor Erlass des Sozialistengesetzes verfügte die Partei über 41 politische Zeitungen, 15 Gewerkschaftsblätter, 1 illustriertes Unterhaltungsblatt und 2 wissenschaftliche Zeitschriften. 1906 zählte sie: 78 politische und 67 Gewerkschaftsblätter. Offizielles Parteiorgan ist der »Vorwärts« (Beilage: Neue Welt). Andre bedeutende Blätter sind das »Hamburger Echo«, die »Leipziger Volkszeitung«, »Münchener Post«, »Rheinische Zeitung«. An wissenschaftlichen Zeitschriften hat die Partei die Wochenschrift »Die Neue Zeit« (redigiert von Kautsky), »Der sozialistische Akademiker« und die von J. Bloch redigierten »Sozialistischen Monatshefte« (Berl., seit 1897) und die »Dokumente des Sozialismus« (hrsg. von Bernstein, das., seit 1901); Unterhaltungsblatt ist »Die neue Welt«, Witzblätter: »Der wahre Jakob« und »Süddeutscher Postillon«. Sozialdemokratische Verlagshandlungen sind die des »Vorwärts« (Berlin), J. H. W. Dietz (Stuttgart), Auern. Komp. (Hamburg), M. Ernst (München), Wörlein u. Komp. (Nürnberg).

Während von der Gesamtzahl aller Stimmen diejenigen, die auf sozialdemokratische Kandidaten entfielen, früher nur einen geringen Prozentsatz ausmachten, stellte sich 1893 der Anteil bereits nahezu auf ein Viertel.

Auch in den meisten Landtagen, in vielen Gemeindevertretungen, Gewerbegerichten etc. befinden sich Sozialdemokraten. So zählt der bayrische Landtag zurzeit 15, der württembergische 15, der sächsische 2, der badische 11 Vertreter der S.

Die in der deutschen S. herrschenden marxistischen Prinzipien fanden allenthalben im Ausland, wenn auch mit mannigfachen Änderungen, Aufnahme; allerdings haben sie nirgends eine so feste Organisation erreicht wie in Deutschland. In Österreich hat die S. in der jüngsten Zeit überraschende Fortschritte gemacht. Nachdem die Wahlreform von 1896 durch Schaffung einer neuen (5.) Kurie im Jahre 1897: 14,1901: 10 Sozialdemokraten den Eintritt in den Reichsrat ermöglicht hatte, ist deren Zahl nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1907 plötzlich auf 87 gestiegen. Die Partei verfügt über zahlreiche politische, Fach- und sonstige Blätter, von denen das bedeutendste die von dem Hauptführer der Partei, Viktor Adler, geleitete »Wiener Arbeiterzeitung« ist. Das alte Hainfelder Programm von 1888 wurde auf dem Wiener Parteitag von 1901 einer Revision unterzogen. Vgl. Schwechler, Die österreichische S. (2. Aufl., Graz 1907). Auch in Ungarn nimmt die sozialdemokratische Agitation zu, obwohl die geringere industrielle Entwickelung und die Stärke der nationalen Bewegung ihre Ausbreitung erschweren. Doch sind es hier besonders die agrarischen Verhältnisse, die ihr in vielen Teilen des Landes Vorschub leisten. In Frankreich, wo 1848 die erste sozialdemokratische Bewegung stattfand, stritten sich lange Zeit die gemäßigte Richtung Louis Blancs und die anarchistische Proudhons um die Herrschaft. Doch gewann Ende der 1860er Jahre die letztere, vertreten durch Tolain und Langlois, den Sieg. Das zeigte sich namentlich in der Pariser Kommune. Seitdem hat auch der Marxismus, besonders infolge der energischen Anstrengungen J. Guesdes und P. Lafargues, große Fortschritte gemacht. Namentlich hat die 1890 unter den Possibilisten, einer gemäßigten sozialistischen Reformpartei, ausgebrochene Spaltung, der zufolge sie sich in Allemanisten und Broussisten, nach den Führern Alleman und Brousse, schieden, der Partei Guesdes (»Le Parti ouvrier«) neue Anhänger zugeführt Neben der Arbeiterpartei (parti ouvrier) gehören noch das revolutionäre Zentralkomitee (comité révolutionaire central) und die nationale Vereinigung der Arbeitersyndikate Frankreichs (fédération nationale des syndicats ouvriers de France) der extremen Richtung an. Bei der Wahl von 1893 wurden 49 Sozialisten (1885: 2), einschließlich der sozialistischen Radikalen, bei der von 1902: 48 gewählt. Auch bei den letzten Gemeinderatswahlen sind viele Sozialisten gewählt worden, so dass sie in einigen großen Städten die Majorität in der Stadtverwaltung besitzen. 1901 bildeten sich zwei große Parteien: die Französische sozialistische Partei, welche die Allemanisten und Broussisten, und die sozialistische Partei Frankreichs, welche die übrigen Gruppen einschließt. Die Wahl von 1906 ergab 76 sozialistische Deputierte. Die bedeutendsten sozialistischen Zeitschriften sind: »Le Socialiste«, »Revue socialiste« und »Devenir social«. Weit stärker noch und fester organisiert ist die sozialdemokratische Bewegung in Belgien. Unter der Führung de Paepes und Volders' breitete sie sich in den 1880er Jahren und wieder in der jüngsten Zeit als Belgische Arbeiterpartei unter Anseele, Vandervelde, Defuisseaux und Bertrand weit aus. Nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts vermochte sie bei den Wahlen von 1894 sofort 32 Abgeordnete in die Repräsentantenkammer zu senden. Bei den im Juli 1896 stattgefundenen Wahlen wurden 41 sozialistisch-radikale Abgeordnete gewählt. In der Folge ist ihre Zahl etwas gesunken (1900: 31,1902: 34,1906: 30 Abgeordnete). Die wichtigsten Zeitungen sind: »Le Peuple« (Brüssel), »Vooruit« (Gent), »De Werker« und »L'Echo du Peuple«. Die bedeutende Blüte der belgischen S. erklärt sich zum Teil daraus, dass diese mehr als die S. in andern Ländern die Schöpfung von Gewerkvereinen und Wirtschaftsgenossenschaften betreibt und namentlich auf dem Gebiete des Konsum- und Produktivgenossenschaftswesens große Erfolge erzielt hat. Vgl. Destrée und Vandervelde, Le socialisme en Belgique (2. Aufl., Brüss. 1903); Bertrand, Histoire de la démocratie et du socialisme en Belgique (das. 1905). In England gab es zwar in den 1830er und 40er Jahren schon mächtige Arbeiterbewegungen sozialistischer Natur, so der Chartismus und die von Owen hervorgerufene, allein eine sozialdemokratische Partei konnte erst Anfang der 1880er Jahre gegründet werden: die Socialdemocratic Federation unter Führung Hyndmanns. Aus ihr schied ein Teil der Mitglieder, die anarchistisch gesinnt waren, unter Führung von W. Morris aus und bildete die Socialist League. Im streng marxistischen Sinn agitierten Aveling und die Tochter von K. Marx, Eleanor Marx. Daneben gibt es noch eine Reihe sozialistischer Lokalvereine. Am meisten Anhang hat immer noch die Socialdemocratic Federation (Zeitung: »Justice«); ihr Programm fordert die Verstaatlichung des Bodens und die allmähliche Überleitung in die sozialistische Gesellschaft. Bei den Wahlen von 1892 gelang es den Sozialisten, 3 »unabhängige«, d. h. nicht den Trades-Unions angehörige Arbeitervertreter, unter ihnen den schottischen Bergarbeiter Keir Hardie, ins Parlament zu wählen, deren Programm aber nicht eigentlich sozialdemokratisch, sondern radikalsozialreformatorisch ist. Im Januar 1893 wurde auch eine »unabhängige Arbeiterpartei« (Indepedent Labour Party) mit ähnlichem Programm begründet. 1895 wurde keiner der 28 sozialdemokratischen Kandidaten gewählt; die drei als Arbeitervertreter gewählten »Unabhängigen« waren Alliierte der liberalen Partei. Die Wahlen von 1900 ergaben 13 Arbeitervertreter, darunter J. Burns, die aber nicht alle als Sozialdemokraten bezeichnet werden können, die von 1906 deren 30. In neuester Zeit haben aber auch die Gewerkvereine namentlich die der ungelernten Arbeiter, unter dem Einfluss John Burns' dem Sozialismus sich genähert. Auf den letzten Kongressen der Trades-Unions