Die österreichische Revolution - Otto Bauer - E-Book

Die österreichische Revolution E-Book

Otto Bauer

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Beschreibung

Bauers detailliertes und umfangreiches Werk zu den Geschehnissen rund um die Revolution in Österreich gehört zu den essentiellen Referenzen zu diesem Thema. Inhalt: Vorwort Erster Abschnitt - Krieg und Revolution § 1. Die Südslawen und der Krieg § 2. Die Tschechen und das Reich § 3. Die Polen und die Mittelmächte § 4. Deutschösterreich im Kriege Zweiter Abschnitt - Der Umsturz § 5. Die Bildung der Nationalstaaten § 6. Die Auflösung des Reiches § 7. Die deutschösterreichische Republik § 8. Nationale und soziale Revolution Dritter Abschnitt - Die Vorherrschaft der Arbeiterklasse § 9. Revolutionäre und konterrevolutionäre Kräfte § 10. Zwischen Imperialismus und Bolschewismus § 11. Die Revolution in den Betrieben § 12. Der Staat und die Arbeiterklasse Vierter Abschnitt - Die Zeit des Gleichgewichts der Klassenkräfte § 13. Wirtschaftliche Umwälzung und soziale Umschichtung § 14. Der Kampf um die Institutionen der Republik § 15. Der Kampf gegen die Konterrevolution § 16. Die Volksrepublik

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Die österreichische Revolution

Otto Bauer

Inhalt:

Karl Marx – Biografie und Bibliografie

Sozialdemokratie - Basiswissen zur Entstehung

Die österreichische Revolution

Vorwort

Erster Abschnitt - Krieg und Revolution

§ 1. Die Südslawen und der Krieg

§ 2. Die Tschechen und das Reich

§ 3. Die Polen und die Mittelmächte

§ 4. Deutschösterreich im Kriege

Zweiter Abschnitt - Der Umsturz

§ 5. Die Bildung der Nationalstaaten

§ 6. Die Auflösung des Reiches

§ 7. Die deutschösterreichische Republik

§ 8. Nationale und soziale Revolution

Dritter Abschnitt - Die Vorherrschaft der Arbeiterklasse

§ 9. Revolutionäre und konterrevolutionäre Kräfte

§ 10. Zwischen Imperialismus und Bolschewismus

§ 11. Die Revolution in den Betrieben

§ 12. Der Staat und die Arbeiterklasse

Vierter Abschnitt - Die Zeit des Gleichgewichts der Klassenkräfte

§ 13. Wirtschaftliche Umwälzung und soziale Umschichtung

§ 14. Der Kampf um die Institutionen der Republik

§ 15. Der Kampf gegen die Konterrevolution

§ 16. Die Volksrepublik

Fünfter Abschnitt - Die Restauration der Bourgeoisie

§ 17. Die Währungskatastrophe

§ 18. Der Genfer Vertrag

§ 19. Die Ergebnisse der Revolution und die Aufgaben der Sozialdemokratie

Die österreichische Revolution, Otto Bauer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849606763

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Karl Marx – Biografie und Bibliografie

Geboren am 5. Mai 1818 in Trier, studierte Jurisprudenz, Nationalökonomie, Philosophie, promovierte 1841 in Berlin, begründete 1843 mit A. Rüge in Paris die »Deutsch-französischen Jahrbücher«, ging nach Belgien, wo er ausgewiesen wurde, dann wieder nach Frankreich, wo ihm dasselbe widerfuhr, lebte dann in London, gestorben 14. März 1883 daselbst.

M., der Begründer des »wissenschaftlichen« Sozialismus (gegenüber den »ideologischen« Utopien älterer Lehren) ist von Hegels Begriff des dialektischen Prozesses, von L. Feuerbachs Radikalismus und Positivismus, sowie von französischen Denkern beeinflusst. Der Hegelsche Gedanke, dass alles Sein ein »Prozess« ist, eine dialektische Selbstbewegung, ist ihm sympathisch. Nur hat Hegel die Dinge auf den Kopf gestellt, indem er alles aus Ideen ableitet. Die richtige Methode ist, die naturnotwendige, gesetzliche Entwicklung der Dinge und Verhältnisse selbst zu untersuchen und den realen treibenden Kräften der historisch-sozialen Entwicklung, die in den Köpfen der Handelnden zu Motiven werden, nachzugehen. Wenn diese »materialistische« Geschichtsauffassung, die gleich zur »ökonomischen« wird, alle Geschichte, alles Geistesleben, alle Kultur aus dem Wirken natürlicher Mächte ableitet, so darf nicht vergessen werden, dass M. zu diesen Mächten auch die menschlichen Kräfte und Strebungen rechnet, welche innerhalb des Ablaufes der Ereignisse auch eine dynamisch-aktive Rolle spielen, so wenig sie imstande sind, den (aus der Natur dieser und anderer Kräfte notwendig resultierenden) Lauf der Dinge abzuändern. Zwar nicht der Wille, aber alle Willkür ist hier ausgeschaltet.

Ohne ihren Willen gehen die Menschen soziale Verhältnisse ein, welche zugleich ökonomische Verhältnisse sind, indem die Gesellschaft eine ökonomische Struktur besitzt, in die wir hineingeboren werden. Die technisch bedingten Produktionsverhältnisse bilden nun die »reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen«. »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« »Mit der Erwerbung neuer Produktionskräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art. ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.« Die ökonomischen Faktoren sind also die letzten und eigentlich wirksamen Agentien der Geschichte, die anderen, »ideologischen« Gebilde (Religion usw.), wirken auch mit, ja sie wirken sogar auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zurück, aber sie wirken nicht primär, sondern nur als Reflexe, Abhängige des Ökonomischen und des von diesem bedingten Sozialen (z. B, der Klassenverhältnisse). Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nun so, dass der ökonomische Untergrund, der sich verändert hat, mit dein überlebten juristischen und ideologischen Oberbau in Widerspruch gerät, der zu einer sozialen Veränderung führt, wobei es zu Klassenkämpfen kommt. Der Widerspruch zwischen der sozialisierten, kollektiven Produktionsweise des Großbetriebes und der individualistischen, »anarchischen« Rechts- und Eigentumsordnung, die das Kapital in den Händen weniger Kapitalsmagnaten anhäuft und immer mehr Proletarier schafft, dieser Widerspruch sprengt endlich die kapitalistische Hülle, welche die Produktion fesselt. Die »Expropriateure«, die –»Ausbeuter« des »Mehrwertes« (= unbezahlte Arbeitszeit), den die Arbeiter schaffen, werden jetzt selbst expropriiert, das Eigentum an Produktionsmitteln wird kollektiv, die Gesellschaft wird sozialistisch, der nur dem Klasseninteresse dienende Staat hört auf und es herrscht jetzt die Vereinigung produktiver Menschen. Diese Gesellschaftsordnung kommt »von selbst«, d.h. infolge der historisch-sozialen Triebkräfte; sie kommt, wenn die Verhältnisse es fordern, höchstens können wir die Entwicklung beschleunigen.

Den Marxismus vertreten (außer M.s Mitarbeiter Fr. Engels) Kautsky, Bebel, F. Mehring, Bernstein (Revisionist), Cunow, C. Schmidt, M. Adler, O. Bauer, Woltmann (zum Teil), Lafargue (Schwiegersohn M.s), Labriola, Plechanow, Loria, Kelle-Krausz u. a.

SCHRIFTEN: Die heilige Familie (mit F. Engels), 1845 (gegen Bruno Bauer). – Misère de la philosophie, 1847; deutsch 1855, 3. A. 1895. – Manifest der kommunistischen Partei, 1847. – Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1859: 2. A. 1907. – Das Kapital, I. Bd., 1867, 4. A. 1892; II. Bd, 1885, 2. A. 1893; III. Bd., 1894; 3 Bde., 2. – 5. A., 1903 f. – Theorie über den Mehrwert, 1905. – F. Mehring, Aus dem literarischen Nachlaß von K. M., F. Engels und F. Lassalle, 1902. – Vgl. P. BARTH, Die Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann, 1890. – KAUTSKY, K. M.s ökonomische Lehren, 1887. – L. WERYHO, M. als Philosoph, 1894. – PLECHANOW, Beitrage zur Geschichte des Materialismus, 1896. – A. v. WENCKSTERN, M., 1896. – L. WOLTMANN, Der historische Materialismus, 1899. – MASARYK, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus, 1899. – OTTOMAR LORENZ, Die materialistische Geschichtsauffassung, 1897. – WEISENGRÜN, Das Ende des Marxismus, 2. A. 1900. – MAX ADLER, M. als Denker, 1908. – HAMMACHER, Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus, 1909. – CHARASOFF, Das System des Marxismus, 1910. – GOLDSCHEID – VORLÄNDER, Kant u. Marx, 1911.

Sozialdemokratie-Basiswissen zur Entstehung

Diejenige sozialistisch-politische Richtung und Partei, die für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft in einem demokratischen Staat erstrebt, um die sozialistischen Ideen und Forderungen verwirklichen zu können. Sie unterscheidet sich von dem Sozialismus hauptsächlich dadurch, dass sie in ihrem Programm auch bestimmte, sofort ausführbare gesetzliche Reformvorschläge im Interesse der untern Klassen aufstellt. Als Begründer der S. mag der Franzose Louis Blanc gelten. Die von ihm in den 1840er Jahren in Paris gegründete Arbeiterpartei war die erste sozialdemokratische. Dieselbe erlangte vorübergehend einen Einfluss auf die Politik in Frankreich dadurch, dass zwei ihrer Führer, L. Blanc und Albert, nach der Februarrevolution 1848 Mitglieder der provisorischen Regierung wurden; sie wurde mit andern radikalen Parteien in der Junischlacht 1848 besiegt. In Deutschland war der von F. Lassalle 23. Mai 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein die erste Organisation der S. Der einzige statutarische Zweck dieses Vereins war die »friedliche und legale« Agitation für das damals noch nicht in Deutschland bestehende allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung, um dadurch »eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft« herbeizuführen Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, der unter der Präsidentschaft Lassalles nur einige tausend Mitglieder zählte und nach Lassalles Tod (31. Aug. 1864) unter unbedeutenden Führern (Bernhard Becker, Försterling, Mende, Tölcke u. a.) sich in verschiedene, sich gegenseitig bekämpfende Parteien spaltete, gelangte erst zu größerer Bedeutung, seit das von Lassalle geforderte allgemeine Wahlrecht 1867 durch Bismarck im Norddeutschen Bund eingeführt worden war und der begabte Literat J. B. v. Schweitzer 1867 die Leitung übernahm. Als Führer der Lassalleaner in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt, vertrat v. Schweitzer dort mit andern Sozialdemokraten die Sache der S. Schon unter seiner Präsidentschaft wurde das ökonomische und politische Programm des Vereins erweitert. Als jedoch die von Hasenclever und Hasselmann vertretene radikalere Richtung siegte, wurde v. Schweitzer 1871 als ein bezahlter Agent der preußischen Regierung verdächtigt und aus dem Verein gestoßen. Unter der Führung jener beiden Männer nahm die Mitgliederzahl, nachdem inzwischen das Wahlgesetz für den Norddeutschen Bund auch das für das Deutsche Reich geworden war, in kurzer Zeit enorm zu (1873 hatte der Verein schon über 60,000 Mitglieder und in 246 Orten Lokalvereine), wurde aber auch das ökonomische und politische Parteiprogramm radikaler (Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle Staats- und Gemeindewahlen auf alle über 20 Jahre alten Personen, Abschaffung der stehenden Heere, Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer progressiven Einkommensteuer mit Freilassung der Einkommen unter 500 Tlr. und mit einem Steuerfuß von 20–60 Proz. für Einkommen über 1000 Tlr., Abschaffung der Gymnasien und höheren Realschulen, Unentgeltlichkeit des Unterrichts in allen öffentlichen Lehranstalten etc.). Hauptblatt des Vereins war der Berliner »Sozialdemokrat«. Die Forderungen und ganze Art der Agitation näherten sich immer mehr dem Programm und der Agitationsweise einer zweiten sozialdemokratischen Partei, die unter dem Einfluss von Karl Marx und der internationalen Arbeiterassoziation im August 1869 von Wilhelm Liebknecht und August Bebel begründet worden war. In der internationalen Arbeiterassoziation war seit 1866 die erste internationale und zugleich eine radikale und revolutionäre sozialdemokratische Partei entstanden. Liebknecht und Bebel, Anhänger der Internationale, setzten, nachdem sie sich lange vergeblich bemüht hatten, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in das Lager der Internationale hinüberzuführen, auf einem allgemeinen Arbeiterkongress in Eisenach im August 1869 die Gründung einer zweiten Partei, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, durch, die sich ausdrücklich als deutscher Zweig der Internationale konstituierte. Die neue »Eisenacher« Partei (spottweise auch Partei der Ehrlichen genannt), vortrefflich organisiert und dirigiert (Hauptorgan der Leipziger »Volksstaat«), entfaltete namentlich seit Anfang der 1870er Jahre eine außerordentliche Rührigkeit. Nachdem die Reichstagswahl von 1874 gezeigt hatte, dass die bis dahin sich häufig bekämpfenden beiden Richtungen ungefähr gleich stark seien, und harte Polizeimaßregeln sie einander näher gebracht hatten, vereinigten sie sich 1875 auf dem Kongress in Gotha (22.–27. Mai) zur sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Das Gothaer Parteiprogramm, ein radikal-sozialistisches, stimmte in allen wesentlichen Punkten mit dem früheren Eisenacher Programm von 1869 überein, wenn es auch einige Konzessionen an die Lassalleschen Ideen enthielt. Der »Volksstaat« (später »Vorwärts«) wurde das Hauptorgan. Die Partei nahm bei der fast vollen Freiheit, die man ihr gewährte, einen großen Aufschwung. Nach dem Jahresbericht von 1877 verfügte sie über 41 politische Presseorgane mit 150,000 Abonnenten, außerdem über 15 Gewerkschaftsblätter mit etwa 40,000 Abonnenten und ein illustriertes Unterhaltungsblatt: »Die Neue Welt«, mit 35,000 Abonnenten. Ein Hauptagitationsmittel waren die besoldeten, redegewandten Agitatoren (1876: 54 ganz besoldete, 14 zum Teil besoldete) und die nicht besoldeten »Redner« (1876: 77). Bei den Reichstagswahlen stimmten für sozialdemokratische Kandidaten 1871: 124,655,1874: 351,952,1877: 493,288. Die ganze Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre; mit großem Geschick wurden in der Presse die radikalen sozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtert und in den Arbeiterkreisen der Klassenhass geschürt und revolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung, um dieser Agitation, die zu einer ernsten Gefahr für den sozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksam entgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eine Verschärfung des Strafgesetzbuches versucht hatte, griff man nach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm (11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitation erkennen musste, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegen die S., und es erging das zunächst nur bis 31. März 1881 gültige Reichsgesetz (Sozialistengesetz) vom 21. Okt. 1878 »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S.« Es suchte die gefährliche, das öffentliche Wohl schädigende sozialdemokratische Agitation zu unterdrücken. Es verbot daher bei Strafe Vereine, Versammlungen, Druckschriften sozialistischer, sozialdemokratischer oder kommunistischer Art; Personen, die sich die sozialdemokratische Agitation zum Geschäft machten, konnten aus bestimmten Landesteilen ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. konnte aus dem gleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden; auch konnte über Bezirke und Orte, in denen durch sozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheit bedroht erschien, der sogen. kleine Belagerungszustand mit Beschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisung ansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde 1880 wiederholt, zuletzt bis 30. Sept. 1890 verlängert. Von diesem Tag ab trat es außer Kraft. Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auch nicht die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten bei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961, 1884: 549,990,1887: 763,128); aber seine strenge Handhabung hatte wenigstens für einige Jahre die in hohem Grade gefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wie sie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde, verhindert. In der deutschen S. sonderte sich seit 1878 immer entschiedener unter der Führung von Most und Hasselmann eine radikale Anarchistenpartei ab, deren Hauptorgan 1879 die von Most in London herausgegebene »Freiheit« wurde, und deren Mitglieder auch in Deutschland und Österreich eine Reihe von Attentaten gegen Beamte und von Raubmorden ausführten. Das Hauptorgan der deutschen S. und der ihr verbündeten internationalen S. wurde der seit Oktober 1879 in Zürich erscheinende »Sozialdemokrat«. Zu einer definitiven Spaltung zwischen den Anarchisten und der sogen. gemäßigten, aber noch immer radikalen und revolutionären Bebel-Liebknechtschen Partei kam es auf dem Kongress in Wyden (Schweiz) im August 1880, auf dem aber auch die »gemäßigte« Richtung aus dem Gothaer Programm in dem Satz, dass die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln ihre Ziele erstreben wolle, das Wort »gesetzlichen« strich. Nach dem 30. Sept. 1890 entwickelte sich unter den Sozialdemokraten Deutschlands alsbald eine rührige und erfolgreiche offene Agitation. Unmittelbar nach dem Erlöschen des Ausnahmegesetzes wurde ein Kongress der Partei nach Halle einberufen, die für dringend nötig erachtete Revision des Programms aber erst auf dem bald darauf (im Oktober 1891) stattfindenden Kongress in Erfurt vorgenommen. Das neue Programm bringt in einer Einleitung die allgemeinen Grundsätze, von denen ausgehend die sozialdemokratische Partei Deutschlands eine Reihe von Forderungen stellt, die noch auf der Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung verwirklicht werden sollen, und gibt eine Kritik der letzteren, in der ausgeführt wird, dass die ökonomische Entwickelung mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebs, zur Vergrößerung des Proletariats führe, und dass nur eine Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Produktion in eine sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene, Abhilfe gewähren könne. Die wesentlichsten Programmpunkte sind:

1) Allgemeines gleiches und direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen, Proportional-Wahlsystem, und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.

2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung.

3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.

4) Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.

5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und privatrechtlicher Beziehung dem Manne unterordnen.

6) Erklärung der Religion zur Privatsache.

7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts.

8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes. Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagte, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe.

9) Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung.

10) Stufenweise steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbgutes und Entfernung der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle etc.

Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:

1) Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage: a) Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Normalarbeitstages; b) Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter 14 Jahren; c) Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt, Nachtarbeit erheischen; d) eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter; e) Verbot des Trucksystems.

2) Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeiterverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeiterämter und Arbeiterkammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.

3) Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesindeordnungen.

4) Sicherstellung des Koalitionsrechts.

5) Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Der Frankfurter Parteitag von 1894 wählte eine Agrarkommission zur Beratung der Frage, wie die Ideen der S. auf dem Lande verbreitet werden können, und zur Ergänzung des Programms mit Rücksicht auf die ländlichen Verhältnisse. Diese Agrarkommission tagte im Februar 1895 in Berlin, ohne indessen zu brauchbaren Resultaten gelangt zu sein.

Die Parteiorganisation ist äußerlich eine ziemlich lose, indem es wegen des geltenden Vereinsgesetzes der sozialdemokratischen Partei nicht möglich ist, sich als geschlossenen Verband von Vereinen zu organisieren. Deshalb wird ihr jede Person zugezählt, die sich zu ihren Grundsätzen bekennt. Oberstes Organ ist der jährlich zusammentretende Parteitag, zu dessen Teilnahme die Delegierten der einzelnen Reichstagswahlkreise, die Reichstagsabgeordneten und die Parteileitung berechtigt sind. Die Parteileitung, die auf dem Parteitag gewählt wird, besteht aus 12 Mitgliedern, von denen 5 mit der Geschäftsführung, die 7 andern mit der Kontrolle betraut sind. Aufgabe der Parteileitung ist es, den Zusammenhang mit den Vertrauensmännern in jedem Wahlkreis zu wahren, die Parteitage einzuberufen und die Parteipresse zu kontrollieren. Am 29. Nov. 1895 war durch Verfügung des Berliner Polizeipräsidenten wegen Verletzung des Vereinsrechts der Parteivorstand aufgelöst worden, weshalb die Leitung auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion überging und von einem provisorischen geschäftsführenden Ausschuss in Hamburg übernommen wurde. Nachdem aber die Hauptbeteiligten durch Gerichtsbeschluss freigesprochen wurden, entschied man sich auf dem Parteitage zu Hamburg 1897, den Sitz der Leitung wieder nach Berlin zu legen. Der Parteitag für 1896 fand vom 11.–16. Okt. in Gotha statt und beschäftigte sich mit Arbeiterschutz, Frauenagitation und Inneren Angelegenheiten; auf dem vom 4.–9. Okt. 1897 in Hamburg stattfindenden Parteitag wurde die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen beschlossen. Weitere Parteitage wurden jeweils im Herbst: 1898 in Stuttgart, 1899 in Hannover, 1900 in Mainz, 1901 in Lübeck, 1902 in München, 1903 in Dresden, 1904 in Bremen, 1905 in Jena, 1906 in Mannheim, 1907 in Essen abgehalten. Die Einnahmen der Parteikasse betrugen 1905/06: 810,917 Mk., die Ausgaben: 880,496 Mk.

In neuerer Zeit haben sich in der deutschen S. wiederholt verschiedene Strömungen gezeigt, so die der »Jungen«, denen die Parteileitung zu terroristisch und das Vorgehen der Partei zu zahm war. Der schon auf dem Erfurter Parteitag 1891 zum Ausbruch gekommene Streit endete jedoch mit dem Siege der Parteileitung, die den Austritt der Führer der »Jungen« (Werner, Wildberger, Auerbach) durchsetzte. Anderseits suchte die Parteileitung gegen den Führer des rechten Flügels Vollmar auf dem Frankfurter Parteitag 1894 ein Misstrauensvotum zu erreichen, weil dieser allzu sehr Optimist sei und das Hauptgewicht auf die Erreichung derjenigen Forderungen lege, die auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung erreichbar sind, konnte aber damit nicht durchdringen. Dazu kommt in der jüngsten Zeit eine gemäßigtere Richtung des wissenschaftlichen Sozialismus, die hauptsächlich von Bernstein vertreten wird und dem radikalen Marxismus gegenüber ein mehr sozial-reformatorisches Programm vertritt, das sich der bürgerlichen Demokratie nähert.

Die sozialdemokratische Presse hat seit 1890 einen erheblichen Aufschwung genommen. Vor Erlass des Sozialistengesetzes verfügte die Partei über 41 politische Zeitungen, 15 Gewerkschaftsblätter, 1 illustriertes Unterhaltungsblatt und 2 wissenschaftliche Zeitschriften. 1906 zählte sie: 78 politische und 67 Gewerkschaftsblätter. Offizielles Parteiorgan ist der »Vorwärts« (Beilage: Neue Welt). Andre bedeutende Blätter sind das »Hamburger Echo«, die »Leipziger Volkszeitung«, »Münchener Post«, »Rheinische Zeitung«. An wissenschaftlichen Zeitschriften hat die Partei die Wochenschrift »Die Neue Zeit« (redigiert von Kautsky), »Der sozialistische Akademiker« und die von J. Bloch redigierten »Sozialistischen Monatshefte« (Berl., seit 1897) und die »Dokumente des Sozialismus« (hrsg. von Bernstein, das., seit 1901); Unterhaltungsblatt ist »Die neue Welt«, Witzblätter: »Der wahre Jakob« und »Süddeutscher Postillon«. Sozialdemokratische Verlagshandlungen sind die des »Vorwärts« (Berlin), J. H. W. Dietz (Stuttgart), Auern. Komp. (Hamburg), M. Ernst (München), Wörlein u. Komp. (Nürnberg).

Während von der Gesamtzahl aller Stimmen diejenigen, die auf sozialdemokratische Kandidaten entfielen, früher nur einen geringen Prozentsatz ausmachten, stellte sich 1893 der Anteil bereits nahezu auf ein Viertel.

Auch in den meisten Landtagen, in vielen Gemeindevertretungen, Gewerbegerichten etc. befinden sich Sozialdemokraten. So zählt der bayrische Landtag zurzeit 15, der württembergische 15, der sächsische 2, der badische 11 Vertreter der S.

Die in der deutschen S. herrschenden marxistischen Prinzipien fanden allenthalben im Ausland, wenn auch mit mannigfachen Änderungen, Aufnahme; allerdings haben sie nirgends eine so feste Organisation erreicht wie in Deutschland. In Österreich hat die S. in der jüngsten Zeit überraschende Fortschritte gemacht. Nachdem die Wahlreform von 1896 durch Schaffung einer neuen (5.) Kurie im Jahre 1897: 14,1901: 10 Sozialdemokraten den Eintritt in den Reichsrat ermöglicht hatte, ist deren Zahl nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1907 plötzlich auf 87 gestiegen. Die Partei verfügt über zahlreiche politische, Fach- und sonstige Blätter, von denen das bedeutendste die von dem Hauptführer der Partei, Viktor Adler, geleitete »Wiener Arbeiterzeitung« ist. Das alte Hainfelder Programm von 1888 wurde auf dem Wiener Parteitag von 1901 einer Revision unterzogen. Vgl. Schwechler, Die österreichische S. (2. Aufl., Graz 1907). Auch in Ungarn nimmt die sozialdemokratische Agitation zu, obwohl die geringere industrielle Entwickelung und die Stärke der nationalen Bewegung ihre Ausbreitung erschweren. Doch sind es hier besonders die agrarischen Verhältnisse, die ihr in vielen Teilen des Landes Vorschub leisten. In Frankreich, wo 1848 die erste sozialdemokratische Bewegung stattfand, stritten sich lange Zeit die gemäßigte Richtung Louis Blancs und die anarchistische Proudhons um die Herrschaft. Doch gewann Ende der 1860er Jahre die letztere, vertreten durch Tolain und Langlois, den Sieg. Das zeigte sich namentlich in der Pariser Kommune. Seitdem hat auch der Marxismus, besonders infolge der energischen Anstrengungen J. Guesdes und P. Lafargues, große Fortschritte gemacht. Namentlich hat die 1890 unter den Possibilisten, einer gemäßigten sozialistischen Reformpartei, ausgebrochene Spaltung, der zufolge sie sich in Allemanisten und Broussisten, nach den Führern Alleman und Brousse, schieden, der Partei Guesdes (»Le Parti ouvrier«) neue Anhänger zugeführt Neben der Arbeiterpartei (parti ouvrier) gehören noch das revolutionäre Zentralkomitee (comité révolutionaire central) und die nationale Vereinigung der Arbeitersyndikate Frankreichs (fédération nationale des syndicats ouvriers de France) der extremen Richtung an. Bei der Wahl von 1893 wurden 49 Sozialisten (1885: 2), einschließlich der sozialistischen Radikalen, bei der von 1902: 48 gewählt. Auch bei den letzten Gemeinderatswahlen sind viele Sozialisten gewählt worden, so dass sie in einigen großen Städten die Majorität in der Stadtverwaltung besitzen. 1901 bildeten sich zwei große Parteien: die Französische sozialistische Partei, welche die Allemanisten und Broussisten, und die sozialistische Partei Frankreichs, welche die übrigen Gruppen einschließt. Die Wahl von 1906 ergab 76 sozialistische Deputierte. Die bedeutendsten sozialistischen Zeitschriften sind: »Le Socialiste«, »Revue socialiste« und »Devenir social«. Weit stärker noch und fester organisiert ist die sozialdemokratische Bewegung in Belgien. Unter der Führung de Paepes und Volders' breitete sie sich in den 1880er Jahren und wieder in der jüngsten Zeit als Belgische Arbeiterpartei unter Anseele, Vandervelde, Defuisseaux und Bertrand weit aus. Nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts vermochte sie bei den Wahlen von 1894 sofort 32 Abgeordnete in die Repräsentantenkammer zu senden. Bei den im Juli 1896 stattgefundenen Wahlen wurden 41 sozialistisch-radikale Abgeordnete gewählt. In der Folge ist ihre Zahl etwas gesunken (1900: 31,1902: 34,1906: 30 Abgeordnete). Die wichtigsten Zeitungen sind: »Le Peuple« (Brüssel), »Vooruit« (Gent), »De Werker« und »L'Echo du Peuple«. Die bedeutende Blüte der belgischen S. erklärt sich zum Teil daraus, dass diese mehr als die S. in andern Ländern die Schöpfung von Gewerkvereinen und Wirtschaftsgenossenschaften betreibt und namentlich auf dem Gebiete des Konsum- und Produktivgenossenschaftswesens große Erfolge erzielt hat. Vgl. Destrée und Vandervelde, Le socialisme en Belgique (2. Aufl., Brüss. 1903); Bertrand, Histoire de la démocratie et du socialisme en Belgique (das. 1905). In England gab es zwar in den 1830er und 40er Jahren schon mächtige Arbeiterbewegungen sozialistischer Natur, so der Chartismus und die von Owen hervorgerufene, allein eine sozialdemokratische Partei konnte erst Anfang der 1880er Jahre gegründet werden: die Socialdemocratic Federation unter Führung Hyndmanns. Aus ihr schied ein Teil der Mitglieder, die anarchistisch gesinnt waren, unter Führung von W. Morris aus und bildete die Socialist League. Im streng marxistischen Sinn agitierten Aveling und die Tochter von K. Marx, Eleanor Marx. Daneben gibt es noch eine Reihe sozialistischer Lokalvereine. Am meisten Anhang hat immer noch die Socialdemocratic Federation (Zeitung: »Justice«); ihr Programm fordert die Verstaatlichung des Bodens und die allmähliche Überleitung in die sozialistische Gesellschaft. Bei den Wahlen von 1892 gelang es den Sozialisten, 3 »unabhängige«, d. h. nicht den Trades-Unions angehörige Arbeitervertreter, unter ihnen den schottischen Bergarbeiter Keir Hardie, ins Parlament zu wählen, deren Programm aber nicht eigentlich sozialdemokratisch, sondern radikalsozialreformatorisch ist. Im Januar 1893 wurde auch eine »unabhängige Arbeiterpartei« (Indepedent Labour Party) mit ähnlichem Programm begründet. 1895 wurde keiner der 28 sozialdemokratischen Kandidaten gewählt; die drei als Arbeitervertreter gewählten »Unabhängigen« waren Alliierte der liberalen Partei. Die Wahlen von 1900 ergaben 13 Arbeitervertreter, darunter J. Burns, die aber nicht alle als Sozialdemokraten bezeichnet werden können, die von 1906 deren 30. In neuester Zeit haben aber auch die Gewerkvereine namentlich die der ungelernten Arbeiter, unter dem Einfluss John Burns' dem Sozialismus sich genähert. Auf den letzten Kongressen der Trades-Unions trat überhaupt der sozialistische Gedanke in Resolutionen zugunsten der Verstaatlichung der Produktionsmittel etc. stark hervor. Gleichwohl kann man zurzeit von einer sozialistischen Arbeiterpartei im Sinne der deutschen S. nicht sprechen. In Holland hat in den letzten 20 Jahren namentlich unter dem Einfluss Domela Nieuwenhuis' eine starke sozialdemokratische Bewegung Platz gegriffen (Bund der Sozialdemokraten, Organ: »Recht voor Allen«). Neben der Domelaschen revolutionären Richtung ist seit 1894 unter Führung von Trolst und van Kol eine gemäßigte, sozialer Reformtätigkeit geneigte Fraktion (Organ: »De Nieuwe Tijd«) entstanden, welche die erstere überflügelt hat. 1906 waren in der Zweiten Kammer 7 Abgeordnete der S. In der Schweiz hat die S. erst seit Beginn der 1890er Jahre, seit der Grütliverein sich der S. anschloss, einen größeren Anhang. Im J. 1902 erfolgte eine Vereinigung und Reorganisation der verschiedenen sozialistischen Gruppen. In einzelnen Kantonen findet sich bereits eine ansehnliche Zahl von Vertretern der S.; im Nationalrat sind zurzeit 2. In Russland trat die S. lange Zeit zurück vor den nihilistischen und nationalrussischen revolutionären Bestrebungen. Erst in neuester Zeit hat auch die S. mehr um sich gegriffen und sich konsolidiert. Die beiden Hauptparteien unter der Arbeiterschaft sind die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands«, deren Programm im ganzen dem der deutschen S. ähnlich ist, und die Partei der revolutionären Sozialisten, die alle arbeitenden Elemente, auch die Bauern, vertreten will. In Schweden und Norwegen ist der agrarische Charakter des Landes der Ausbreitung der S. hinderlich, immerhin hat sie, namentlich in Schweden im Anschluss an die Gewerkvereinsbewegung, bereits größeren Umfang erreicht. In Schweden hat sie zurzeit 13 Sitze, in Norwegen deren 5 und zahlreiche Gemeindemandate inne. In Dänemark hat nicht nur die städtische Industriebevölkerung, sondern auch das Landvolk sich sozialistischen Bewegungen zugänglich gezeigt. 1906 wurden 24 sozialdemokratische Abgeordnete in das Folkething entsendet. Vgl. Helms, Die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Bewegung in Dänemark (Leipz. 1907). In Italien war, wie heute noch in Spanien, der Anarchismus bis zu Beginn der 1880er Jahre die einzige Form der Auflehnung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Erst von da ab sing die S. unter Führung Costas an, eine Rolle namentlich in Oberitalien und Sizilien zu spielen. Auf dem Kongress zu Genua (1892) wurde die italienische Arbeiterpartei gegründet. Im J. 1895 wurden 8, 1900: 33 Vertreter der S. ins Parlament gewählt, und zahlreiche Sozialdemokraten sitzen in Gemeindevertretungen. Hauptorgan ist die Tageszeitung »Avanti«. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzt die S. bis heute keine große Bedeutung, weil der Sinn des amerikanischen Volkes ähnlich dem des englischen auf die unmittelbare Verbesserung seiner Lage, auf das Erreichbare, gerichtet ist. Die wichtigste Arbeitervereinigung, die Federation of Labor (Arbeiterbund), trägt gewerkschaftlichen Charakter. Mehr dem Sozialismus nähern sich die Central Labor Unions, Vereinigungen organisierter Lohnarbeiter in großen Städten und Industriebezirken, und die 1895 gegründete Socialist Trade and Labor Alliance, ein gewerkschaftlicher Zentralverband. Eine eigentlich sozialdemokratische Vereinigung war die 1876 hauptsächlich von deutschen Eingewanderten begründete Sozialistische Arbeiterpartei Nordamerikas, deren Programm dem Gothaer der deutschen S. verwandt ist. 1897 entstand eine Sozialdemokratische Partei, die sich mit der vorgenannten 1900 auf einem Kongress in Indianapolis zur Socialistic Party zusammenschloss. Ihre Erfolge sind gering. Über den Orden der Knights of Labor s. Ritter der Arbeit.

Vgl. E. Jäger, Der moderne Sozialismus (Berl. 1873); Mehring, Die deutsche S. (3. Aufl., Bremen 1879) und Geschichte der deutschen S. (3. Aufl., Stuttg. 1906, 4 Bde.); R. Meyer, Der Emanzipationskampf des vierten Standes (2. Aufl., Berl. 1882); Scheel, Unsere sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878); Oldenberg, Die Ziele der deutschen S. (das. 1891); Schäffle, Die Quintessenz des Sozialismus (13. Aufl., Gotha 1891) und Die Aussichtslosigkeit der S. (4. Aufl., Tübing. 1893); G. Adler, Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland (Bresl. 1885), Die Entwickelung des sozialistischen Programms (in den »Jahrbüchern für Nationalökonomie«, 1891) und Artikel »S.« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaft«, Bd. 5 (hier auch ausführliche Literaturangaben über die außerdeutschen Länder); Kautsky, Das Erfurter Programm erläutert (6. Aufl., Stuttg. 1905); Kautsky und Schönlank, Grundsätze und Forderungen der S. (Berl. 1892), Handbuch für sozialdemokratische Wähler (hrsg. vom Parteivorstand, zuletzt Berl. 1907); Schippel, Sozialdemokratisches Reichstagshandbuch (das. 1902); A. Wagner, Das neue sozialdemokratische Programm (das. 1892); Laveleye, Der Sozialismus der Gegenwart (deutsch, Halle 1895); E. Richter, Die Irrlehren der S. (Berl. 1890); M. Lorenz, Die marxistische S. (Leipz. 1896); Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert (5. Aufl., Jena 1905); Wacker, Entwickelung der S. in den zehn ersten Reichstagswahlen, 1871–1898 (Freiburg 1903); Brunhuber, Die heutige S. (Jena 1906); E. Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung (Berl. 1907 ff.); Milhaud, La démocratie socialiste allemande (Par. 1903); Ely, The labor movement in America (New York 1886); Stammhammer, Bibliographie des Sozialismus und Kommunismus (Jena 1893–1900, 2 Bde.). Weitere Literatur s. unter Internationale und Sozialismus.

Die österreichische Revolution

Vorwort

Ich widme dieses Buch den Vertrauensmännern der österreichischen Arbeiterschaft: den Tausenden, die während des Krieges bluttrunkenen Militärgewalten tapfer die Stirn boten; den Tausenden, deren Einsicht, deren Verantwortungsgefühl, deren Mut in der Revolutionszeit die österreichische Arbeiterschaft aber- und abermals gerettet hat vor den Versuchungen des Hungers, der Verzweiflung, der Hiusionen in den eigenen Reihen; den Tausenden, die heute im zähen Abwehrkampfe gegen einen verständnislosen, haßerfüllten Feind ringen. Möge dieses Buch diesen Tausenden helfen, den Kleinkrieg, den sie alle, jeder in seinem Betriebe, in seiner Gemeinde, in seiner Organisation, geführt haben, im großen geschichtlichen Zusammenhange zu begreifen und aus solchem Verstehen neue Einsicht, neue Kraft, neue Zuversicht zu schöpfen für die Kämpfe, denen wir entgegengehen!

Ich widme dieses Buch den Kameraden im österreichischen Heere: den sozialdemokratischen Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten. Sie haben jetzt den schwersten Kampf zu bestehen; einen Kampf, der an ihre Überzeugungstreue, an ihre Zähigkeit, an ihre Klugheit die höchsten Anforderungen stellt. Möge dieses Buch ihnen sagen, daß der Gegenstand des Kampfes der Opfer des Kampfes wert ist!

Ich widme dieses Buch den österreichischen Intellektuellen, den Ingenieuren, den Ärzten, den Lehrern, den jungen Studenten zumal, die den Befreiungskampf der Arbeiterklasse verstehen lernen wollen. Möge es ihnen helfen, das Netz zu zerreißen, in das, aus unzähligen Zeitungsblättern, von unzähligen Kathedern auf sie einredend, Klassenvorurteil, Klassenhaß, Klassenlüge sie verstricken!

Aber ich wage es, dieses Buch auch Marxens Schule in aller Welt zu widmen. Denn auch ihr will es einiges sagen.

Der wissenschaftliche Sozialismus ist aus der Verarbeitung zweier großer Erfahrungen entstanden: der Erfahrung der industriellen Revolution des neunzehnten Jahrhunderts und der Erfahrung der politischen Revolutionen von 1789 bis 1871. Die Welt, die Marx und Engels erforscht haben, ist durch Krieg und Revolution völlig umgewälzt worden. Nur durch die Verarbeitung der Fülle neuer Erfahrungen, die wir im Kriege und in der Revolution erworben haben, kann sich der wissenschaftliche Sozialismus der veränderten Umwelt anpassen. Nur aus der wissenschaftlichen Verarbeitung dieser neuen Erfahrungen kann sich der Sozialismus des zwanzigsten Jahrhunderts entwickeln. Ein kleiner Beitrag zu dieser großen Arbeit will dieses Buch sein. Die Wechselwirkungen zwischen nationaler und sozialer Revolution; die Wandlungen des Staates, der Demokratie, der Beziehungen der Arbeiterklasse zum Staat und zur Nation, die sich in der und durch die Revolution vollziehen; die Entwicklung eigenartiger Staatstypen in einer Entwicklungsphase. in der die Kräfte der Klassen einander das Gleichgewicht halten; die Funktion vorübergehender Kooperation der Klassen im Entwicklungsgange der Klassenkämpfe; die Wechselwirkungen der Wirtschaft, der Gewalt und des Geistes im Entwicklungsgange revolutionären Klassenkampfes – das sind Probleme von höchstem allgemeinen Interesse und zur Klärung dieser Probleme kann, so hoffe ich, die Geschichte der österreichischen Revolution manches beitragen.

Wien, 6. Mai 1923

Otto Bauer

Erster Abschnitt - Krieg und Revolution

§ 1. Die Südslawen und der Krieg

Das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien hat den Weltkrieg herbeigeführt. Seine unmittelbare Ursache war der Zusammenstoß des habsburgischen Imperiums mit dem Freiheits- und Einheitsdrang des südslawischen Volkes.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich aus den südslawischen Bauernstämmen das südslawische Bürgertum entwickelt. Unter der Führung ihres Bürgertums standen die südslawischen Stämme im Kampfe gegen den Zustand der nationalen Fremdherrschaft und der nationalen Zersplitterung, die der Feudalismus in Jugoslawien begründet hatte. Dieser Kampf war die bürgerliche Revolution der Jugoslawen. Sein Ziel war die Liquidierung der feudalen Herrschaftsverhältnisse auf südslawischem Boden. Diese nationale Revolution der Jugoslawen war der Ausgangspunkt des Krieges. Sie leitete die nationale Revolution ein, der die Habsburgermonarchie erlegen ist.

Schon im 9. Jahrhundert sind die Slowenen – der nordwestliche Stamm des südslawischen Volkes – unter deutsche Fremdherrschaft gefallen. In ganz Slowenien wurden die slawischen Bauern deutschen Grundherren zins- und fronpflichtig. Deutsch war der Herrenhof, slowenisch das Bauerndorf. Den deutschen Grundherren folgten deutsche Bürger. Sie begründeten die Städte im Wendenland; die Städte waren deutsch, die Dörfer blieben windisch. So fielen hier Klassenscheidung und nationale Scheidung zusammen. Noch im 19. Jahrhundert klagte der krainische Dichter Franc Pešeren:

Deutsch sprechen in der Regel hierzulande Die Herrinnen und Herren, die befehlen; Slowenisch die, so von dem Dienerstande.

So war ein Jahrtausend lang die slowenische Sprache bloße Bauernmundart, das slowenische Volk eine geschichtslose Nation. Ein slowenisches Schulwesen konnte nicht entstehen; denn Schulen gab es nur für die Söhne der deutschen Grundherren und Bürger, nicht für die der slawischen Bauern. Eine slowenische Literatur konnte sich nicht entwickeln; denn wer hätte in einer Sprache, die nur die unwissenden, analphabetischen Bauern sprachen, Bücher schreiben wollen? Als in den Sturmtagen der Reformation protestantische Prädikanten auch den Bauern das Evangelium predigen wollten, stellte einer von ihnen, Primož Trubar, fest, daß „kein Brief oder Register, noch weniger ein Buch in unserer windischen Sprache zu finden war; denn man hielt dafür, die windische Sprache wäre so grob und barbarisch, daß man sie weder schreiben noch lesen könne“. Trubar und Juri Dalmatin, die die Bibel in die slawische Bauernsprache übertrugen, mußten hunderte Wörter fremden Sprachen entlehnen; denn die slowenische Sprache hatte Bezeichnungen nur für Begriffe des bäuerlichen Lebens. Habsburgs blutige Gegenreformation bereitete auch diesen ersten Versuchen, eine slowenische Literatursprache zu schaffen, ein schnelles Ende: Trubars ketzerische Schriften wurden verbrannt; und wiederum verschwand für zwei Jahrhunderte die slowenische Sprache aus der Literatur.

Und wie an allem höheren Kulturleben, so hatte auch an allem staatlichen Leben das slowenische Bauernvolk ein Jahrtausend lang keinen Anteil. Denn nur die Grundherrenklasse, nicht die Bauernschaft war in diesem Jahrtausend Trägerin des staatlichen Lebens. Mit der Unterwerfung unter die deutschen Grundherren fielen die slowenischen Bauern unter die Herrschaft des deutschen Herzogtums Karantanien; mit den Ländern, in die das Herzogtum zerfiel, fielen sie an das deutsche Österreich. Über den Grundherrschaften, in denen die slowenischen Bauern den deutschen Feudalherren fronten, baute sich die politische Herrschaft des deutschen Österreich über den slowenischen Volksstamm auf.

Ein halbes Jahrtausend später als der nordwestliche verfiel der südöstliche Zweig des jugoslawischen Volkes ähnlichem Schicksal. Nach der Niederlage am Amselfeld (1389) wurden die serbischen Fürsten zu Vasallen der türkischen Großherren; nach der Katastrophe von Varna (1444) wurden die serbischen Länder zu türkischen Provinzen. Das serbische Volk wurde zur geknechteten ausgebeuteten Rajah. Die Städte wurden zu türkischen Festungen; nur die Dörfer blieben serbisch. Und über die serbischen Bauern herrschten die türkischen Spahis und die griechischen Priester. Nur in Bosnien behauptete sich ein Teil des nationalen Adels; aber er behauptete Besitz und Würde nur um den Preis, daß er den Islam annahm und damit in dem herrschenden Osmanentum aufging. So war auch das serbische Volk unter Fremdherrschaft gefallen.

Nur im Zentrum des Siedlungsgebietes der Südslawen, in Kroatien, hat sich ein nationales Staatswesen behauptet. Nur dort lebte das Volk unter der Herrschaft nicht eines fremden, sondern eines nationalen Adels. Aber auch dort ging in furchtbaren Stürmen ein Stück nationaler Selbständigkeit nach dem andern verloren. Von den Türken bedroht, war das dreieinige Königreich nicht imstande, Dalmatien gegen die Venezianer zu schützen. So verfiel dieses slawische Land italienischer Fremdherrschaft. Kroatien selbst aber warf die Türkennot zuerst den Habsburgern in die Arme. Dann, nach der Zurückdrängung der Türken, stürzte sich der kroatische Adel, vom habsburgischen Absolutismus im Besitz seiner ständischen Privilegien bedroht, Ungarn in die Arme, um, sei es auch um den Preis des Verzichts auf staatliche Selbständigkeit, mit dem mächtigeren magyarischen Adel vereint, die ständischen Rechte zu verteidigen. So verlor, zwischen Türken und Venetianern, zwischen Österreich und Ungarn, der kroatische Adel nationale und staatliche Selbständigkeit. Viele Adelsfamilien wurden in den Türkenkriegen ausgerottet. Andere endeten in den Kuruzzenkriegen auf österreichischem Schafott. Deutsche, magyarische, italienische Feudalherren erbten die Latifundien der kroatischen Magnaten. Der Rest des höheren kroatischen Adels erlag der mächtigen Anziehungskraft der Wiener höfischen Sitte; war die lateinische Sprache die Verhandlungssprache des Sabors und die Amtssprache der Behörden, so bediente sich der gebildete Adel im täglichen Umgang der deutschen oder der italienischen Sprache. Nur der unwissende Bauernadel, die „Zwetschkenjunker“, sprachen noch kroatisch. Die staatlichen Sonderrechte Kroatiens aber gab der kroatische Adel Ungarn preis, um sich, mit dem magyarischen Adel vereint, als una eademque nobilitas, des habsburgischen Absolutismus zu erwehren: als Josef II. die Leibeigenschaft in Ungarn und Kroatien aufhob, übertrug der kroatische Sabor sein Steuer- und Rekrutenbewilligungsrecht dem ungarischen Reichstag, um in ihm seinen Beschützer gegen die Bauernbefreiung zu finden. So ward Kroatien zum bloßen „angegliederten Teil“ Ungarns. So war auch der kroatische Adel kein Träger nationaler Kultur und nationaler Selbständigkeit mehr.

So hatte der Feudalismus den jugoslawischen Stämmen eine furchtbare Erbschaft hinterlassen. Österreich und Ungarn, Venedig und die Türkei hatten ihr Gebiet untereinander geteilt. In Slowenien saßen deutsche, in Dalmatien italienische, im Banat und in der Bacska magyarische Herren, in Serbien türkische Spahis, in Bosnien mohammedanische Begs über den hörigen slawischen Bauern. Überall waren die Jugoslawen zu einem geschichtslosen Bauernvolk, zu Hintersassen fremder Grundherren geworden; selbst in Kroatien war der nationale Adel seinem Volkstum entfremdet. Nur der Bauer war der Träger des nationalen Lebens. Aber der Gesichtskreis des armen, unwissenden Bauern reichte über die Grenzen der Grundherrschaft, der er fronte, kaum hinaus. Den windischen Bauern Kärntens galten schon die Krainer als Fremde. Die katholischen Bauern in Kroatien haßten die griechisch-orthodoxen Nachbarn als Ungläubige. Ein Bewußtsein nationaler Gemeinschaft der jugoslawischen Stämme gab es nicht. Es hat einer langen Kette gewaltiger Umwälzungen bedurft, um das jugoslawische Volk aus diesem Zustand der Knechtschaft, der Geschichtslosigkeit, der Zerstückelung emporzuführen.

Der Krieg, den Josef II. und Katharina II. im Jahre 1788 gegen die Türkei begannen, war der Wendepunkt der serbischen Geschichte. Österreich rief damals die serbische Rajah zum Kampfe gegen die Türkenherrschaft auf. Den lautesten Widerhall fand dieser Ruf in dem kleinen Splitter des serbischen Stammes, der sich ein Jahrhundert vorher unter der Führung des flüchtigen Patriarchen von Ipek in Ungarn angesiedelt hatte. Viele von den serbischen Kolonisten hatten in dem fremden Lande, wie es entwurzelte, in fremdes Land verpflanzte Gastvölker zu tun pflegen, im Handel Erwerb gefunden; so hatte sich hier ein handeltreibendes serbisches Bürgertum entwickelt, von dessen Söhnen so mancher den Weg an deutsche Universitäten fand, dort unter den Einfluß der Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts geriet und gewahrte, wie eben damals in der Wissenschaft die lateinische Kirchensprache durch die deutsche Volkssprache ersetzt wurde. Da setzte nun unter den ungarischen Serben lebhafte Bewegung ein. Schulen und Kirchengemeinden wurden gegründet. Dositej Obradović imd Vuk Karadžić ersetzten die kirchenslawische Schulsprache durch die Volkssprache, „wie sie auf dem Markt geredet und beim Reigentanz gesungen wird“, und schufen damit die neue serbische Schriftsprache und die Anfänge des neuen serbischen Schrifttums. Zugleich aber weckte der Waffenlärm auch die Rajah jenseits der Save. Serbische Freischaren kämpften unter österreichischem Kommando gegen die Türken. Und wenngleich Österreich die serbische Rajah den Türken wieder preisgab, als die Schreckensnachrichten über die Anfänge der großen Französischen Revolution die Aufmerksamkeit des Wiener Hofes nach dem Westen lenkten, haben die Waffentaten der Kriegszeit das Selbstbewußtsein der Serben doch mächtig gestärkt. „Was habt ihr aus unserer Rajah gemacht?“ klagten nun die Türken.

Der Krieg hatte die Schwäche des türkischen Lehensstaates gegen den modernen Absolutismus geoffenbart. Unter dem Eindruck dieser Erfahrung versuchte der Sultan Selim III. eine Reform des Staats- und Heerwesens nach europäischem Vorbild. Gegen diese Reformversuche erhoben sich die Janitscharen. Der Gouverneur des Belgrader Paschaliks Hadschi Mustafa Pascha bot selber die serbischen Bauern gegen die rebellischen Dahia auf. So erhoben sich 1804 die Serben, von Kara Georg geführt. Aber sobald sie die Dahia besiegt hatte, richtete die rebellierende Rajah ihre Waffen gegen die Türkenherrschaft überhaupt. So begann der große Befreiungskampf des serbischen Bauernvolkes gegen den türkischen Feudalismus. Bald von Rußland, bald von Österreich benützt, bald von dem Zaren, bald von dem Kaiser verraten, erkämpfte sich der serbische Bauer schließlich seine Freiheit. Der erste Aufstand brachte den Serben die Autonomie, der Friede von Adrianopel (1829) die staatliche Selbständigkeit, der Friede von San Stefano (1878) die Unabhängigkeit von der Türkei. Und mit dem Wachstum des Staates wurde die Nation: der Staat schuf die serbische Schule; der Staat schuf die serbische Bürokratie, deren Söhne von ausländischen Universitäten europäische Ideen heimbrachten; langsam, allmählich begann sich aus dem Bauernvolk ein Bürgertum herauszulösen als Träger der werdenden nationalen Kultur. So wurde im Verlauf eines Jahrhunderts aus der Rajah eine Nation.

Was der Türkenkrieg von 1788 für die Serben, war der Franzosenkrieg von 1809 für die Kroaten. Das von Napoleon I. gegründete Königreich Illyrien vereinigte zum ersten Male Slowenien, Kroatien und Dalmatien zu einem Staate, es befreite die Bauern von der Fronpflicht und der Patrimonialgerichtsbarkeit, es führte die slawische Sprache in den Volksschulen ein. Wohl stellte Österreich schon 1813 das alte Regime wieder her; aber der Anstoß, einmal gegeben, wirkte weiter. Die kroatischen Studenten an den Hochschulen von Wien und Pest schwärmten nun von der „illyrischen“ Freiheit, von der nationalen Einheit aller südslawischen Stämme. Die nationalen Befreiungskämpfe der Deutschen und der Italiener, der Polen und der Magyaren wurden ihnen zum Vorbild. Die Lehren der entstehenden Slawistik nahmen sie gierig auf. Es war vorerst nur eine Bewegung weniger junger Schwärmer. Aber sie gewann bald geschichtliche Bedeutung. Ljudevit Gaj, der den Kroaten zuerst eine einheitliche Orthographie schuf, war das Haupt der illyrischen Bewegung; der nationalen Einheit der drei „illyrischen“ Stämme zustrebend, legte er seiner Orthographie denselben štokawischen Dialekt zugrunde, aus dem Vuk Karadžić die serbische Schriftsprache geformt hatte; so gelangten Kroaten und Serben zu einer gememsamen Schriftsprache. Und diese literarische Bewegung wurde zur geschichtlich wirksamen Kraft, als sich der kroatische Adel ihrer zu bemächtigen begann.

Nach der französischen Julirevolution von 1830 gewann der Kampf des ungarischen Reichstages gegen den Wiener Hof revolutionären Charakter. Der reaktionäre kroatische Adel geriet in Gegensatz zur magyarischen Reformbewegung. Er widersetzte sich, als der ungarische Reichstag auch Kroatien die Gleichberechtigung der Protestanten aufzwingen wollte. Er geriet in Wut, als man in Preßburg und Pest die Aufhebung der Hörigkeit der Bauern zu fordern begann. Als Ungarn die lateinische Staatsprache durch die magyarische ersetzte, widersetzte sich der Sabor ihrer Einführung in Kroatien; nun machte er sich die illyrische Kulturbewegung zunutze und führte in Kroatien, die kroatische Staatssprache ein. Der Wiener Hof, von dem revolutionären Ungarn bedroht, stellte sich an die .Seite der Kroaten. Als 1848 die revolutionäre Bewegung Ungarns zur Revolution ward, unterwarf das kroatische Aufgebot Jellačić’ den Habsburgern das revolutionäre Ungarn und das revolutionäre Wien, während zugleich auch die Serben des Banats der ungarischen Revolution in den Rücken fielen. Aber bald lernten die Jugoslawen den „Dank vom Hause Österreich“ kennen. Wohl löste der triumphierende Absolutismus Kroatien und die ungarisch-serbische Wojwodina von Ungarn los, aber nur um sie derselben brutalen Gewaltherrschaft zu unterwerfen, der Ungarn unterworfen ward. Und nach 1859 und 1866 schloß Habsburg seinen Frieden mit dem magyarischen Adel auf Kosten der Südslawen. Die Wojwodina wurde wieder an Ungarn ausgeliefert. Dalmatien blieb bei Österreich, der Anschluß an Kroatien wurde ihm verwehrt. Kroatien selbst aber wurde der Ausgleich von 1868 gewaltsam oktroyiert. Und der Rest der alten staatsrechtlichen Selbständigkeit, den er Kroatien ließ, wurde zum bloßen Schein. Der Banus wurde von der ungarischen Regierung ernannt. Der Landtag ging aus Wahlen hervor, bei denen dank dem engen Zensuswahlrecht die Beamten die Mehrheit der Wähler bildeten; da das Wahlrecht öffentlich ausgeübt werden mußte, konnte es kein Beamter wagen, gegen die Regierung zu stimmen. So konnte der von der ungarischen Regierung ernannte Banus den Landtag nach seinem Gutdünken zusammensetzen. Kroatien ward damit ein magyarisches Paschalik, mit brutalar Gewalt und zynischer Korruption regiert. Der doppelte Haß gegen den Wiener Hof, der es nach 1848 verraten, und gegen die magyarische Herrenklasse, die es seit 1868 geknechtet hat, erfüllte die Seele des kroatischen Volkes.

In diesem doppelten Haß erwuchsen die Kroaten zu einer modernen Nation. Mochte die magyarische Fremdherrschaft das Land noch so sehr benachteiligen, so verbreiterte doch auch hier die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts das städtische Bürgertum. Mochte der Ausgleich von 1868 von der staatsrechtlichen Selbständigkeit des Landes noch so wenig übrig lassen, so sicherte er ihm doch ein nationales Schulwesen von der Volksschule bis zur Universität und Akademie. So erstand auch hier ein nationales Bürgertum als Träger der nationalen Kultur. Auch im politischen Leben trat nach 1868 das Bürgertum allmählich an die Stelle des Adels.

Aber nicht als der Stamm eines einheitlichen südslawischen Volkes, sondern als eine besondere Nation fühlten sich noch die Kroaten. Von der illyrischen Einheit hatten die Studenten der dreißiger Jahre geträumt; als der Adel die Führung der nationalen Bewegung an sich gerissen hatte, war nicht mehr das natürliche Recht der „Illyrier“ auf Einheit und Freiheit, sondern das historische Staatsrecht Kroatiens, an dem weder Serben noch Slowenen Anteil hatten, die Fahne im Kampf. Die von europäischer Aufklärung beeinflußten Studenten mochten die Kluft zwischen katholischen Kroaten und orthodoxen Serben nicht für breiter ansehen als die Scheidung zwischen evangelischen und katholischen Deutschen; als aber die kroatischen Kleinbürger und Bauern, von ihrem Klerus geführt,. in die politische Arena eindrangen, brachten sie ihren Haß gegen die serbischen Schismatiker mit. Die magyarische Herrschaft beutete den Gegensatz aus und verschärfte ihn, indem sie sich auf die geschichtslosen. Serben gegen die ihr historisches Recht fordernden Kroaten stützte.

Noch fremder aber als der Masse der Kroaten war den Slowenen der Gedanke der jugoslawischen Einheit. Die Serben hatten sich in revolutionärem Sturm ihren Staat erkämpft. In Kroatien konnte sich die nationale Entwicklung an die Überbleibsel einstiger staatlicher Selbständigkeit klammern. Die Slowenen hatten keinen Staat, keine Städte, kein Bürgertum. Wohl machte auch hier die österreichische Volksschule im 19. Jahrhundert eine nationale Literatur möglich, indem sie auch Bauern und Kleinbürger lesen lehrte. Aber die Literatur – nicht für Gebildete, sondern für Bauern geschrieben – mußte sich der bäuerlichen Mundart bedienen, wenn sie Leser finden wollte. Daran scheiterte trotz der nahen Verwandtschaft zwischen Slowenen und Kroaten der Versuch des Illyrismus, auch die Slowenen der gemeinsamen kroatisch-serbischen Schriftsprache zu gewinnen; aus der krainischen Bauernmundart schufen sich die Slowenen ihre eigene Schriftsprache. Es konnte freilich nur eine dürftige Literatur sein, die das arme Völkchen hervorbringen konnte; und dürftig erschien zunächst auch seine politische Geschichte. Erst die allmähliche Demokratisierung des öffentlichen Lebens ermöglichte es den slowenischen Kleinbürgern und Bauern, sich Keimzellen einer nationalen Selbstverwaltung zu erstreiten; nach der Erteilung des Wahlrechtes an die Fünfguldenmänner eroberten die slowenischen Kleinbürger 1882 den bis dahin noch von der deutschen Bourgeoisie beherrschten Gemeinderat von Laibach, die slowenischen Bauern ein Jahr später den bis dahin noch von den deutschen Großgrundbesitzern beherrschten krainischen Landtag. Nur in furchtbar schwerem Kampfe konnte das kleine Volk die bescheidensten Kulturerfordernisse der deutschösterreichischen Bourgeoisie abringen. Sie stürzte noch 1893 eine Regierung, über die Zumutung erbost, den Slowenen ein paar slowenische Parallelklassen an einem deutschen Gymnasium zu bewilligen.

Aber so gewaltig auch die Hindernisse waren, gegen die sich alle Stämme des südslawischen Volkes emporarbeiten mußten, das Ergebnis der ganzen Entwicklung im 19. Jahrhundert war doch, daß sich nun überall, in Serbien wie in Kroatien, in Dalmatien wie in Slowenien ein nationales Bürgertum entwickelt hatte, das die geistige Führung der jugoslawischen Stämme an sich gezogen hatte und mittels der Schule, der Presse, der Organisationen auch die kleinbürgerlichen und bäuerlichen Volksmassen mit Nationalbewußtsein erfüllte. Diesem Nationalbewußtsein mußte der unwürdige Zustand unerträglich werden, dem noch am Anfang des 20. Jahrhunderts das jugoslawische Volk unterworfen war.

Auch am Anfang des 20. Jahrhunderts lebte noch der bei weitem größere Teil des jugoslawischen Volkes unter Fremdherrschaft. In Altserbien und Mazedonien herrschten noch die Türken; dort kämpften eben damals Bulgaren, Serben, Griechen gegeneinander und gegen die Türkenherrschaft in wildem Bandenkrieg. In Bosnien herrschte seit 1878 der militärische Absolutismus der Habsburgermonarchie. Kroatien hielt seit 1883 Graf Khuen-Hederváry „mit Peitsche und Hafer“ in Fesseln. Nur in Serbien und in Montenegro genoß das jugoslawische Volk staatliche Selbständigkeit. Aber was bedeutete diese Selbständigkeit! Der Fürst des montenegrinischen Zwergstaates war ein Stipendiat des Wiener und des Petersburger Hofes. In Serbien aber war es noch schlimmer. Die Familienskandale der entarteten Dynastie der Obrenović waren zum Schicksal des Landes geworden. Das verachtete Geschlecht hatte das Land einem orientalischen Despotismus unterworfen: Parlamentswahlen, Parlamentsabstimmungen, Richtersprüche wurden vom Hofe kommandiert, Häftlinge in den Gefängnissen auf königliches Geheiß ermordet; noch 1898, nach dem Attentat auf Milan Obrenović rettete nur ausländischer Einspruch den oppositionellen Parteiführern das Leben. Und dieses Regime, despotisch im Innern, war zudem noch knechtisch nach außen. Unter Milan Obrenović war Serbien zum Vasallenstaat Österreich-Ungarns geworden, als Preis für den Schutz ihres schamlosen Despotismus im Innern entsagten Milan und Alexander jeder Selbständigkeit gegenüber dem mächtigen Nachbarn. Aber indessen lasen junge Menschen mit leuchtenden Augen und brennenden Wangen die große Geschichte des italienischen Risorgimento. Sie lasen, daß auch Italien einst zerstückelt, zerteilt, von Habsburg beherrscht war. Und sie träumten davon, daß Serbien für die Jugoslawen zu leisten berufen sei, was Piemont für Italien geleistet hat. Noch war es ohnmächtige Idee, lächerlich fast der furchtbaren Wirklichkeit gegenüber. Aber die Idee wurde zur Gewalt.

Mit dem Jahre 1903 begann die jugoslawische Revolution. Der Aufstand in Mazedonien, der Sturz der Dynastie Obrenović in Serbien und der Sturz Khuen-Hedervárys in Kroatien – das sind die drei Ereignisse, mit denen die revolutionäre Umwälzung einsetzte.

Der blutige Bandenkrieg, den die bulgarischen, serbischen und griechischen Komitatschi in Mazedonien gegeneinander führten, hatte die Türkei schließlich gezwungen, den Banden mit eiserner Faust entgegenzutreten. Mit blutigen Gewalttaten rächte Abdul Hamid die Opfer des Bandenkrieges. Die Banden, die eben noch im Kampfe gegeneinander gestanden waren, vereinigten sich nun gegen die Türken. Und sobald sie sich gegen die verhaßten Feudalherren wandten, fanden sie die Unterstützung der Bauern. So endete der Bandenkrieg im Jahre 1903 in einer revolutionären Erhebung Mazedoniens gegen die Türkenherrschaft. Nun griffen die Großmächte ein. Rußland, in der Mandschurei beschäftigt, verständigte sich im Oktober 1903 in Mürzsteg mit Österreich-Ungarn über ein Reformprogramm für Mazedonien. Europäische Gendarmerie stellte die Ruhe im Lande notdürftig wieder her. Aber die Balkanfrage war von neuem aufgerollt.

In demselben Jahre hatte in Serbien Alexander Obrenović die Verfassung aufgehoben und eine neue Verfassung oktroyiert. Dem Staatsstreich des Königs antwortete die Militärrevolution. Alexander und Draga wurden ermordet, Peter Karadjordjević zum König gewählt. Trotz der orientalischen Formen war es eine echte Revolution: der Absolutismus war gebrochen, der kleinbürgerlich-bäuerliche Radikalismus erlangte die Herrschaft, eine demokratische Verfassung wurde geschaffen. Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit waren gewonnen. Das neue Regime suchte das Land von dem Abhängigkeitsverhältnis zur Habsburgermonarchie zu befreien. Aber eben damit geriet es sehr bald in Konflikt mit Österreich-Ungarn. 1906 bot die Habsburgermonarchie Serbien die Erneuerung des Handelsvertrages nur unter der Bedingung an, daß es auf die Ausfuhr von Lebendvieh nach Österreich verzichte und sich verpflichte, Eisenbahnmaterial und Geschütze nur aus Österreich zu beziehen; als Serbien das Diktat ablehnte, sperrte die Habsburgermonarchie den serbischen Agrarprodukten ihre Grenzen. Der Zollkrieg traf die serbische Bauernschaft furchtbar schwer. Und als Serbien in einer Zollunion mit Bulgarien den Ausweg aus unerträglicher wirtschaftlicher Hörigkeit zu finden hoffte, erhob Österreich-Ungarn auch dagegen drohend Einspruch. Nun verschärften sich die Gegensätze zwischen Serbien und Österreich-Ungarn sehr schnell.

Aber auch den Jugoslawen in Österreich-Ungarn hatte das Jahr 1903 eine Wendung gebracht. Das korrupte Gewaltregime Khuen-Hedervárys in Kroatien war schließlich unhaltbar geworden. Zugleich aber hatte der Ausbruch des letzten großen Konflikts zwischen der habsburgischen Königsgewalt und der magyarischen Grundherrenklasse im jugoslawischen Volk neue Hoffnungen erweckt. Der Kampf um die Kommandosprache der ungarischen Truppenkörper war zum Entscheidungskampf darum geworden, ob die Krone oder das ungarische Adelsparlament über die bewaffnete Macht verfügen solle. Am 16. September 1903 erließ Franz Joseph den Armeebefehl von Chlopy; er werde sich nie „der Rechte und Befugnisse begeben, welche dem Obersten Kriegsherrn verbürgt sind. Gemeinsam und einheitlich, wie es ist, soll Mein Heer bleiben“. Vergebens versuchte im ungarischen Parlament Stephan Tisza den Widerstand der Unabhängigkeitspartei gegen die militärischen Forderungen des Königs zu brechen; die Neuwahlen vom Jahre 1905 brachten den koalierten Unabhängigkeitsparteien die Mehrheit, das Parlament verweigerte Steuern und Rekruten, die Komitate hoben die Steuern nicht ein. Da nahm die Krone den Kampf auf: im Juni 1905 wurde die „Trabantenregierung“ Fejérváry gebildet, im Februar 1906 ließ sie das Parlament von einer Kompagnie Honvéd auseinanderjagen. Die ganze Verfassung der Habsburgermonarchie war ins Wanken geraten. Kroaten und Serben hofften die schwere Reichskrise für ihre Sache ausnützen zu können. Am 2. Oktober 1905 traten Abgeordnete aus Kroatien, Dalmatien und Istrien in Fiume zusammen und beschlossen jene berühmte, von dem Dalmatiner Trumbić verfaßte Resolution, die die Grundlinien der neuen jugoslawischen Politik festsetzte. „Kroaten und Serben“, so hieß es nun, „sind durch Blut und Sprache eine Nation.“ Auch diese Nation habe wie jede andere „das Recht, frei und unabhängig über ihre Existenz und ihr Schicksal zu entscheiden“. Auf dieser Grundlage boten Kroaten und Serben den um die Unabhängigkeit kämpfenden Parteien Ungarns ein Bündnis gegen die „Wiener Kamarilla“ an.

Die Fiumaner Resolution zeigte an, welch tiefe Wandlung sich im Denken der Südslawen vollzogen hatte. Daß sich Kroaten und Serben, deren Gegensätze die magyarische Herrschaft jahrzehntelang ausgenützt hatte, um beide zu beherrschen, für eine Nation erklärten; daß beide sich in der schweren Reichskrise nicht wieder, wie 1848, an die Seite Habsburgs gegen ihre magyarischen Bedrücker, sondern an die Seite ihrer magyarischen Gegner stellten, zeigte zum ersten Male, daß die Südslawen nur noch von der schwersten Erschütterung des Habsburgerreiches ihre nationale Befreiung erhofften. In der Tat war ihre Allianz mit dem magyarischen Adel, die sie in diesen Tagen schlossen, keineswegs fruchtlos. Zwar schloß der magyarische Adel, durch die Drohung der Krone mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht erschreckt, schon im Mai 1906 mit der Krone wieder Frieden. Aber die ungarische Koalition, die nun unter der Regierung Wekerle zur Macht kam, mußte ihren kroatischen und serbischen Verbündeten doch ein Zugeständnis machen. Zum ersten Male wurde ein kroatischer Sabor ohne Regierungsdruck gewählt. Ungarn konnte Kroatien nun nicht mehr durch einen gefügigen Sabor regieren lassen; lebte der Gegensatz zwischen Ungarn und Kroatien wieder auf, so mußte er die Gestalt eines Konflikts zwischen dem Banus und dem Sabor annehmen und damit zum Verfassungskonflikt werden. Das geschah in der Tat sehr bald. Als die ungarische Regierung im Jahre 1907 die Magyarisierungspolitik auf den kroatischen Eisenbahnen wieder aufnehmen wollte, setzte sich der Sabor kräftig zur Wehr. Dem Banus Baron Rauch blieb nichts übrig, als den Sabor zur Seite zu stoßen und unverhüllt absolutistisch zu regieren.

Indessen aber hatte die Bewegung schon einen neuen Anstoß gewonnen. Nach dem Russisch-Japanischen Kriege hatten sich England und Rußland einander genähert. Der gemeinsame Gegensatz gegen die deutsche Schutzherrschaft über die Türkei und die gemeinsame Bedrohung durch die Gärung in der mohammedanischen Welt, die in Persien schon 1906 zu revolutionärem Ausbruch geführt hatte, hatte die beiden Mächte einander nähergebracht. Tölpelhaft förderte Ährenthal ihre Annäherung durch einen Vorstoß auf dem Balkan: die österreichisch-ungarische Konzession für den Bau der Sandschakbahn (Jänner 1908) rief nicht nur den Protest Italiens und Serbiens hervor; sie gab auch Rußland den Anlaß, die Vereinbarung: von Mürzsteg für aufgelöst zu erklären. Der alte Gegensalz zwischen Rußland und Österreich-Ungarn lebte nun von neuem auf und gab damit Serbien neue Hoffnung. Rußland aber verständigte sich im Juni 1908 in Reval mit England: die Entente war geschlossen. Ihre erste Tat war ein neues Reformprogramm für Mazedonien. Gegen dieses Programm bäumte sich das Nationalgefühl der türkischen Offiziere auf. Am 24. Juli 1908 mußte Abdul Hamid vor der revolutionären Armee kapitulieren. Die jungtürkische Revolution fand in Bosnien und der Herzegowina lauten Widerhall.

Österreich-Ungarn selbst hatte einmal in Serbien Hoffnungen auf die Erwerbung Bosniens und der Herzegowina erweckt. 1869 hatten Andrássy und Kállay Serbien die beiden damals noch türkischen Provinzen versprochen, um dadurch Serbien vom russischen Einfluß loszulösen und um den Gegensatz zwischen Kroatien, das auf diese Provinzen Anspruch erhob, und Serbien zu verschärfen. Aber diese Hoffnungen Serbiens waren bitter getäuscht worden: der Berliner Kongreß, der 1878 die Unabhängigkeit Serbiens anerkannte, ermächtigte zugleich Österreich-Ungarn zur Okkupation Bosniens. Damals schon lehnte sich die Volksleidenschaft in Serbien wild dagegen auf, daß abermals ein südslawisches Land der Fremdherrschaft preisgegeben wurde. Die Habsburgermonarchie regierte seither das Land mit den Methoden eines militärischen Absolutismus. Der kommandierende General schaltete als Vizekönig im Lande. Fremde Beamte – Deutsche, Magyaren, polnische Juden – führten die Verwaltung. Im Lande selbst stützte sich die Monarchie auf den mohammedanischen Adel und hielt sie die feudale türkische Agrarverfassung aufrecht. Diese Fremdherrschaft wurde um so unerträglicher, als sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung und mit der Entwicklung des Schulwesens doch auch in Bosnien ein nationales Bürgertum zu entwickeln begann, das das Leben Belgrads und Agrams mitlebte. Als selbst in der Türkei schon der Absolutismus fiel, wurde er in Bosnien unhaltbar. Nun, erinnerte sich Bosnien, daß es völkerrechtlich immer noch türkische Provinz war, und drohte mit der Beschickung des türkischen Parlaments durch bosnische Abgeordnete.

So stand die Monarchie 1908 schon im Zollkrieg mit Serbien, in schwerem Verfassungskonflikt mit Kroatien, vor gefährlicher Gärung in Bosnien; da entschloß sie sich, durch eine Tat, die ihre Kraft beweisen sollte, die Südslawen einzuschüchtern. Am 5. Oktober 1908 wurde die Annexion Bosniens proklamiert. Nun lohte der Volkszorn in Serbien wild auf. Und Serbien stand diesmal nicht mehr allein. Rußland, England,. Frankreich führten seine Sache. Die Jugoslawen begannen in der Entente ihren Beschützer gegen Habsburg zu sehen.

Im Kampfe gegen den magyarischen Adel hatte die Krone 1905 das allgemeine Wahlrecht für den ungarischen Reichstag gefordert; so hatte sie den Nationen Ungarns Hoffnung auf ihre Befreiung von der magyarischen Adelsherrschaft erweckt. Jetzt erkaufte die Krone die Zustimmung des magyarischen Adels zur Annexion Bosniens mit der Preisgabe der ungarischen Nationalitäten. Die Wahlreform Andrássys erhielt im November 1908 die Vorsanktion der Krone. Im Mai 1912 warf Stephan Tisza die Revolte der ungarischen Arbeiter nieder und zwang eine Wahlreform durch, die die Rechtlosigkeit der ungarischen Nationen verewigen sollte. Damit war wie allen Nationen Ungarns auch den Serben der Wojwodina alle Hoffnung auf die Unterstützung der Krone im Kampfe gegen die ungarische Adelsherrschaft genommen.

Noch unmittelbarer und stärker waren die Wirkungen der Annexionskrise in Kroatien. Als Österreich-Ungarn seine Truppen drohend an der serbischen Grenze zusammenzog; als es durch Kriegsdrohung Serbien. demütigte, erkannte es, wie stark das serbisch-kroatische Einheitsgefühl nun schon geworden war. Die Sympathien nicht nur der Serben, auch eines Teiles der Kroaten in der Monarchie waren nun schon auf Serbiens Seite. Da glaubten Wien und Budapest diesem „Hochverrat“ mit Richtersprüchen beizukommen. Aber der Agramer Hochverratsprozeß führte nur zur furchtbaren Niederlage der Regierung; der Nachweis, daß ihre Beweisurkunden von der k.u.k. Diplomatie fabrizierte Fälschungen waren, fügte zum Haß des jugoslawischen Volkes die Verachtung. Die Widerstandskraft der Nation erstarkte; vergebens bemühte sich der Banus Tomasić, sich durch offenen Terror eine Mehrheit im Sabor zu schaffen. Da alle Bemühungen mißlangen, wurde am 3. April 1912 die kroatische Verfassung suspendiert und unter Cuvaj als „königlichem Kommissär“ die nackte Gewaltherrschaft aufgerichtet.