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Es geht etwas vor in der Welt der Tiere und Pflanzen, dem bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Wo sie können, bewegen sich Tiere wie Pflanzen in Richtung der Pole, um den steigenden Temperaturen und der Trockenheit in ihrem angestammten Lebensraum zu entkommen. Tropische Gebiete verlieren ihre Bewohner, Biber siedeln sich in Alaska an, riesige Fischschwärme verschwinden und tauchen vor fremden Küsten wieder auf. Meeresbewohner stoßen im Schnitt 72 Kilometer pro Jahrzehnt vor, Landbewohner 17 Kilometer. Benjamin von Brackel erzählt spannend und anschaulich von einem Phänomen, das uns zugleich die beeindruckende Anpassungsfähigkeit der Natur vor Augen führt wie auch die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels – nicht zuletzt auch auf den Menschen, an dem die Wanderung der Arten nicht spurlos vorbeigeht.
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Es geht etwas vor in der Welt der Tiere und Pflanzen, dem bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteilwird. Wo sie können, bewegen sich Tiere wie Pflanzen in Richtung der Pole, um den steigenden Temperaturen und der Trockenheit in ihrem angestammten Lebensraum zu entkommen. Tropische Gebiete verlieren ihre Bewohner, Biber siedeln sich in Alaska an, riesige Fischschwärme verschwinden und tauchen vor fremden Küsten wieder auf. Meeresbewohner stoßen im Schnitt 72 Kilometer pro Jahr vor, Landbewohner 17 Kilometer. Benjamin von Brackel erzählt spannend und anschaulich von einem Phänomen, das uns zugleich die beeindruckende Anpassungsfähigkeit der Natur vor Augen führt wie auch die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels – nicht zuletzt auch auf den Menschen, an dem die Wanderung der Arten nicht spurlos vorbeigeht.
Benjamin von Brackel
Benjamin von Brackel, geboren 1982, hat die Deutsche Journalistenschule in München absolviert, Politikwissenschaften in Erlangen und Berlin studiert und gehört heute zu den profiliertesten Umweltjournalisten in Deutschland. Als freier Journalist schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Natur hauptsächlich über den Klimawandel und hat das Onlinemagazin klimareporter° mitbegründet. 2016 wurde er mit dem Deutschen Umwelt-Medienpreis ausgezeichnet.
Benjamin von Brackel
DIE NATUR AUF DER FLUCHT
Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbär trifft – Wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt
Mit Illustrationen von Inka Hagen
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Im folgenden Text haben wir uns für die Verwendung des grammatischen, generischen Maskulinums entschieden. Nichtsdestotrotz sind, soweit nicht eindeutig anders angegeben, in allen Personen-Gruppen und Bezeichnungen weibliche, männliche, non-binäre und fluide Personen mit eingeschlossen.
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Originalausgabe 05/2021
Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz
Illustration: Inka Hagen
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-26789-6V001
www.heyne.de
Für Oliv
Inhalt
Prolog: Aufbruch
I. Die Arktis schrumpft
Kapitel 1: Jäger
Kapitel 2: Gejagte
Kapitel 3: Regimewechsel im Ozean
Kapitel 4: Wo sind die Wale?
II. Bewohnerwechsel in der gemäßigten Zone
Kapitel 5: Abwanderung der Brotfische
Kapitel 6: Wettlauf mit den Wärmebändern
Kapitel 7: Der Wald setzt sich in Bewegung
Kapitel 8: Invasion der Tropenmücken
Kapitel 9: Das Hummelparadox
Kapitel 10: Bedrohtes Kulturgut: Japan und sein Kelp
III. Exodus aus den Tropen
Kapitel 11: Ein dunkles Geheimnis
Kapitel 12: Der Auszug der Korallen
Kapitel 13: Abrupte Regimewechsel
Kapitel 14: Der Bergwald klettert nach oben
Kapitel 15: Aufzug ins Aussterben
Kapitel 16: Vom Regenwald zur Savanne
IV. Lösungen
Kapitel 17: Neustart: Versöhnung mit der Natur
Epilog: Ende der Illusionen
Dank
Anmerkungen
Prolog
Aufbruch
Südkalifornien, vor der Jahrtausendwende
Es hätte nicht harmloser beginnen können. In den San-Ysidro-Bergen nahe der mexikanischen Grenze spreizt ein Scheckenfalter seine Flügel und präsentiert ein Muster aus roten und schwarzen Einsprengseln. Dann hebt er ab, wird von einem Windstoß erfasst und Hunderte Meter den Berg hinaufgetragen.
Sein Schicksal scheint besiegelt, als er dort oben landet. Denn wie ihm ist es schon seit Jahrtausenden Unzähligen seiner Artgenossen ergangen, die der Zufall in Richtung Gipfel verweht hatte. Alle sind gestorben, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Die Evolution hat es nämlich so eingerichtet, dass Euphydryas editha nur in einem schmalen Temperaturfenster gedeiht. Entfernt sich die Art zu weit von ihrem gewohnten Klima, kann sie nicht überleben.
Mit unserem Scheckenfalter, einem Weibchen übrigens, passiert nun allerdings etwas Erstaunliches: Er lebt weiter. Mit den Geruchsorganen an Beinen und Fühlern erschnüffelt er an dem fremden Ort Wildblumen, an deren Blattunterseite er Dutzende Eier ablegt, die er seit Wochen mit sich herumgetragen hat. Dann vollziehen sich die Stadien der Verwandlung: Raupen schälen sich heraus, fressen und verpuppen sich und verwandeln sich in neue Schmetterlinge.
Eine neue Kolonie ist gegründet.
Warum aber waren all die Vorfahren von Euphydryas editha daran gescheitert, den höher gelegenen Ort zu kolonisieren, während es unserem Exemplar nun gelang? Es war schließlich weder raffinierter noch stärker oder anpassungsfähiger als alle anderen.
Wenn es sich selbst nicht grundlegend verändert hatte, um in der neuen Umwelt zu bestehen, dann musste sich die Umwelt grundlegend verändert haben.
Und so war es auch.
Ungewöhnliches Verhalten
Sydney, Macquarie-Universität, Juni 1998
Es klopfte an der Tür. Lesley Hughes blickte von ihrem Schreibtisch auf und sah, wie ein Kopf mit Rauschebart und lichtem Haupthaar im Türrahmen ihres Büros auftauchte: ein älterer Kollege aus dem Institut für Biologie. Er fragte, ob Hughes den Eröffnungsvortrag auf der Jahresversammlung der Gesellschaft für Artenschutzbiologie halten wolle. Diese renommierte Konferenz sollte erstmals außerhalb Nordamerikas stattfinden, an der Macquarie-Universität im Norden Sydneys, wo die damals Achtunddreißigjährige lehrte und forschte.
Hughes fühlte sich geehrt, durfte sie doch zum ersten Mal in ihrer noch recht jungen Karriere vor Experten aus aller Welt sprechen. Sie würde, so kalkulierte die Biologin, einfach über das berichten, was sie seit ein paar Jahren ohnehin schon beschrieben hatte: wie sich der Klimawandel in Zukunft auf Tier- und Pflanzenarten auswirken könnte. Sie hatte zum Beispiel durchgespielt, wie Eukalyptusbäume in Australien reagieren würden, sollten sich die Klimazonen eines Tages verschieben. Aber das war Zukunftsmusik.
Dennoch nahm sie sich aktuelle Studien aus anderen Erdteilen vor, sie wollte ja vorbereitet sein. Nach einiger Recherche stieß die Australierin auf etwas Irritierendes: Eine Handvoll Arbeiten aus namhaften Journalen beschrieben höchst ungewöhnliches Verhalten einer Reihe von Arten. Das waren keine Vorhersagen mehr, sondern Beobachtungen.
Hughes las von Farnen, die sich auf Alpengipfeln in Europa ausbreiteten. Von mexikanischen Wühlmäusen im Südwesten der USA, die eine Vielzahl ihrer Habitate verlassen und Gebiete weiter im Norden kolonisiert hatten. Und von der Gelbfiebermücke, die erstmals auf einer Höhe von 2200 Metern in Kolumbien gesichtet worden war.
Je mehr sie recherchierte, desto mehr Beispiele fielen ihr in die Hände: Abseits der Küste Kaliforniens fand ein regelrechter Austausch der Fischgemeinschaften statt. Während die Bestände der Kälte liebenden Arten abnahmen, nahmen jene der Wärme liebenden Arten aus dem Süden zu. In Großbritannien zogen Vogelarten dauerhaft nach Norden, ebenso in den USA. Dort hatten sich außerdem Populationen eines Scheckenfalters namens Euphydryas editha um ganze zwei Breitengrade in nördliche Richtung verschoben und waren die Berge hinaufgeklettert.
Hughes sah sich diese Studie aus dem Fachjournal Nature genauer an, denn sie hob sich von den anderen ab, was Aufwand, Datenmenge und Sorgfalt der Erhebung betraf. 1996 war sie erschienen, verfasst von einer jungen US-Biologin namens Camille Parmesan. In wahrer Detektivarbeit hatte diese ein ganzes Jahr lang Museen im Westen Amerikas abgeklappert, um anhand der historischen Aufzeichnungen festzustellen, wo sich der Schmetterling in den letzten hundert Jahren aufgehalten hatte. Anschließend bereiste sie diese Orte selbst, um zu überprüfen, ob die Populationen dort noch existierten. Nach viereinhalb Jahren hatte die Wissenschaftlerin von der Universität Texas über hundertfünfzig Orte in einem Streifen an der Westküste von Mexiko bis Kanada abgeklappert. Unter anderem die San-Ysidro-Berge nahe der mexikanischen Grenze. Das Ergebnis: In Mexiko und dem Süden der USA waren viele Populationen verschwunden, im Norden der USA und Kanadas hingegen nur sehr wenige. Das Zentrum der Verteilung hatte sich um fast 100 Kilometer nach Norden und um über 100 Meter in die Höhe verschoben. Möglicherweise dienten die feinfühligen Schmetterlinge damit als Bioindikatoren für die globale Erwärmung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studie noch nicht nachgewiesen worden war. Für einen »überzeugenden Beweis« brauche es allerdings mehr solcher Studien, schrieb Parmesan, mit anderen Arten und aus anderen Regionen.
Lesley Hughes brachte das zum Staunen, denn genau solche Studien hielt sie nun in ihren Händen. Ihr war bewusst, dass manche von ihnen wissenschaftliche Schwächen aufwiesen oder nur Momentaufnahmen waren. Für die Verschiebung der Habitate konnte es alle möglichen Gründe geben, etwa Ausreißerjahre, in denen die Witterung besonders gut oder schlecht gewesen war. Schließlich verschieben Tiere und Pflanzen ständig ihren Aufenthaltsort, wenn auch eher zufällig. Auch denkbar, dass der Mensch die Arten vertrieben hatte, indem er Flächen besetzte oder Umweltgifte verteilte. Allerdings gaben ihr die Vielzahl der Arbeiten und die Gleichzeitigkeit, in der sich die beschriebenen Verlagerungen abspielten, dann doch zu denken. Alles deutete auf ein Muster hin.
Irgendwann erlaubte sich Hughes, die Frage zu stellen: »Zeigt sich das Signal bereits?«
Das Signal
Washington D.C., 1985
Die Idee war ihm unter der Dusche gekommen. Dort hatte er oft die besten Einfälle. Robert Peters, von Freunden und Kollegen Rob genannt, hatte gerade seinen Biologieabschluss an der Universität Princeton in der Tasche und seinen ersten Job in der Hauptstadt bei einer kleinen Naturschutzorganisation namens Conservation Foundation begonnen. Für diese sollte er nun einen Aufsatz über den idealen Zuschnitt von Naturschutzgebieten schreiben. Im ganzen Land diskutierte die Umweltschutzszene: Ist es besser, ein großes Naturschutzgebiet zu haben oder doch lieber viele kleine?
Was wie eine nebensächliche Frage klingt, die eine kleine Gruppe von Experten beschäftigt, war alles andere als das. Diese Frage hatte aktuelle Relevanz: Auf der ganzen Welt schrumpften die Lebensräume für Tiere und Pflanzen, weil sich der Mensch immer weiter ausbreitete. Mehr und mehr Habitate waren umgeben von Städten und Ackerflächen oder zerschnitten von Straßen und Kanälen. Sie glichen Inseln im Meer.
Deshalb war es kein Zufall, dass sich Biologen wie Peters aus den Erkenntnissen der sogenannten Insel-Biogeografie bedienten, einem Fachgebiet, das sich mit der Frage beschäftigt, wie sich Arten auf Inseln entwickeln und wie sie aussterben. Grob gesagt kamen sie zu dem Schluss, dass Inseln umso weniger Arten beherbergen, je weiter sie vom Festland entfernt liegen und je isolierter und kleiner sie sind. Entscheidend für die Artenvielfalt ist schließlich der Austausch.
Das ließ sich auch auf fragmentierte Gebiete an Land übertragen: Waldstücke oder Naturschutzgebiete zum Beispiel. Damit hatten die Biologen eine neue Möglichkeit in der Hand, um zu berechnen, wie schnell die Arten dort aussterben werden.
Peters versank mit seinen Überlegungen regelrecht in der Materie, ehe er per Zufall auf ein weiteres Phänomen stieß, das die isolierten Lebensräume zu einem noch viel größeren Problem für die Arten machen sollte, als sie es ohnehin schon waren. Was als Schutzraum gedacht war, könnte sich auf lange Sicht als Falle herausstellen.
Unter der Dusche erinnerte sich Peters an einen Science-Artikel, der ihm in die Hände gefallen war. In diesem hatten NASA-Wissenschaftler die möglichen Auswirkungen des Treibhauseffekts beschrieben, eines Phänomens, über das noch kaum jemand sprach, und wenn, dann als Erscheinung der fernen Zukunft. Von sich verschiebenden Klimazonen schrieben die Wissenschaftler, welche ganze Landschaften in Nordamerika und Zentralasien in Wüsten verwandeln und den westantarktischen Eisschild abschmelzen lassen würden.1
Peters malte sich aus, was mit den Lebewesen in den Naturschutzgebieten passieren würde, wenn sich eines Tages die Klimazonen vom Äquator in Richtung beider Pole verschieben sollten. Und mit ihnen die Vegetationszonen. Dann, so wurde ihm klar, würden die Bedingungen für viele Arten schlagartig nicht mehr stimmen. Wer sich nicht anpassen konnte, würde zugrunde gehen. Es sei denn, den Arten würde es gelingen, abzuwandern. Aber wohin? Aus den Naturschutzgebieten heraus?
»Mein Gott«, dachte sich Peters, während das Wasser auf ihn herabprasselte. »Das wird furchtbar!«
»Eine lächerliche Idee«
Der Umweltschützer suchte die nächstgelegene Bibliothek auf. Er wollte wissen, was die Wissenschaft in den vergangenen Jahren zu diesem drohenden Problem herausgefunden hatte.
Er fand nichts.
Dann unterhielt er sich mit Artenschützern.
Keiner wusste etwas darüber. »Es wurde mir ziemlich schnell klar, dass niemand jemals darüber nachgedacht hatte«, erzählt Peters rückblickend. »Ich fühlte mich, als würde ich auf einem Gehsteig einen Zwanzig-Dollar-Schein finden, während alle Menschen daran vorbeilaufen und keiner ihn aufhebt.«
Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er sich.
Peters wusste, dass er an etwas Großem dran war, etwas, das ihn im heutigen Licht als Visionär erscheinen lässt, gehören doch apokalyptische Bilder von Kängurus, die durch verkohlte Wälder in Australien hüpfen, inzwischen genauso zu unserem Alltag wie ausgeblichene Korallenriffe oder Elche, die, übersät von Zecken, in kanadische Supermärkte einfallen.
Peters suchte deshalb Bob Jenkins auf, den Chefwissenschaftler von Nature Conservancy, einer der größten Naturschutzorganisationen der USA, die ihren Sitz ebenfalls in Washington, D.C. hat, in der Nähe des Weißen Hauses. Dieser hörte sich an, was der junge Biologe zu sagen hatte. Von seiner Antwort, die dann folgte, blieben Peters zwei Sätze im Kopf hängen.
»Eine lächerliche Idee.« Und: »Für den Artenschutz vollkommen wertlos.«
Diese Reaktion zeigte selbst bei einem Dickkopf wie Peters Wirkung: Der junge Uni-Absolvent, erst am Anfang seiner Karriere, war eingeschüchtert. Er stand als Spinner da. Trotzdem ließ ihn die Idee nicht mehr los. Er verliebte sich geradezu in sie. Also bat er eine befreundete Kollegin, die Ökologin Joan Darling, ihm bei seinem Fachartikel zu helfen. Sie wusste im Gegensatz zu ihm, was nötig war, um ihn zu publizieren. Und was als Erstes nötig war: mehr Informationen.
Diese fand er in der tiefen Vergangenheit. In der Arbeit von Forschern, die sich mit Vorliebe am Grund von Seen oder Mooren durch schlackige Sedimentschichten wühlen. Dort suchen Paläobiologen nach fossilem Blütenstaub. Bis zu hunderttausend Pollenkörner finden sich allein in einem Kubikzentimeter Seesediment.2 Für die Fossilienforscher ist das ein wahrer Schatz, der einen Blick weit zurück in die Geschichte des Lebens gewährt.
Durch besondere Lasermikroskope betrachten sie Pollen in drei Dimensionen. Aus ihrer Form können die Forscher auf die Gattung schließen, von der die Pollen abstammen, manchmal sogar auf die Art. Mehr noch: Sie können bestimmen, wann und wie viele Exemplare einer bestimmten Pflanzenart in der Erdgeschichte gewachsen sind. Denn jedes Jahr lagert sich auf dem Seegrund eine neue Sedimentschicht ab. Weil aber diese im Sommer anders gefärbt ist als im Winter, bilden sich ähnlich wie bei Bäumen Jahresringe. Aus diesen sogenannten Warven können die Paläoontologen Rückschlüsse auf frühere Klimaschwankungen ziehen, aber auch darauf, wie die Pflanzen darauf reagiert haben: Wie schnell breiteten sie sich über die Jahrtausende aus oder zogen sich zurück?
Diese Chronik der Erdgeschichte berichtete Peters von einem wiederkehrenden, archaischen Phänomen: Ungefähr alle hunderttausend Jahre setzt auf der Erde eine Warmzeit ein, die jede Tier- und Pflanzenart aktiviert und das Leben auf unserem Planeten neu verteilt. Scheinbar in stiller Übereinkunft begibt sich eine Art nach der anderen an Land und im Meer auf Wanderschaft: Insekten und Vögel, Amphibien und Reptilien, Säugetiere und Fische. Sogar Bäume. Massenhaft streben sie in Richtung der Pole, die Ozeane hinab und die Berge hinauf. Sie nutzen dabei den Raum, den ihnen die zurückweichenden Gletscher- und Eismassen überlassen. Wandelt sich das Klima erneut und kühlt sich ab, ziehen sich die Arten wieder zurück. Sie folgen einer unwiderstehlichen Kraft, die sie abwechselnd anzieht und wieder abstößt. Wie ein Tanz über den Planeten, den seine Bewohner im Laufe der letzten 2,6 Millionen Jahre Dutzende Male aufgeführt haben.
Schon Darwin hat das Phänomen vor über hundertfünfzig Jahren beschrieben: »Als die Eiszeit zurückwich und in beiden Hemisphären nach und nach wieder ihre vorigen Temperaturen herrschten, wurden die Formen der nördlichen gemäßigten Zonen, die im Tiefland am Äquator leben, in ihr früheres Habitat gedrängt oder vernichtet und von den aus dem Süden zurückkehrenden äquatorialen Formen ersetzt«, heißt es in Über die Entstehung der Arten.3
Aus Schutzgebieten werden Gefängnisse
Eines sprang Robert Peters bei der Recherche regelrecht ins Auge: Die Wanderung der Bäume lief mindestens eine Größenordnung langsamer ab als die Wanderung der Klimazonen. Mit anderen Worten: Viele Bäume blieben hoffnungslos zurück. Sie waren einfach zu langsam.
Auch für Tiere lagen den Paläobiologen Informationen vor. Für Bienen zum Beispiel, deren Chitinhüllen manchmal selbst über Jahrtausende im Sediment erhalten geblieben waren; ebenso wie die Knochen kleiner Säugetiere. Ihre Überreste offenbarten, dass viele Tiere zwar deutlich schneller auf die Klimaschwankungen reagieren konnten als Pflanzen, nur nutzte ihnen das nichts, wenn an den neuen Orten die Pflanzen fehlten, die sie zum Überleben brauchten.
Peters suchte nach Schere, Klebeband und Pinzette, um ein Schaubild zu basteln (Computer waren damals noch nicht weitverbreitet). Das erste Bild zeigte ein x-beliebiges Schutzgebiet, das er mit Schraffur unterlegte – das natürliche Verbreitungsgebiet einer Art. Das zweite Bild zeigte das Schutzgebiet immer noch innerhalb des schraffierten Bereichs, nun aber umgeben von weißen Flächen – Siedlungen und Anbauflächen von Menschen.
Auf dem dritten Schaubild befand sich das Schutzgebiet nun außerhalb der schraffierten Zone, also dem klimatischen Grenzbereich, in dem die Arten überleben können. Peters folgerte: »Die Konsequenzen wären am düstersten für all jene, die auf bestimmte Gebiete beschränkt sind oder die Charakteristiken von Arten teilen, die auf bestimmte Gebiete beschränkt sind, also eine begrenzte Reichweite haben, kleine Populationen und genetisch isoliert sind.«
Das hieß: Ausgerechnet die Schutzgebiete von heute würden zu den Gefängnissen von morgen werden.
Selbst wenn Arten die Möglichkeit hatten, den Klimazonen hinterherzuwandern, würde sich ihre Situation grundlegend verändern. Denn eine Artengemeinschaft wandert nicht geschlossen ab und besiedelt als Einheit einen neuen Ort, so wie Darwin es sich noch vorgestellt hatte. Einzelne Arten, ja selbst Individuen einzelner Populationen, stoßen mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit in neue Habitate vor, fanden Paläobiologen mittels der Pollenanalyse heraus.4 Die Folge: Die Artengemeinschaften, wie wir sie heute kennen, brechen in ihre einzelnen Bestandteile auseinander. Manche Arten sterben aus, andere können an neuen Orten überleben. Die Artenverbünde auf der Erde, so wurde Peters klar, sind nichts als vorübergehende Zweckgemeinschaften. Wie in einer WG, die sich immer wieder neu zusammensetzt.
Das aber stand der vorherrschenden Theorie der Sukzession entgegen, wonach die Natur nach der Beseitigung einer Störung (wie Sturmschäden) oder menschlichen Eingriffen (wie eine Waldrodung) irgendwann wieder in ihren Ursprungszustand zurückfindet. »Die Leute dachten in diesem deterministischen Sinne, dass alles mehr oder weniger statisch ist«, erzählt Peters im Rückblick. »Was wir hier als stabile Gemeinschaften betrachten, sind in Wirklichkeit Artefakte früherer Klimaereignisse.«
Welche Arten zusammenleben, hängt also stark vom Zufall ab. »Für mich war das ein aufregender und Furcht einflößender Gedanke«, sagt Peters. »Alles konnte sich verändern.«
Und genau das stand schon bald wieder bevor, begann sich doch erneut das Klima auf der Erde zu wandeln, nachdem der Mensch einen Großteil der fossilen Energieressourcen des Planeten ausgebeutet und verbrannt sowie unzählige Wälder gerodet hatte.
Nachdem Peters und Joan Darling ihren Artikel bei BioScience eingereicht hatten, meldete sich ein Redakteur des Fachjournals. Er war interessiert. Aber weil die Gedanken so neu waren, wurden gleich elf Gutachter hinzugezogen, um den Artikel zu prüfen.
Wochen später erhielten sie wieder Antwort: Alle elf Gutachter hatten den Artikel abgelehnt. Die Begründung: Er sei einfach zu spekulativ. »Im Grunde glaubte niemand daran«, erzählt Peters. Es gab aber Ausnahmen. Tom Lovejoy zum Beispiel, der als Vater des Begriffs »Biodiversität« gilt. Oder der Redakteur des Fachjournals, der den Artikel dem Widerstand der Gutachter zum Trotz veröffentlichte.
Und so kann sich Peters zumindest nicht den Vorwurf machen, die Welt nicht gewarnt zu haben. Im Dezember 1985 erschien The Greenhouse Effect and Nature Reserves: Global warming would diminish biological diversity by causing extinctions among reserve species in der neuen Ausgabe von BioScience, prominent platziert zwischen einem Artikel von Edward O. Wilson, dem Vater der modernen Insel-Biogeografie, und einem von Michael Soulé, dem Begründer der Naturschutz-Biologie. Beide Felder hatte Peters verknüpft und damit seine Dystopie von der Flucht der Arten entwickelt, verbunden mit einer Handlungsempfehlung: »Sollte es ein Interesse daran geben, einige Überbleibsel der Artenwelt für das Jahr 2100 und darüber hinaus zu erhalten, dann müssen wir jetzt beginnen, Informationen über die globale Erwärmung, wenn sie verfügbar sind, in den Planungsprozess einzubeziehen.«
Denn spätestens im Jahr 2000, so die Prognose der NASA-Forscher, würde sich das Signal des Klimawandels vom Rauschen der natürlichen Wetterausschläge abheben. Dann würden die allermeisten Arten ihren langen Marsch über den Globus antreten und der globalen Erwärmung eine Gestalt geben. Die sensibelsten unter ihnen vielleicht schon ein paar Jahre früher.
Der Affront
Sydney, Juli 1998
Lesley Hughes war nervös, als sie ans Podium trat. Der in die Jahre gekommene Hörsaal der Macquarie-Universität war mit siebenhundert Zuhörern aus aller Welt zum Bersten voll. Neben ihr auf der Bühne saßen Professoren der Universität Oxford, vom Max-Planck-Institut aus Marburg und von der Rutgers-Universität aus New Jersey. Zumindest wusste Hughes, dass sie die Überraschung ganz auf ihrer Seite haben würde, als sie an diesem 13. Juli 1998 ihre erste Folie auf den Overheadprojektor legte.
Sie leitete ihren Vortrag mit ein paar allgemeinen Bemerkungen ein. Dann ließ sie die Bombe platzen: Eine ganze Reihe kürzlich erschienener Analysen von Langzeitdaten lege nahe, dass einige Arten bereits auf die Anomalien des Klimas reagierten. Das hieß: Die Artenwanderung hatte begonnen.
Hughes berichtete von einem Dutzend Fälle, auch von dem kleinen Scheckenfalter im Westen Amerikas, dessen Wanderung Camille Parmesan beschrieben hatte. Bislang seien das lediglich Beispiele einzelner Habitatverschiebungen von Arten. Allerdings erscheine es unvermeidlich, dass sich diese einzelnen Reaktionen zu einer ganzen Kaskade auswachsen und in zunehmendem Maße die Zusammensetzung und Struktur ganzer Artengemeinschaften beeinflussen würden.
Die Biologin forderte ihre Zuhörer zu einem Gedankenexperiment auf. Jeder sollte die Arten, mit denen er sich befasste, aus einem neuen Blickwinkel betrachten. »Was passiert, wenn eure Arten auf den Klimawandel reagieren?«, fragte sie. »Was würde es für eure Forschung bedeuten, wenn eure Arten beginnen, mehrere Hundert Kilometer abzuwandern?« Denn es galt nun herauszufinden, ob sich noch viel mehr Tiere und Pflanzen auf den Weg gemacht hatten oder das in naher Zukunft tun würden.
Diese Aufforderung kam einem Affront gleich, einem Angriff auf das Weltbild der Naturschützer. Damals herrschte noch die Vorstellung – und sie sollte sich noch viele Jahre halten –, dass sich die Arten in einem mehr oder weniger stabilen Zustand gegenseitig die Waage halten. Jede Art hatte ihr angestammtes Territorium. Naturschutzgebiete galten deshalb als Maß aller Dinge.
»Wir leben aber nicht in einer Welt des Gleichgewichts«, erklärte Hughes ihren Zuhörern. »Irgendwann sind auch die Nationalparks nicht mehr gut für viele Arten. Die meisten von ihnen müssen wahrscheinlich aus ihnen herauswandern, um in ihren klimatisch bewohnbaren Zonen zu bleiben.«5
Als sie ihren Vortrag im Auditorium der Macquarie-Universität beendet hatte, gab es freundlichen Applaus, hinterher kamen die Leute zu ihr und dankten ihr. »Sie waren höflich«, erinnert sich Hughes im Rückblick. »Aber ich denke nicht, dass die meisten das als bahnbrechend empfanden, was ich gesagt hatte.«
Geburt eines neuen Forschungsfelds
Bis sich neue Gedanken durchsetzen, kann es lange dauern, vor allem bei Naturschützern, deren englische Bezeichnung conservationists nicht zufällig dem Adjektiv conservative gleicht, wie Hughes erinnert. Doch mit ihrer Übersicht von Fallbeispielen, die im Jahr 2000 im Fachblatt Trends in Ecology and Evolution erschien,6 hatte sie nicht weniger als die Geburt eines neuen Forschungsfelds eingeleitet. Ein ganzes Heer von Biologen analysiert seither, wie sich Habitate unterschiedlichster Tier- und Pflanzenarten verschieben. Anfangs war Hughes oft die einzige Biologin auf Konferenzen, die sich mit dem Thema beschäftigte, erzählt sie. Heute kommt es vor, dass sie Konferenzen besucht, auf denen sich alle damit befassen.
Die Wissenschaftler sind tatsächlich ihrer Aufforderung gefolgt: Aus einer Handvoll Beispielen sind in wenigen Jahren Hunderte geworden und zwei Jahrzehnte später Zehntausende.7 Sie alle bestätigen, dass Arten auf der ganzen Welt in Richtung der beiden Pole strömen: von Elefanten bis zu winzigen Kieselalgen im Meer. Landbewohner legen im Schnitt 17 Kilometer pro Jahrzehnt zurück,8 Meeresbewohner sogar 72 Kilometer.9 Entsprechend verschiebt sich das Leben auf der Erdoberfläche um fast 5 Meter pro Tag vom Äquator weg, auf der Nordhalbkugel nach Norden und auf der Südhalbkugel nach Süden. Und in den Meeren um 20 Meter pro Tag.
»Das Überraschende ist, dass wir das auf jedem Kontinent und in jedem Ozean sehen«, erklärte mir die Schmetterlingsforscherin Camille Parmesan, als ich begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen und einen Artikel für Natur und Bild der Wissenschaft darüber zu schreiben. »Es gibt keine Gegend auf der Erde, wo das nicht passiert, und es gibt keine Gruppe von Organismen, die nicht betroffen ist.«
Wie konnte es sein, dass ich nichts davon mitkommen habe? Ich schämte mich ein wenig. Seit 2012 schreibe ich als Umweltjournalist über den Klimawandel. Und trotzdem bin ich erst vor vier Jahren durch einen Zufall auf diese globale Völkerwandung der Arten gestoßen, als ich in einer Studie über die Bemerkung stolperte, dass der Kabeljau im Zuge der Erwärmung der Ozeane nach Norden abwandert. Ich musste den Satz zweimal lesen. Wenn der Kabeljau in kühlere Gefilde wandert, dann machen das ja vielleicht auch noch mehr Fischarten? Womöglich auch Arten an Land? Oder sogar alle Arten?
Die Konsequenzen, die sich für Mensch und Natur ergäben, konnte ich damals nur erahnen; sie schienen mir ziemlich gewaltig. Aber weder von deutschen Naturschützern, die ich fragte, noch aus Zeitungsartikeln erfuhr ich mehr als ein paar Einzelbeispiele. Wie konnte es sein, dass sich gerade eine massive Umverteilung des Lebens auf der Erde abspielt wie seit Zehntausenden von Jahren nicht mehr – und keiner weiß davon? Jedenfalls abgesehen von den Biologen, die dazu forschen.
Ich beschloss, dem Phänomen auf den Grund zu gehen und meine Neugier zu stillen. Dafür habe ich mehrere Hundert wissenschaftliche Studien gesichtet, was sich zugegebenermaßen zu einer kleinen Manie ausgewachsen und mich im Kopierladen um die Ecke zum besten Kunden gemacht hat; aber beinahe jede Studie hat mich eben zu drei noch interessanteren Studien geführt, und so weiter… Ich habe die führenden Vertreter des Forschungsfelds interviewt und mit Fischern und Förstern gesprochen, und ich bin bis zu einem entlegenen Tropenberg nach Peru gereist, um mehr über einen Prozess zu lernen, den Biologen als »die Rolltreppe ins Aussterben« bezeichnen.
In dem Buch, das Sie jetzt in Ihrer Hand halten, will ich Sie auf eine Spurensuche mitnehmen: vom Nordpol bis zu den Tropen, gewissermaßen dem Strom der Artenwanderung entgegen bis zu seiner Quelle. Ich will verstehen, welche Folgen es hat, wenn dieses archaische Massenphänomen auf die moderne Zivilisation trifft und unser gewohntes Leben auf den Kopf stellt. Denn das tut es.
Zum Glück hat die Menschheit Zeit gehabt, sich darauf einzustellen. Fünfzehn Jahre bevor »die Welle« über die Erde losrollte, hatte Robert Peters das Phänomen beschrieben und anschließend auf zahlreichen Konferenzen in den USA und Europa vor seinen Folgen gewarnt. Und sogar noch eine Anleitung mitgeliefert, was zu tun sei: Die Länder der Erde sollten den Ausstoß von Kohlendioxid drosseln, um den Klimawandel so weit wie möglich zu begrenzen, und unterdessen die schwersten Verwerfungen der Erderwärmung auf die Tier- und Pflanzenwelt abfedern, indem sie Naturschutzgebiete neu abstecken und den Arten auf ihrer Wanderung helfen, ihnen also mehr Raum gewähren, oder sie in Gebiete umsiedeln, wo sie überleben können.
Sie ahnen wahrscheinlich schon, was von alldem umgesetzt worden ist. Richtig: nichts.10
Und so konnte das größte Freilandexperiment aller Zeiten, man könnte auch von einer ökologischen Katastrophe sprechen, ungehindert seinen Lauf nehmen.
I
Die Arktis schrumpft
Kapitel 1
Jäger
Utqia‘gvik, Alaska, 2015
Die Ureinwohner der Arktis merken als Erste, wenn etwas auf der Erde aus den Fugen gerät und Gesetze nicht mehr gelten, die über Jahrhunderte Bestand hatten. Sie bewohnen nicht nur eine Erdzone, die sich schneller erwärmt als der Rest des Planeten, sondern haben auch ein Gespür für Veränderungen ihrer Umwelt, da das Überleben vieler Fischer, Rentierhirten und Walfänger seit Urzeiten von der Jagd abhängt. Das gilt für die Sami in Skandinavien genauso wie für die Dolganen und Nenzen in Sibirien oder die Yupik und Iñupiat in Alaska.
Und tatsächlich dringen seit ein paar Jahren Berichte über Anomalien aus dem hohen Norden zu uns. Wie aus Utqia‘gvik, der nördlichsten Stadt Amerikas. Dort leben die Iñupiat seit Generationen von der Jagd auf Grönlandwale. Am 29. Januar 2015 stattete ihnen Henry Huntington einen Besuch ab. Der US-Polarforscher aus Eagle River im Süden Alaskas war mit einer Alaska-Airlines-Maschine gekommen, da alle Straßen aus dem Viertausend-Seelen-Ort hinaus in Sackgassen enden. Erst seit sechs Tagen kroch die Sonne wieder ein wenig über den Horizont hinaus. Zuvor war sie zwei Monate lang in der Polarnacht untergetaucht.
Huntington betrat an diesem frostigen Tag einen lang gezogenen grauweißen Flachbau: das Iñupiat Heritage Center, eine Art Museum, in dem die Geschichte der Iñupiat und ihr Verhältnis zur Natur ausgestellt ist. Dort breitete der Meereisexperte auf einem Holztisch eine Karte Alaskas aus, dessen Nordküste ein Dreieck bildet und an der Spitze einen Punkt trägt: Utqia‘gvik.
Hunderte von Jahren diente der Ort den Iñupiat als Winterlager. Im 19. Jahrhundert begannen sich auch Europäer für diesen Außenposten der Menschheit zu interessieren und errichteten eine Walfangstation.11 Im Laufe der Zeit zog die Siedlung knapp 320 Kilometer nördlich des Polarkreises auch Meteorologen und Biologen an.
So auch Henry Huntington.1988 kam er als junger Absolvent der Princeton University das erste Mal hierher, um Wale zu zählen. Der Job war eine Gelegenheit, die Eis- und Schneewelt kennenzulernen, die er aus seinen Büchern kannte. Im Nachhinein schämt er sich fast, weil er so wenig über die Menschen und die Natur dieser Region wusste. Aber die Walfänger von Utqia‘gvik, so erzählt er, empfingen ihn herzlich. Sie nahmen ihn mit hinaus aufs Eis, wo sie Woche für Woche kampierten und Grönlandwale jagten. Hatten sie einen der Riesen erlegt, zogen sie ihn aufs Eis, um ihn dort auszunehmen und aufzuteilen. Ihre ganze Kultur dreht sich um diesen archaischen Akt.
Huntington war fasziniert – und kam immer wieder. Wie im Januar 2015, als er nacheinander zehn Bewohner des Ortes empfing und auf einem Block mitschrieb, was Willie Koonaloak, John Heffle, Ronaldo Uyeno und die anderen zu erzählen hatten. Am meisten zu erzählen hatten sie über das Meereis, von dem aus sie Robben, Walrosse und Wale jagten.
Das Meereis ist keine statische Fläche, sondern pulsiert wie ein Organismus im Takt der Jahreszeiten. Im Sommer zieht es sich von Süden nach Norden zurück, im Winter breitet es sich wieder aus. Lange Zeit begann das Meer in Utqia‘gvik immer im Oktober zu gefrieren. Zeitgleich kam aus dem Norden das unregelmäßig geformte dicke Mehrjahreseis bis an die Küste gekrochen und verankerte sich dort. Den Bewohnern des abgelegenen Ortes eröffnete sich von einem Tag auf den anderen eine riesige begehbare Fläche.
Das alles gehört nun der Vergangenheit an: Manchmal bis in den Dezember hinein schwappt vor der Küste nur Meerwasser, berichteten die Einwohner gegenüber Huntington, manche mit Schirmmützen und Funktionsjacken bekleidet. Das dicke Packeis würde sich praktisch überhaupt nicht mehr zeigen. Ohne dieses fehlt es dem jungen Eis aber an Halt: Es schwimmt davon und kann sich über den Winter nicht mehr aufbauen. Die Jäger müssen von Jahr zu Jahr mit ihren Booten weiter aufs Meer hinausfahren, um Eis zu erreichen, von dem aus sie ihre Beute erlegen können. Im Frühling wiederum bricht das Eis schon viele Wochen früher auf, was das Betreten und Befahren für die Iñupiat gefährlich macht. Manchmal finden die Jäger kaum noch ebene Eisflächen, die dick genug sind, um die erlegten Grönlandwale zu tragen.
Auch anderswo auf der Welt erkennen die Bewohner der Arktis ihre Heimat nicht wieder. Den Nomaden und Rentierhirten Nordsibiriens muss sie geradezu grotesk erscheinen. Sie berichten davon, wie der Boden unter ihren Füßen nachgibt, wie Hügel in sich zusammenfallen und sich Straßen verformen. Dort, wo sie unter ihren Stiefeln einst harte Erde spürten, strömen nun Flüsse oder erstrecken sich Tausende von Seen, sodass der Boden nur noch wie ein Netz über dem Wasser zu liegen scheint. Der Grund dafür ist unter der Erde verborgen: Insgesamt ein Sechstel des Bodens unseres Planeten ist dauergefroren – ein Relikt aus der letzten Eiszeit. Weil sich die Erde erwärmt, taut das Eis im Boden auf und verwandelt die ganze Landschaft. Und auf dem Meer zieht es sich zurück. Mit anderen Worten: Die Arktis schrumpft.
Doch das ist erst der Auftakt. Denn mit etwas Verzögerung reagiert nun auch die Tier- und Pflanzenwelt auf die Umgestaltung der Landschaft: Sie setzt sich in Bewegung. Massenhaft wandern Pflanzen und Tiere aus dem Süden in die Arktis ein und fordern die dortigen Ökosysteme heraus.
Kein Wunder, dass sich Forscher wie Henry Huntington deshalb besonders für die Ureinwohner der Arktis interessieren. Wenn sie verstehen wollen, wie der Klimawandel das Leben auf der Erde umkrempelt, sind sie auf deren Hilfe angewiesen. Dazu statten sie die traditionellen Jäger mit Digitalkameras aus, mit denen sie alles fotografieren sollen, was ihnen merkwürdig erscheint. Oder sie lassen sie einfach erzählen.
Es begann mit Berichten über Winter, die nicht mehr so kalt seien wie früher. Dann war die Rede von Sträuchern, die sich langsam, aber stetig mit den wärmer werdenden Jahren nach Norden hin ausbreiten und verdichten. Dann folgten die Tiere.
Im Jahr 1995 sprach Huntington im Westen Alaskas mit Stammesältesten der Iñupiat und Yupik über das Verschwinden der Beluga-Wale. Irgendwann, so erinnert er sich, nahm das Gespräch eine überraschende Wendung, und alle redeten nur noch von Bibern.
Huntington musste einen verwirrten Gesichtsausdruck aufgesetzt haben, denn einer der alten Männer lächelte ihn an und fragte: »Siehst du die Verbindung nicht?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Die Biberpopulationen nehmen in der Gegend zu«, erklärte der alte Mann. »Sie stauen Flüsse. Und das hat Einfluss auf die Fische. Fische wandern den Fluss hinauf, um zu laichen, aber später wandern sie wieder zurück ins Meer, wo sie leben. Und an den Flussmündungen warten die Belugawale auf die Fische.«
Im Nachhinein sieht Huntington darin frühe Vorzeichen des Wandels; eines Wandels, der schon heute die Ökosysteme der Arktis in Unordnung stürzt und selbst so stoische Gemeinschaften wie die Bewohner von Utqia‘gvik an den Rand der Verzweiflung bringt.
Ankunft eines neuen Säugetiers
Fairbanks, im Hinterland Alaskas, März 2017
Ken Tape blickte auf seinem Computerbildschirm von Satellitenbild zu Satellitenbild. Auf einer seiner Expeditionen in die arktische Wildnis hatte der Ökologe vom Geophysikalischen Institut der Universität Alaska dieses Gerücht aufgeschnappt: Ein neues Säugetier soll begonnen haben, die Arktis zu kolonisieren.
Bei einer Aufnahme legte Tape seine Stirn in Falten.
Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigte er sich mit der arktischen Tundra. Lange Zeit hat sich die Landschaft kaum verändert, abgesehen von Sträuchern und kleinen Weiden, die sich dank der wärmeren Witterung ausbreiteten. Aber was Tape hier sah, kam ihm vor, als hätte jemand mit einem Hammer auf die Landschaft eingehauen: Statt regelmäßig geformter Flussläufe, wie sie auf alten Aufnahmen zu sehen waren, zeigten sich nun Mosaike aus Seen, Flussabschnitten und Feuchtgebieten – so wie er es von Gewässern kannte, die Biber aufgestaut haben. Allerdings hatten sich die Nagetiere von der Tundra bislang ferngehalten, es fehlte ihnen schlicht an Nahrung und Baumaterial für ihre Dämme.
Auf hochauflösenden Satellitenbildern, die ein Gebiet von der Größe Sachsens abbilden, fanden Tape und seine Kollegen in den Tagen und Wochen danach sechsundfünfzig Biber-Seen, die es 1999 noch nicht gegeben hatte. »Es gibt kaum einen Zweifel, dass hier ein kleiner, fleißiger Ingenieur am Werk ist und nicht irgendein anderer natürlicher Prozess«, sagt der Ökologe. Anhand der Verteilung der Seen konnten die Forscher sogar berechnen, wie schnell sich der Kanadische Biber entlang der Küsten und Flüsse ausbreitet: Im Schnitt rückt er 8 Kilometer pro Jahr vor. In zwanzig bis vierzig Jahren könnte Castor canadensis das gesamte arktische Alaska besiedelt haben, berichteten sie in einer Studie aus dem Jahr 2018.12
Inzwischen hat Tape Tausende von Seen in der Tundra Alaskas entdeckt, die von den Bibern stammen. Die Nager fällen Bäume, die inzwischen immer weiter im Norden wurzeln, stauen Flüsse und überfluten ganze Landstriche. Weil Wasser Wärme besser überträgt als die Tundravegetation, sorgen Biber auch dafür, dass der dauergefrorene Boden unter und neben ihren aufgestauten Gewässern auftaut. Das könnte in Zukunft Lachse anziehen, mutmaßt der Arktiskenner. Ein anderer Effekt lässt sich aber schon heute erkennen, und er bereitet Tape besondere Sorgen: Große Mengen an Treibhausgasen entweichen aus dem Boden in die Atmosphäre. »Die vielen Seen führen zu einem dramatischen Auftauen des Permafrostbodens.«
Die Biber sind nur die jüngsten Neuankömmlinge. Wenn sich Bäume und Sträucher nach Norden ausbreiten und das Eis schmilzt, verbessern sich die Bedingungen auch für andere Arten, die ohne Zweifel zu den Gewinnern des Klimawandels gehören: Schneehasen, Weißwedelhirsche und Elche, die in die entlegensten Winkel Nordamerikas streben.13, 14 »Das folgt einem Muster, wie wir es seit langer Zeit erwartet haben«, sagt Tape. »Boreale Waldtiere ziehen in die Arktis.«
Verlierer des Klimawandels hingegen sind die alteingesessenen Arten: Moschusochsen, Karibus, Polarfüchse. Sie befinden sich in einer Sackgasse15 – es gibt für sie keinen Ausweg. Während sich vom Süden her Sträucher und Nadelwald ausbreiten, ist ihr Lebensraum im Norden durch den Arktischen Ozean begrenzt. Zwar dürften noch viele Jahrzehnte vergehen, bis ihr Lebensraum endgültig überwachsen ist. Das heißt allerdings nicht, dass sie bis dahin Aufschub bekommen, denn schon vorher stoßen Konkurrenten aus dem Süden in den Norden vor und fordern sie heraus.
Kapitel 2
Gejagte
Polarfuchs auf der Flucht
Lange Zeit war der Polarfuchs ideal an die kalten Bedingungen in der Arktis angepasst. Mit seinen kleinen Ohren und dem weißen Winterfell verliert er kaum Energie und kann sich in einer Schneelandschaft unsichtbar machen. Nur nützt ihm das nichts mehr, wenn der Schnee taut oder von Süden her sein größerer Verwandter – der Rotfuchs – eindringt. Dieser profitiert davon, dass sich die Arktis erwärmt, weniger Schnee fällt und sich Elche, Rentiere und Menschen nach Norden ausbreiten. Damit findet er nicht nur mehr Aas, sondern auch mehr Unterschlupfmöglichkeiten, um der Kälte zu entfliehen.
Schon eine relativ kleine Zahl der größeren und schwereren Rotfüchse genügt, um den Polarfuchs aus weiten Gebieten zu vertreiben, wie Populationssimulationen im Norden Skandinaviens gezeigt haben.16 Dort verschwand Vulpes lagopus fast vollständig: Knapp sechzig erwachsene Tiere gab es um das Jahr 2000 noch.17 Erst mit einem Aufzuchtprogramm der norwegischen Umweltagentur konnte sich der Bestand wieder leicht erholen.18
Ausgerechnet in Russland, dem Land mit den meisten Polarfüchsen der Welt (Schätzungen gehen von bis zu achthunderttausend Tieren aus), konnten Biologen lange keine einzige solche Übernahme beobachten. Bis zum 22. Juli 2007. An jenem Tag begab sich eine Zoologin von der Staatlichen Universität Moskau zu einem Bau von Polarfüchsen auf der Jamal-Halbinsel im Nordwesten Sibiriens. Schon seit einer Woche hatte sie Fuchsmutter und Welpen beobachtet. Doch an diesem Tag änderte sich die Situation: Um kurz nach sechs Uhr abends bemerkte Anna Rodnikova, wie in 100 Meter Entfernung ein Rotfuchs vorbeilief.19Sie sah, dass sich der Rotfuchs nur langsam und mit steifen Schritten der Höhle näherte. Er musste immer wieder Pausen einlegen, um durchzuschnaufen.
Nach einer halben Stunde kehrte auch die Polarfuchs-Mutter von ihrem Streifzug heim. Gegen den Wind näherte sie sich dem Bau, verlangsamte ihre Geschwindigkeit und pirschte sich an – sie hatte ihren Widersacher offenbar gewittert. Auf dem Hügel, einen Steinwurf von Rodnikova entfernt, legte sie sich auf den Erdboden und verharrte dort für zwanzig Minuten, den Blick auf den Eingang der Höhle gerichtet.