Die natürliche Tochter - Johann Wolfgang von Goethe - E-Book

Die natürliche Tochter E-Book

Johann Wolfgang von Goethe

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Beschreibung

Die natürliche Tochter ist ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Johann Wolfgang von Goethe. Zwischen Oktober 1801 und März 1803 entstanden, wurde das Stück am 2. April 1803 in Weimar uraufgeführt und lag im Herbst 1803 im Druck vor. Johann Wolfgang von Goethe, war ein deutscher Dichter und Naturforscher. Er gilt als einer der bedeutendsten Schöpfer deutschsprachiger Dichtung.

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Johann Wolfgang von Goethe

Die natürliche Tochter

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die natürliche Tochter

Personen.

Erster Aufzug

Zweiter Aufzug

Dritter Aufzug

Vierter Aufzug

Fünfter Aufzug

Impressum neobooks

Die natürliche Tochter

Personen.

König

Herzog

Graf

Eugenie

Hofmeisterin

Sekretär

Weltgeistlicher

Gerichtsrat

Gouverneur

Äbtissin

Mönch

Erster Aufzug

Dichter Wald.

Erster Auftritt

König. Herzog.

KÖNIG.

Das flücht'ge Ziel, das Hunde, Roß und Mann,

Auf seine Fährte bannend, nach sich reißt,

Der edle Hirsch, hat über Berg und Tal

So weit uns irr' geführt, daß ich mich selbst,

Obgleich so landeskundig, hier nicht finde.

Wo sind wir, Oheim? Herzog, sage mir,

Zu welchen Hügeln schweiften wir heran?

HERZOG.

Der Bach, der uns umrauscht, mein König, fließt

Durch deines Dieners Fluren, die er deiner

Und deiner Ahnherrn königlicher Gnade,

Als erster Lehnsmann deines Reiches, dankt.

An jenes Felsens andrer Seite liegt

Am grünen Hang ein artig Haus versteckt,

Dich zu bewirten keineswegs gebaut;

Allein bereit, dich huld'gend zu empfangen.

KÖNIG.

Laß dieser Bäume hochgewölbtes Dach

Zum Augenblick des Rastens freundlich schatten.

Laß dieser Lüfte liebliches Geweb'

Uns leis umstricken, daß an Sturm und Streben

Der Jagdlust auch der Ruhe Lust sich füge.

HERZOG.

Wie du auf einmal völlig abgeschieden

Hier hinter diesem Bollwerk der Natur,

Mein König, dich empfindest, fühl' ich mit.

Hier dränget sich der Unzufriednen Stimme,

Der Unverschämten offne Hand nicht nach.

Freiwillig einsam merkest du nicht auf,

Ob undankbare schleichend sich entfernen.

Die ungestüme Welt reicht nicht hierher,

Die immer fordert, nimmer leisten will.

KÖNIG.

Soll ich vergessen, was mich sonst bedrängt,

So muß kein Wort erinnernd mich berühren.

Entfernten Weltgetöses Widerhall

Verklinge, nach und nach, aus meinem Ohr.

Ja, lieber Oheim, wende dein Gespräch

Auf Gegenstände, diesem Ort gemäßer.

Hier sollen Gatten aneinander wandeln,

Ihr Stufenglück in wohlgeratnen Kindern

Entzückt betrachten; hier ein Freund dem Freunde,

Verschloßnen Busen traulich öffnend, nahn.

Und gabst du nicht erst neulich stille Winke,

Du hofftest mir, in ruh'gen Augenblicken,

Verborgenes Verhältnis zu bekennen,

Drangvoller Wünsche holden Inbegriff,

Erfüllung hoffend, heiter zu gestehn?

HERZOG.

Mit größrer Gnade konntest du mich nicht,

O Herr, beglücken, als indem du mir

In diesem Augenblick die Zunge lösest.

Was ich zu sagen habe, könnt' es wohl

Ein andrer besser hören als mein König,

Dem unter allen Schätzen seine Kinder

Am herrlichsten entgegenleuchten, der

Vollkommner Vaterfreuden Hochgenuß

Mit seinem Knechte herzlich teilen wird?

KÖNIG.

Du sprichst von Vaterfreuden! Hast du je

Sie denn gefühlt? Verkümmerte dir nicht

Dein einz'ger Sohn durch rohes, wildes Wesen,

Verworrenheit, Verschwendung, starren Trutz

Dein reiches Leben, dein erwünschtes Alter?

Verändert er auf einmal die Natur?

HERZOG.

Von ihm erwart' ich keine frohen Tage!

Sein trüber Sinn erzeugt nur Wolken, die,

Ach! meinen Horizont so oft verfinstern.

Ein anderes Gestirn, ein andres Licht

Erheitert mich. Und wie in dunklen Grüften,

Das Märchen sagt's, Karfunkelsteine leuchten,

Mit herrlich mildem Schein der öden Nacht

Geheimnisvolle Schauer hold beleben,

So ward auch mir ein Wundergut beschert,

Mir Glücklichem! das ich mit Sorgfalt, mehr

Als den Besitz ererbt errungner Güter,

Als meiner Augen, meines Lebens Licht,

Mit Freud' und Furcht, mit Lust und Sorge pflege.

KÖNIG.

Sprich vom Geheimnis nicht geheimnisvoll.

HERZOG.

Wer spräche vor der Majestät getrost

Von seinen Fehlern, wenn sie nicht allein

Den Fehl in Recht und Glück verwandeln könnte.

KÖNIG.

Der wonnevoll geheim verwahrte Schatz?

HERZOG.

Ist eine Tochter.

KÖNIG.

Eine Tochter? Wie?

Und suchte, Fabelgöttern gleich, mein Oheim,

Zum niedern Kreis verstohlen hingewandt,

Sich Liebesglück und väterlich Entzücken?

HERZOG.

Das Große wie das Niedre nötigt uns,

Geheimnisvoll zu handeln und zu wirken.

Nur allzu hoch stand jene heimlich mir

Durch wundersam Geschick verbundne Frau,

Um welche noch dein Hof in Trauer wandelt

Und meiner Brust geheime Schmerzen teilt.

KÖNIG.

Die Fürstin? Die verehrte, nah verwandte,

Nur erst verstorbne?

HERZOG.

War die Mutter! Laß,

O laß mich nur von diesem Kinde reden,

Das, seiner Eltern wert und immer werter,

Mit edlem Sinne sich des Lebens freut.

Begraben sei das übrige mit ihr,

Der hochbegabten, hochgesinnten Frauen.

Ihr Tod eröffnet mir den Mund, ich darf

Vor meinem König meine Tochter nennen,

Ich darf ihn bitten: sie zu mir herauf,

Zu sich herauf zu heben, ihr das Recht

Der fürstlichen Geburt vor seinem Hofe,

Vor seinem Reiche, vor der ganzen Welt

Aus seiner Gnadenfülle zu bewähren.

KÖNIG.

Vereint in sich die Nichte, die du mir,

So ganz erwachsen, zuzuführen denkst,

Des Vaters und der Mutter Tugenden:

So muß der Hof, das königliche Haus,

Indem uns ein Gestirn entzogen wird,

Den Aufgang eines neuen Sterns bewundern.

HERZOG.

O kenne sie, eh' du zu ihrem Vorteil

Dich ganz entscheidest. Laß ein Vaterwort

Dich nicht bestechen! Manches hat Natur

Für sie getan, das ich entzückt betrachte,

Und alles, was in meinem Kreise webt,

Hab' ich um ihre Kindheit hergelagert.

Schon ihren ersten Weg geleiteten

Ein ausgebildet Weib, ein weiser Mann.

Mit welcher Leichtigkeit, mit welchem Sinn

Erfreut sie sich des Gegenwärtigen,

Indes ihr Phantasie das künft'ge Glück

Mit schmeichelhaften Dichterfarben malt.

An ihrem Vater hängt ihr frommes Herz,

Und wenn ihr Geist den Lehren edler Männer,

Sich stufenweis entwickelnd, friedlich horcht:

So mangelt Übung ritterlicher Tugend

Dem wohlgebauten, festen Körper nicht.

Du selbst, mein König, hast sie unbekannt

Im wilden Drang der Jagd um dich gesehn.

Ja, heute noch! die Amazonentochter,

Die in den Floß dem Hirsche sich zuerst

Auf raschem Pferde flüchtig nachgestürzt.

KÖNIG.

Wir sorgten alle für das edle Kind!

Ich freue mich, sie mir verwandt zu hören.

HERZOG.

Und nicht zum erstenmal empfand ich heute,

Wie Stolz und Sorge, Vaterglück und Angst

Zu übermenschlichem Gefühl sich mischen.

KÖNIG.

Gewaltsam und behende riß das Pferd

Sich und die Reiterin auf jenes Ufer,

In dichtbewachsner Hügel Dunkelheit.

Und so verschwand sie mir.

HERZOG.

Noch einmal hat

Mein Auge sie gesehen, eh' ich sie

Im Labyrinth der hast'gen Jagd verlor.

Wer weiß, welch ferne Gegend sie durchstreift,

Verdroßnen Muts, am Ziel sich nicht zu finden,

Wo, ihrem angebeteten Monarchen sich

In ehrerbietiger Entfernung anzunähern,

Allein ihr jetzt erlaubt ist, bis er sie

Als Blüte seines hochbejahrten Stammes

Mit königlicher Huld zu grüßen würdigt.

KÖNIG.

Welch ein Getümmel seh' ich dort entstehn?

Welch einen Zulauf nach den Felsenwänden?

Er winkt nach der Szene.

Zweiter Auftritt

Die Vorigen. Graf.

KÖNIG.

Warum versammelt sich die Menge dort?

GRAF.

Die kühne Reiterin ist eben jetzt

Von jener Felsenwand herabgestürzt.

HERZOG.

Gott!

KÖNIG.

Ist sie sehr beschädigt?

GRAF.

Eilig hat

Man deinen Wundarzt, Herr, dahingerufen.

HERZOG.

Was zaudr' ich? Ist sie tot, so bleibt mir nichts,

Was mich im Leben länger halten kann.

Dritter Auftritt

König. Graf.

KÖNIG.

Kennst du den Anlaß der Begebenheit?

GRAF.

Vor meinen Augen hat sie sich ereignet.

Ein starker Trupp von Reitern, welcher sich

Durch Zufall von der Jagd getrennt gesehn,

Geführt von dieser Schönen, zeigte sich

Auf jener Klippen waldbewachsner Höhe.

Sie hören, sehen unten in dem Tal

Den Jagdgebrauch vollendet. Sehn den Hirsch

Als Beute liegen seiner kläffenden

Verfolger. Schnell zerstreuet sich die Schar,

Und jeder sucht sich einzeln seinen Pfad,

Hier oder dort, mehr oder weniger

Durch einen Umweg. Sie allein besinnt

Sich keinen Augenblick und nötiget

Ihr Pferd von Klipp' zu Klippe, grad herein.

Des Frevels Glück betrachten wir erstaunt;

Denn ihr gelingt es eine Weile, doch

Am untern steilen Abhang gehn dem Pferde

Die letzten, schmalen Klippenstufen aus,

Es stürzt herunter, sie mit ihm. So viel

Konnt' ich bemerken, eh' der Menge Drang

Sie mir verdeckte. Doch ich hörte bald

Nach deinem Arzte rufen. So erschein' ich nun

Auf deinen Wink, den Vorfall zu berichten.

KÖNIG.

O möge sie ihm bleiben! Fürchterlich

Ist einer, der nichts zu verlieren hat.

GRAF.

So hat ihm dieser Schrecken das Geheimnis

Auf einmal abgezwungen, das er sonst

Mit so viel Klugheit zu verbergen strebte?

KÖNIG.

Er hatte schon sich völlig mir vertraut.

GRAF.

Die Lippen öffnet ihm der Fürstin Tod,

Nun zu bekennen, was für Hof und Stadt

Ein offenbar Geheimnis lange war.

Es ist ein eigner, grillenhafter Zug,

Daß wir durch Schweigen das Geschehene

Für uns und andre zu vernichten glauben.

KÖNIG.

O laß dem Menschen diesen edlen Stolz.

Gar vieles kann, gar vieles muß geschehn,

Was man mit Worten nicht bekennen darf.

GRAF.

Man bringt sie, fürcht' ich, ohne Leben her!

KÖNIG.

Welch unerwartet, schreckliches Ereignis!

Vierter Auftritt

Die Vorigen. Eugenie, auf zusammengeflochtenen Ästen für tot hereingetragen. Herzog. Wundarzt. Gefolge.

HERZOG zum Wundarzt.

Wenn deine Kunst nur irgend was vermag,

Erfahrner Mann, dem unsers Königs Leben,

Das unschätzbare Gut, vertraut ist, laß

Ihr helles Auge sich noch einmal öffnen,

Daß Hoffnung mir in diesem Blick erscheine!

Daß aus der Tiefe meines Jammers ich

Nur Augenblicke noch gerettet werde!

Vermagst du dann nichts weiter, kannst du sie

Nur wenige Minuten mir erhalten:

So laßt mich eilen, vor ihr hinzusterben,

Daß ich im Augenblick des Todes noch

Getröstet rufe: Meine Tochter lebt!

KÖNIG.

Entferne dich, mein Oheim! daß ich hier

Die Vaterpflichten treulich übernehme.

Nichts unversucht läßt dieser wackre Mann.

Gewissenhaft, als läg' ich selber hier,

Wird er um deine Tochter sich bemühen.

HERZOG.

Sie regt sich!

KÖNIG.

Ist es wahr?

GRAF.

Sie regt sich!

HERZOG.

Starr

Blickt sie zum Himmel, blickt verirrt umher.

Sie lebt! sie lebt!

KÖNIG ein wenig zurücktretend.

Verdoppelt eure Sorge!

HERZOG.

Sie lebt! sie lebt! Sie hat dem Tage wieder

Ihr Aug' eröffnet. Ja! sie wird nun bald

Auch ihren Vater, ihre Freunde kennen.

Nicht so umher, mein liebes Kind, verschwende

Die Blicke staunend, ungewiß; auf mich,

Auf deinen Vater wende sie zuerst.

Erkenne mich, laß meine Stimme dir

Zuerst das Ohr berühren, da du uns

Aus jener stummen Nacht zurückekehrst.

EUGENIE die indes nach und nach zu sich gekommen ist und sich aufgerichtet hat.

Was ist aus uns geworden?

HERZOG.

Kenne mich

Nur erst! – Erkennst du mich?

EUGENIE.

Mein Vater!

HERZOG.

Ja!

Dein Vater, den mit diesen holden Tönen

Du aus den Armen der Verzweiflung rettest.

EUGENIE.

Wer bracht' uns unter diese Bäume?

HERZOG dem der Wundarzt ein weißes Tuch gegeben.

Bleib

Gelassen, meine Tochter! Diese Stärkung,

Nimm sie mit Ruhe, mit Vertrauen an!

EUGENIE sie nimmt dem Vater das Tuch ab, das er ihr vorgehalten und verbirgt ihr Gesicht darin. Dann steht sie schnell auf, indem sie das Tuch vom Gesicht nimmt.

Da bin ich wieder! – Ja, nun weiß ich alles.

Dort oben hielt ich, dort vermaß ich mich

Herab zu reiten, grad herab. Verzeih!

Nicht wahr, ich bin gestürzt? Vergibst du mir's?

Für tot hob man mich auf? Mein guter Vater!

Und wirst du die Verwegne lieben können,

Die solche bittre Schmerzen dir gebracht?

HERZOG.

Zu wissen glaubt' ich, welch ein edler Schatz

In dir, o Tochter, mir beschieden ist;

Nun steigert mir gefürchteter Verlust

Des Glücks Empfindung ins Unendliche.

KÖNIG der sich bisher im Grunde mit dem Wundarzt und dem Grafen unterhalten, zu dem letzten.

Entferne jedermann! ich will sie sprechen.

Fünfter Auftritt

König. Herzog. Eugenie.

KÖNIG näher tretend.

Hat sich die wackre Reiterin erholt?

Hat sie sich nicht beschädigt?

HERZOG.

Nein, mein König!

Und was noch übrig ist von Schreck und Weh,

Nimmst du, o Herr, durch deinen milden Blick,

Durch deiner Worte sanften Ton hinweg.

KÖNIG.

Und wem gehört es an, das liebe Kind?

HERZOG nach einer Pause.

Da du mich fragst, so darf ich dir bekennen;

Da du gebietest, darf ich sie vor dich

Als meine Tochter stellen.

KÖNIG.

Deine Tochter?

So hat für dich das Glück, mein lieber Oheim,

Unendlich mehr als das Gesetz getan.

EUGENIE.

Wohl muß ich fragen: ob ich wirklich denn

Aus jener tödlichen Betäubung mich

Ins Leben wieder aufgerafft? und ob,

Was mir begegnet, nicht ein Traumbild sei?

Mein Vater nennt vor seinem Könige

Mich seine Tochter. O, so bin ich's auch!

Der Oheim eines Königes bekennt

Mich für sein Kind, so bin ich denn die Nichte

Des großen Königs. O verzeihe mir

Die Majestät! wenn aus geheimnisvollem,

Verborgnem Zustand ich, ans Licht auf einmal

Hervorgerissen und geblendet, mich,

Unsicher, schwankend, nicht zu fassen weiß.

Sie wirft sich vor dem König nieder.

KÖNIG.

Mag diese Stellung die Ergebenheit

In dein Geschick, von Jugend auf, bezeichnen,

Die Demut, deren unbequeme Pflicht

Du, deiner höheren Geburt bewußt,

So manches Jahr im stillen ausgeübt!

Doch sei auch nun, wenn ich von meinen Füßen

Zu meinem Herzen dich herauf gehoben,

Er hebt sie auf und drückt sie sanft an sich.

Wenn ich des Oheims heil'gen Vaterkuß

Auf dieser Stirne schönen Raum gedrückt,

So sei dies auch ein Zeichen, sei ein Siegel:

Dich, die Verwandte, hab' ich anerkannt

Und werde bald, was hier geheim geschah,

Vor meines Hofes Augen wiederholen.

HERZOG.

So große Gabe fordert ungeteilten

Und unbegrenzten Dank des ganzen Lebens.

EUGENIE.