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Als am Neujahrsmorgen ein Komet die Erde trifft, verschieben sich die Klimazonen, und fast die gesamte Menschheit stirbt. In Asien kämpfen vier schiffbrüchige Europäer und eine Handvoll Inder gegen die polare Kälte, wogegen in Mitteleuropa tropische Tier- und Pflanzenarten entstehen. Die wenigen übriggebliebenen Menschen müssen sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Nur noch als E-Book erhältlich.
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Seitenzahl: 445
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DIE NEUE ERDE
FANTASTISCHER ROMAN
VON
ROBERT KRAFT
Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid
© 1996 Karl-May-Verlag
Der vorliegende Roman spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Der deutsche Passagierdampfer ‚Gladiator‘ steuerte in die Straße von Malakka ein. Sein Ziel war Singapur. Eine versengende Glut brütete über der spiegelglatten Wasserfläche, halb verschmachtet lagen oder saßen die Passagiere an Deck unter den Sonnensegeln, und einige von ihnen hatten auch noch in der Nacht dem Silvesterpunsch etwas zu reichlich zugesprochen. Da rächte sich der erste Januar in diesem Klima auf eine furchtbare Weise.
Unfähig zu lesen, zu sprechen, sich zu bewegen, auch nur zu denken, wurden doch alle von einer gewissen Angst beherrscht. Wohl fächelte ein leiser Wind ihre Wangen, aber das war nur der Widerstand, den sie selbst auf dem schnellen Dampfer der Atmosphäre boten. In Wirklichkeit herrschte vollkommene Windstille, kein Wölkchen trübte den blauen Himmel, dagegen war die Sonne von einem Nebel umflort, wie es bei solch einer Witterung noch niemand beobachtet hatte. Am beunruhigendsten war das Benehmen des Kapitäns und der Steuerleute. Sie waren vollzählig auf der Kommandobrücke versammelt, flüsterten zusammen, der sonst so gelassene Kapitän Becker zeigte offenbare Besorgnis, ging in das Kartenhaus, das auch die notwendigsten nautischen Instrumente barg, rief die Offiziere, schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern.
„Ich glaube, wir können uns auf einen kleinen Taifun gefasst machen“, meinte ein Herr phlegmatisch und bemühte sich dann, das Gähnen zu unterdrücken, welches diese Bewegung der Sprachwerkzeuge nach langer Pause erzeugte.
Die Worte waren an eine junge Dame gerichtet, die halb liegend auf einem Klappstuhl ruhte und mit matter Hand einem kleinen Mädchen Kühlung zufächelte.
Eva Becker war die Schwester des Kapitäns und begleitete diesen schon seit mehreren Jahren, fast seitdem sie als achtzehnjähriges Mädchen das Pensionat verlassen hatte, ständig auf seinen Seereisen. Das Schiff war ihr völlig zur Heimat geworden. Solch ein Salondampfer wetteifert ja mit dem komfortabelsten Hotel und dabei wechselt auch noch von Zeit zu Zeit die Aussicht aus dem Fenster. Lief das Schiff eine größere Hafenstadt an, so besuchte sie einmal das Theater, die Oper, das Kunstmuseum, andere ihr noch fremde Sehenswürdigkeiten, orientierte sich über die neuesten Erscheinungen der schönen Literatur, ergänzte ihre eigene Bibliothek, folgte einmal einer Einladung, machte einen Ausflug mit, und dann blieb sie wieder an Bord. Dabei war das junge Mädchen vollkommen frei von Melancholie, Schwärmerei und Emanzipiertheit, dichtete nicht den Mond an, ergriff nicht im Sturm mit starker Hand das Steuerrad, kletterte nicht einmal auf den Rahen herum – aber Geist hatte sie, und dass, wenn dereinst der Rechte kam, sie das Schiff verließe, darüber war sich Eva auch klar. Sie hoffte nur, es würde ein Seemann sein.
Vor einem Jahr war Kapitän Beckers Frau gestorben. Als sich der Vater mit der Schwester über das mutterlose Kind beraten wollte, machte ihm Eva kurzerhand den Vorschlag, die dreijährige Martha doch auch mit aufs Schiff zu nehmen, und Becker war hiermit sofort freudig einverstanden. Es ist überhaupt nichts Seltenes, dass Kapitäne, selbst solche von Segelschiffen, ihre ganze Familie beständig bei sich an Bord haben, sie wirken sich die Erlaubnis aus, ihre Kinder selbst unterrichten zu dürfen, und man kann sich eigentlich gar kein idealeres Familienverhältnis denken, vereint in Sonnenschein, in Sturm, in Not und Tod – von der Bildung, Anregung, Menschenkenntnis usw., die auf solchen Seereisen den zu erziehenden Kindern zuteilwird, vor allen Dingen auch Gesundheit, gar nicht zu sprechen.
So blieb auch die kleine Martha an Bord des ‚Gladiator‘ und die Tante war ihr eine liebevolle Mutter und Lehrerin.
„Sie haben sicher noch keinen Taifun durchgemacht, Herr Claudius“, entgegnete Eva auf die Bemerkung ihres Nachbars.
„Woraus schließen Sie das mit Sicherheit?“
„Sonst würden Sie das nicht so gleichgültig sagen.“
„Nein, ich habe noch keinen erlebt, möchte es aber einmal.“
„Freveln Sie nicht. Der ‚Gladiator‘ geriet in den chinesischen Gewässern nur in den abgeschwächten Ausläufer eines Taifuns – es war schon entsetzlich genug! Und dass ich schon tüchtige Stürme erlebt habe, ohne mir viel daraus zu machen, dürfen Sie mir wohl glauben. Aber nur keinen kreisenden Taifun!“
„Wenn’s aber käme, dann ließe sich ja das neue Jahr recht hübsch an. Die armen Leutchen! Gestern haben sie den ganzen Tag beraten, wie sie das neue Jahr einweihen wollten – Essen und Trinken spielte natürlich die Hauptrolle im Programm – und heute liegen sie alle wie die Fliegen da. Und nun gar noch Aussicht auf Sturm und Gewitter, Seekrankheit und dergleichen. – He, Georg, komm mal her! Was bringst du da?“
Ein Schiffsjunge ging vorüber, einen Stoß gummiartiger Platten tragend, und wie er nach den Passagieren blickte, ob man ihn auch bemerke, drückte sein Wesen halb Stolz, halb Angst aus. Dies eben war dem scharfsichtigen Herrn aufgefallen. Ehe aber der Gerufene zu ihm kommen konnte, winkte des Kapitäns Schwester dem Jungen gebieterisch, weiterzugehen. Dann neigte sie sich vor und legte den Finger auf des Herrn Schulter.
„Es sind Rettungsgürtel aus Gummi, zum Aufblasen“, flüsterte sie. „Still, die Passagiere brauchen nicht zu erfahren, dass schon solche Sicherheitsmaßregeln getroffen werden, da bricht leicht eine Panik aus. Wenn ich nur wüsste, was mein Bruder hat, der gebärdet sich ja plötzlich wie ein Wahnsinniger.“
Auf der Kommandobrücke schien Rebellion ausgebrochen zu sein. Noch immer gingen die Offiziere im Kartenhaus ein und aus, jetzt sogar im Sturmschritt, sie nahmen die Sonne auf und berechneten die geografische Lage, einer entriss dem anderen den Sextant, dieser wieder jenem das Logarithmenbuch, der Kapitän fuhr den am Steuerrad stehenden Matrosen grimmig an, man hörte Worte wie „Schlingel“ und „betrunken“, alle Offiziere versammelten sich um den Kompass, plötzlich stürzte der Kapitän darauf zu und rüttelte an der Bussole[1], als wolle er das Kompassgehäuse abreißen, und dann blickten sich wieder alle an.
Das war kein Benehmen für die Führer eines Passagierdampfers, von Kapitän Becker war man so etwas auch nicht gewohnt, und das hatte Eva zu der Äußerung veranlasst.
„Es muss doch etwas ganz Ungewöhnliches vorliegen, ich möchte meinen Bruder einmal fragen...“
„Bitte bemühen Sie sich nicht“, fiel ihr Claudius ins Wort und stand auf. „Sie leiden unter der Hitze, ich dagegen bin hartgesotten, wie Sie immer sagen. Gleich werde ich Ihnen Nachricht bringen. Nach dem, was ich vernommen, hat in der Silvesternacht einer zu viel des Guten getan – entweder der Matrose am Steuer oder die Kompassnadel.“
Langsam schlenderte er der Kommandobrücke zu und stieg die Treppe hinauf; jeder andere Passagier bewunderte diesen Gang als eine Heldenleistung und fühlte die Strapaze mit.
Sinnend blickte Eva der schlanken, eleganten Gestalt im weißen Tropenanzug nach. Seltsam, so wie dieser Mann hatte sie noch kein anderer gefesselt, und gerade dieser verdiente ihre Sympathie – nein, ihre Achtung am allerwenigsten, und – von Äußerlichkeiten ließ sie sich nicht mehr bestechen; auf dem schwankenden Schiff kommt stets eine Gelegenheit, um die wahre Natur eines jeden Menschen kennenzulernen. Ein interessanter Charakter war er allerdings.
In Gibraltar war es gewesen, wo man Kohlen eingenommen und auch Briefe und Zeitungen erhalten hatte. Ein schreckliches Schiffsunglück wurde gemeldet, wobei die Besatzung in empörendster Weise vorgegangen war – ein Kampf um die Rettungsboote, Revolverschüsse, Messerstiche, abgehackte Hände, die sich ans Boot hatten klammern wollen. Als man bei Tisch diese furchtbaren Rohheiten mit Abscheu besprach, nahm plötzlich eine Stimme energisch Partei für die Unholde, wollte sie verteidigen! Erst eine stille Pause, weil man glaubte, nicht recht gehört zu haben, dann von allen Seiten ein Schnellfeuer der Entrüstung. Als der Betreffende gar nicht mehr zu Worte kam, zuckte er die Achseln und vertiefte sich kaltblütig in seinen Teller.
Das war Heermann Claudius gewesen, wie er sich in das Kajütenbuch eingetragen, Heermann mit zwei ‚e‘. Bisher hatte ihm Eva keine Beachtung geschenkt. Wohl war ihr der junge Mann mit den interessanten Zügen, der mit niemand verkehrte, schon aufgefallen, aber einen Grund, sich ihm zu nähern, fand sie nicht. – Was, dieser stille, bescheidene Mann war ein Fürsprecher der brutalen Gewalt? Jetzt musste sie ihn kennenlernen, solche Studien liebte sie.
„Es war wohl nicht Ihr Ernst, dass Sie vorhin so sprachen.“
„Ja und nein. Man schnitt mir ja gleich das Wort ab, das ist für solche Geister, die sich einen Trinkspruch erst im Konzept ausarbeiten, das Allerbequemste. Ich ärgere mich, überhaupt davon angefangen zu haben, bei denen ist doch jede Silbe verloren. Darf ich zu Ihnen mehr davon sprechen? Sehen Sie dort den dicken Holländer, der sich am meisten gegen die Brutalität der Matrosen ereiferte, der mich am meisten verdammte. – Der, versichere ich Ihnen, ist schon im Stande, sein ganzes malaiisches Küchenpersonal zu massakrieren, wenn ihm das Essen einmal angebrannt vorgesetzt wird. Wenn er’s nur dürfte! Das merke ich ihm bei Tisch an, wie er mit der Zunge schnalzt. Alles Lug und Trug, diese Gefühlsduselei – und dennoch ist die Empörung dieser Leute wahr und edel. Das klingt paradox, nicht wahr, gnädiges Fräulein? Man muss unterscheiden, was wir nach unserer Vernunft und vor allen Dingen nach Erkenntnis unseres eigenen Ichs tun wollen, und was wir im Augenblick des Handelns tun werden. Wohin ich auch in der Natur schaue, überall werde ich belehrt, dass das Stärkere siegt und das Schwächere zu Grunde geht, das will die Natur durchaus, denn sie strebt immer vorwärts und will die Art erhalten. Dabei sollen wir die Natur auch unterstützen; arbeiten wir entgegen, dann rächt sie sich; fangen wir alle Vögel weg, so schickt sie uns Fliegen auf den Hals. – Wenn ich in einem Boot bin, nur noch ein einziger Mann dazu, und das Boot muss sinken, sodass alle untergehen – dann ist es meiner Anschauung nach sogar meine Pflicht, jenen Mann abzuwehren, und müsste ich ihn dabei töten. – Die Natur hat uns den Selbsterhaltungstrieb gegeben. Der ist vorhanden, darüber lässt sich wohl nicht streiten. Wer aber nun in diesem Trieb nicht nur die Furcht vor dem Tode erkennt, sondern ein energisches Bestreben der Natur, unserer gütigen Mutter, die Art zu erhalten, der ist noch zu etwas ganz anderem berechtigt. Gesetzt den Fall, ich bin nur noch mit einem zweiten Menschen in einem Boot, wir haben noch hundert Meilen zu segeln, ehe wir das Land erreichen und gerettet sind, ich weiß das genau, auf einen glücklichen Zufall dürfen wir nicht rechnen, der Proviant aber langt für uns beide nur noch für fünfzig Meilen, so müsste ich als der Stärkere meinen Begleiter schon töten, während wir beide vorläufig noch genug Nahrung haben. Denn beide lebendig erreichen wir das Ufer nicht. Wenn ich dies erkannt habe, jener nicht, so bin ich unbedingt der Stärkere, mag der andere auch gegen mich ein Riese an Kraft und Geist sein, ich verstehe den Willen der Natur besser als er, deshalb habe ich das Recht, ihn sogar meuchlings zu töten. – Aber bitte, Fräulein, denken Sie nicht gar zu schlecht von mir, ich bin gar kein solcher Wüterich; wenn es darauf ankäme, würde ich meiner ganzen Philosophie doch inkonsequent. Im Übrigen soll man von so etwas gar nicht sprechen, und wenn man dazu gezwungen wird, so soll man den Hut abnehmen und einfach sagen: Herr, führe uns nicht in Versuchung!“
Dieses letzte Wort, feierlich gesprochen, hatte für Eva alles, alles wiedergutgemacht. Seitdem verkehrte sie mit ihm, und er hätte auch keine andere Gesellschaft an Bord gefunden, die ihn verstand. Eva verstand ihn. Das Gespräch wurde täglich fortgesetzt, es war immer dasselbe Thema, er betete den Willen der Natur an, es schien gar kein Ende nehmen zu wollen, vom Hundertsten kam man ins Tausendste, ohne dass Eva vorläufig mehr von ihm wusste, als dass er Heermann Claudius hieß. Immer mehr fühlte sie sich zu ihm hingezogen, solch einen Gesellschafter, der über die tiefsten Mysterien der Natur so geistreich, lustig und sogar witzig plaudern konnte, und dabei dennoch dieser Natur immer göttliche Verehrung zollend, hatte sie noch nicht kennengelernt. Seine allumfassende Bildung und Belesenheit war erstaunlich, aber, das merkte sie bald, in keinem Fach war er gründlich und er sagte es ihr selbst. Seine Offenheit war überhaupt grenzenlos; Lüge, Eitelkeit, hohle Phrasenmacherei, alles war ihm ganz fremd, ja es kam ihr sogar vor, als bestände seine einzige Schwäche eben darin, mit seiner Unkenntnis in gewissen Sachen zu prahlen – und leider manchmal auch mit seiner gesellschaftlichen Verkommenheit.
Einst kam Eva auf das Seltenwerden und gänzliche Aussterben gewisser Tiere und Völkerrassen zu sprechen, das war etwas auf des Naturanbeters Mühle. Er stellte aber auch gleich so kühne Behauptungen auf, dass Eva nur immer den Kopf schüttelte und sogar lachen musste. Er behauptete nämlich, die Menschen könnten überhaupt nichts von der Erde vertilgen, seien dazu gar nicht im Stande, und wenn etwas ausgerottet würde, so sei dies der beabsichtigte Wille der Natur gewesen.
„Aber erlauben Sie, Herr Claudius! Die Lerchen werden immer seltener, und nicht lange mehr, so wird der letzte Elefant geschossen sein, unsere Nachkommen werden Lerchen und Elefanten nur ausgestopft kennen, schließlich ihre einstige Gestalt nur noch aus Knochen und erdichteten Bildern ersehen. Die Natur hat diese Tiere doch sicher nicht aussterben lassen wollen...“
„Woher wissen Sie das mit Sicherheit?“
„Nun, Sie Wortwäger, die Bedingungen zu ihrer Existenz sind doch da, sind noch dieselben. Nein, weil die gebratenen Lerchen so gut schmecken, weil das Elfenbein kostbar ist, deshalb verschwinden diese Spezies von der Erde, der Eigennutz des Menschen ist daran schuld. Ich begreife wirklich nicht, Herr Claudius, wie Sie dagegen noch streiten können.“
„Und ich bleibe bei meiner Ansicht, dass der Mensch keine Art vernichten kann, wenn es die Natur nicht will. Die allweise Natur besäße doch so viele Kniffe und Listen, einige Repräsentanten der Schöpfung, an der sie Hunderttausende von Jahren gearbeitet hat, vor dem Menschen zu schützen, und werden Tiere gänzlich von der Erde vertilgt, wie etwa in neuerer Zeit die Elche, so geschieht dies eben mit dem Einverständnis der Natur, oder vielmehr, weil die Natur gewisse Tiere nicht mehr zur Erhaltung ihrer anderen Schöpfung braucht, veranlasst sie erst den Menschen, diese Tiere auszurotten. Wir sind überhaupt nur Werkzeuge in der Hand der Natur; was wir tun, wird uns von der Natur erst suggeriert.“
„Oh, das wäre aber traurig! Sie glauben doch nicht etwa an ein Kismet?“
„Doch, an ein Kismet der Natur, das sind eben die Naturkräfte. Sie können ganz beruhigt sein. An ein individuelles Kismet, also an das, was man gewöhnlich Verhängnis nennt, glaube ich nicht. Das wäre allerdings sehr traurig, wenn’s das gäbe. – Ich möchte Sie um eine Ansicht bitten, Fräulein Becker. Die Annahme, von der ich ausgehe, steht freilich in Widerspruch mit meinen früheren Behauptungen, aber ich will sie einmal voraussetzen: Alle Menschen auf der Erde werden innerhalb einer kurzen Frist von einer Seuche hinweggerafft – oder, noch besser – alle Menschen auf der Erde verabreden sich, in ein und demselben Augenblick Selbstmord zu begehen. Die Rasiermesser werden verteilt – ein jeder hat das seine in der Hand, der Greis wie das Kindlein in der Wiege, der Hottentotte wie der Eskimo – das Zeichen wird gegeben – ein allgemeiner Kehlschnitt – schrumm – auf der ganzen Erde existiert kein einziger Mensch mehr. Was würde wohl die um ihr wertvollstes Produkt betrogene Schöpfung tun?“
„Neue Menschen schaffen.“
„Ja, das ist leicht gesagt, aber wie, wie! Ich verlange ja nicht von Ihnen, dass Sie mir das Experiment vormachen sollen, ich bitte nur um etwas nähere Erklärung. Wie stellen Sie sich die Sache vor?“
„Dann bekenne ich mich einfach als Anhänger der Darwinschen Theorie über die Entwicklung der Arten“, lächelte Eva, noch an den allgemeinen Kehlschnitt denkend. Dieser Mann hatte manchmal sonderbare Einfälle.
„Sie meinen also, die Wiederentwicklung ginge stufenweise vor sich?“
„Wie könnte es anders sein?“
„Periode nach Periode, vom Affen an, mit Zwischenpausen von Tausenden von Jahren, genau so, wie es einst gewesen ist?“
„Ganz genau so, wie sich der Mensch schon einmal entwickelt hat.“
„Falsch, grundfalsch!“, rief Claudius mit einer Überzeugung, als habe er sich das ganze Schauspiel schon einmal angesehen. „Die so hintergangene Schöpfung wird jetzt anderes vernachlässigen und ihre ganze Kraft darauf konzentrieren, wieder ebensolche Menschen zu schaffen, mit denselben körperlichen und geistigen Anlagen wie zur Zeit der Vernichtung; sie wird schieben und drängen und nicht eher ruhen, als bis der Schaden wiedergutgemacht ist. Unter denselben Bedingungen dieselben Verhältnisse! Der Geist des Menschen ist unsterblich, wenn er auch – nach meiner Ansicht – nach dem Tode nicht individuell, oder aber, wenn dies der Fall wäre, nicht bei individuellem Bewusstsein ist. Was in Jahrtausenden errungen worden ist, geht nicht mit einem Mal zu Grunde; der Geist ist noch da, er wird Mittel und Wege finden, sich wieder zu inkarnieren. Jede Geburt ist Zeuge von solcher Inkarnation eines Geistes, der einen Bildungsgang von Millionen von Jahren durchlaufen hat; und wozu der Mensch, um zu seiner jetzigen Kultur zu kommen, eine ungeheuer lange Zeit gebraucht hat, das vollendet er jetzt in einem Moment. Das heißt, ich spreche von einem Moment, um den Gegensatz auszudrücken. Dass ein Affe nun nicht gleich einen Professor mit Glatze und Brille zur Welt bringt, ist selbstverständlich. Aber einzelne Individuen werden erzeugt, in denen sich alle Charaktere und Geisteskräfte der früheren Generationen zusammen konzentrieren – Übermenschen, lautet jetzt der terminus technicus. Sie beschränken sich auf eine geringe Anzahl, pflanzen sich fort, halten zusammen – für diesen Instinkt sorgt schon die Natur –, sie stehen so hoch über den anderen Menschen wie wir über den niedrigsten Tieren. Durch diese Kaste der Genies wird die Kultur im Vergleich zu früher mit fabelhafter Schnelligkeit fortschreiten. Was einst in tausend Jahren entdeckt und geschaffen wurde, ersteht jetzt in einem Jahr, und in dem Augenblick, da die alte Kulturstufe wieder erreicht worden ist – da ist’s auch wieder aus. Von da an geht es wieder im alten Bummelschritt und die potenzierten Kräfte der Übermenschen verteilen sich nach und nach auf die anderen. Nur ab und zu, wenn der Natur der Bummelschritt gar zu langsam wird, schickt sie noch einen, um der Menschenentwicklung wieder mal einen Schub zu geben. – Fräulein Becker, na was gilt die Wette, dass es so ist?“
Mit solch einem Scherz schloss er gewöhnlich.
Dasselbe Thema führte sie von selbst auf die Erblichkeit der Geistes- und Charakteranlagen, und um Beweise für einige seiner wieder sehr kühnen Behauptungen zu bringen, erzählte Claudius mit gewöhnlicher Offenheit von seiner Familie, schließlich auch von sich selbst.
Er stammte aus einer echt deutschen Familie, und zwar aus einem Geschlecht, von dem er beweisen konnte, dass jedes Mitglied, ob Mann oder Weib, in irgendeiner Richtung ein Genie gewesen oder noch war, wobei man freilich nicht gleich auf einen bedeutenden Menschen zu schließen braucht. Es gibt zum Beispiel auch sogenannte Sumpfgenies. Wer im Geschlechte Claudius’ nicht den Gipfel der Menschheit erklommen, der hatte in der Gosse geendet oder im Wahnsinn oder durch Selbstmord oder im Duell oder durch einen anderen Unglücksfall, der aber stets sensationell sein musste. In der Familie Claudius hatte es einen Minister gegeben und einen berühmten Tierbändiger, einen Großindustriellen und einen Affentheaterdirektor, einer war General gewesen, ein anderer war noch jetzt rechter Flügeladjutant bei Booth in der Heilsarmee; in New York ein Senator, in den Felsengebirgen eine Art von weißem Häuptling, im Varieté ein Komiker, ein gesuchter Tiefseetaucher, ein Maler, ein Bänkelsänger – alles bunt durcheinander, in Ehren gestorben, unter Salut begraben, erschossen, verkommen, verdorben...
Heermanns Vater, als Kind schon aufgegeben und im Korrektionshaus erzogen, hatte es durch Redlichkeit, Sparsamkeit und eisernen Fleiß zum reichen Mann gebracht. Er war an zwei Pfund Spickaal und einhundertdreiundachtzig Austern gestorben. Als Gattin hatte er sich die koketteste Balleteuse ausgesucht, die sich dann als eine tugendsame Hausfrau und gute Mutter erwies. Von den vier Töchtern nahm die eine in Zürich einen Lehrstuhl der medizinischen Fakultät ein, war aber morphiumsüchtig. Die zweite, die schüchterne, stille Helene, die sich immer so nach dem Kloster gesehnt hatte, war eine gewaltige sozialdemokratische Volksrednerin geworden. Die dritte machte gegenwärtig jeden Abend in einem Petersburger Zirkus den dreifachen Todessprung und schrieb nebenbei vielgelesene Erbauungsbücher. Die vierte, welche noch die Schule besuchte, ein pianistisches Wunderkind, schon zur Kammervirtuosin ernannt, war vor Kurzem mit einem Obertertianer durchgegangen.
Nun Heermann selbst, der einzige männliche Spross dieser Linie. Er hatte Offizier werden wollen, verließ die Kadettenschule jedoch wieder, besuchte das Gymnasium, um aus Neigung später Theologie zu studieren, trat aber, nachdem er das Maturitätsexamen bestanden, lieber in des Vaters Geschäft ein, trat wieder aus, besuchte philosophische Vorlesungen, verdammte in einem Pamphlet das Duell und hatte gleich darauf selbst einen Zweikampf. An der weißgetünchten Wand der Festungszelle entdeckte er sein malerisches Talent und ging zur Kunstakademie, aber anstatt zu malen, trieb er Musik, bildete sich nebenbei zum Schauspieler aus. Als dem idealen Hamletdarsteller ein glänzendes Engagement angeboten wurde, zog er es vor, eine Expedition nach Madagaskar auszurüsten. In Madagaskar beschloss er, seine prächtige Stimme auszubilden, und als er in die Öffentlichkeit treten sollte, Ehre und Reichtum ihm winkten, vergrub er sich in die Einsamkeit, trieb asketische Übungen und studierte die alten Mystiker. Bei Agrippa von Nettesheim angelangt, fiel ihm ein untrügliches System ein, wie man die Bank von Monte Carlo sprengen konnte. Er reiste sofort hin, verspielte an einem Tag sein ganzes väterliches Erbteil, schrieb hierauf eine von zwei Regierungen preisgekrönte Abhandlung, wie ein Staat am schnellsten seine Schulden decken kann – und nun bezahlte die Mutter noch einmal seine Schulden. Nun aber fort mit ihm, jetzt wurde der unverbesserliche Taugenichts nach China geschickt, wo ein Claudius Teeplantagen besaß; dort sollte er entweder für ein geordnetes Leben gewonnen werden oder für immer verschwinden.
Wie er dies alles mit schlichter Offenheit und mit seinem trockenen Humor erzählte – Eva wäre vor Lachen bald mit dem Stuhl umgefallen und dabei hatte sie doch Tränen der Wehmut im Auge.
Armer, unglücklicher Mensch! Eine Güte der Vorsehung nur, dass sie dem jetzt dreißigjährigen Mann trotz all seines Scharfsinns noch immer die fröhliche Naivität eines Kindes gelassen hatte.
Den Schlüssel zu seinem rätselhaften Charakter hatte er ihr ja selbst gegeben, und er hatte Recht. Heermann war der geistige Erbe einer ganzen Generation von hochbegabten Menschen mit den verschiedensten Charakteranlagen. Es war gewissermaßen alles in ihm aufgespeichert, was jene getan, gedacht, gefühlt und gewollt hatten. Er befand sich in einem steten Schwanken, wurde hierhin und dorthin gezogen, und er allein konnte nicht die in ihm wirkenden zügellosen, gegeneinander kämpfenden Kräfte für seinen Willen bändigen. Noch stand er nicht am Scheideweg und dann kam es nicht darauf an, welche Richtung er selbst wählte, sondern auf welchen Weg er von einer anderen Hand geleitet würde. Und wollte ihn diese auf den besseren zwingen, der nach oben führt, so musste es eine sehr raue Hand oder aber eine sehr liebevolle sein. Das wusste Heermann selbst, er sprach sich darüber ebenso rücksichtslos aus.
„Wissen Sie, Fräulein Becker, was mir fehlt, um aus mir einen vernünftigen und nützlichen Menschen zu machen? Zweierlei könnte es sein: entweder ein allgemeiner Völkerkrieg, an dem ich wie am Schachbrett die Rolle eines internationalen Schlachtenlenkers spiele – oder eine Frau, die mich jeden Tag dreimal durchprügelt. Ja, lachen Sie nur!“
Jetzt also blickte Eva dem nach der Kommandobrücke Gehenden sinnend nach.
Bald kam Heermann zurück. Man hatte ihn auf der Brücke gar nicht beachtet, die Offiziere waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, sie gebärdeten sich noch immer, als lägen sie miteinander in Streit.
„Die Naturelemente haben den ersten Januar ebenfalls als Feiertag angesetzt. Die Kompassnadel will nicht mehr nach Norden zeigen, sie dreht die Spitze zur Abwechslung einmal nach Westen, und das Barometer amüsiert sich unausgesetzt mit zollhohen Sprüngen.“
„Was, und da können Sie auch noch scherzen?“, rief Eva erbleichend.
„Ja, geehrtes Fräulein, ich kann wahrhaftig nichts dafür. Bitte, verschonen Sie mich mit Vorwürfen.“
„Um Gotteswillen, wenn der Kompass nicht funktioniert – hier in der engen Inselstraße – ich weiß, was das zu bedeuten hat.“
„Er wird schon wieder zur Vernunft kommen.“
„So etwas ist noch gar nicht dagewesen!“
„Der erste Tag dieses Jahres beweist, dass alles geschehen kann, was bisher noch nicht geschehen ist.“
„Herr Claudius, Sie scherzen! Die Kompassnadel zeigt wahrhaftig nach Westen?“
„Ich hörte es wenigstens. Die Offiziere können sich überhaupt nur noch aus dem Stand der Sonne orientieren, wo links und wo rechts ist. Zuerst wollten sie dem Mann am Ruder das Ablenken der Nadel in die Schuhe schieben, als ob der arme Kerl ein Magnetblock wäre. Seine rote Nase passte freilich dazu.“
„Wie können Sie sich das erklären?“
„So intim bin ich noch nicht mit den Naturgeistern, dass sie mich zum Vertrauten ihrer Streiche machen. – Jedenfalls atmosphärische Einflüsse. Die Sonne scheint heute auch einmal streiken zu wollen.“
Es bereitete sich etwas in der Atmosphäre vor, was alle mit einer undefinierbaren Angst erfüllte. Auch der Schlaffste wurde aus seiner Apathie gerissen, sie standen auf, drängten sich zusammen, flüsterten, blickten nach dem Kapitän und nach dem Horizont, wo es dunkelviolett aufstieg. Darüber lagerte ein schwefelgelber Streifen. Obgleich der Himmel noch hellblau war, zog es sich doch wie ein schwarzer Schleier über die Sonne. Es wurde dunkler. In der Luft herrschte eine Spannung, die einem kaum noch das Atmen erlaubte. Man vermeinte, glühendes Blei einzusaugen, die Lunge schmerzte, der Herzschlag stockte, schon kamen verschiedene Ohnmachten vor, bei vielen stellte sich plötzlich heftiges Nasenbluten ein.
Matrosen rannten über Deck, in wasserdichtes Ölzeug gehüllt, den Südwester auf dem Kopf, sie zurrten alles bewegliche Gut fest und zogen die Brassen an. Auch die Offiziere erschienen auf der Brücke im langen Ölrock, der Kapitän das Sprachrohr in der Hand. Der Signalapparat klingelte, die Schraube stoppte, bald lag der Riesendampfer regungslos auf der völlig glatten Wasserfläche.
Noch kein Lufthauch machte sich bemerkbar, die Wolkenwand stieg auch nicht höher, aber sie erglühte abwechselnd in den verschiedensten Tinten, ein Schauspiel, das je gesehen zu haben kein Seemann sich erinnerte.
Und immer finsterer wurde es. Die Sonne schien zu verschwinden, aber nicht hinter einer Wolke, das war keine Wolke, eher ein dunkler Flor. In diesem wurde die Sonne immer kleiner, als trete sie zurück, als wolle sie verlöschen.
Plötzlich stand eine schwarze Gestalt an Deck, ein Buch in der Hand. Man kannte den Schwarzrock. Es war ein englischer Missionar, der unter die Heiden geschickt wurde und dessen mangelhaftes Deutsch man schon mehrmals in einer Predigt zu hören bekommen hatte.
„Die Jungste Gericht!“, begann er mit gedämpfter, unheimlicher Stimme. „Wuas sein die Jungste Gericht? Wuehe, wuehe, dreimal wuehe! Das will sein die Jungste Gericht. That is right enough. Hörst du sie wuimmern in die feurige Pfuhl, meine Bruder? Hast du schon gedenkt an Dschesus Chreist, meine geliebigte Schwuester. Wuenn es gehen wuird – pffffftt – rrrrrrr bum bum...“
Ein von Matrosen über Deck gezogenes Tau erfasste den Schwarzrock und schleifte ihn nach einer anderen Stelle, wo er seine Predigt fortsetzte.
„Wahrhaftig, er hat Recht, da kann man an ein Kommen des Jüngsten Gerichts denken“, flüsterte Eva, das wimmernde Kind an sich drückend.
Die Spannung in der Atmosphäre nahm zu, es war bald Nacht – am Mittag bei klarem Himmel.
Der Kapitän ging über Deck.
„Ich bitte die Herrschaften, sich in die Kajüten zu begeben!“
Von allen Seiten angstvolle Fragen, schon Jammern und Händeringen.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich treffe Vorsichtsmaßregeln für ein kleines Wetterchen, aber ich glaube sicher, es wird uns gar nicht treffen, und sonst vertrauen Sie auf Gott, auf das tüchtige Schiff und auf meine Führung. Bitte, meine Damen und Herren, in die Kajüten; ein Offizier bleibt mit einigen Matrosen bei Ihnen. Klar Deck überall! Nein, nein, Sie werden nicht eingeschlossen, ich komme gleich selbst hinunter. – Luken dicht! Klar bei den Brassen! – Klar bei den Booten! – Klar überall!“
Halb mit Gewalt mussten die Passagiere nach den Eingängen zu den Kajüten gebracht werden. Die Unglücklichen! Dort unten erwartete sie wirklich ein feuriger Pfuhl.
„Was steht zu befürchten, Karl?“, flüsterte Eva, die noch nicht gegangen war, ebenso Heermann nicht. „So verstört habe ich dich noch nie gesehen.“
Des Kapitäns erkünstelte Sorglosigkeit schwand vor der Schwester, stier blickte er um sich.
„Sturm, Klippen, Brandung – das kann ich fühlen, hören, sehen – damit will ich kämpfen – aber hier – ich weiß nichts! Der Kompass versagt – nicht nur der eine – alle, alle! – die Nadeln schwirren im Kreis herum, der Magnet zieht nicht mehr an, und anstatt dass das Barometer unter dem kolossalen Druck steigt, fällt es! – Das ist ein Spiel der Hölle!“
„Findest du denn keine Erklärung, Karl?“
„Nein, es gibt keine Erklärung für dieses Phänomen! Die Naturgesetze sind aufgehoben! Eines gäbe es – aber an so etwas zu denken, ist ja heutzutage offener Wahnsinn – Eva,Herr Claudius – es wäre doch einmal möglich, dass ein von den Astronomen unberechnet...“
Ein greller Feuerschein durch die Nacht, ein furchtbarer Donnerschlag, ein Heulen, Krachen, Splittern, Bersten – Heermann verlor den Boden unter den Füßen, er glaubte durch die Luft zu sausen, und dann wusste er nichts mehr von sich.
Als Heermann wieder zu sich kam, war das Erste, dessen er sich bewusst wurde, dass er mit der Rückenseite des Körpers auf einer sehr schrägen Fläche lag und dass ihm eine Hand die Schläfe rieb.
„Es wäre doch einmal möglich“, murmelte er, „dass ein von den Astronomen unberechnet... Was wollte der Kapitän sagen? – Bitte, Herr Kapitän, sprechen Sie doch weiter.“
„Herr Claudius, kommen Sie zu sich.“
Er schlug die Augen auf und blickte in Evas verstörtes Gesicht.
„Wo bin ich? Das ist doch – kein Deck?“
„Sind Sie unverletzt?“, erklang es angstvoll.
Er stand auf, musste aber vorsichtig sein, um nicht abzugleiten, wollte sich recken, hielt aber mitten in der Bewegung inne und stand mit erhobenen Armen wie erstarrt da.
„Allmächtiger Gott!“
Eva schlug die Hände vor das Gesicht.
„Mein Bruder – der ‚Gladiator‘ – alles, alles hin“, jammerte sie.
Dann raffte sie sich auf und deutete nach oben.
„Dort im Gras liegt Martha, ich kann sie nicht allein lassen. Kommen Sie.“
Eiligst kletterte sie den Abhang hinauf, Heermann blieb noch zurück, seinen Augen nicht trauend.
Den Abhang bildete eine ebene Fläche von etwa 40 Grad Neigung, zwar völlig glatt, aber doch rau wie Zement, auch so grauschwarz, und hier und da hing noch eine festgewachsene Seemuschel. Es sah ganz aus wie ein abgewaschener Meeresstrand bei Ebbe; aber so hoch konnte das Meer dort unten doch nicht steigen! Und dieses Meer dort unten schäumte und kochte und tobte in einer Weise, wie es Heermann noch nie gesehen hatte. Geradeaus und seitlich nach rechts hatte er einen freien Blick auf die haushoch gehende See – was aber war das links, was ihm die Aussicht versperrte?
Gewiss, es war festes Land, aber doch wieder kein Land – ein Goldblock, ein ganzer Goldberg, der vom Himmel gestürzt sein musste! In der tiefstehenden Sonne glänzte und gleißte der Berg, dass Heermann geblendet die Augen schloss. Er war von rundlicher Gestalt, eine richtige Halbkugel, nur dass diese von tiefen Rissen durchzogen war, in denen es ebenfalls wie Gold glänzte. Er mochte so hoch sein wie dieses Ufer, die Entfernung hiervon schätzte Heermann auf ungefähr 500 Meter und in dem Kanal, den so der Berg mit diesem Land bildete, schoss das Wasser mit furchtbarer Gewalt.
Nochmals rieb er sich die Augen. Träumte er wirklich nicht? Was war das für ein Naturspiel? Was war überhaupt mit ihm geschehen?
Er hörte ein Kind schreien, das war Martha, oben stand Eva, sie rief und winkte ihm, er kletterte hinauf. Hier hatte offenbar noch vor Kurzem das Meer gespielt, und erst oben erreichte er die frühere Küste.
Ein wüster Anblick bot sich ihm dar. Es war ein Wald gewesen, jetzt lagen die Bäume wild durcheinander, entwurzelt, geknickt und zerschmettert. Nur schlanke Stämmchen und Büsche waren stehengeblieben, alles tropisch-indische Vegetation, Sandel, Palmen, Bignonien, Aloen und Teakbäume sowie Gewürzsträucher, Lianen, Blumen und Gräser.
Zuerst beschäftigte er sich mit der schreienden Martha, die mit blutbefleckten Kleidern im Gras lag, während Eva daneben kniete, die Hände gefaltet, verzweiflungsvoll auf das Kind blickend.
Ein Arzt war Claudius nicht, er musste aber doch etwas davon verstehen, das sah man gleich, als er das Kind untersuchte. Und wie er dann erklärte, es habe nichts gebrochen, keine innerlichen Verletzungen davongetragen, es seien nur tüchtige Hautabschürfungen – das klang so überzeugend, dass Eva hierüber gleich beruhigt war.
Während er mit Taschentüchern und abgerissenen Wäschefetzen Verbände anlegte, suchte er sich zu erkundigen, was Eva von dem Schiffbruch wisse. Es war schwer, von dem bis ins Innerste erschütterten Mädchen etwas zu erfahren.
Auch sie wusste nur von einem Blitz oder vielmehr von einem Flammenmeer zu erzählen, von einem Donnern und Krachen; sie hatte Martha umschlungen und dann war es ihr gewesen, als erfasse sie ein Wirbelsturm.
Aus der Ohnmacht erwachend, fand sie sich hier oben liegend, nicht auf dem Gras, sondern direkt darunter, auch noch auf der schiefen Ebene, die hier aber ganz anders aussah. Hier war sie mit weißem Sand bedeckt, zeigte viele Muscheln, Schalen und Seepflanzen. Hier war Ebbe und Flut tätig gewesen, das Meer musste jetzt nur ausnahmsweise tief, sehr tief zurückgetreten sein.
Sie hatte Martha noch im Arm, deren Schreien sie weckte. Wie sie hierhergekommen, konnte sie absolut nicht sagen. Auch sie hatte so wie Claudius nicht die geringste Verletzung davongetragen. Das Kind liegenlassend, rannte sie an das Ufer, sie wollte ihren Bruder retten. – Sie war natürlich ganz von Sinnen. – Von Schiffstrümmern keine Spur, nicht eine Planke, der goldene Berg erhob sich schon dort, und da, wo die sonst ebene Fläche von einer Klippenformation unterbrochen wurde, entdeckte sie einen menschlichen Körper zwischen Felsblöcken eingekeilt. Es war ein Passagier, tot, bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert. Dann glaubte sie noch einmal einen Menschen stranden zu sehen, er wurde aber gleich wieder fortgeschwemmt und der Bruder war es nicht gewesen. Hierauf erblickte sie ihren Freund und begab sich zu ihm hinab. Wie lange sie ohnmächtig gewesen, vermochte sie nicht anzugeben, sich nichts zu erklären.
„Wie denken Sie nun über die Ursache des Schiffbruchs? Gescheitert sind wir nicht, können nicht auf eine verborgene Klippe gelaufen sein.“
„Ach, ich kann nicht denken, mein Kopf ist so wirr.“
„Ich vermute ein unterseeisches Erdbeben, dem auch jener Goldberg dort seine Entstehung verdankt. Nein, es ist ja nicht möglich! Gold, Gold? Nun es könnte auch blankes Kupfer sein. Der Meeresboden geborsten, emporgehoben, das Innere nach außen gequollen, Gold und Kupfer sind dehnbar – alle Wetter, was ist das?“
Die Erde erzitterte, ein unterirdisches Murren wurde minutenlang hörbar, der Boden schwankte sogar.
„Da haben wir’s – Erdbeben! Wir sitzen auf vulkanischem Grund. Nette Geschichte das, nun können wir nochmals in die Luft fliegen.“
Das Kind war verbunden, noch unter des Arztes Händen war es vor Ermattung eingeschlafen. Claudius bat Eva, hier auf ihn zu warten, er wolle Umschau an der Küste halten.
Auf dem vegetationsfreien Meeresstrand – das heißt auf dem früheren – nach rechts gehend, dennoch oft über gestürzte Baumstämme steigen müssend, überlegte er sich die Situation. Wo befanden sie sich? Das konnte sein: Festland von Hinterindien oder Sumatra oder auch eine Insel jener vielen Gruppen in der Straße von Malakka, zum Beispiel eine der Prinz-Wales-Inseln. Vorläufig konnte er noch nicht einmal berechnen, wo Osten und wo Westen war. Vorhin nämlich hätte er darauf schwören mögen, die tief stehende Sonne steige, jetzt aber merkte er, dass sie sank... Und dann befand er sich vielleicht auf einer sich biegenden Halbinsel oder an einer großen Bucht, sodass er sich über die Richtung des Meeresstrandes täuschte. Um ein Uhr mittags etwa war die Katastrophe erfolgt, eine ganze Nacht hindurch hatte er wohl nicht bewusstlos dagelegen, also war das dort auch die untergehende Sonne, das heißt, dort war Westen. Dann musste er immerhin mindestens sieben bis acht Stunden bewusstlos gewesen sein. Seltsam! Er fühlte keine Schmerzen, sich nicht schwach, nicht hungrig, nicht durstig. Und man ist doch nicht so ohne Weiteres sieben Stunden ohne Besinnung. Eines frappierte ihn noch ganz besonders: Als er erwachte, waren seine Kleider fast noch triefend nass gewesen. Wie kam das? Es wehte ein sehr starker Wind und noch dazu ein äußerst warmer. Der hätte ihn doch in sieben Stunden trocknen sollen! Dabei war irgendein Rechenfehler, soviel wurde ihm klar.
Er besaß ein Taschenmesser, die Uhr war auf zehn Minuten nach eins stehengeblieben, einige Kleinigkeiten, wie man sie bei sich führt, sonst nichts weiter, keine Waffe, den Hut hatte er verloren. Offenbar herrschte hier eine Wildnis, jetzt doppelt schwer zu durchdringen; musste der Marsch gemacht werden, um auf Menschen zu stoßen, so hing seine und Evas dünne Tropenkleidung nach einer Stunde in Fetzen um den Leib. Auf was für Menschen konnte man hier zu treffen hoffen? Im günstigsten Fall auf Kolonisten, sonst auf Malaien, Chinesen, Hindus oder auf unzivilisierte Wilde, auf keinen Fall eine gewünschte Begegnung, besonders wenn man ohne Waffen ist. Ferner war noch mit reißenden Tieren zu rechnen, blutsaugende Moskitos mit eingeschlossen, mit Fieber und mit...
Ein neues unterirdisches Donnern mit starker Erschütterung des Bodens bestätigte das Vorhandensein der letzten, noch nicht ausgesprochenen Gefahr.
Claudius wandte sich um, dem glänzenden Festland zu. Ein Nebel stieg auf, der das Funkensprühen milderte, aber desto mehr funkelten jetzt seine Augen auf.
Nicht, weil er Gold vermutete – überdies war die Farbe zu rotdunkel, es mochte eher Kupfer sein – aber darauf musste er erst noch einmal seinen Fuß setzen, eher ging er nicht von hier weg, dieses heilige Gelübde legte er ab, und sollte er durch den reißenden Strom schwimmen.
Er setzte seinen Weg fort, vergebens nach einem menschlichen Körper, tot oder lebendig, ausspähend. Kein Holzsplitter war angetrieben worden.
„Herr Claudius!“, erklang da der jubelnde Ruf.
Mit einigen Sätzen sprang er an den Waldessaum, wo sich unter einer Sykomore[2] ein Bach hervorzwängte und jäh den Abhang hinunterrauschte.
Der Schiffsjunge Georg war es, der auf der anderen Seite des Baches saß und das blutende Knie wusch. Auch um den Kopf hatte er sich einen Verband gelegt, vom Hemd abgerissen.
„Bist du allein?“
„Ich habe niemand weiter gesehen, nichts ist angeschwemmt worden, und ich bin doch erst ganz weit da hinaufgelaufen, bis ich an einer Schlucht umkehren musste. Und Sie?“
Claudius teilte ihm kurz mit, dass vorderhand nur noch Fräulein Becker und Martha gerettet seien.
Dem Jungen kugelten ein paar Tränen über die braunen dicken Backen, doch war seine Verzweiflung sonst weniger groß.
„Treten Sie nicht in das Wasser, es ist kochend heiß.“
Der Gewarnte überzeugte sich davon. Die Luft musste viel Wasserdampf enthalten, dass der Bach nicht rauchte.
„Ist die Verwundung schlimm?“
„Weh tut’s genug, kann aber ganz gut laufen. Was ist das nur für ein goldener Berg dort?“
„Erst lass mich einmal fragen. War die Wunde verharscht, als du hierher kamst?“
„Nein, sie blutete noch.“
„Sie blutete noch ganz frisch?“
„Ganz frisch, jawohl, auch das Loch im Kopf.“
„Wie lange Zeit verstrich von da an, als du zur Besinnung kamst, bis du hier anlangtest?“
„Höchstens eine halbe Stunde.“
„Unmöglich! Oder hast du im Wasser gelegen?“
„Nein, dort oben. Ich war auch gar nicht bewusstlos.“
„Erzähle mir, was du weißt.“
„Ich sah gerade nach Westen, plötzlich war es mir, als ob der ganze Himmel und das Meer in Flammen stünden, und da schoss ich auch schon wie aus einer Kanone durch die Luft. Was ich dabei gedacht habe, kann ich freilich nicht sagen, aber dass ich ins Wasser fiel, das weiß ich bestimmt, und dann bekam ich einen Schlag gegen den Kopf, und wie ich mich umsah, lag ich da oben auf dem Trockenen und alles war so, wie es jetzt ist. Nur ein furchtbarer Sturm muss noch gewesen sein.“
„Du sagst, du seiest gar nicht bewusstlos gewesen?“
„Ich glaube nicht, oder höchstens einen Augenblick.“
„Aber die Sonne steht doch ganz tief.“
„Ja, darüber habe ich mich auch schon gewundert.“
Claudius schüttelte den Kopf. Er konnte sich über die Zeit, die zwischen der Katastrophe und jetzt verstrichen war, durchaus nicht klarwerden. Dass der Schiffsjunge bei Besinnung gewesen und also erst eine halbe Stunde vergangen sei, vermochte er nicht zu glauben.
„Dort liegt auch ein brauner Kerl, Herr Claudius, es wird wohl ein Malaie sein. Ein Baumstamm hat ihn erschlagen, er ist mausetot.“
Claudius balancierte auf einem Stamm über den Bach, ließ sich den Ort beschreiben und hieß dann Georg, zu Eva zu gehen und jenseits der Klippen die Küste weiter abzuspähen. Auch Georg hatte außer seinen Kleidern auf dem Leib nur noch ein Schiffsmesser in Lederscheide.
An der bezeichneten Stelle fand er den von einem fallenden Baumstamm getroffenen Menschen, einen Malaien. Der Brustkasten war ihm vollständig eingedrückt worden. Waffen hatte er nicht bei sich gehabt, Claudius fand auch keine in der Umgebung, die er absuchte, überhaupt nichts, und der Mann war nur mit einem Schurz bekleidet. Er mochte vor dem Erdbeben nach dem Meeresstrand geflohen sein, und leicht konnte es sein, dass hier in der Nähe eine Ansiedlung war, und dann sicher an dem heißen Bach, dessen Wärmequelle sich die Eingeborenen wohl nicht entgehen ließen.
Es wurde immer nebliger, die Sonne stand dicht über dem Horizont, ihre Strahlen konnten den Nebel kaum noch durchdringen und es musste daran gedacht werden, ein passendes Nachtquartier zu finden. Dann war auch noch an die Nahrungsfrage zu denken.
Unter häufigen Erdstößen, begleitet von Donner, verfolgte er den Bach aufwärts, der sein ehemaliges Bett wegen der hindernden Bäumen oft verlassen hatte und sich einen neuen Weg suchte. Die Verwüstung war eine derartige, dass Claudius kaum hoffen konnte, ein lebendes menschliches Wesen zu finden. Der Wald erstreckte sich bis dicht an die Küste, und was sich in diesem Wald befunden hatte, war erschlagen worden. Der Grund der Zerstörung musste ein Wirbelsturm gewesen sein, weniger das Erdbeben, denn die geknickten Bäume hatten meistens die Richtung nach der Küste zu genommen. Ein dunkelgrauer Klumpen zog seine Aufmerksamkeit auf sich und zu seiner Überraschung erkannte er ein Nashorn, von einer Sykomore breit geschlagen. Erfreulich war diese Entdeckung nicht. Wo Nashörner lebten, war wenig Hoffnung vorhanden, in der Nähe von kultivierten Landstrichen zu sein.
Als er einmal auf einem sehr hohen Stamm stand und über seine nächste Umgebung hinwegsehen konnte, erkannte er, dass es nur ein schmaler Waldsaum längs der Küste war. Dort begann schon die Region des Dschungels und das biegsame Rohr hatte dem Sturm getrotzt, wenigstens zum Teil, es sah aus wie ein stellenweise niedergeregnetes Ährenfeld.
Er arbeitete sich darauf zu durch, erreichte eine freie Stelle, nur mit einigen Bäumen bedeckt, die der Sturm hierher geschleudert hatte, und sah am Rand des Dschungels eine niedrige, aber breite Hütte aus Rohr stehen. Ein Obdach für die Nacht war schon gefunden.
Die Hütte beherbergte Menschen, und zwar lebende. In der einen Ecke lagen zwei Männer lang ausgestreckt auf dem Bauch, das Gesicht an die Erde gedrückt, in einer anderen bildeten menschliche Gliedmaßen ein wirres Knäuel, Claudius glaubte einige Weiber und Kinder unterscheiden zu können. Aber in dem Knäuel war Leben. Einer der Männer murmelte in den Boden hinein.
„He, hallo, wer seid ihr?“, rief Claudius, sich der englischen Sprache bedienend.
Einer der Männer wendete den Kopf nach ihm und drückte das Gesicht schnell wieder auf den Boden. Alle wurden von Furcht beherrscht. Claudius ging zu ihm hin und rüttelte den Malaien, denn ein solcher war es ohne Zweifel.
„Bist du verwundet, Mann, oder krank?“
Der Gefragte antwortete nicht, er drückte sich nur noch fester an den Boden. Jetzt aber richtete sich der andere etwas auf und wandte ihm das von Entsetzen verzerrte Gesicht zu.
„Sahib“, flüsterte er.
Das war kein Malaie, eher ein Inder, und dass er den Fremden mit ‚Sahib‘ anredete, ließ darauf schließen, dass er mit Engländern schon verkehrt hatte.
„Sprichst du Englisch?“
„Oh, Sahib, Indra kämpft mit Vritra und Ahl“, entgegnete der Mann auf Englisch.
Also hatte Claudius einen Brahmanen vor sich. Jedoch irrte er sich, wie er später einsah. Der Mann war Mohammedaner, wie überhaupt der Mohammedanismus jetzt ganz Hinterindien und den malaiischen Archipel beherrschte, nachdem Brahmismus und Buddhismus verdrängt worden waren. Aber die neue Religion hatte hier wenigstens einen Teil jener Legion von Göttern, Dämonen und Geistern mit herüber genommen, die nach brahmanischer Lehre das Weltall bevölkern.
„Wo bin ich hier? Wie heißt dieses Land?“
„Phunga.“
Claudius kannte den Namen Phunga nicht.
„Was ist das, Phunga? Ein Land?“
„Jama kommt und Varuna wartet auf uns. Das Ende der Welt ist da!“
„Ist das Malakka?“
Ein unterirdisches Murren machte sich bemerkbar, das bis zum Donner anschwoll, die Erde senkte und hob sich in Wellenbewegungen, die Männer drängten sich zusammen, pressten das Gesicht auf den Boden, schrien Allah, den Propheten und brahmistische Götter an und stöhnten. Weiberstimmen kreischten, Kinder wimmerten.
Claudius gab den Versuch auf, jetzt etwas Näheres zu erfahren, die Leute hatten durch das Erdbeben, das ihnen wahrscheinlich noch ganz fremd war, völlig die Besinnung verloren. Vielleicht hatten sie auch noch Schrecklicheres durchgemacht, was Claudius während seiner Ohnmacht entgangen war.
Die Hütte enthielt einige irdene Töpfe, Blechgefäße zum Kochen, eine Menge von verschiedenen Decken und Fellen, roh gegerbt und schon gebraucht. Mehrere Messer lagen am Boden, auffallend viele Äxte und sonstige primitive Hausgeräte. Auch Pfeile und Bogen sah Claudius, aber keine andere Schusswaffe. Draußen hatte ein Haufen von Bambusrohren gelegen, ursprünglich wohl aufgestapelt und nun zusammengestürzt. Es mochten indische Bambusschneider sein, die hier hausten und das Rohr zum Verkauf nach der nächsten Stadt brachten. In der Mitte der Hütte war ein Feuerherd, unter der Asche glühte noch lebhaft ein Holzblock. Auch das fiel Claudius auf. Ehe er ging, um die anderen zu holen, sorgte er durch Nachlegen von Holz dafür, dass er beim Zurückkommen ein helles Feuer fand. Hätte er diese Leute nicht getroffen, würde er keine Möglichkeit gehabt haben, sich überhaupt Feuer zu schaffen. Hier fand er wenigstens Gerätschaften zum Kochen und sicherlich waren auch Nahrungsmittel vorhanden. Daneben floss aus dem Dschungel die Quelle, nur wenige Grad unter dem Siedepunkt heiß.
Es herrschte Dämmerung. Ob die Sonne schon untergegangen war, vermochte Claudius nicht zu sagen, der Himmel hatte eine graue Farbe angenommen. Der immer stärker werdende Wind drohte in einen Sturm auszuarten, doch war er nicht mehr so warm wie vorhin, er kühlte sich ab. Erdstöße ließen nach wie vor den Boden erzittern. Das Meer war noch ebenso aufgeregt, in der Straße schoss das Wasser mit ungeheurer Geschwindigkeit nach Westen zu. Der jetzt nicht mehr Strahlen reflektierende Berg – von hier aus jedoch sah Claudius, dass er sich unermesslich weit nach Süden erstreckte – zeigte eine dunkelrote Färbung, machte aber noch immer den Eindruck, als sei er bis auf die Risse spiegelblank poliert. Ehe Claudius sich zu Eva begab, kletterte er die schiefe Ebene hinab, näherte sich vorsichtig der wütenden Brandung und überzeugte sich, dass das Wasser eine abnorme Wärme aufzuweisen hatte. Lange durfte er dabei nicht verweilen, nur ein Sprung rettete ihn davor, von einer mächtigen Welle weggespült zu werden.
Eva lehnte sitzend an einem gefällten Baumstamm und hatte das schlafende Kind auf dem Schoß. Sie war gefasst. Auch Georg war jetzt bei ihr, immer verlangend nach dem Berg blickend, den er schon in seiner Tasche wähnte und sich mit ihm zu Hause dachte. Für ihn bestand er aus Gold. Sein Suchen auf der anderen Seite der Klippenregion nach Schiffbrüchigen und Trümmern war fruchtlos gewesen.
Claudius teilte ihnen mit, dass er Nachtquartier und Menschen gefunden habe, von denen nichts zu fürchten sei. Sie machten sich auf den Weg dorthin, Claudius trug das Kind. Die seelische Anspannung war noch eine zu große, um ein Gespräch anknüpfen zu können, Eva stellte nicht einmal besorgte Fragen wegen des unterirdischen Rollens, das sich in kurzen Zwischenpausen wiederholte, ob eine neue Eruption zu befürchten sei.
Die Eingeborenen befanden sich noch in ihrer alten Lage, hoben nicht einmal den Kopf, als die fremden Gäste eintraten und ihre Stimme hören ließen. Es war unterdessen Nacht geworden und ganz empfindlich kühl, man konnte das jetzt hell flackernde Feuer recht wohl die ganze Nacht brauchen, nicht nur um sich unter den Vorräten der Eingeborenen zu orientieren. Zunächst wurde das Kind auf getrocknetes Gras und Decken gebettet, Claudius und Georg sorgten noch für einen genügenden Holzvorrat und trugen Wasser herbei, das in wenigen Sekunden kochte. In einem Winkel der Hütte fand man Säckchen mit Reis, Tee, etwas Salz und ein großes in Blätter gewickeltes Stück Fleisch, die Keule eines Wildes. Auch an dem Essen wollten die von Panik ergriffenen Eingeborenen nicht teilnehmen. Wie Claudius jetzt unterschied, waren es außer den beiden Männern drei Weiber, eines davon noch jung, drei halbwüchsige Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, und ein Kind von etwa einem Jahr, das an der Brust der Mutter lag.
Schweigend verlief die Mahlzeit. Nur Georg begann mehrmals von dem Goldberg, Claudius verwies ihm seine Habgier, er solle Gott danken, dass er gerettet sei. Morgen, nach einem kräftigenden Schlaf, konnte man wohl eher über die nächste Zukunft beraten. Betten wurden improvisiert, Eva gab Claudius die Hand ohne ein Wort und drückte sie ihm, dann legte sie sich wie Georg hin. Mit einer Decke verhing er den niedrigen Eingang, denn der Wind blies unangenehm kalt herein – der Rauch des Feuers fand durch die Spalten an Wänden und Dach überall einen Ausweg –, setzte sich an das Feuer und hing seinen Gedanken nach. Er hörte noch Eva leise beten, dann verrieten regelmäßige Atemzüge, dass alles schlief, wohl auch die Eingeborenen. Die Seelenanstrengung hatte alle erschöpft.
Das also war der erste Januar gewesen! Fürwahr, das neue Jahr ließ sich gut an. Es hatte den „Gladiator“ vernichtet und nur vier Menschen an Land geworfen. Das war schließlich Nebensache, das konnte auch jeden anderen Tag passieren. Aber es hatte ein Erdbeben im Gefolge gehabt, ein furchtbares Ereignis, über dessen Art sich der grübelnde Mann keine Rechenschaft geben konnte, hatte eine neue Insel erzeugt, vielleicht ein Festland, aus Kupfer oder Gold...
Diese Kälte wurde unangenehm. Kalte Nächte sind in Indien nichts Seltenes, aber eine solche Temperatur hätte er doch nicht erwartet. Er deckte seine Gefährten mit Fellen zu und setzte sich wieder. Mochten die Eingeborenen frieren, was kümmerte das ihn. Die waren wohl an solche Temperaturwechsel gewöhnt.
Das unterirdische Grollen und Rollen ließ sich jetzt spärlicher vernehmen, der Sturm hörte auf zu heulen.
Claudius sann und sann.
Was hatte die magnetische Kraft aufgehoben? Welchen Gründen hatten die Naturphänomene ihre Entstehung zu verdanken?
„Es wäre nur möglich, dass ein von den Astronomen unberechnet...“
Was hatte Kapitän Becker sagen wollen? Ein kritischer Tag, der ein Erdbeben mit sich brachte?
Unter solchem Grübeln schlief Claudius endlich ein.
Als er erwachte, war das erste Gefühl das von Kälte. Eva hatte ihn an der Schulter gerüttelt. An dem niedergebrannten Feuer kauerte der Englisch sprechende Inder und hielt die Hände über die Glut.
„Fieber, Sahib, viel Fieber“, sagte er mit klappernden Zähnen.
„Ein neues Wunder, Herr Claudius“, flüsterte Eva, „es ist so entsetzlich kalt, mich schüttelt es am ganzen Körper. Haben Sie denn Fieber?“
Der Gefragte griff sich an Puls und Stirn.
„Nein, aber wahrhaftig, das ist ja eiskalt!“
Er sprang auf und warf Holz auf das Feuer. Seine Finger waren schon erstarrt, der Atem quoll als dicker Nebel aus dem Mund. Georg hatte sich in seine Decke gewickelt, dass überhaupt nichts mehr von ihm zu sehen war, Martha trank am Feuer heiße Bouillon und klagte über die Kälte, die anderen Eingeborenen zitterten wie Espenlaub und blickten alle nach dem Feuer, wagten aber nicht heranzukommen.
„Heran hier, ans Feuer“, rief Claudius, „Ihr erfriert dort ja!“
Schließlich kamen sie und machten sich gleich gierig über die Reste der Mahlzeit, die Finger konnten aber das Fleisch kaum halten, ihre Körper waren eiskalt.
„Ist es denn hier manchmal in der Nacht so kalt?“
„O Sahib, verlasse uns nicht, wenn du uns retten kannst. Vritra vernichtet alles Lebende, denn er hasst es. Warum haben wir nicht an ihn geglaubt!“
„Auch den Indern ist diese Kälte neu“, wandte sich Claudius an Eva. „Begreifen Sie, wie das kommt?“
Mit gleichen Füßen sprang Georg auf, schüttelte sich aus der Decke und steckte die Hände in die Hosentaschen. Seine Nase war ganz blau angelaufen.
„Donner und Blitz, frieren Sie denn auch so? Ich habe geträumt, ich wäre bei einer Polarexpedition, wir hätten den Nordpol entdeckt.“
Claudius griff nach einem schlankhalsigen Tonkrug, den er mit Wasser gefüllt hatte. Er blickte und fühlte hinein, schlug den Hals ab und gab dem Inder einen Eisklumpen.
Dieser besah sich ihn, schleuderte ihn fort und schrie vor Angst.
„Sie kennen kein Eis. Und hier in der Nähe des Feuers gefriert das Wasser. Merkwürdig, sehr merkwürdig.“
Er schlug die Decke zurück, trat ins Freie und erstarrte zur Statue. Es herrschte Dämmerung, hell genug, um alles erkennen zu können, nicht durch die Sonne erzeugt, sondern durch den reflektierenden Schein des – Schnees!
Eine vollkommene Winterlandschaft bot sich ihm dar, alles war mit Schnee bedeckt und dieser so fest, dass er Claudius trug. Ein nordischer Winter in Indien! Nahe dem Äquator! Claudius war so in Staunen versunken, dass er den Panther gar nicht beachtete, der zum Sprung geduckt, aber halb im Schnee verborgen, dicht vor ihm kauerte. Aber das Tier sprang nicht, nie mehr.
Dagegen riss ihn die furchtbare Kälte schnell aus seinem Träumen. Kaum war er noch fähig, in die Hütte zurückzutreten, und sofort hielt er sein Ohr.
„Fräulein Becker, sehen Sie hier“, rief er und fast klang es triumphierend. Noch einmal schlug er den Vorhang zurück.
„Mein Gott!“, stöhnte Eva.
„Polarwinter auf der Halbinsel Malakka, das heißt am Äquator. Ich habe bereits meinen Denkzettel weg, dass man nicht ungestraft so im Freien wandeln darf – das eine Ohr ist mir schon erfroren, hoffentlich bleibt es bei dem einen.“
„Herr Claudius, das ist – nein – ich träume – ich werde wahnsinnig.“
„Tun Sie es nicht, es würde an der Weltgeschichte nichts ändern.“
Seine Augen blitzten freudig, als er in den Bereich des Feuers trat und feierlich sagte:
„Fräulein Becker, ich habe die Erklärung gefunden. Mag es nun durch eine Revolution im Inneren der Erde entstanden sein oder durch sonst etwas, jedenfalls: Die Achsenlage der Erde zur Sonne hat sich verschoben, die Erde macht eine andere Umdrehung!“