Die neue Kunst des Leitens - Emmanuela Kohlhaas - E-Book

Die neue Kunst des Leitens E-Book

Emmanuela Kohlhaas

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Beschreibung

Sie ist Coach, Organisationsberaterin und Führungskraft: Emmanuela Kohlhaas kennt alle Facetten von Leiten und Führen. Auch die negativen. Als Nonne ist sie Teil der Kirche und erlebt dramatisches Leitungsversagen, als Priorin leitet sie ein Benediktinerinnenkloster in Köln, das boomt. Aus diesem Kontrast heraus schreibt sie über Leitung. Moderne Leitung, die Menschen sich entfalten lässt, die Potenziale nutzt und Stärken fördert, die mit Krisen und mit Umbrüchen umgehen kann – egal ob in Familie, Firma oder eben Kirche. Ihre Prinzipien gelingender Leitung sind allgemein. Kohlhaas veranschaulicht sie zusätzlich durch ihre eigene Geschichte: von ihrem Professjubiläum auf einer Baustelle über den Umgang mit Altlasten, über Machtkämpfe und Schattenspiele hin zur Beteiligung aller in der Entscheidungsfindung. Sie weiß, was die entscheidenden »Gamechanger« auf diesem Weg sind und zeigt: Top-Down war gestern.

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Emmanuela Kohlhaas

Die neue Kunst des Leitens

Wie Menschen sichentfalten können

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Max Grönert, Köln

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL, Timisoara

ISBN E-Book (ePub) 978-3-451-82682-5

ISBN Print 978-3-451-39282-5

Inhalt

Vorwort

START-UP

Vorahnungen oder „Der Karneval der Tiere“

Aufbruch in ein unbekanntes Land

Der Tsunami – Reizüberflutung

Altlasten 1

Rolle, Identität und Macht

Im Spiegelkabinett

BASICS

Deeskalation als Haltung

Die Energie halten

Mikropolitik: Von der Macht der Integration

Wie geht Transparenz?

„Den Teufel nicht in den Mund nehmen“ – Wertschätzung

KRISE

Im Bodennebel oder Altlasten 2

Als Blitzableiter: Von Schattenspielen und Machtkämpfen

„Die Logik des Misslingens“ – Komplexität

Die wundgeriebene Haut – wo ist meine Grenze?

Gruppenresilienz

GAMECHANGER

Wiederwahl und Aufbauarbeiten

Effektivität: Den Tanker bewegen

Leitung als Moderation – Gewaltenteilung und Beteiligung

„Eure Rede sei ja, ja und nein, nein“ – das klare Wort

Brandherdbekämpfung oder die Kunst der Priorisierung

NO RISK, NO FUN

Gelassenheit – ist alles ganz einfach?

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“

Matchball – Priorin in Afrika

Auf dem Weg zu einer Konsenskultur

Neugründung

Danksagung

Anmerkungen

Über die Autorin

Vorwort

Natürlich wusste ich schon immer, was alles zu verbessern sei, was ich alles anders machen würde, wenn ich die Leitung hätte. Bis es mich selbst traf, hat es mich deshalb immer mächtig geärgert, wenn es hieß, nur wer selbst drinsteckt, wer es selbst tut, verstehe wirklich, was Leiten bedeutet. Heute, nach fast zwölf Jahren in einer alle Ebenen des Lebens umfassenden Leitungsrolle, habe ich gelernt, über mich zu schmunzeln. Und manchmal sage ich nun selbst, was mich damals so geärgert hat: „Wer’s weiß, wird’s wissen.“ Ja, es braucht Leitungserfahrung, um zu verstehen.

Aber diese Erfahrung ist nicht nur auf der offiziellen Leitungsebene zu finden. Denn es gibt in Familien, Gruppen, Organisationen und Systemen viel verborgene Expertise in der Frage, wie Leitung geht. Oft sind es einfach der gesunde Menschenverstand und das schlichte, geduldige oder gar selbstlose Tun im Kleinen von Menschen, die formell oder informell Verantwortung übernommen haben. Sie lassen „es“ gelingen und finden dabei manchmal auch spontan Antworten auf große, scheinbar unlösbare Fragen und Probleme. Um dieses Wissen soll es gehen, um Leitungswissen, um das Know-how, das es braucht, erfolgreich zu leiten. Und „erfolgreich“ heißt für mich, so zu leiten, dass sich möglichst alle einbringen, ihre Gaben entfalten können und miteinander das gemeinsame Ziel zu verwirklichen suchen. Gelingende Gemeinschaft und gemeinsames Tun sind sinnstiftend, egal ob im Kloster, im Sportverein, in der Schulklasse oder im Chor, ob in der eigenen Familie, einer Arztpraxis oder einer Firma.

Das hier ist meine Geschichte, erzählt aus meiner Perspektive als Leitung, im Blick auf unsere gemeinsame Geschichte als klösterliche Gemeinschaft. Ich folge der Spur meines eigenen Lernprozesses, meiner Ideen, Träume und Sorgen. Und es geht um die Themen und Fragen, die sich mir als Priorin gestellt haben, die Antworten, die ich gefunden habe, und die Probleme, die ich zu lösen versucht habe. Ich schreibe als eine Frau, die das höchste Leitungsamt in ihrer Organisation innehat, und zugleich als Fachfrau, die sich im Bereich von Coaching, Supervision und Organisationsberatung professionalisiert hat.

Frauen in Führungspositionen sind in den letzten Jahrzehnten in Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft viel häufiger geworden, aber immer noch nicht selbstverständlich. Als Frau in der Kirche eine solche Position zu bekleiden, ist höchst außergewöhnlich. Als oberste Leitung ist dies nur in der Sonderwelt der weiblichen Ordensgemeinschaften möglich. Hier ist manches ganz normal, was sonst kaum denkbar ist: Ich wurde demokratisch und auf Zeit gewählt. Was für die Hierarchie der katholischen Kirche unvorstellbar erscheint, ist für uns Orden in derselben Kirche und durch deren eigene Gesetzgebung Pflicht. So leite ich einen weitgehend autonomen Bereich, in dem auch der Diözesanbischof nur wenig Einfluss hat. Ein Bischof sagte uns einmal in einem Gespräch, bei dem wir nicht so wollten, wie er wollte: „Sie sind so selbstständig! Da kann es einem Bischof nur angst und bange werden.“

Meine Geschichte gibt Einblick in diese ganz eigene Welt, die so anders ist und doch viel gemeinsam hat mit den Lebenswelten der meisten Menschen. Das Kloster, das ich leite, ist eine Art Biotop, umfasst es doch die gesamte Lebenswelt seiner Bewohnerinnen. Auf engem Raum konzentrieren und mischen sich alle Aspekte des Lebens. Es gibt bei uns keine Trennung zwischen Privatleben und Arbeitswelt. Alles ist eins. Was für unsere heutigen Ohren so außergewöhnlich klingt, war die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte schlichte Normalität und ist es für zahlreiche Menschen im Homeoffice während der Coronapandemie auch wieder geworden. So sind es mal Themen geteilten Lebens, die uns beschäftigen, und dann wieder Themen gemeinsamen Arbeitens. Wir bleiben die meiste Zeit am selben Ort und sind doch vielfältig vernetzt, in der Nähe und weltweit. Wir leben mit vier Generationen unter einem Dach, von derzeit 22 bis über 90 Jahren, von denen eine jede ihre eigene Perspektive einbringt. Wir folgen einer fast 1500 Jahre alten Tradition und suchen nach innovativen Wegen in die Zukunft, wollen aus uralten Wurzeln neue Schösslinge wachsen sehen.

In dieser Welt im Kleinen habe ich 2010 die Leitungsverantwortung übernommen und nun neigt sich meine zweite Amtszeit dem Ende entgegen – ein langer und zugleich abwechslungsreich-kurzweiliger Weg, dem die fünf Kapitel dieses Buches folgen. Es geht dabei …

um die Aufbruchssituation zu Beginn: START-UP

um meine ersten Antwortversuche und Strategien: BASICS

um die unvermeidliche KRISE

um die Bedingungen für Wachstum und Wandel: GAMECHANGER

und schließlich um eine doppelte Neugründung als gelungenen inneren Kulturwandel und als Wagnis der Expansion: NO RISK, NO FUN

Über vieles, was ich erzähle, habe ich mich mit anderen Leitungserfahrenen ausgetauscht und so manches Erlebnis und so manche Erkenntnis wurden zu einem Lacherfolg des Wiedererkennens.

START-UP

Eines der größten Abenteuer meines Lebens beginnt. Nach Monaten des Ringens, der Fragen und wachsender Ahnungen werde ich in meiner Lebenswelt zur obersten Leitung gewählt. In diesem Kapitel geht es um diese Erfahrungen der Wahl, des Aufbruchs und der ersten Schritte in ein neues Leben. Staunend, ja fasziniert und zugleich fast erschrocken erlebe ich, wie meine persönliche Welt sich dadurch verändert.

Vorahnungen oder „Der Karneval der Tiere“

In den frühen Morgenstunden fuhr ich nach Frankfurt. Dort angekommen saß ich bei zunehmender Hitze stundenlang auf einer Bank auf der Zeil und versuchte noch Lernstoff in meinen allzu besetzten Kopf zu bringen – vergeblich. Es war der 10. Juli 2010. Die mündliche Semesterabschlussprüfung stand an. Es sollte die schwächste Prüfung in diesem Studium werden. Macht nichts. Dafür setzte sich etwas anderes in meinem Gedächtnis fest. Ich weiß nicht, warum mir das bis heute so präsent geblieben ist, und schon gar nicht, wie diese Nachricht überhaupt bei mir angekommen ist. An diesem Tag war in Frankfurt ein Krokodil aus einer Reptilienshow ausgebrochen. Ein Autofahrer „rief die Polizei an. Die Beamten hatten keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sagte. Drei Streifenwagen wurden eingesetzt. Die Veranstalter der Reptilienshow trugen den Alligator zurück in ihr Quartier. Eine Gefahr habe nicht bestanden, erklärten sie. ‚Ali‘ sei das friedlichste Krokodil der Welt. Es sei bereits 65 Jahre alt und 170 Kilogramm schwer. Wenn es nicht so träge gewesen wäre, hätte es möglicherweise im nahe gelegenen Main verschwinden können.“[1]

Vielleicht war es meine Leidenschaft für Drachen, die mich bei dieser Nachricht aufhorchen ließ. Aber wäre es nur das gewesen, hätte ich sie schnell wieder vergessen. Nein, es lag wohl eher daran, dass gerade mein Lieblingsbild für die Erfahrung des Leitens geboren wurde. Was so amüsant und vielleicht auch ein wenig anstößig klingt, birgt eine tiefe Erfahrung. Wenn Leitung gelingen soll, muss ich lernen, etwas zu lenken, was größer und stärker ist als ich selbst, das einen eigenen Willen hat und keineswegs immer gefügig ist. Das ist faszinierend und bedrohlich zugleich. Es geht ums Lenken und Leiten auf der Basis einer Beziehung, die eindeutige Signale gibt und sich angstfrei der überlegenen Kraft des Tieres bewusst bleibt. Gerade am Anfang sagte ich, wenn ich mich überfordert fühlte, eher zu mir selbst als laut: „Manchmal fühle ich mich wie eine Dompteuse und manchmal wie ein gejagtes Tier.“ Aber ich greife hier weit voraus. Bis zu dieser Erfahrung lag noch ein langer Weg vor mir.

Unsere Suchbewegung im Kloster begann rund anderthalb Jahre zuvor mit einer Überraschung. Am Abend des 2. Januar 2009 rief mich meine Vorgängerin zu sich. Sie teilte mir mit, bei der nächsten Priorinnenwahl würde sie für das Leitungsamt nicht mehr zur Verfügung stehen und wolle dies gleich heute Abend allen Schwestern sagen. Damit hat sie mich überrumpelt. Sie hatte mich einige Monate zuvor gebeten, einen Gesprächsprozess mit der ganzen Gemeinschaft vorzubereiten und zu moderieren. Dieser Prozess sollte an genau diesem Abend beginnen und es sollte dabei um eine Reflexion der vergangenen Jahre gehen und die Frage, was die Gemeinschaft für die Zukunft sieht und wünscht. Nun stand mit einem Mal alles unter einem anderen Vorzeichen und mir wurde schlagartig bewusst, dass dies auch mich persönlich in den Fokus der Schwestern rücken würde bei der Frage: Wen wollen wir jetzt wählen? Aber es war ja noch viel Zeit bis zum 2. Juli 2010, dem Tag, an dem die Wahl stattfinden sollte. Was zunächst folgte, waren gute Monate des Miteinander-Redens in der Gemeinschaft, in denen es um die Bewältigung der gemeinsamen Geschichte ging und auch ungelöste Spannungen deutlicher zutage traten. Für meine Aufgabe als Moderatorin erhielt ich viel Zustimmung. Und zugleich schwang wieder unausgesprochen, aber mir sehr bewusst, darin mit, dass mich dies zur „Kandidatin“ für die nächste Wahl machte.

Heute frage ich mich, was mich damals eigentlich „geritten“ hat, dass ich ausgerechnet in dieser Situation auf die Idee kam, ein weiteres Studium zu beginnen. Eine Rolle spielten für mich die positiven Erfahrungen als Moderatorin unseres internen Gesprächsprozesses, eine gelungene Organisationsentwicklungsmaßnahme, und ganz allgemein das Thema „Menschen und Kommunikation“. Schon 1994, als ich mein erstes Studium als Nonne mit dem Hauptfach Musikwissenschaft begann, hätte ich eigentlich lieber Psychologie studiert, hatte dafür aber keine Erlaubnis erhalten – was natürlich tief blicken lässt. Im Internet war ich nun auf einen dreijährigen Masterstudiengang an der FH Frankfurt gestoßen, so neu, dass es noch keine Absolventen gab: „Beratung in der Arbeitswelt. Coaching, Mediation, Supervision und Organisationsberatung“. Zu meiner Überraschung erhielt ich ohne jedes Zögern die Erlaubnis und bewarb mich zum Auswahlverfahren, an dessen Ende 28 von ca. 90 Bewerbern genommen wurden. Ich war dabei und freute mich sehr. Das Durchschnittsalter lag bei Mitte vierzig, sodass ich mit meinen 48 Jahren gut in die Gruppe passte – Berufs- und am besten auch Leitungserfahrung wurden vorausgesetzt.

Im April 2010, drei Monate vor unserer Priorinnenwahl, begann ich also mein Studium in Frankfurt. Während der Präsenzveranstaltungen konnte ich bei einer franziskanischen Gemeinschaft in der Nähe der Konstablerwache wohnen und fühlte mich in dieser facettenreichen, globalen und pulsierenden Stadt sofort wohl. Das Lernprogramm war aufwendig, wenn auch berufsbegleitend angelegt. Da es bei einer solchen Ausbildung auch immer um Selbsterfahrung geht und die Runde der Teilnehmer gleichzeitig auch Übungsraum füreinander ist, wurden meine unterschwelligen Fragen schnell zum „öffentlichen“ Thema: Werde ich im Juli zur Priorin gewählt? Und will ich das denn überhaupt? Mir selbst wurde dabei vor allem meine Ambivalenz, mein Ringen noch stärker bewusst.

Als ich jünger war, so Ende zwanzig, da hatte ich durchaus den starken Wunsch, irgendwann in meinem Leben eine verantwortliche Rolle zu übernehmen, in ein Leitungsamt ernannt oder gewählt zu werden. Ich wollte mitgestalten, Verantwortung übernehmen und natürlich auch zeigen, was ich kann. Tatsächlich wurde ich mit nur 30 Jahren Subpriorin, also die Stellvertreterin der Priorin. Das Ganze endete dann gut zwei Jahre später mit einem „Knall“ und einem Rauswurf aus dem Amt, ein Drama, von dem später noch die Rede sein soll. Inzwischen war in meinem Leben viel passiert und vieles, was mir wichtig war, gewachsen. Ich hatte mein Studium der Musikwissenschaft, Psychologie und Vergleichenden Religionswissenschaften in Bonn abgeschlossen und mich promoviert. In schneller Folge taten sich danach vielfältige Möglichkeiten für mich auf. Ein Lehrauftrag an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, der dann zur Gründung eines eigenen Vokalensembles führte – und das waren nur die Highlights in einer Fülle von Aktivitäten, die mir viel Freude machten und viel Anerkennung brachten. Im Unterrichten, in der Begleitung der Studierenden, in Vorträgen, Buchprojekten, Konzerten konnte ich kreativ und innovativ tätig sein. Zugleich genoss ich meine große äußere Freiheit bei den zahlreichen Außentätigkeiten und Reisen. Wenn ich gewählt würde, würde dies also auf jeden Fall auch Verzicht bedeuten.

Und bei allem Sinn für Demokratie, ich neige zu Selbstbestimmung und Autonomie. Nun war auf einmal meine Zukunft völlig offen und für mich selbst nicht steuerbar. Alles hing von dieser einen Wahl am 2. Juli ab. Will ich andere Menschen wirklich derart über mein Leben bestimmen lassen? In mir gab es einen starken Impuls, die Frage auf die einzige mir mögliche Art selbst zu entscheiden und schon im Vorfeld Nein zu sagen, was ich in der Vergangenheit übrigens auch bereits getan hatte. Aber zu deutlich spürte ich, dass ich das diesmal nicht tun darf. Mit meinem Coach bearbeitete ich ebenfalls diese Frage. Ist für mich selbst nun eher Leitung oder die angestrebte Professionalisierung im Bereich Beratung dran? Meine persönliche Präferenz war glasklar, ich brauchte nicht eine Sekunde Bedenkzeit: Beratung. Dennoch nahm ich auch eine große Faszination in mir wahr, die vom Thema Leitung ausging, und je näher der Termin kam, desto mehr wuchs in mir die Bereitschaft, über mich verfügen zu lassen. Und zuletzt war in mir auch ein klares Ja gewachsen.

Je näher die Wahl rückte, desto mehr wuchs auch die Nervosität in der Gemeinschaft und desto klarer stand die Frage „Wer wird es?“ unausgesprochen im Raum. Wie verhalte ich mich angesichts dieser Frage? Es geht kaum, nicht darauf zu reagieren. Die Reaktion quillt unwillkürlich bei allen aus allen Poren. Eine Situation ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Es kam zu einem unbedeutenden Alltagskonflikt zwischen mir und einer anderen Schwester; ich weiß gar nicht mehr, worum es dabei ging. Die Schwester reagierte mit den Worten: „Dich werde ich nie wählen!“ Meine spontane Reaktion: „Gute Idee!“ Viel später erzählte mir genau diese Schwester, dass meine Reaktion sie beeindruckt habe – und sie hat mich gewählt.

Es ist spannend zu beobachten, was im Vorfeld jeder Wahl in der Politik abgeht: Persönlichkeiten, Strategien, Motivationen werden sichtbar. Schatten zeigen sich in dem Versuch, in einem möglichst guten Licht zu erscheinen. Anders als in der Politik gibt es jedoch im Kloster keinen Wahlkampf. Das Kirchenrecht verbietet dies für die Wahlen in Ordensgemeinschaften sogar ausdrücklich: „Sie haben sich jeden Missbrauchs zu enthalten … Sie haben sich außerdem bei Wahlen vor einer direkten oder indirekten Stimmenwerbung zu hüten, sowohl für sich wie auch für andere“ (CIC 1983, can. 626). Schaue ich auf die innerkirchlichen Machtkämpfe, dann nötigt mir dieses „Gesetz“ ein zynisches Lächeln ab. Ist das nicht unehrlich? Fordert das nicht geradezu zu unterschwelligen Manövern der Werbung, der Abwertung von Konkurrentinnen oder auch zu Manipulationsversuchen heraus? Vor einiger Zeit las ich in einem Zeitungsartikel zur Kirchenkrise, die meiner Meinung nach eine Leitungskrise ist, den offenbar erstaunten Satz eines amtierenden Bischofs, es gebe doch tatsächlich noch Priester, die gerne Bischof werden würden. Ja, es gibt sie immer und er selbst hat auch einmal dazugehört. Auch in mir gab es diesen Ehrgeiz, es wagen und gut machen zu wollen, am besten gleich besser als andere. Zugleich klang in mir eine hartnäckige Warnung: Lass dich nicht antriggern von Konkurrenz, vom Wunsch zu siegen. Das Amt zu bekommen, ist eines, es dann zu haben, etwas ganz anderes.

Trotz aller menschlichen Schwächen haben wir in unserer Gemeinschaft gute Erfahrungen damit gemacht, nach einer Phase der Vorbereitung und Reflexion die letzten Monate vor einer Wahl still zu verbringen. Stille und Gebet als gemeinsame Fokussierung auf den Wunsch, dass das Ergebnis richtig und gut sein möge, ist auch auf der rein menschlichen Ebene schon hilfreich. Im Glauben an das Wirken eines leitenden Heiligen Geistes ist es eine Lösung jenseits allen Machens. Es ist eine Frage des Vertrauens. Das, was dabei entsteht, ist mehr als die Summe aller Teile. Um genau dieses geheimnisvolle „Mehr“ geht es. Das ist ein wichtiger Punkt.

Ich verstehe nicht viel von Fußball. Aber bei Europa- oder Weltmeisterschaften schaue ich mir gerne die Finalspiele an. Bei einem guten Spiel ist es faszinierend zu beobachten, was geschieht. Das Training, die Planung und die Absprache von Strategien sind Vergangenheit. Jetzt hat das Spiel begonnen und da ist fast nur noch nonverbale Kommunikation möglich. Gelingt es, Blockaden jeder Art loszulassen und mit Energie und Vertrauen einfach selbstvergessen miteinander zu spielen, dann lässt sich dieses „Mehr“ geradezu mit Händen greifen – pardon, natürlich mit Füßen – und führt zu ganz erstaunlichen Ergebnissen. So ist es auch bei einer guten, gemeinsamen Entscheidungsfindung.

In den Wochen unmittelbar vor der Wahl veränderte sich immer deutlicher die Atmosphäre, sie wurde ruhiger, irgendwie konzentrierter. In dieser Zeit hatte ich zwei Erlebnisse, die mir zu Bildern, ja zur „Prophetie“ des Kommenden wurden. Eines davon war, mitten auf einer Baustelle zu feiern, ganz konkret auf der „Baustelle Kirche“. Eigentlich hätte ich am 25. März 2010 mein Silbernes Professjubiläum feiern sollen, also das Jubiläum des Tages, an dem ich meine Gelübde abgelegt hatte. Aber eine Baumaßnahme in unserer Kirche hatte sich in die Länge gezogen, sodass wir das Fest ohnehin schon auf den 8. Mai verschoben hatten. Der als „Notkirche“ genutzte Raum fasste kaum alle Schwestern, da wäre für meine große Familie und meine Freunde kein Platz gewesen. In einer anderen Kirche feiern wollte ich nicht; denn es war genau dieser, unser Altar, auf den ich 1985 die handgeschriebene Urkunde mit meinen Gelübden gelegt hatte. Als endlich das Gerüst abgebaut wurde, fielen einige Teile davon auf den ungeschützten Parkettfußboden und beschädigten diesen schwer, ein Versicherungsfall, der eine weitere wochenlange Verzögerung zur Folge hatte. Was tun? Spontan sagte ich: Dann feiere ich eben auf einer Baustelle und verstand dies sofort als Bild. Kirche im Provisorium. Kirche im Abbruch oder im Werden? Gemeinsam putzten und räumten wir tagelang, um unsere Kirche überhaupt nutzen zu können. Während das Hauptschiff noch nicht betreten werden durfte und damit auch die Orgel unerreichbar war, verteilten wir uns und die Gäste auf Altarraum, Seitenkapelle und Tribüne. Ein Freund spielte auf einer geliehenen Truhenorgel. Der Pfarrer unserer Gemeinde hatte als Überraschung ein Bläserquartett engagiert. Als dieses von der Tribüne aus zum Schluss der Feier Lobet den Herren schmetterte, kamen mir die Tränen.

Die größte Überraschung kam allerdings noch. Trotz aller zusätzlichen Arbeit, die das Herrichten der „Baustelle Kirche“ bedeutete, hatten meine Schwestern für mich den Karneval der Tiere eingeübt und brachten ihn am Abend fantasievoll zur Aufführung. Diese Musik mit dem Untertitel Grande fantaisie zoologique von Camille Saint-Saëns (1835–1921) ist längst zum Klassiker geworden, ergänzt durch die amüsant-liebevollen Texte von Loriot. Sie kamen nun zu Gehör und wurden von den Schwestern szenisch dargestellt. Fast jede hatte die Rolle eines Tieres übernommen. Ich sehe noch meine heutige Stellvertreterin vor mir, die zusammen mit einer der ältesten Schwestern die Eichhörnchen spielte, mit zwei großen bunten Staubwedeln als Schwanz. Was für eine schöne, humorvoll-überzeichnete Darstellung der unterschiedlichsten Charaktere in unserer Gemeinschaft! Für genau diesen wunderbaren bunten „Zirkus“ wurde eine neue Leitung gesucht. An diesem Abend wusste ich, die Entscheidung ist gefallen.

Aufbruch in ein unbekanntes Land

Am 2. Juli 2010, dem Wahltag, war es auch am Morgen schon sehr heiß. 38 ºC im Schatten waren angesagt und unser offizieller Versammlungsraum, der Kapitelsaal, hat Fenster nach Süden. Ich konnte mir einen leicht lästerlichen Vorschlag nicht verkneifen, natürlich nur einigen mir nahestehenden Schwestern gegenüber: „Wie wär’s, wenn wir zum Wählen in den Kohlenkeller gehen?“ Da war es fast 20 ºC kühler. Die innere Hitze war bei mir mindestens so groß wie die äußere. Es war einer dieser Momente, in denen sich das Leben in einer existenziellen Entscheidung verdichtet. Die Spannung und der Druck waren riesengroß. Es kann immer noch eine Überraschung geben. Was dann? Und wenn geschieht, was im Raum steht, wie wird dies mein Leben verändern? Wie auch immer die Wahl ausgeht, sie wird für mich und uns alle weitreichende Konsequenzen haben.

Um 9 Uhr ging es los. Die Entscheidung war schnell gefallen: Zunächst ein Probewahlgang, dann die Wahl. Kaum etwas von dieser Situation ist in meinem emotionalen Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich nicht, wie ich mich gefühlt habe, als der Wahlleiter das Ergebnis bekannt gab und mich fragte, ob ich die Wahl annehme. Auch das Credo, das große Glaubensbekenntnis, das ich – wie der Wahlritus es vorsieht – vor der offiziellen Bestätigung und Einsetzung in mein neues Amt vor der ganzen Gemeinschaft sprach, verschwimmt im emotionalen Nebel. Meine gefühlte Erinnerung setzt erst wieder ein, als wir in der Kirche die Amtseinführung feierten. Wie in unserem Ritus vorgesehen, kamen alle Schwestern einzeln nach vorne, um durch den Friedensgruß zu zeigen, dass sie meine Wahl zur Priorin auch persönlich annehmen. In vielen Gesichtern las ich Freude und Erleichterung. Das tat mir gut. Die Spannung in mir fing an, sich zu lösen. Abschließend war es an mir, das erste Mal meine Gemeinschaft zu segnen. Für mich ist dies bis heute das größte Privileg und der tiefste Ausdruck dessen, was es bedeutet, Priorin zu sein. Segnen heißt für mich, das unbedingt und bedingungslos Gute für die oder den anderen zu wollen. Wenn ich den Segen Gottes herabrufe, lasse ich eine lebenspendende Kraft durch mich hindurchfließen. Es war ein starker Moment, der bereits ein neues Bewusstsein meiner selbst in meiner neuen Rolle forderte.

Für das Ankommen in der neuen Wirklichkeit nach einem solch starken, positiven Ereignis – wie nach der Hochzeit, nach der Geburt eines Kindes, nach einem erfolgreichen Abschluss oder eben nach einer Wahl – gibt es kaum Hilfen. Stattdessen wird vorausgesetzt, dass jetzt alles gut und schön sei, der betreffende Mensch am Ziel und glücklich. Natürlich hat ein solch positiv besetzter Wendepunkt im Leben auch diese Seite. Aber Ankommen bedeutet in all diesen Situationen zugleich auch Aufbrechen, bevor genug Zeit ist, das gerade Erlebte zu verarbeiten. Es beginnt sofort eine ganz neue Geschichte mit ganz neuen Herausforderungen. Kaum mehr als eine halbe Stunde später ging es schon los: Gerade hatte ich den Wahlleiter an der Türe verabschiedet und war auf meine Zelle gegangen, wie wir unseren persönlichen Wohnraum nennen. Ich fühlte mich immer noch wie in Trance, wollte nun ein wenig zu mir selbst und zur Ruhe kommen. Wenige Minuten später schellte das Telefon, daran die Stimme meiner Vorgängerin: „Du könntest ja mal helfen, Etiketten auf die Briefe zu kleben.“ Es ging um die Informationsbriefe an die anderen Klöster mit dem Ergebnis der Wahl. Ich schluckte meinen Widerspruch herunter, ging nach unten ins Büro und half.

Mit der Wahl der Priorin erlöschen im Kloster alle Ämter. In allen demokratischen Systemen gibt es einen festgelegten Modus, wie die mit dem Amt verbundene Macht bzw. die Leitungsgewalt bei einem Wechsel übergeben wird. Es ist für jede Organisation wichtig, klare Abläufe und Riten für diesen sensiblen Vorgang zu haben. Jedes Modell dieses Übergangs hat Stärken und Schwächen. „A peaceful transition of power“ – „einen friedvollen Wechsel der Macht“ nennt es die amerikanische Verfassung und sieht darin die Basis aller Demokratie. Wahrscheinlich ist uns allen noch ganz präsent, wie dramatisch das werden kann, wenn die erhoffte Wiederwahl ausbleibt und der scheidende Amtsinhaber bis zum Tag der Amtseinführung seines Nachfolgers die volle Leitungsgewalt hat. Bei einer Bundestagswahl ist es so, dass alle kommissarisch im Amt bleiben bis zur konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages, spätestens nach 30 Tagen. Das oft lange Ringen um Koalitionen, bevor ein Kanzler oder eine Kanzlerin gewählt werden kann, schafft mitunter einen langen Übergang mit vielen Unsicherheiten.

In unserem Kloster ist der unmittelbare Einschnitt tiefer. Die bisherige Priorin gibt die Leitung schon vor der Wahl vollständig ab und tritt in die Reihe der Schwestern zurück. Ist die neue Leitung gewählt, dann erhält diese sofort alle Leitungsgewalt, symbolisiert durch Siegel und Schlüssel, die der Wahlleiter, der zuständige Bischof oder ein Vertreter, ihr überreicht. Alles hängt also zunächst einmal an der Neugewählten. Es gibt noch keine Stellvertreterin und auch keinen Rat. Aber das Kapitel bleibt immer unverändert bestehen. Diese Versammlung aller Wahlberechtigten, der alle Schwestern angehören, die sich auf Lebenszeit an die Gemeinschaft gebunden haben, garantiert die Kontinuität im Kloster. Ohne Leitung ist das Kapitel aber nicht wirklich handlungsfähig. Abends hielt ich meine erste Ansprache als Priorin an meine Schwestern, bestätigte alle kommissarisch in ihren Ämtern und Aufgaben und kündigte für die kommenden Wochen Gespräche mit jeder einzelnen an.

In den darauffolgenden Tagen war ich ganz damit beschäftigt, in der neuen Situation anzukommen. Erste Reaktionen der Umwelt erfolgten. Sie fielen recht verschieden aus: von einem unbefangenen „Herzlichen Glückwunsch“ über die Frage „Gratuliert man zu so etwas?“ bis hin zu einem achselzuckenden „Das war doch klar!“ oder „Wundert mich nicht!“. Einer der Priester, die regelmäßig mit uns die Eucharistie feiern, kam in seiner Einführung auf die Neuwahl zu sprechen. Nein, er gratulierte mir nicht, wünschte auch weder der Gemeinschaft noch mir Gottes Segen, sondern er ließ gleich eine Schelte gegen Leitung ab, einen Generalverdacht gegen alle, die leiten. Ich fragte mich: „Was habe ich ihm eigentlich getan?“ Wohl wissend, dass dies gar nicht persönlich gemeint war, hatte es mich dennoch getroffen. Diese Erfahrung war für mich neu. Bisher befand ich mich auf der anderen Seite und wusste auch selbst viel Kritisches zum Thema Leitung zu sagen. Sätze wie: „Der Fisch stinkt vom Kopf her“, klangen auf einmal ganz anders. Wohltuend waren die Reaktionen von Äbtissinnen und Äbten, Priorinnen und Prioren aus den anderen Klöstern. Segen und Ermutigung wurden darin mit viel Empathie ins Wort gebracht – „Betroffene“ unter sich.

Mein Lernprozess begann damit, dass ich übte, Signale zu geben, die anzeigten, was jetzt dran ist, und dafür zu sorgen, dass es auch geschieht. Die Rolle der Impulsgeberin ist ein Grundaspekt von Leitung. Am Anfang war dies eine Übung auf einer ganz elementaren Ebene. Ich musste lernen zu klopfen. Im Gottesdienst oder bei den gemeinsamen Mahlzeiten und Ähnlichem mehr besteht das Signal zum nächsten Schritt bei uns meistens in einem Klopfen auf das Holz des Chorgestühls oder des Tisches, manchmal auch im Läuten einer kleinen Glocke oder im Heben der Hand. Ich gebe das Signal und alles setzt sich in Bewegung. Zunächst fand ich das ziemlich lästig und sagte mir, damit könnten wir eigentlich auch eine Novizin beauftragen. Warum muss das die Priorin machen? Es handelt sich doch nur um ein einfaches Impuls-Geben auf der Basis von Routine. Was so banal klingt, ist aber gar nicht so einfach. Wenn ich etwas verantwortlich tun soll, was ich gefühlt schon tausende Male gesehen oder gehört habe, dann kann es passieren, dass ich auf einmal nicht mehr weiß, wie es jetzt weitergeht, oder mir der simpelste Text nicht mehr einfällt. Was ich nun zu lernen hatte, ist eine Art Choreografie. Wenn ich das falsche Signal gebe oder wenn ich es zur falschen Zeit tue, wenn ich fehle oder zu spät komme oder gar zwischendurch hinausgehe, störe ich empfindlich den Fluss des alltäglichen Geschehens. Auch das gehört zu einer Leitungsaufgabe, sei sie nun groß oder klein: Abläufe zu planen und dann auch durchzuführen. So gut es tut, wenn eine Veranstaltung wirklich „läuft“ – ganz gleich ob Konzert, Karnevals- oder Vereinssitzung oder auch die privaten häuslichen Weihnachtsrituale –, so kräftezehrend kann es für diejenigen sein, die diesen reibungslosen Ablauf garantieren. Solange die Routine fehlt, sind das schweißtreibende und entnervende Tätigkeiten. Und selbst dann braucht es immer noch Energie. So übte ich nun meine neuen Funktionen bis ins kleinste Detail, wie etwa die richtige Geschwindigkeit im Gehen beim Ein- und Auszug aus der Kirche. Das ist viel schwerer, als man von außen vermuten könnte.

Neben diesem elementaren Lernprozess waren meine ersten Wochen als Priorin ganz gefüllt mit Gesprächen mit jeder einzelnen Schwester. Sehr hilfreich war dabei für mich das gleichzeitige Training im aktiven Zuhören im Rahmen meines Studiums. In diesen Gesprächen ging es zunächst um die Frage, wen ich als meine Stellvertreterin, also zur Subpriorin, ernennen sollte. Gerührt war ich, als die meisten Schwestern mir empfahlen, eine Schwester zur Subpriorin zu ernennen, mit der ich schon lange freundschaftlich verbunden war. Genau wegen dieser engen persönlichen Beziehung hätte ich das gar nicht gewagt, aber es hat sich in den folgenden zwölf Jahren bestens bewährt. Dies war für mich eine wichtige Lektion. Sie lehrte mich, dass wir alle zusammen weiter und besser sehen als ich alleine. Kurz darauf wurde der sogenannte Rat ernannt bzw. gewählt, ein vierköpfiges Beratungsgremium für die Priorin, das zur Hälfte von ihr ernannt und zur anderen Hälfte von der Gemeinschaft gewählt wird. Gemeinsam ging es nun um die Frage, wer welche Aufgabe, welches Amt übernehmen solle. Ich wollte gut hinhören und wirklich offen sein, auch wenn mir klar war, dass es jetzt nicht darum geht, möglichst viel zu verändern. Aber einige zentrale Ämter waren neu zu besetzen. Am 31. August, fast zwei Monate nach der Wahl, war es dann so weit, dass mit der feierlichen Ämtererneuerung alle Ämter und Funktionen besetzt und das Kloster wieder voll funktionstüchtig war.

In diesen turbulenten Wochen hatte ich viel inneren Schwung und fühlte mich getragen. Meine neue Leitungsaufgabe machte mir viel Spaß. Wer kennt es nicht, das Sprichwort: „Neue Besen kehren gut.“ Es lässt sich auch poetischer sagen mit den Worten aus dem Gedicht Stufen von Hermann Hesse: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Ja, es ist so – und: gut so! Die elementaren Voraussetzungen waren nun geschaffen, der äußere Rahmen der Normalität war wieder hergestellt und ich war guter Dinge. Die Zukunft konnte beginnen. Was ich noch nicht ahnte, war, dass ich als Nächstes – wie in zahllosen Märchen und Heldenmythen – drei „Prüfungen“ zu bestehen hatte. Ich kämpfte mit einer Flut, die mich zu verschlingen drohte. Ich hatte ein dickes Buch voller Geschichten zu beenden, die mich am Weitergehen hinderten. Und ich fand mich gefangen in einem Spiegelkabinett, aus dem ich einen Weg in die Freiheit finden musste.

Der Tsunami – Reizüberflutung