Die neuen Asiaten - Urs Schoettli - E-Book

Die neuen Asiaten E-Book

Urs Schoettli

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Beschreibung

Der Generationenwechsel, der aktuell in Asien vonstattengeht, betrifft uns alle. Der langjährige Asienkenner Urs Schoettli wirft einen neuen Blick auf die Veränderungen und Konstanten, die s ich im Übergang der politischen und wirtschaftlichen Macht von der 68erGeneration auf deren Kinder und Enkel ergeben sowie die daraus resultierenden kulturellen und sozialen Folgen. Es handelt sich um die drei Generationen der zwischen 1930 und 1945, zwischen 1946 und 1970 und nach 1971 Geborenen. Gegliedert wird das Thema in die Vorgeschichte von China, Korea, Japan, Südostasien, Indien, Pakistan u. a., dann in die Zeitgeschichte der drei Generationen, in die wirtschaftlichen, sozialen, geopolitischen und demografischen Rahmenbedingungen sowie in die Konsequenzen, die der Generationenwechsel in Asien für Europa und die Welt haben wird.

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Urs Schoettli

Die neuen Asiaten

Ein Generationenwechsel und seine Folgen

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2013 (ISBN 978-3-03823-826-3).

Titelgestaltung: GYSIN [Konzept+Gestaltung], Chur

unter Verwendung der Abbildungen «Businessman and businesswoman having discussion» © ispstock2, Fotolia.com und «Hong Kong Victoria Harbour» © rabbit75_fot, Fotolia.com

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03823-973-4

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

Mit Dank an Thomas Schmidheiny, dessen grosszügige Unterstützung dieses Buch ermöglicht hat.

Vorwort

Der Generationenwechsel gehört seit Urzeiten zu den wichtigsten Zäsuren einer jeden Gesellschaft. Dabei pflegen Nostalgie und Pessimismus ebenso wie Zukunftsverheissungen und Hoffnungen für den Anbruch eines neuen Zeitalters eine grosse Rolle zu spielen. Seit der griechischen Antike kennen wir Klagen über die Unbotmässigkeit der Jugend. Im 20.Jahrhundert haben wir mehrere Katastrophen erleben müssen, weil weltfremde Ideologien eine total neue Gesellschaft schaffen wollten.

Seit einigen Jahren sind wir von den rasanten Entwicklungen in Asien fasziniert. Mit Erstaunen, Begeisterung und zuweilen auch Furcht wird vor allem der Wiederaufstieg des Reichs der Mitte verfolgt. Es sind für uns fremde Welten und ferne Zivilisationen, die in unser Blickfeld gerückt sind. Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Kenntnis über das, was die Menschen auf dem ausserordentlich vielfältigen asiatischen Kontinent antreibt, erweitern. Nur so können wir adäquat die Chancen, aber auch die Risiken ermessen, die sich für die Menschheit im asiatischen Zeitalter präsentieren.

Wichtige Einblicke in asiatische Mentalitäten kann uns der Generationenwechsel vermitteln, der derzeit in den meisten asiatischen Gesellschaften im Gange ist. Auch heute besitzen in Asien die Familie, der Clan einen sehr hohen Stellenwert. Allerdings beobachten wir wichtige Veränderungen bei den Lebenszielen und Werten der neuen asiatischen Mittelschichten, die auch aus demografischen Entwicklungen, Urbanisierung und Verwestlichung erwachsen. Noch ahnen wir erst in Ansätzen, welche Folgen die chinesische Ein-Kind-Politik haben wird.

Wenn in diesem Buch über die neuen Asiaten philosophiert wird, so handelt es sich natürlich bei etlichen Aussagen um Vereinfachungen. Die Komplexität einer Gesellschaft lässt sich nie ausreichend erfassen. Angestrebt wird eine Übersicht über das, was sich bei der wichtigen Abfolge der Generationen unter den Eliten in Wirtschaft, Politik und Kultur abspielt oder abspielen könnte. Wir sehen dabei eine Entwicklung, die für den Westen den Umgang mit Asien sowohl schwieriger als auch bereichernder werden lässt.

Mit dem neuen Asien, das im Entstehen begriffen ist, werden sich in der Zukunft vor allem die jüngeren Generationen, die vor der Übernahme von hoher und höchster Verantwortung in unserer Gesellschaft stehen, zu befassen haben. Sie haben den Umgang mit asiatischen Eliten zu lernen. Die jungen Asiaten sind Menschen, die sich nicht mehr mit den Verwundungen herumschlagen, die ihnen von den westlichen Kolonialmächten in den letzten zwei Jahrhunderten beigefügt wurden. Auch sind die Zeiten vorbei, da aufstrebende asiatische Länder begierig auf Anerkennung und Lob aus dem Westen waren. Heute begegnen sich Europäer und Asiaten auf Augenhöhe. Der im Gang befindliche Generationenwechsel wird diese Entwicklung noch beschleunigen. Eine faszinierende Zeit erwartet uns alle, und ich hoffe, dass möglichst viele junge Europäer mit offenem Visier und positiv gestimmt auf Asien zugehen werden.

Einleitung

Das vorliegende Buch befasst sich mit dem Generationenwechsel, der im ersten Viertel des 21.Jahrhunderts in Asien über die Bühne geht. Im Fokus stehen primär die Veränderungen und die Konstanten, die sich im Zusammenhang mit dem Übergang der politischen und wirtschaftlichen Macht von der Generation der 68er auf deren Kinder und Enkel ergeben. Darüber hinaus werden die kulturellen und sozialen Veränderungen beziehungsweise Konstanten beleuchtet, die aus diesem Generationenwechsel resultieren können. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die drei Generationen der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, der zwischen 1946 und 1970 Geborenen und der nach 1971 Geborenen.

Die Begegnung des Westens, will heissen Europas und der USA mit Asien ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Im Verlauf der vergangenen 500Jahre wurden schwere Wunden verursacht, wobei in der Regel die westlichen Mächte die Täter und die Asiaten die Opfer waren. Vor allem vom 18.Jahrhundert an rückten mehrere europäische Mächte immer weiter nach Asien vor. Die schwersten Verletzungen fügten die Europäer und Amerikaner den Asiaten im 19. und im 20.Jahrhundert zu. Erst gegen Ende des 20.Jahrhunderts und vor allem mit dem Einsetzen des 21.Jahrhunderts begannen sich die Verhältnisse grundlegend zu ändern.

Begegnungen mit fremden Zivilisationen hinterlassen in der Regel bei den betroffenen Menschen Spuren, insbesondere dann, wenn es sich um keine friedlichen, sondern um gewaltsame Begegnungen, gar um Eroberungen gehandelt hat. Ein Beispiel ist die Begegnung von Christentum und Islam: Hier wirft der Ballast einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Geschichte noch heute dunkle Schatten.

Eine erfolgreiche Aufarbeitung des vergangenen Geschehens ist äusserst selten. In der jüngeren Geschichte stechen die deutsch-französische Versöhnung und der europäische Einigungsprozess als herausragende Beispiele einer erfolgreichen Abkehr von tief verankerten, jahrhundertealten Feindschaften hervor. Die von langen Jahren des äusseren Friedens, der inneren Stabilität und der wirtschaftlichen Prosperität verwöhnten Westeuropäer sollten im schwierigen 21.Jahrhundert den grossen Wert dieser Errungenschaften besser nicht vergessen.

Ganz anders sehen die Dinge in Asien aus. Hier steht an mehreren akuten Krisenherden eine Aufarbeitung der Geschichte an. Dies gilt für die koreanische Halbinsel, wo noch immer kein den Koreakrieg endgültig beilegender Friedensvertrag abgeschlossen worden ist; es gilt für das japanisch-chinesische Verhältnis, auf dem nach wie vor die japanischen Kriegsverbrechen lasten; es gilt für das chinesisch-taiwanische Verhältnis, wo die Frage einer Wiedervereinigung nach wie vor ungelöst im Raum steht; und es gilt ganz besonders auch für die indisch-pakistanische Rivalität, die ungeachtet mehrerer Kriegsgänge noch immer einen der gefährlichsten Konflikte der Erde am Kochen hält.

Die Vorgeschichte zur heutigen asiatischen Renaissance hat markante Spuren im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Menschen hinterlassen. Aus unserer europäischen Erfahrung wissen wir, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob jemand eine historische Zäsur selbst miterlebt hat oder ob er sie nur vom Hörensagen kennt. Man denke an die Weltkriegsgenerationen in Europa. In Asien finden sich durch verheerende Grossereignisse direkt geprägte Erfahrungen und Perzeptionen bei den beiden Generationen, die vor 1945 und vor 1970 geboren sind. Daneben wirken natürlich auch die über Dritte vermittelten Erfahrungen aus früheren Zeiten nach, bei denen sowohl Mythen als auch Geschichtsklitterungen zu verzerrten Wahrnehmungen führen können.

Für den asiatischen Kontext sind fünf prägende Ereignisse auszumachen: Chinas Dekadenz und Erniedrigung; Indiens Dekadenz und Erniedrigung; Koreas Erniedrigung; Südostasiens koloniale Unterwerfung und schliesslich Japans Aufstieg zur modernen Industriemacht. All diese Entwicklungen haben tiefreichende Spuren hinterlassen und prägen die asiatische Wahrnehmung des Westens bis in unsere Tage hinein. Man denke etwa an die irritierte Reaktion von führenden Asiaten wie Malaysias ehemaligem Ministerpräsidenten Mohamad Mahathir oder Singapurs Elder Statesman Lee Kuan Yew auf westliche Kritik an den von ihnen propagierten asiatischen Werten. Die erwähnten fünf Entwicklungen haben aber auch entscheidend die Vorstellungen geprägt, welche die westliche Welt während der vergangenen zwei Jahrhunderte zu den wichtigen asiatischen Kulturen und Zivilisationen gehegt und gepflegt hat.

Der Generationenwechsel, der in den kommenden Jahren Gestalt annehmen wird, verlangt vom Westen auch einen neuen Blick auf die Geschichte Asiens, vor allem auch in die Zeiten, als Asien noch nicht von den westlichen Kolonialmächten entdeckt, überfallen und ausgebeutet wurde. Die sogenannte «Weltgeschichte», die von den Schulen und Universitäten in Europa und in den USA seit Langem vermittelt wird, ist nicht wirklich eine Weltgeschichte. Zwar wird in der Regel das Geschehen jenseits der westlichen Welt behandelt, sogar in Spezialdisziplinen wie Sinologie, Japanologie und Indologie, die an den angesehenen europäischen, amerikanischen und australischen Universitäten mit gebührendem Stolz auf den damit verbundenen vorgeblichen Kosmopolitismus gelehrt werden. Doch im Wesentlichen reiht man noch immer das dortige Geschehen in eurozentristischer Manier nach den eigenen Kategorien ein. Dies gilt für die Epochen, beginnend bei der westlichen Zeitrechnung, ebenso wie für die Gegenstände und Ereignisse, die in der relevanten Forschung aufgegriffen werden.

China

Chinas verlorenes Jahrhundert

Die Dekadenz der letzten chinesischen Kaiserdynastie, der mandschurischen Ch’ing-Dynastie, hatte bereits kurz vor dem Ende des 18.Jahrhunderts nach dem Abtritt des grossen Kaisers Qianlong eingesetzt. Als ersten Wendepunkt in Richtung Abstieg Chinas können wir den Ersten Opiumkrieg von 1839 bis 1842 bezeichnen. Die externe Erniedrigung des Reichs der Mitte, die mit der rund hundert Jahre später erfolgenden Besetzung grosser Teile Chinas durch die Japaner ihren Höhepunkt erreichen sollte, kam erst mit der bedingungslosen Kapitulation Japans im Sommer 1945 zu ihrem Ende. Sicher hat die 1949 gegründete Volksrepublik unter der Diktatur Mao Zedongs aus eigenem Antrieb und in eigener Verantwortung grosse Verheerungen über ihr Volk gebracht. Doch sind diese für die heute gängigen Geschichtsmythen, die mit Chinas Stellung in der Welt zu tun haben, kaum relevant, werden jedoch die chinesische Historiografie noch zu beschäftigen haben.

China sieht sich seit alten Zeiten als Mitte der Welt. Je weiter ein fremdes Volk vom «Reich der Mitte» entfernt siedelte, desto geringer wurde sein zivilisatorischer Entwicklungsstand veranschlagt. Allerdings hat China nie die koloniale Expansion der europäischen Imperien mitgemacht. So sich Chinesen, wie zu den Zeiten von Admiral Zheng He (1371 bis ca. 1435), auf hohe See und an ferne Küsten begaben, nahmen sie keine kolonialen Besitzungen ein, sondern begnügten sich damit, dass die besuchten Völker dem Kaiser im fernen China als formale Oberhoheit huldigten.

Die Kontakte Chinas mit dem Westen reichen in frühe Zeiten zurück. Davon zeugen die Geschichte der Seidenstrasse und der Austausch von Handelsgütern. Indien und vor allem Sri Lanka waren für den europäisch-chinesischen Handel wichtige Zwischenstationen. Die erste europäische Niederlassung auf chinesischer Erde erfolgte mit der Gründung des portugiesischen Aussenpostens Macau im Jahre 1516. Immerhin anerkannten die Portugiesen stets die chinesische Souveränität über das Territorium, das erst 1999 in Form einer Administrativen Sonderregion wieder an China zurückfallen sollte. Der portugiesische Nadelstich an der Südküste, der winzige Ableger einer schwachen Nation im fernen Europa am Rande des Reichs der Mitte, hat die Chinesen nie beunruhigt. Mit einem Handstreich hätten sie dem portugiesischen Spuk ein ruhmloses und rasches Ende bereiten können. Doch sollte sich Macau als Umschlagplatz für den chinesisch-japanischen Handel als nützlich erweisen.

Erheblich weitreichendere Folgen hatte das Geschehen im 19.Jahrhundert. Die beiden Opiumkriege von 1839 bis 1842 beziehungsweise von 1856 bis 1860, die Nutzung von innerchinesischen Rivalitäten durch ausländische Mächte, beispielsweise während der Taiping-Rebellion von 1850 bis 1864, die chinesische Niederlage im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894 bis 1895, die Errichtung von sogenannten Konzessionen (extraterritoriale ausländische Präsenz) auf chinesischer Erde und die rege Missionstätigkeit christlicher Kirchen und Sekten untermauerten bei der chinesischen Intelligenz den Eindruck, dass sich die Ch’ing-Dynastie in einer terminalen Agonie befand und dass China durch auswärtige Mächte nach Belieben erniedrigt werden konnte.

Es waren diese Erniedrigungen durch fremde Mächte, welche die Reformkräfte, die sich für ein neues China einsetzten, zu Anti-Konfuzianern und zu Nationalisten werden liessen. Konfuzius wurde von den reformbegierigen Kräften mit dem Ancien Régime gleichgesetzt, seine Lehre und seine Werte wurden als reaktionär verschrien. In der Tat hatte sich die Ch’ing-Dynastie, wie andere Dynastien zuvor, mit dem Konfuzianismus identifiziert, wobei sie jedoch nur das übernahm, was ihren Herrschaftszwecken diente. Nationalismus, kultureller Chauvinismus und Patriotismus waren unter den Erneuerern im Schwange, nicht nur weil auswärtige Mächte die Würde Chinas schwer verletzt hatten, sondern auch weil die die Ch’ing-Dynastie selbst eine verhasste Fremdherrschaft war. Die kleine Oberschicht der Mandschuren hatte für sich die exklusive Machtausübung beansprucht und gezielt die grosse Bevölkerungsmehrheit der Han-Chinesen erniedrigt. Ein klassischer Exponent der Verbindung von Antikonfuzianismus und Patriotismus war der spätere Gründer der Republik, Sun Yat-sen. Bei seinen wiederholten Versuchen, die Ch’ing-Dynastie zu stürzen, spielte nicht nur revolutionärer Eifer, sondern eben auch der Kampf gegen eine verhasste Fremdherrschaft eine zentrale Rolle.

Mao Zedong war ebenfalls Anti-Konfuzianer, im Gegensatz zu Sun Yat-sen ermangelte es ihm aber an patriotischem Einsatz. So liess er den Kampf gegen die japanischen Besatzer primär vom Nationalistenführer Chiang Kai-shek und seinen Truppen führen. Die staatliche Neugründung nach dem Sieg der Kommunisten über die Nationalisten und deren anschliessende Vertreibung auf die Insel Taiwan, die von 1895 bis 1945 japanische Kolonie gewesen war, berief sich zunächst noch auf den kommunistischen Internationalismus. Doch schon bald nach dem Tod Stalins und der beginnenden Entstalinisierung in der Sowjetunion ging die wichtigste internationale Bindung der jungen Volksrepublik in die Brüche. In der Folge sollte Peking bis nach dem Tod Maos eine Politik der Isolation betreiben. Die wenige Jahre vor Maos Tod erfolgte Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Washington brachte zwar wichtige geopolitische Gewichtsverschiebungen in Gang, bedeutete jedoch keine umfassende Öffnung des Landes gegenüber der Aussenwelt.

Tatsächlich interessierte sich Mao kaum für den Marxismus und den im westlichen Zivilisationskreis wurzelnden Kommunismus. Er fühlte sich dem Gründer der kurzzeitigen Qin-Dynastie (221 bis 206v.Chr.), Kaiser Qin Shihuang, verwandt, der wiederum vielen Werten und Maximen der Legalisten die Treue hielt. Der Legalismus ist eine Staatsphilosophie aus der Zeit der streitenden Reiche, die von 475v.Chr. bis zur Gründung der Qin-Dynastie, die das Reich unter einem Kaiser einte, anhielt. Diese Lehre setzte auf eine starke Führung und eine absolute, zuweilen auch grausame Herrschaft des Gesetzes. Nach Meinung der Legalisten sind die Menschen von Natur aus schlecht und nur mithilfe von strikten gesetzlichen Kodizes zu zivilisieren und vom Krieg aller gegen alle abzuhalten. Nur mit einer starken Obrigkeit, die ihre Macht auch mit brutalen Methoden ausübt, kann Frieden geschaffen werden.

Nicht ohne Grund wurde der Legalismus während der Jahrhunderte der grossen Wirren, der sich bekämpfenden Reiche entwickelt. Mit der Verfolgung von Intellektuellen und mit Bücherverbrennungen waren seine Vertreter die frühen Vorläufer Mao Zedongs und der «Kulturrevolution». Auch Mao war schliesslich durch Zeiten grosser Wirren (Warlordismus, japanische Besetzung und Bürgerkrieg) hindurchgegangen und auch beim ihm hatte sich offensichtlich die Einsicht durchgesetzt, dass ein geeintes und souveränes China nur mit brutaler Unterdrückung zu schaffen und zu wahren sei.

Geschichtsklitterung und Propaganda

Chinas verlorenes 19.Jahrhundert bestärkte die dort lebenden Menschen, dass es die fremden Mächte waren, die das Land erniedrigen und auf alle Zeiten in der Rückständigkeit halten wollten. Um dieser Interpretation der Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, brauchte man nicht lange nach Beweisen zu suchen. Man musste nur an die von Briten und Franzosen betriebene Plünderung und Zerstörung des alten Sommerpalasts in Peking im Zweiten Opiumkrieg denken, an die rassistischen Diskriminierungen in den fremden Konzessionen, an die Interventionen ausländischer Mächte während der Taiping-Rebellion, während des Boxeraufstands und während des Bürgerkriegs, an die ungleichen Verträge, durch die China von den Briten um Hongkong und vom russischen Zarenreich um immense Flächen in Sibirien gebracht worden ist, an die japanischen Kriegsverbrechen, an den Plan der europäischen Kolonialmächte, China wie Afrika untereinander aufzuteilen – all dies eignet sich sehr gut zur Bildung von Mythen und Legenden.

Die patriotische Aufarbeitung dieser Verwundungen wird auf immer in der chinesischen Geschichtsschreibung haften bleiben, auch wenn dereinst die aktuelle kommunistische Version ihre offizielle Allgemeinverbindlichkeit eingebüsst haben wird. Auch in der europäischen Historiografie konnten sich für den nationalen Zusammenhalt nützliche Mythen über Jahrhunderte hinweg trotz aller Zeitströmungen halten. Ein Beispiel ist der eidgenössische Mythos von Wilhelm Tell. Die wesentliche Frage lautet, was mit der praktischen Verwertung solcher Mythen geschieht, wenn die Generationen, die noch einen direkten Bezug zu ihnen haben, abgetreten sind. Im Falle der Volksrepublik betrifft dies alle Menschen, welche die Herrschaft Mao Zedongs selbst nicht direkt erlebt haben, will heissen all diejenigen Chinesen, die nach 1971 geboren sind.

Das verlorene Jahrhundert wird also in der kollektiven Wahrnehmung von Chinas Schicksal weiter wirken, aber nicht mehr denselben emotionalen Stellenwert haben. Propagandisten werden sich sicherlich auch in Zukunft immer wieder der Mythen der Erniedrigung und Bedrohung Chinas durch ausländische Kräfte bedienen. Sie werden dies tun, wenn die Bevölkerung für die aussen- und sicherheitspolitischen Absichten Pekings mobilisiert werden soll oder wenn innen- und machtpolitische Motive im Spiel sind. Die sporadischen Spannungen mit Japan zeigen, wie dies in der Praxis aussehen kann: Man mobilisiert die öffentliche Empörung über ein tatsächliches oder vorgebliches Fehlverhalten der Japaner und dämonisiert sie als ein Volk, das aus der Geschichte nichts gelernt hat. Zuweilen mag man sogar Studenten grünes Licht für öffentliche Kundgebungen und Proteste geben, die Bewilligung aber rechtzeitig wieder entziehen, damit die KPC-Herrschaft nicht selbst ins Visier der Protestler gerät.

Nach dieser Vorgeschichte, die wertvolles Material zum historiografischen Drama geliefert hat, geht es im Folgenden um die zeitgeschichtlichen Erfahrungen der heute in der Volksrepublik China lebenden Generationen. Dabei wird sich herausstellen, dass mit den althergebrachten Mythen einfacher umzugehen ist als mit dem zeitgenössischen Erfahrungshorizont. Dies betrifft insbesondere die kritische Aufarbeitung der Zeit von Mao Zedong und der Person des Grossen Vorsitzenden selbst. Hier sind handfeste Machtinteressen der KPC im Spiel und damit lässt sich nicht spassen.

Zunächst ist eine grundsätzliche Anmerkung zum Geschichtsverständnis der heutigen chinesischen Führung anzubringen. Die KPC hat im Unterschied zur KPdSU nie dieselbe totale Verdammnis der vorrevolutionären Staatsgeschichte betrieben und sie einfach nach einem kommunistischen Propagandaschema abgehandelt. Die Menschen haben ein ziemlich ausgewogenes Verhältnis zur letzten Kaiserdynastie, sie kennen vorrevolutionäre Reformer wie die «Bewegung des 4.Mai», den Vater der chinesischen Republik, Sun Yat-sen, oder auch Reformer aus der Spätzeit der Ch’ing-Dynastie.

Nach der Gründung der Volksrepublik hatten die Chinesen zunächst ein viel entspannteres Verhältnis zu ihrer Geschichte und ihrer uralten Kultur, als dies in der Sowjetunion gegenüber dem zaristischen Russland der Fall gewesen war. Dies hängt mit dem traditionellen Staats- und Kulturverständnis im Reich der Mitte zusammen, an dem auch die kommunistische Revolution letztlich nur wenig zu ändern vermocht hat.

Bei allen dramatischen Brüchen, die China im 19. und 20.Jahrhundert zu bewältigen hatte, hat das Land einen bemerkenswerten Ausweis an kultureller Kontinuität aufzuweisen, was auch auf die grosse ethnische und sprachliche Kohäsion des chinesischen Staatsvolkes zurückzuführen ist. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Kontinuität ist die Renaissance des Konfuzianismus seit Beginn des 21.Jahrhunderts. Die aussergewöhnliche Überlebenskraft des Konfuzianismus hat auch damit zu tun, dass es sich dabei eben nicht um eine Religion, sondern um eine tief in den Werten des chinesischen Kosmos verankerte Weisheitslehre handelt. Die simple Pflichtenlehre, die im Zentrum des konfuzianischen Weltbildes steht, benötigt keine aufwendige Dogmatik, keine Priesterschaft und keine heiligen Schriften. Sie beruht auf dem Fundament des Clans, der Grossfamilie.

Wie bereits erwähnt ist mit der Zeit und vor allem mit dem machtvollen Wiederaufstieg Chinas die Last der Geschichte geringer geworden und zumindest gegenüber den westlichen Ausländern sind Groll und Verbitterung über geschehenes Unrecht in den Hintergrund getreten. Auch der Bürgerkrieg, dessen bis heute fortbestehendes Erbe die Sezession der Insel Taiwan vom Festland ist, ist inzwischen in den Hintergrund gerückt. Im Gästebuch der Geburtsstätte des Nationalistenführers Chiang Kai-shek, der 1949 nach der Niederlage mit seinen Getreuen vor Maos Kommunisten auf die Insel geflüchtet war, sind auch die Namen etlicher prominenter KPC-Vertreter aufgeführt. Chiang Kai-shek war der Hauptgegner von Mao Zedong und strebte auch, nachdem er den Bürgerkrieg auf dem Festland verloren hatte, weiterhin die Rückeroberung Chinas an. Zeitlebens bezeichnete sich Chiang als Präsident der Republik China. Aus der Sicht Pekings war und ist Taiwan eine «abtrünnige Provinz», welche die Verwirklichung des alten Traums eines geeinten Chinas verhindert. Immerhin besitzt aus chinesischer Sicht die einst von Chiang Kai-shek geführte Kuomintang (KMT), die mit Präsident Ma Ying-jeou seit 2008 in Taipeh wieder die Macht innehat, den Vorteil, dass sie wie die KPC ein geeintes China anstrebt. Demgegenüber erregen die Protagonisten einer unabhängigen Republik Taiwan, die sich vor allem in der Demokratischen Progressiven Partei (DPP), die mit Chen Shui-bian von 2000 bis 2008 den taiwanischen Präsidenten gestellt hatte, den besonderen Argwohn der Festlandchinesen.

Der wirtschaftliche Aufstieg der urbanen Mittelschichten in der Volksrepublik hat für die meisten Menschen das Taiwan-Problem in den Hintergrund treten lassen. Ebenso scheint auf taiwanischer Seite der Enthusiasmus für eine nicht nur faktische, sondern auch formale und international anerkannte nationalstaatliche Eigenständigkeit verblichen zu sein. Die Taiwaner haben die wohl erfolgreichste demokratische Transition in Asien zustande gebracht und sich im Wohlstand und in der Kleinstaatlichkeit gemütlich eingerichtet. Taiwan gehört inzwischen zu den grössten und vor allem zu den erfolgreichsten Überseeinvestoren in der Volksrepublik. In China sind taiwanische Unternehmer gar beliebter als Hongkonger, die man allgemein als arrogant empfindet.

Vorderhand bewegt sich in der Frage einer Wiedervereinigung der Insel mit dem Festland nichts Wesentliches. Aus Sicht der Falken in Peking sind bis zur Rückkehr Taiwans unter chinesische Souveränität das Erbe der ungleichen Verträge aus dem 19.Jahrhundert, das Erbe des Zweiten Weltkriegs und das Erbe des chinesischen Bürgerkriegs nicht bewältigt. Taiwan war nach dem japanischen Sieg im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894/95 japanische Kolonie geworden und erst nach der japanischen Kapitulation im August 1945 unter die Hoheit der Nationalisten von Chiang Kai-shek, der beim Ende des Zweiten Weltkriegs als Partner der Alliierten die Republik China geführt hatte, gelangt. Als der grosse chinesische Reformer Deng Xiaoping für Hongkong und Macau die Formel des «ein Land, zwei Systeme» entwickelte, hatte er natürlich auch Taiwan im Visier. Mit Blick auf den unterschiedlichen Status Taiwans, das im Gegensatz zu Hongkong und Macau keine Kolonie ist und über eine eigene Streitmacht verfügt, war Deng gegenüber Taipeh zu grösseren Konzessionen bereit, deren Realisierung wohl zur Formel «ein Land, drei Systeme» geführt hätte.

Natürlich spielt sich auch in Taiwan ein Generationenwechsel ab, der ähnlich weitreichende Dimensionen hat wie in Festlandchina. In den vergangenen Jahren haben sich diejenigen Jahrgänge, die den Bürgerkrieg und die Zeiten, als sich die Insel unter akuter Bedrohung vom Festland befand und nahe der chinesischen Küste gelegene Inselchen unter anhaltenden rotchinesischen Artilleriebeschuss gerieten, noch selbst erlebt haben, aus Führungspositionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zurückgezogen. Dasselbe gilt für Taiwaner, die als Erwachsene hinnehmen mussten, dass die Amerikaner ihre diplomatischen Beziehungen von Taipeh auf Peking (1979) verlagerten. Wichtiger als institutionelle und politische Veränderungen im Verhältnis zwischen China und Taiwan ist der Wandel in den persönlichen Beziehungen vieler, vor allem jüngerer Taiwaner. Die persönlichen, die emotionalen Verbindungen zum Land der Ahnen sind lockerer geworden, da diejenigen, die noch das gemeinsame Familienleben auf dem Festland vor der Flucht nach Taiwan im Kopf hatten, gestorben sind. Immer häufiger kommt sogar Misstrauen gegenüber gierigen festlandchinesischen Verwandten zum Vorschein, die sich zuweilen die emotionalen Bindungen handfest vergelten lassen.

Taiwaner, die für eine Wiedervereinigung mit China sind, pflegen hervorzuheben, dass dies erst möglich sein werde, wenn es wie in Taiwan auch auf dem Festland eine funktionierende Demokratie und einen funktionierenden Rechtsstaat gibt. Man bedient sich dabei nicht mehr der Rhetorik des Kalten Krieges und manche sind auch bereit anzuerkennen, dass im neuen China nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und rechtliche Fortschritte gemacht worden sind. Gleichzeitig gilt es aber auch zu berücksichtigen, dass viele Taiwaner selbst unter demokratischen Bedingungen nicht mehr unter Pekings Kuratel zurückkehren wollen. Sie haben sich im Kleinstaat Taiwan gut eingerichtet. Sollte Taiwan in den nationalstaatlichen Verband der Volksrepublik zurückkehren, so wären die 23Millionen Taiwaner in der chinesischen Riesenbevölkerung von 1,3Milliarden Menschen eine kleine, verlorene Minderheit. Ob Demokratie oder nicht, es würde den Menschen der heutigen Inselrepublik schwerfallen, in Peking Gehör zu finden.

Kehren wir zum Thema der offiziellen Geschichtsklitterung zurück, von der auch die zeitgenössischen Generationen nicht verschont werden. Hier haben wir es nicht mit Unrecht zu tun, das China von fremden Mächten zugefügt worden ist, sondern mit hausgemachten, selbst verursachten Verletzungen. Im Zentrum steht die Schicksalsfigur Mao Zedong. Eines steht fest und die Fakten sprechen eine überdeutliche Sprache: Mao gehört zu den grössten Verbrechern der Menschheitsgeschichte, auf Augenhöhe mit Hitler und Stalin! Wie diese hat er Dutzende von Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Im Unterschied zu Hitler und Stalin befindet sich Mao Zedong aber nach wie vor im Pantheon und an eine offene Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Grossen Vorsitzenden ist auch auf absehbare Zeit hinaus wohl kaum zu denken.

Junge Chinesen und Menschen mittleren Alters können zu Mao Zedong selbstverständlich nicht die emotional geprägte Beziehung haben wie seine Zeitgenossen. Mao ist seit 1976 tot und der Konsumfetischismus der letzten eineinhalb Jahrzehnte hat vor allem unter den neuen urbanen Mittelschichten die Gedanken und Wertvorstellungen des Gründers der Volksrepublik in den Hintergrund gedrängt. Natürlich berufen sich Politiker in Grundsatzreden und Grundsatzpapieren weiterhin auf den Grossen Vorsitzenden als die wegweisende Referenzfigur, die nach wie vor auch über dem bedeutenden Reformer Deng Xiaoping thront. Immerhin anerkennt die offizielle Propaganda mittlerweile, dass Mao Zedong nicht fehlerfrei gewesen ist. Dessen ungeachtet gibt es innerhalb der Partei wie in der weiteren Bevölkerung viele, die nichts auf ihn kommen lassen wollen. Nicht jedermann will sich mit der Öffnung des Landes, mit den sozialen Veränderungen oder auch mit dem wachsenden Reichtumsgefälle zwischen einzelnen Bevölkerungsschichten und einzelnen Regionen des Landes oppositionslos zufriedengeben. Selbst in der KPC gibt es starke konservative Kräfte, die ein mässigeres Tempo bei der Modernisierung des Landes anmahnen und sich dabei auf Mao Zedong berufen. Eine Verschlechterung der Wirtschaftslage oder ein kräftiger Inflationsschub wären Wasser auf die Mühlen der maoistischen Systemkonservativen.

Eine Beseitigung des Grossen Vorsitzenden aus dem Pantheon, wie dies unter Nikita Chruschtschow mit Stalin geschehen ist, ist aus einem gewichtigen Grund nicht möglich. Im Gegensatz zu Stalin war Mao Zedong ein Staatsgründer. Am 1.Oktober 1949 rief er in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens die neue Volksrepublik aus. Mit einem Sturz Maos wäre eine ernsthafte historische Legitimitätskrise der Volksrepublik China verbunden. Natürlich könnte man sich auch auf den Republikgründer Sun Yat-sen berufen, doch im historischen Verständnis der Chinesen wäre dies gleichbedeutend mit einem Schlussstrich unter der «Dynastie der KPC».

Somit muss davon ausgegangen werden, dass, sofern es nicht zu einer schweren Systemkrise kommt, was angesichts der hoch entwickelten Managementqualitäten der KPC eher unwahrscheinlich ist, Mao den Chinesen als Referenzgrösse, als Vaterfigur noch auf lange Zeit hinaus erhalten bleiben wird. Mit fortschreitender Zeit wird die Distanz zum Grossen Vorsitzenden jedoch zunehmen. Die Menschen werden von ihren ökonomischen Aspirationen so weitreichend absorbiert, dass sich politische und ideologische Apathie breitmacht. Der traditionelle Pragmatismus der Chinesen fördert diesen Trend noch zusätzlich. Der chinesische Politologe Wang Hui spricht in diesem Zusammenhang von politischem Desinteresse und von politischer Abstinenz im Einparteienstaat.

Eine ganz andere Frage stellt sich indes bei der Aufarbeitung der sogenannten Kulturrevolution. Die schrecklichen Ereignisse der Jahre 1966 bis 1976 liegen erst eine halbe Generation zurück und sind somit vielen Chinesen noch präsent. Auch sollten die jüngeren Generationen, die das Privileg hatten, nach dem Ende des von Mao Zedong und seiner Frau losgetretenen Wahnsinns geboren worden zu sein, von ihren Eltern und Grosseltern noch genügend über diese turbulente Zeit erfahren. Allerdings steht dabei auch stets die Frage im Raum: «Wo warst du und was hast du getan während der ‹Kulturrevolution›?» Nicht ohne Grund hatte der Chefredakteur der «Beijing Review» aus Anlass des vierzigsten Jahrestags des Beginns der Kulturrevolution (1966 bis 1976) zu bedenken gegeben, dass Mao dieses Projekt nicht ohne die willige Kollaboration von Millionen von Chinesen hätte durchführen können. Bevor die Frage nach den Gründen, weshalb Menschen zu solchen Grausamkeiten gebracht werden konnten, nicht glaubhaft geklärt ist, kann von keiner wirklichen Aufarbeitung des schlimmen Geschehens während der Kulturrevolution gesprochen werden.

Patriotismus und Nationalismus

China sieht sich seit alten Zeiten als das Reich der Mitte, als Zentrum der Welt. Dieses Verständnis rückt es in die Nähe des Römischen Reiches, das sich ebenfalls als Zentrum der Zivilisation in der damaligen Welt betrachtete. Ob man römischer Bürger oder Untertan des «Sohns des Himmels» war, beides hob einen von den Barbaren ohne diesen Status ab. Während die moderne Idee des Nationalstaats in Europa zu ihrer Blüte kam, aber auch zum tragischen Verhängnis wurde und im Japan der Meiji-Restauration ihren Niederschlag fand, verpasste China im 19. und frühen 20.Jahrhundert zunächst den Anschluss an die moderne Nationalstaatlichkeit. Mit der Gründung der Volksrepublik China wurde dieses Versäumnis rund ein Jahrhundert nach den liberalen Revolutionen in Europa von 1848 zumindest der Form nach nachgeholt. Natürlich hatte die Volksrepublik als eine kommunistische Staatsgründung einen herausragenden internationalistischen Anspruch, doch spätestens nach dem Bruch mit der Sowjetunion sollte der traditionelle Sinozentrismus des neuen Staatsgebildes offenkundig werden. Diese Entwicklung ist der Hauptgrund dafür, weshalb wir auch heute China nicht als Nation im europäischen Sinne verstehen dürfen.

Was bedeutet dies für das Selbstverständnis der Bewohner der Volksrepublik? Wie nationalistisch sind die heutigen Chinesen und lassen sich in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen den einzelnen Generationen feststellen? Aufgrund der vorangegangenen Bemerkungen zur neueren Geschichte Chinas liegt es nahe, das Reich der Mitte als ein Land mit einer «verletzten Seele» zu bezeichnen. Wir kennen diesen Zustand, den der indischstämmige Schriftsteller V.S.Naipaul in mehreren Büchern nach Reisen in Drittweltstaaten eindrücklich beschrieben hat, von zahlreichen anderen Fällen. Auch die Indische Union wurde wegen der vorangehenden langjährigen Erniedrigung durch die britische Fremdherrschaft mit einer verletzten Seele geboren.

Die verletzte Seele des nationalstaatlichen Kollektivs hinterlässt natürlich auch im Befinden der einzelnen Menschen ihre Spuren. Ein Nationalstolz, wie er in den europäischen Staaten und insbesondere in Frankreich und Deutschland entwickelt, ja herangezüchtet wurde, fehlt in China. Die geistige Haltung der Chinesen lässt sich eher mit Begriffen wie Patriotismus oder auch Chauvinismus, ja zuweilen gar Xenophobie umschreiben. Blicken wir auf die Ereignisse im 19.Jahrhundert zurück, so finden wir bei allen Generationen vor allem gegenüber dem Westen und Europa eine von Patriotismus geprägte Einstellung.

Diese Haltung wird natürlich durch den Geschichtsunterricht untermauert. Die Ch’ing-Dynastie kommt, wenn ihre Fähigkeit, fremde Eindringlinge von China fernzuhalten, beurteilt wird, nicht gut weg. Doch inzwischen ist Chinas offizielle Geschichtsschreibung, wenn es generell um das Thema der Erniedrigung Chinas durch auswärtige, primär westliche Mächte geht, weniger ideologisch geprägt, sondern bezieht sich vermehrt auf historische Fakten. Diese Haltung ändert sich, wenn es um die Verletzungen im 20.Jahrhundert geht. Zunächst erfuhr China 1919 nochmals eine «klassische» Erniedrigung in Form der von der Versailler Friedenskonferenz sanktionierten Übernahme der einst deutschen Besitzungen in der ostchinesischen Provinz Schandong durch die Japaner. Daraus resultierte die patriotische, mehrheitlich von Studenten getragene «Reformbewegung vom 4.Mai». Der Gründer der Kuomintang, der Chinesischen Nationalen Volkspartei, Sun Yat-sen, hatte bereits zuvor mit dem Kampf gegen die Ch’ing-Dynastie die Auflehnung nicht nur gegen eine reaktionäre Monarchie, sondern auch gegen die Fremdherrschaft der Mandschu propagiert.

Im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg, der vom 7.Juli 1937 bis zum 9.September 1945 dauerte, befand sich die Republik China in einem nationalstaatlichen Überlebenskampf, der mit den modernen Kriegen zwischen den europäischen Nationen vergleichbar war. Japans Imperialismus hatte sein Vorbild im Britischen Empire, und die japanische Besetzung Koreas und grosser Teile Chinas sowie die Errichtung des Marionettenregimes in der Mandschurei hatten alle klassischen Versatzstücke des europäischen Nationalismus. Das Reich der Mitte sollte auch deshalb in Bedrängnis geraten, weil es dem modernen japanischen Nationalismus nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hatte und sich während der äusseren Bedrohung überdies in Bürgerkrieg und Warlordismus aufrieb. Beinahe wäre darüber das Schicksal der noch sehr jungen chinesischen Republik besiegelt worden, hätten nicht die Amerikaner Japan besiegt.

Der Bürgerkrieg intensivierte sich nach der Kapitulation Japans und endete 1949 in der Ausrufung der Volksrepublik durch Mao Zedong und im Rückzug Chiang Kai-sheks und seiner Getreuen auf die Insel Taiwan. Zwar hatte sich die KPC nach sowjetischem Vorbild dem Internationalismus verschrieben, was jedoch für die nationale Befindlichkeit der chinesischen Bevölkerung ohne Relevanz blieb. Mao Zedong verstand den leninschen Internationalismus als «Krieg der Hütten gegen die Paläste». Dementsprechend unterstützte Peking mit bescheidenen Mitteln aufständische Bewegungen in Übersee. Mit dem Bruch mit der UdSSR kam allerdings der Internationalismus der KPC rasch zum Erliegen.

Die internationale Anerkennung der Volksrepublik China, die erst am 25.Oktober 1971 anstelle der Republik China (Taiwan) in die UNO aufgenommen wurde, erfolgte schrittweise. Unmittelbar nach der Ausrufung der Volksrepublik am 1.Oktober 1949 beschränkte sich die diplomatische Anerkennung ausschliesslich auf Länder des Sowjetblocks. Bereits 1950 folgten aber westliche Länder wie Schweden, Dänemark und die Schweiz (14.September 1950). In den späten 1950er- und in den 1960er-Jahren kamen zahlreiche Staaten der sogenannten «Dritten Welt» hinzu und am 1.Januar 1979 schliesslich die Vereinigten Staaten. Heute hält nur noch eine kleine Anzahl von kleinen und kleinsten Staaten an der diplomatischen Präferenz für die Republik China auf Taiwan fest.

Von besonderer Bedeutung an den von Deng Xiaoping im Jahr 1978 eingeleiteten Wirtschaftsreformen ist, dass sie nicht nur die Modernisierung des Landes vorantrieben, sondern auch China gegenüber der Aussenwelt öffneten. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts war China in die Welt integriert wie nie zuvor in den vergangenen zweihundert Jahren. Diese Entwicklung hat natürlich auch weitreichende Folgen in Bezug darauf, wie sich die Chinesen in der Welt positionieren. Vor allem die jüngeren Generationen, welche die weltrevolutionäre Pose von Mao Zedong nicht bewusst erlebt haben und die in einer Zeit stets wachsenden wirtschaftlichen Wohlstands gross geworden sind, blicken mit einem natürlichen Selbstbewusstsein auf die Welt, das nicht mehr unter den einstigen Verletzungen durch ausländische Mächte leidet.

«Reich zu werden ist wunderbar!»

Chinas reiche Geschichte zeigt ein Volk, das sowohl in kulturellen als auch zivilisatorischen Belangen durch einen grossen Pragmatismus geprägt wird. Im Mittelpunkt dieser Tradition steht mit Sicherheit die Weltzugewandtheit der Weisheitslehre von Konfuzius. Der grosse Weise, der ja auch kein Religionsgründer war, hat sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, was mit dem Menschen nach dem Tode geschieht. Es gibt keine konfuzianische Metaphysik. Daraus folgt, dass sich die Pflichtenlehre, die im Zentrum des Konfuzianismus steht, auf die diesseitigen Bestrebungen konzentriert. Innerhalb des Familienverbands, aber auch innerhalb der weiteren Gemeinschaft ist der Einzelne dazu verpflichtet, alles daran zu setzen, in diesem Leben voranzukommen. Eine herausragende Bedeutung kommt dabei Erziehung und Bildung zu. Schon das traditionelle System der Mandarine richtete sich, auch wenn es nicht ganz dem heutigen Verständnis von Meritokratie entsprach, viel ausgeprägter auf die Wissensaneignung als Instrument zum Vorankommen im Leben, als dies etwa in den europäischen Feudalherrschaften der Fall war. Das Ziel dieser Bemühungen um Erziehung und Bildung ist nicht esoterisch. Erfolg im diesseitigen Leben misst sich, wie dies auch in der protestantischen Ethik der Fall ist, am Erwerb von Reichtum und Vermögen. Vor diesem Hintergrund war die Berufung Maos auf den Marxismus und die daraus folgende Abschaffung des privaten Eigentums in der Volksrepublik eine historische Anomalie, die dazu führen sollte, dass der Grosse Vorsitzende ein materiell und intellektuell völlig ausgepowertes Land hinterliess.

Deng Xiaoping ging als einer der bedeutendsten, wenn nicht gar als wichtigster Reformer Chinas mit der Wertschätzung des Reichtums in die Geschichte ein. Über seinem Lebenswerk steht der Slogan «Reich zu sein, ist wunderbar», untermauert von der Aussage, dass wenn einige Menschen in einer Gemeinschaft schneller reich werden als die grosse Masse, dies letztlich der Allgemeinheit diene. Die Betonung des Reichtums war nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialpsychologischer Hinsicht bedeutsam. Deng musste einem Volk, das unter Mao Zedong darauf abgerichtet worden war, allen Privatbesitz als Teufelswerk zu betrachten, wieder nahelegen, dass der Erwerb von und das Streben nach Reichtum keine Sünden sind. Um wieder zu alter Grösse aufsteigen zu können, war es für China notwendig, auf das private Streben nach Erfolg und Vermögen zurückzugreifen.

Den Anstrengungen der Erneuerer kam zugute, dass das Geschäftemachen, das Streben nach materiellem Wohlstand in der DNA der Chinesen seit Urzeiten fest verankert ist. Nicht ohne Grund haben sich die Chinesen in allen Ecken der Welt als besonders geschäftstüchtig erwiesen. Während es in jeder grösseren Stadt eine «China Town» gibt, hat man noch nie etwas von einer «Russian Town» gehört. Dies ist auch eine Ursache dafür, weshalb nach dem Zusammenbruch der UdSSR nicht der grosse wirtschaftliche Aufbruch erfolgte, während China nur drei Jahrzehnte nach dem Ableben Mao Zedongs den Sprung auf Platz zwei in der Rangliste der grössten Volkswirtschaften der Welt geschafft hat. Natürlich ist es auch bei den grössten Erfolgsgeschichten immer angebracht, Skepsis und die nötige Distanz es zu bewahren. Dies gilt auch für das chinesische Wirtschaftswunder. Dennoch muss bei den Zukunftsperspektiven die besondere Tatkraft der Chinesen in Rechnung gestellt werden.

«Reich zu werden, ist wunderbar» ist zum Mantra nicht nur der Tycoons geworden, sondern prägt auch das Leben der grossen und stetig wachsenden Mittelschichten. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung und der Entbehrung hat sich ein Volk mit Begeisterung in den Konsum und die Vermögensakkumulation gestürzt. Natürlich trägt, wie könnte es anders sein, vieles das Stigma der Geschmacklosigkeit von Neureichen. Doch auch in China ändern sich die Geschmäcker rasch, lernen die Menschen neue und höhere Qualitätsstufen zu schätzen. In diesem Konsumverhalten liegen übrigens auch die Chancen für die westlichen Industriestaaten, mit ihren prestigereichen Markenprodukten und hoch qualifizierten Dienstleistungen am neuen Reichtum in China teilzuhaben.

In China kann es kein Zurück mehr geben. Die Zeiten der maoistischen Gleichmacherei sind endgültig vorbei. Das heisst natürlich nicht, dass es im chinesischen Modernisierungsprozess nicht auch Verlierer und Frustrierte gibt, die von den «guten alten Zeiten» träumen. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass es in Partei, Verwaltung und unter dem Volk viele Menschen gibt, die der Öffnung und der Modernisierung ihres Landes sehr skeptisch, wenn nicht gar feindlich gesinnt sind. Schliesslich lässt sich auch in China wie im Westen mit Nostalgie und Patriotismus wohlfeile Politik machen. Doch solange der Kuchen wächst und die breite Masse der Bevölkerung jedes Jahr etwas mehr vom Wohlstand hat, werden die Modernisierer und Reformer auch weiterhin den Wind im Rücken haben. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass es sich bei China um keinen Ministaat vom Format Singapurs handelt und dass deshalb auch diejenigen, die zu den Reformern zählen, nicht den ordnungspolitischen Neuerungseifer an den Tag legen können, den westliche China-Enthusiasten häufig erwarten.

Wie immer sich die Gewichte zwischen Systemkonservativen und Modernisierern im laufenden Jahrzehnt verteilen werden, eine Rückkehr in die Zeiten vor den dengschen Reformen scheint unwahrscheinlich. Natürlich kann es zu sozialer Unruhe, ja zu politischen Verwerfungen kommen, insbesondere wenn die Wirtschaft nicht mehr so rund läuft oder wenn es gar zu heftigen Inflationsschüben kommen sollte. Solche Verwerfungen können auch zu Akzentverschiebungen in der offiziellen Wirtschaftspolitik führen und die Arbeit für ausländische Unternehmen und Investoren zuweilen erschweren. Denn Systemstabilität und der Erhalt der absoluten Macht der KPC haben vor allen wirtschaftspolitischen Neuerungen Priorität. Dies dürfen die Westler nicht vergessen. Dass die Wirtschaftsreformen unumkehrbar sind, kann jedoch aus der schlichten Tatsache hergeleitet werden, dass es keine Person vom historischen Format Mao Zedongs gibt, die eine solche Entwicklung steuern könnte. Bei aller Abscheu über die Verbrechernatur des Grossen Vorsitzenden darf nicht vergessen werden, dass er aufgrund der historischen Umstände, unter denen er an die Macht kam und die Volksrepublik gründete, eine Legitimität besass, die nach ihm niemand mehr, auch Deng Xiaoping nicht hatte und in Zukunft auch nicht haben wird!

Der Aufstieg der Mittelschichten

Die Welt sieht die Folgen der von Deng Xiaoping in Gang gesetzten Wirtschaftsreformen vor allem in den eindrücklichen Zahlen und Bildern des neuen China. Man ist beeindruckt von den billionenschweren chinesischen Devisenreserven, vom Aufstieg Chinas zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt, von den Hunderttausenden von Dollarmillionären und von den glitzernden Skylines der chinesischen Millionenstädte. Vor dem Hintergrund, dass China noch vor einer halben Generation ein Entwicklungsland mit velofahrenden Massen in unförmiger blauer Einheitskleidung gewesen ist, ist dies nur zu verständlich. Doch die wirklich weitreichende, epochale Veränderung China liegt im Heranwachsen von zahlen- und einkommensmässig substanziellen Mittelschichten. Hier hat eine Entwicklung stattgefunden, die unumkehrbar ist und das Fundament des aktuell stattfindenden Generationenwechsels darstellt.

In diesem Zusammenhang sei auf das Buch von Li Zhang In Search of Paradise verwiesen. Li Zhang identifiziert das Wohneigentum als ein zentrales Element des neuen mittelständischen China. Für den «einfachen Mann» ist der Erwerb von Wohneigentum der wichtigste Schritt beim Aufstieg in den Mittelstand. Nach Ansicht von Li Zhang verändern der Immobilienboom, die Suche nach einem guten Leben und nach sozialer Profilierung der Mittelschichten die physische und soziale Landschaft des urbanen China nachhaltig.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Aufstieg der chinesischen Mittelschichten nicht nur ein internes, gesellschaftlich relevantes Ereignis ist, sondern auch für die internationale Positionierung der Volksrepublik von Relevanz ist. Zunächst spiegelt sich darin natürlich die Wirtschaftsmacht der reicher gewordenen Volksrepublik. Das private Wohneigentum löste eine Vielzahl von sozialen Veränderungen aus, die auch Chinas Aufstieg zu einer globalen Wirtschaftsmacht befördern. Bei den rein materiellen Aspirationen, die sich zunächst auf die Prioritätensetzung in der chinesischen Eigentums-, Wirtschafts- und Sozialpolitik auswirken werden, wird es nicht bleiben. Wenn eine starke Mittelschicht heranwächst, so wird sich dies auch auf die aussenpolitische Profilierung und natürlich die politische Modernisierung der Volksrepublik auswirken.

Auch wenn es keine konkreten Mitspracherechte gibt, wie dies beispielsweise in der direkten Demokratie der Schweiz der Fall ist, so muss doch auch ein autoritäres Einparteienregime wie das chinesische Rücksicht auf die Interessen der eigenen Bevölkerung nehmen. Hat diese nichts zu verlieren, wie es zu Maos Zeiten der Fall gewesen ist, so lässt sich leicht eine zuweilen auch abenteuerliche Politik des «Kriegs der Hütten gegen die Paläste» rechtfertigen. Dies sieht jedoch ganz anders aus, wenn es substanzielle Besitzstandsinteressen zu berücksichtigen gilt. Wer erst seit Kurzem und durch harte Arbeit Vermögenswerte erworben hat, will nicht, dass diese leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.

Die bereits durch die Rückkehr Chinas in die Weltwirtschaft bewirkte internationale Vernetzung der chinesischen Volkswirtschaft wird durch die mittelständische Interessenlage noch untermauert. Die Folge davon ist, dass sich China in der internationalen Arena von einem revolutionären Staat mit einem systemimmanenten Desinteresse an einer stabilen Weltordnung zu einer stabilitätsorientierten Macht mit einem grossen Interesse am Status quo gewandelt hat, an dem es als einflussreiches permanentes Mitglied des UNO-Sicherheitsrats sowie als führender Teilnehmer und Teilhaber an der Gruppe der G-20 bereits Anteil hat. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft, vor allem die westlichen Industriestaaten, die globale Neupositionierung der Volksrepublik China nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern auch als eine historische Chance für die Realisierung einer stabileren, friedlicheren Weltordnung begreift. Auf jeden Fall kann und muss davon ausgegangen werden, dass im 21.Jahrhundert keine wichtigen internationalen Angelegenheiten ohne Chinas Kooperation mehr gemanagt werden können.

Li Zhang hebt hervor, dass, nachdem es in der Vergangenheit keine räumliche Untergliederung der chinesischen Städte gemäss sozialen Kriterien gegeben hat, sich dies nun ändern werde. Menschen, die es zu Reichtum und Wohlstand gebracht haben, können und wollen ihre Aspirationen nach einem hochqualitativen Lebensumfeld realisieren und streben dabei auch nach Rechten und Rechtmässigkeit. In der Tat hat der Abschied von der »klassenlosen Gesellschaft» seine nachhaltigsten Spuren im Stadtbild der chinesischen Städte hinterlassen. Zwar gab es in den Städten, die einst fremde Konzessionen gewesen waren, in den alten Quartieren noch eine bauliche Erbmasse, die darauf verwies, dass es hier einst nicht nur ein Massenproletariat gegeben hatte. Alles Bauen, das nach der Konsolidierung der Volksrepublik eingesetzt hatte, spiegelte jedoch nur den obrigkeitlich verordneten Einheitsgeschmack der besitzlosen Massen wider. Seit der Öffnung und Modernisierung Chinas unter Deng Xiaoping zeigen chinesische Städte ein neues Gesicht. Zwar werden nach wie vor viele städtebauliche Sünden begangen, doch sind die Bauten frei vom sowjetisch geprägten sozialistischen Realismus und es dominieren die Einflüsse der westlichen Architektur.

Die Rückkehr des Privateigentums

Die Entstehung von Mittelschichten hat die Entstehung von Privateigentum zur Voraussetzung. Gibt es kein rechtlich geschütztes Privateigentum, kann es per definitionem keine Mittelschichten geben. Der Prozess der Akkumulation von privatem Erwerb und privatem Vermögen kam bereits kurz nach der Einleitung der Wirtschaftsreformen in Gang. 2004 verabschiedete der Nationale Volkskongress ein viertes Amendment zur chinesischen Verfassung, in dem festgelegt ist, dass das legal erworbene Privateigentum der Bürger unverletzlich ist. Gleichwohl ist der Prozess der Eigentumsbildung in der postsozialistischen Phase nicht unproblematisch. Li Zhang weist darauf hin, dass das rasante Wirtschaftswachstum und die Kapitalakkumulation massgeblich auch durch Enteignung und Devaluation ermöglicht worden seien. Im ersten Fall handelte es sich um die Übertragung von staatlichen Assets und Ressourcen in Privatbesitz mittels Korruption und illegalen Transfers. Bei der Devaluation geht es um den Einsatz von physischer Arbeit zur Subventionierung von qualifizierter Arbeit.

Besonders konfliktreich ist dieser Akkumulationsprozess bei den Landnutzungsrechten, auf denen die Landwirtschaft und der gesamte Immobiliensektor beruhen. Li Zhang sieht bei der rücksichtslosen Enteignung und Vertreibung der einflusslosen Landnutzer die wachstumsfreundliche Koalition zwischen Immobilienentwicklern und örtlichen Behörden. Innerhalb des Reformprozesses, dem die chinesische Volkswirtschaft während der vergangenen drei Jahrzehnte unterzogen wurde, kommt dem Immobiliensektor ein besonderer Stellenwert zu – nicht nur weil sich hier in den städtischen Hochpreissegmenten die Gefahr von Spekulationsblasen präsentiert, sondern auch, weil die Wohnbaupolitik in einem kommunistischen System bei der materiellen Abfindung der Arbeitskräfte traditionell eine Schlüsselstellung innehatte. Die Löhne sorgten nur für einen sehr geringen Cashflow, die entscheidenden Benefizien waren Lohnnebenleistungen, die bei den privilegierten Staatsbetrieben ganz erheblich sein konnten und vom fabrikeigenen Kindergarten bis zur Dienstwohnung reichten. Vor den umfassenden Reformen im Wohnungswesen lebten 80 bis 90Prozent der städtischen Bevölkerung in Wohnungen, die mit ihrem Arbeitsplatz verbunden waren. Das öffentliche Wohnwesen sorgte natürlich für eine eigene Form von Hierarchie mit daraus resultierenden Ungerechtigkeiten und Ressentiments.

Eine so umfassende Neuordnung der Volkswirtschaft, wie sie in der Volksrepublik seit den späten 1970er-Jahren im Gang ist, hat selbstverständlich ihre Licht- und Schattenseiten. Zu Letzteren gehört, dass das Reichtumsgefälle zwischen einzelnen Regionen und Sozialschichten sowie zwischen der ländlichen und städtischen Bevölkerung wächst. Zudem ist es fast unvermeidlich, dass es im Prozess der Bildung von Privateigentum und Privatbesitz auch zu schwerwiegendem Missbrauch kommt. Einige sind schneller dabei als andere, sich öffentliches Gut unter den Nagel zu reissen, und nicht selten nutzen Angehörige der Nomenklatura ihr privilegiertes Insiderwissen zur eigenen Bereicherung. Li Zhang schildert dies mit Blick auf den Immobilienmarkt und spricht von «weitverbreiteter Korruption». Im Zuge dessen, wie urbanisiertes Land knapper und teurer wurde, konnten diejenigen mit guten Beziehungen zu den zuständigen Behörden rasch zu Multimillionären werden.

Der bekannte reformkritische chinesische Soziologe Wang Hui unternimmt in seiner Schrift China’s New Order. Society, Politics, and Economy in Transition eine grundlegende Kritik an diesem aus seiner Sicht schwerwiegenden Versagen im chinesischen Reformprozess. Ziemlich drastisch beschreibt er, wie durch den Austausch von Macht für Geld öffentliches Besitztum in die Taschen von Rent-Seekern fliesst. In der Fähigkeit der Insider, von den Möglichkeiten zur Bereicherung zu profitieren, sieht er einen strukturellen Fehler in den Reformen, denen Deng Xiaoping nach der Zäsur vom Frühling 1989 drei Jahre später mit seiner historischen Reise in den Süden eine neue Dynamik verliehen hatte. Nach 1992 seien positive Entwicklungen wie die Stärkung von Marktmechanismen und von lokaler Autonomie nicht durch einen entsprechenden Ausbau der demokratischen Kontrolle untermauert worden. Als Folge davon habe sich dieser Prozess zu einer Wiege für strukturelle Korruption entwickelt und zu massivem Schmuggel, zu einer Verschlechterung der Staatshaushalte und zu neuer Armut geführt.

Demgegenüber war sich die dritte Führungsgeneration, die in den Jahren des beschleunigten Wirtschaftswachstums und der intensivierten Vermögensakkumulation in Staat und Partei an der Macht war, sehr wohl über die langfristigen Implikationen der neuen Wohnungs- und Immobilienpolitik bewusst. Li Zhang zeigt, dass Chinas Reformen in der Wohnbaupolitik eine starke Förderung von Wohneigentum gegenüber Mietwohnungen vorsehen. Private Kredite wurden in den späten 1990er-Jahren grossflächig zugänglich und mehrheitlich für den Haus- und Automobilkauf eingesetzt. Der Förderung dieser Kaufkredite liegt zunächst natürlich die makro-ökonomische Absicht zugrunde, den Binnenkonsum zu stärken und damit die chinesische Volkswirtschaft von Exporten und von der internationalen Konjunktur weniger abhängig zu machen. Darüber hinaus ist sie aber auch Teil der Strategie, in China eine in den Worten von Staats- und Parteichef Hu Jintao «moderate Wohlstandsgesellschaft» zu errichten. Dazu benötigt man natürlich einen starken Mittelstand, der einen substanziellen Teil von Chinas 1,4Milliarden Einwohnern umfassen soll.

Li Zhang sieht diese Entwicklung richtigerweise auch im Rahmen neuer urbaner Lebensformen und neuer Statusbedürfnisse unter den aufstrebenden Mittelschichten. Mit der Zunahme von privatem Wohneigentum und von Klassenunterschieden entsteht eine neue Differenzierung beim urbanisierten Wohnen. Eine Eigentumswohnung, so Li Zhang, ist nicht nur eine wichtige Investition, sondern auch ein nützliches Instrument, um seine Lebensorientierung und seinen sozialen Status zum Ausdruck zu bringen. Die Folge davon ist eine verstärkte Nachfrage nach Marken, nach Statussymbolen, denen häufig auch eine internationale Note anhängt, sowie von neuen Stilen. Die heutigen Chinesen, so Li Zhang, scheuen nicht mehr davor zurück, ihren Status und ihren Lebensstil auch in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen.

Im Fokus stehen natürlich auch die jüngeren Generationen. Sie kommen auf den Arbeitsmarkt, sind häufig mobiler und besser ausgebildet sowie viel weltgewandter als ihre Eltern. Sie haben das Leben vor sich, wollen es zu etwas bringen und sorgen mit Investitionen für die Zukunft vor. Es ist nur folgerichtig, dass sich der Immobilienmarkt an dieses wichtige Käufersegment wendet. Der städtische Immobilienmarkt orientiert sich gemäss Li Zhang vornehmlich auch an jungen, unabhängigen und unverheirateten Berufstätigen, die einen eigenen Lebensraum besitzen und gestalten wollen. So wird heute kolportiert, dass eine selbstbewusste Schanghaierin oder eine gut ausgebildete Pekingerin beim Date ihren potenziellen künftigen Partner schon früh fragt, ob er bereits ein Apartment besitze. Der junge Mann, der diesbezüglich nichts vorzuweisen hat, kann sich nur wenige Chancen ausrechnen, eine attraktive Frau zu bekommen.

Wohlstandsunterschiede können sich in einer Gesellschaft auf vielfältige Weise manifestieren. In China begann die Differenzierung schon bei bescheidenen «Extravaganzen» im Alltagsleben, etwa indem man sich einen Hamburger bei McDonald‘s leistete. Inzwischen ist die Entwicklung rasant vorangeschritten und die Statussymbole sind weitaus kostspieliger geworden. Zu den wichtigsten Mitteln, sich von der Masse abzuheben, gehört selbstverständlich das Wohnen. Auch unter Mao gab es in den Städten privilegierte Wohnlagen, wobei jedoch niemand die Wohnung oder das Haus sein eigen nennen konnte. In Schanghai wurden verdiente Parteimitglieder in den ehemaligen Villen der früheren fremden Konzessionen und in Peking in den von sowjetischen Architekten geplanten Wohnblöcken einquartiert. Auch hier hat sich vieles geändert und mit der Entwicklung des privaten Immobilienbesitzes ist die soziale Abgrenzung auch im Städtebau sehr evident geworden.

Li Zhang sieht «Exklusivität, Privatsphäre und Atomisierung» als die drei Schlüsselelemente der neuen Lebensweisen. Das Streben nach Privatsphäre und die Atomisierung der Familie müssen auch vor dem Hintergrund der sozialistischen Wohnweise verstanden werden. Mittelständische Wohnungskäufer seien vom Besitz privaten Raums besessen, da sie darin eine Befreiung von der alten sozialistischen Lebensart sähen. Indem man sein eigenes Heim besitzt, löst man sich vom «Danwei» (einer Einheit der sozialistischen Organisation), was einem erlaubt, aus verschiedenen sozialen Beschränkungen und allgemeiner Überwachung auszubrechen.

Doch die soziale Strukturierung bleibt natürlich nicht bei der Hardware, bei der Wohnung, beim Haus oder beim Quartier stehen. China ist eine neureiche Gesellschaft und entsprechend begierig sind die Menschen, sich selbst und den anderen ihren wirtschaftlichen Erfolg handfest zu demonstrieren. Protzen gehört zum Alltag und ist in gewissem Masse die Kehrseite der Münze, auf deren Vorderseite Dengs Slogan «Reich zu werden, ist wunderbar» gestanzt ist. In den noblen Villenquartieren und teuren Apartments, die über umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen verfügen und von der Allgemeinheit abgegrenzt sind, finden Bedienstete und Hilfspersonal Beschäftigung. Li Zhang sieht dort «Herrschaft und Dienstboten». Früher waren solche exklusiven Lebensverhältnisse der Nomenklatura vorbehalten. Heute kann man sie sich mit Geld erwerben – ein wichtiger Schritt vom klassischen Feudalismus der KPC zur Meritokratie.

Neues Rechtsbewusstsein

Bei den monumentalen Veränderungen, welche die Reformen in der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft bewirken, kann es nicht erstaunen, dass in der chinesischen Öffentlichkeit wie in der KPC nicht nur eitel Freude herrschen. Bei Weitem nicht alle gehören zu den Gewinnern und die Glitzerfassaden von Schanghai und Guangzhou sind weit entfernt von den armseligen Lebensumständen, unter denen die grosse Mehrheit der Chinesen ihr Dasein fristet. China ist, wie ja auch die Führung selbst betont, von den Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen der überwältigenden Mehrheit seiner Bevölkerung gesehen nach wie vor ein Entwicklungsland. Das bedeutet, dass es divergierende Interessen gibt und dass wichtige Kräfte in Partei und Gesellschaft sowohl in Bezug auf die Reformen als auch in Bezug auf die Öffnung des Landes gegenüber dem Ausland starke Vorbehalte haben.

Vor diesem Hintergrund ist es für die Zukunft des chinesischen Modernisierungs- und Normalisierungsprozesses sehr wichtig, dass sich die neuen Mittelschichten nicht mit rein materiellen Aspirationen zufriedengeben. In Bezug auf höhere Ziele ist nicht a priori an politische Veränderungen, sondern vielmehr an ein neues Rechtsbewusstsein zu denken. Dieses muss nicht anerzogen werden, sondern erwächst beinahe zwangsläufig aus der Institution des Privateigentums. Der entscheidende Fortschritt einer aufsteigenden Mittelstandsgesellschaft besteht darin, dass sie dem Einzelnen mit der Möglichkeit zum Erwerb von Privateigentum auch das Streben nach dessen Absicherung vermittelt. Und diese Absicherung obliegt im Wesentlichen dem Rechtssystem. Li Zhang sieht eine neue Welle von Bürgeraktivitäten, die Entwicklung eines auf Eigentumsrechte beruhenden Sozialbewusstseins. Die Sprache des Rechts entwickle sich zu einer wichtigen Basis für individuelle und kollektive Aktionen der Bürger. Mit der Akquisition von Vermögen, insbesondere von Immobilienbesitz, entsteht zusammen mit dem Aufstieg in die Mittelschichten ein verstärktes Eigentumsbewusstsein. In diesem Zusammenhang ist die nach der Verankerung des Schutzes von Privateigentum in der Verfassung erfolgte Legiferierung von Bedeutung. Das revidierte Eigentumsgesetz, das im Oktober 2007 in Kraft trat, stellt den Privatbesitz auf die gleiche Ebene wie Kollektiv- und Staatsbesitz. Dadurch wird sichergestellt, dass Immobilienbesitzer nicht mehr der Willkür von staatlichen Behörden ausgesetzt sind.

Die chinesische Führung wird zu Recht für die fortdauernde Verletzung von Menschenrechten kritisiert. Bei der Rechtsstaatlichkeit ist die Volksrepublik noch sehr weit von den Standards entfernt, die wir in den westlichen Industriegesellschaften als angemessen erachten. Anderseits darf bei aller Kritik nicht übersehen oder gar verdrängt werden, dass es im Rechtsbereich in China vor allem in den letzten zehn, fünfzehn Jahren beträchtliche Fortschritte gegeben hat. Als 1976 die Kulturrevolution endete und Mao Zedong starb, lebte das gesamte chinesische Volk in einem Zustand völliger Rechtlosigkeit, ja der Sklaverei. In allen Bereichen, von der Heirat über den Wohnsitz bis zum Arbeitsplatz hatte der Staat (will heissen die Partei) das entscheidende Wort. Privatbesitz gab es, von den bescheidensten Gegenständen des täglichen Bedarfs abgesehen, ohnehin nicht. Es ist nicht nur die gesetzliche Regelung des Privatbesitzes, sondern auch die Verpflichtung des Staates auf Kontinuität, Respekt des Eigentums und der Verzicht auf Willkür, die den Rechtsstatus der Chinesen von Grund auf verändert und verbessert haben.

Dies alles hat soziale, politische und auch psychologische Folgen. Gemäss Li Zhang wurde in der Zeit nach den blutigen Repressionsmassnahmen im Juni 1989 grösseres Gewicht auf Verwaltung mittels Marktmechanismen gelegt. Zwar steht die Aufarbeitung der tragischen Ereignisse vom Frühling 1989 nach wie vor aus, doch kann nicht verkannt werden, dass die Menschen, insbesondere die Angehörigen der urbanen Mittelschichten aufgrund dieser neuen Rationalität in der chinesischen Politik an Würde und Selbstbewusstsein kräftig gewonnen haben. Die Zeiten Maos und vor allem die Kulturrevolution zeichneten sich ja dadurch aus, dass es keine Gewissheiten, keine Sicherheit gab und sich die Lebensumstände von einem Tag auf den anderen dramatisch verändern konnten. Der einzelne Mensch, ja das ganze Volk war nur ein Spielball der Mächtigen. Li Zhang sieht diesbezügliche Entwicklungen auch in weitreichenden sozialen Verhaltensänderungen widergespiegelt. Das Verständnis von Selbstwert ist individueller und durch das Konzept des Privateigentums materialisiert worden, was sich auch in substanziellen Verlagerungen beim privaten Anlageverhalten von gewöhnlichen Konsumgütern zu grossen Investitionen in Form von Automobil- und Wohnungskauf niederschlägt.

Ein Rückblick in die chinesische Geschichte zeigt, dass zu den wenigen positiven Errungenschaften aus der Zeit von Maos Herrschaft die Befreiung der Frau aus den vollkommenen Abhängigkeiten einer konfuzianisch geprägten Gesellschaft war. Konfuzius hatte zwar grossen Wert auf Bildung und Erziehung sowie eine klare Regelung der Pflichten innerhalb der Familie gelegt, doch war dies alles auf den Vorrang des männlichen Geschlechts fokussiert. Frauen und Mädchen spielten keine Rolle. Zu Maos Zeiten erfolgte der erste Aufbruch, indem Frauen aus den vier Wänden des Hauses befreit und – nach sowjetischem Modell – auch in den Arbeitsprozess involviert wurden. Auch war die von Mao verordnete Einheitskleidung darauf ausgerichtet, die Frau in der Männerwelt zu emanzipieren. Der Haken dabei war nur, dass niemand Rechte besass und Mann und Frau auf den Status folgsamer Untertanen reduziert wurden. Immerhin war aber ein Anfang in Bezug auf die Stellung der Frau gemacht, an den man unter den neuen Verhältnissen mit den Wirtschaftsreformen anknüpfen konnte, man musste nicht dort beginnen, wo die Volksrepublik am Ende des Bürgerkriegs gestanden hatte.

Nach Li Zhang verändert sich durch die Entstehung von besitzenden Mittelschichten auch die Stellung der Frau in der chinesischen Gesellschaft. In der heutigen Marktwirtschaft und Konsumkultur sind nicht nur im öffentlichen Raum wieder geschlechtsspezifische Unterschiede zu beobachten, sondern auch im Hinblick auf Lebensziele. Bei Männern ist der Selbstwert an die Fähigkeit zum Geldverdienen gekoppelt und bei Frauen, so Li Zhang, tritt das Streben nach femininem Auftreten und Aussehen als eine Reaktion auch gegen die vormalige sozialistische Politik der gezielten Auslöschung von traditionell weiblichen Verhaltensweisen in den Vordergrund. Privatbesitz beeinflusst auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Nach Jahrzehnten des Maoismus hat die Wertschätzung von Privateigentum an Intensität gewonnen und ist von wachsender Bedeutung für die Beziehungen zwischen Mann und Frau geworden.

Auch hier finden wir somit Veränderungen, die im Rahmen des stattfindenden Generationenwechsels von weitreichender Bedeutung sind, nicht nur was Konsumverhalten und Investitionsentscheide, sondern auch was rechtliche und soziale Selbstständigkeit, ja gar emotionale Befindlichkeiten betrifft.

Das Reichtumsgefälle und die Kritik an den Reformen

Die Einführung und der Schutz von Privateigentum haben das Gesicht der Volksrepublik China nachhaltig verändert. Eine Konsequenz daraus ist, dass wir nun ein Land vor uns haben, dessen Bevölkerung in verschiedenen Zeitaltern lebt. Was hat ein Bauer tief in der Provinz von Sechuan mit einer gut verdienenden Junggesellin in Schanghai zu tun? Während diese Differenzierung der chinesischen Gesellschaft von der volkswirtschaftlichen Warte aus eine positive Entwicklung ist, schafft sie aus politischer Sicht neue Herausforderungen. Sicher wäre erwünscht, dass alle Chinesen möglichst rasch ein Leben ohne Entbehrungen führen können. Angesichts der Dimensionen der chinesischen Bevölkerung ist dies auf absehbare Zeit hinaus nicht möglich.

Die Tatsache, dass weiterhin die grosse Mehrheit der Chinesen in Drittweltverhältnissen überleben muss und dass das Gefälle zwischen den reichen und armen Regionen, zwischen Stadt und Land, zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich grösser geworden ist, können verschiedene politische Reaktionen hervorrufen. Die KPC darf in Sachen Modernisierung und Öffnung des Landes nicht a priori als eine geschlossene Einheit betrachtet werden. Dies betrifft auch die Reaktion auf die Herausforderung durch das wachsende Reichtumsgefälle.

Deng Xiaoping hatte deutlich gemacht, dass die wirtschaftlichen Reformen zu unterschiedlichen Resultaten führen werden und dass es nicht von vornherein schlecht sei, wenn einige Chinesen schneller reich werden als andere. Damit hatte er einmal mehr seine pragmatische Sicht der Modernisierung Chinas bekräftigt. Unter der dritten Führungsgeneration von Jiang Zemin und Zhu Rongji wurde die Wachstumspolitik vorangetrieben, ohne sich um entstehende Reichtumsunterschiede zu kümmern. Die nachfolgende Führungsgeneration modifizierte dies mit dem von ihr deklarierten «nachhaltigen Wachstum». Von linker Seite in der Partei wie in der vor allem akademischen Öffentlichkeit werden die «neoliberalen» Effekte der Reformpolitik kritisiert. Nach Li Zhang betonen Intellektuelle, die der «Neuen Linken» zuzurechnen sind, dass sie nicht gegen die Reformen sind, aber für eine Alternative zur neoliberalen Marktwirtschaft plädieren, um Marktexzesse einzudämmen, das Reichtumsgefälle zu reduzieren und die Rechte der Arbeitnehmer sowie die Umwelt zu schützen.

Die Führung um Hu Jintao und Wen Jiabao reagierte auf diese Kritik mit dem Konzept einer «harmonischen Gesellschaft». Mit der Betonung der Harmonie soll deutlich gemacht werden, dass die Konzessionen an die Kritiker der Wachstums- und Reformpolitik nichts mit einer Rückkehr zum maoistischen Klassenkampf zu tun haben, obschon natürlich klar ist, dass die Kritik vor allem aus der Ecke der Systemkonservativen kommt, denen die Reformen wegen der damit verbundenen Öffnung des Landes nach aussen und wegen ihrer Auswirkungen auf das Sozialgefüge suspekt sind. Ausserdem gefällt nach Li Zhang die Betonung von Harmonie und sozialem Frieden auch den Kritikern einer ausschliesslichen Fokussierung auf Wirtschaftswachstum.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf den chinesischen Soziologen Wang Hui und seine Schrift China’s New Order