Die Neuordnung der Welt - Christian Hiller von Gaertringen - E-Book

Die Neuordnung der Welt E-Book

Christian Hiller von Gaertringen

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Beschreibung

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beruhte die Weltordnung auf einer starken Stellung der USA und ihrer Verbündeten. Der Westen strotzte nur so vor Selbstbewusstsein und versuchte, anderen Ländern seine Wertvorstellungen zu diktieren. Heute liegt es offen da: Der Rest der Welt will sich nicht länger der Ordnung fügen, wie sie der Westen in seinem patriarchalischen Großmut entworfen hat. Und so wird die Vormachtstellung der USA sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht immer mehr infrage gestellt. Wirtschaftsjournalist Christian Hiller von Gaertringen analysiert die Entwicklungen, die auf eine tiefgreifende Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse hinauslaufen. Seine These: Die zukünftige Weltordnung wird sich nicht alleine um China herum bilden. Auch werden sich nicht China und die USA die Spitzenposition teilen. Es wird eine multipolare Weltordnung entstehen, die stark von den heutigen Schwellenländern geprägt sein wird. Doch wie wird diese Weltordnung konkret aussehen? Welche Länder werden aufsteigen, welche werden absteigen? Welche Position wollen wir in dieser neuen Welt anstreben? Und vor allem: Welche Position können wir realistischerweise anstreben? Kenntnisreich und scharfsinnig gibt Christian Hiller von Gaertringen Antworten auf diese Fragen. Ein unverzichtbarer Beitrag zu der Debatte über die Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse, der viele Überzeugungen ins Wanken bringen wird.

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Christian Hiller von Gaertringen

DIE NEUORDNUNG DER WELT

Christian Hiller von Gaertringen

DIE NEUORDNUNG DER WELT

Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

2. aktualisierte Auflage 2023

© 2022 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Daniel Bussenius

Korrektorat: Anke Schenker

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: shutterstock/Triff

Satz: Daniel Förster

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-648-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-243-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-242-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Einleitung

Kapitel 1 Eine multipolare Welt

Kapitel 2 Die goldenen Zeiten des Westens – und eine Moral mit zweierlei Maß

Kapitel 3 Die Emanzipation der Schwellenländer und ihre Abkehr vom Westen

Kapitel 4 Was Europa im Umgang mit den Schwellenländern falsch macht – und China richtig

Kapitel 5 Die Gewichte in der Weltwirtschaft verschieben sich

Kapitel 6 Die Wachstumsdynamik der Schwellenländer

Kapitel 7 Das Ringen um internationalen Einfluss

Kapitel 8 Die neue Rolle des Westens

Anmerkungen

Über den Autor

Einleitung

Wie der Westen nach dem Fall der Berliner Mauer die Welt beherrschen wollte – und die einstigen Billiglohnländer selbst zu starken Wirtschaftsnationen aufstiegen.

Mehr als 30 Jahre lang hat der Westen in der Überzeugung gelebt, die beste aller Staatsformen hervorgebracht zu haben. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 galt zugleich als der Triumph des westlich geprägten Liberalismus über den Kommunismus, der mehr als 40 Jahre lang die größte Herausforderung des Kapitalismus dargestellt hatte. Von da an sollte der Glauben an die Vorteile einer globalen Arbeitsteilung herrschen. Damit meinte der Westen eine neue Weltordnung, in der er selbst oben steht und die Welt technisch, wirtschaftlich und ethisch dominiert, während die ärmeren Länder ihm mit billigen Arbeitskräften zuarbeiten sollten. Der Zerfall der Sowjetunion 1991 unterstrich für die reichen Nationen in Europa und Nordamerika die Überlegenheit ihrer Werte und ihres Systems.

Drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Manifest des neuen Zeitalters der liberalen Globalisierung: The End of History and the Last Man hieß das Credo der neuen Zeit.1 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, so Fukuyamas These, würden sich überall auf der Welt Demokratie und Marktwirtschaft durchsetzen. Mit dem Sieg des liberalen Politik- und Wirtschaftsmodells würde die Globalisierung die Konkurrenz der gesellschaftlichen Ordnungsmodelle beenden. Fukuyama sollte der Vordenker dieser neuen Weltordnung sein, der die Überlegenheit Europas und Nordamerikas auf alle Ewigkeit festschreiben wollte.

In der Tat folgte auf den Fall des Eisernen Vorhangs die lange Ära einer relativ friedlichen Globalisierung. Unternehmen im Westen begannen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern und weniger im Inland zu produzieren. Schon in den Jahrzehnten davor hatten westliche Unternehmen begonnen, lohnintensive Fertigung in Länder mit niedrigen Löhnen zu verlagern. Mit der Globalisierung erreichte dieser Trend eine neue Qualität: Die westlichen Unternehmen integrierten die Fertigungsstätten in den Schwellenländern vollständig in ihre Wertschöpfungskette. Deutsche Autos und deutsche Maschinen wurden zunehmend in Osteuropa oder in Ostasien gebaut. »Made in Germany«, jahrzehntelang das Markenzeichen deutscher Wertarbeit, verblasste angesichts der Tatsache, dass die Produkte deutscher Ingenieurskunst zunehmend im Ausland hergestellt wurden. Gleichzeitig machte sich der Westen zunehmend von der Lieferung wichtiger Vorprodukte aus China und den Schwellenländern abhängig. Dies bekamen amerikanische und europäische Unternehmen im Laufe der Corona-Pandemie schmerzhaft zu spüren, als die Lieferung von Computerchips und anderen wichtigen Komponenten empfindlich gestört war.

Die Globalisierung sollte ungeahnten Wohlstand für breite Massen in der gesamten Welt bringen. Die Schwellenländer in Asien und Afrika sollten nicht mehr ausschließlich Billiglohnproduzenten sein, sondern in die Wertschöpfungskette der reichen Nationen eingebunden werden und am steigenden Wohlstand auf der Welt teilhaben. Dennoch war die Arbeitsteilung in den Augen der multinationalen Konzerne festgeschrieben: Den Schwellenländern war die Rolle des Zuarbeiters zugewiesen. Die westlichen Unternehmen lagerten Tausende von Arbeitsplätzen in die neuen aufstrebenden Länder aus. Diese Verlagerung von Arbeitsplätzen traf nicht nur die Arbeiter am Fließband. Der Frankfurter Maschinenbauer Lurgi beschloss etwa 1997, circa 400 Ingenieure in Deutschland zu entlassen und ihre Arbeitsplätze nach Polen und Indien zu verlagern.2 Zur Begründung hieß es, in Deutschland koste eine Ingenieurstunde 200 bis 300 D-Mark (rund 102 bis 153 Euro), in Polen oder Indien 30 bis 60 D-Mark (rund 15 bis 30 Euro).

Der Westen strotzte in dieser Zeit nur so vor Selbstbewusstsein, waren die Protagonisten der Globalisierung doch davon überzeugt, mit den Werten des Westens der Welt Freiheit, Glück und Wohlstand für alle zu bringen. Ein dauerhaft hohes Wirtschaftswachstum sollte dafür sorgen, dass alle an den Wohlstandsgewinnen teilhaben.

Heute wissen wir, dass wir das Zeitalter der Geschichtslosigkeit noch lange nicht erreicht haben und dass der Westen für seine Überheblichkeit der 1990er-Jahre heute einen hohen Preis bezahlt. In Afghanistan ist der Versuch, ein westliches Wirtschafts- und Politikmodell einzuführen, genauso gescheitert wie im Irak. Und am Donnerstag, dem 24. Februar 2022, ist schließlich der russische Staatspräsident Wladimir Putin mit dem Einmarsch in die Ukraine in einen offenen Konflikt zum Westen gegangen. Mit diesem Krieg wurde allerdings auch offenbar, wie schwach die russische Armee tatsächlich aufgestellt ist und dass Russland unter Putin nicht zu den wirtschaftlichen Gewinnern der Neuordnung der Welt aufgestiegen ist.

Und doch kann der Westen nicht mehr übersehen, wie sich die Schwellenländer neu formieren. Dabei begeben sie sich nicht unbedingt in Opposition zum Westen, aber eindeutig haben sie damit begonnen, ihre eigenen Allianzen zu bilden unabhängig von den Institutionen, wie sie der Westen nach dem Zweiten Weltkrieg für die damalige Neuordnung der Welt entworfen hat.

Im Februar 2023 schreckte im Westen viele Menschen die Nachricht auf, dass Südafrika vor seiner Küste ein Marinemanöver gemeinsam mit Streitkräften aus Russland und China abhielt. Ein starkes Zeichen in einem Augenblick, in dem der Westen erfolglos versuchte, Schwellenländer wie Südafrika, Indien oder Brasilien dazu bringen, seine Verurteilung Russlands im Ukraine-Krieg zu unterstützen. Anstatt dass sich diese Länder dem Westen anschließen, gerät die Vereinigung der BRICS-Staaten, mit der wir uns noch eingehender befassen werden, wieder verstärkt in den Fokus. Das Kürzel steht für die Ländergruppe Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika. Es war in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten – bis zum russischen Einmarsch in die Ukraine. Um die BRICS-Staaten herum könnte eine neue Allianz von Schwellenländern entstehen und weit über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus viele andere Bereiche, auch eine militärische Kooperation, umfassen. Auch soll die Gruppe erweitert werden. Argentinien, der Iran und Algerien haben angeblich schon Interesse gezeigt, sich den BRICS-Staaten anzuschließen.3

Die Welt teilt sich neu. Auf der einen Seite steht wie zu Zeiten des Kalten Krieges der Westen. Westeuropa und Nordamerika sind trotz aller Unterschiede nach wie vor durch eine gemeinsame Sicht auf die Welt geeint, durch gemeinsame Werte, die auf den individuellen Freiheiten beruhen, wie die beiden Regionen sie zur Zeit der Aufklärung definiert haben. Der Westen ist zudem davon überzeugt, dass eine liberale Wirtschaftsordnung, die auf Marktwirtschaft und privatem Unternehmertum gründet, die beste denkbare Wirtschaftsordnung darstellt.

Auf der anderen Seite steht nicht mehr der von Moskau dominierte Ostblock, sondern die große Zahl der Schwellenländer, die sich von Osteuropa über Zentralasien, Südasien, Ostasien, Südostasien, Afrika bis nach Lateinamerika erstreckt. Es handelt sich um eine Vielzahl von Ländern, die ganz unterschiedliche Ansichten vertreten, autoritäre Regime, liberale Staaten, pluralistisch und kollektiv geprägte Länder, die aber heute eine weitaus größere Dynamik eint, als sie der Westen erreicht. Um den Unterschied zum alten Ost-West-Konflikt deutlich zu machen, wird die Welt heute von den Beziehungen zwischen Westeuropa und Nordamerika auf der einen Seite und den Schwellenländern mit hohem Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite geprägt. Dabei teilt sich die Welt jedoch nicht mehr einheitlich in Blöcke wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts. Vielmehr sind gerade in den Schwellenländern die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede so groß, dass diese trotz vieler Gemeinsamkeiten keine einheitliche Gruppe bilden.

Ein Fakt jedoch liegt heute offen da: Der Rest der Welt will sich ganz offensichtlich nicht der Ordnung fügen, wie sie der Westen in seinem patriarchalischen Großmut für die aufstrebenden Schwellenländer entworfen hat. Denn auch wenn die Interessen zwischen den USA und Europa nicht immer gleichgerichtet sind, so beruht doch die Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen wurde, auf einem Konsens zwischen den USA und den westeuropäischen Siegermächten Großbritannien und Frankreich.

Als Joe Biden Anfang 2021 die Nachfolge des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump antrat, wollte er für ein anderes Amerika und eine andere Weltordnung als sein Vorgänger stehen. Verbindlicher im Ton, verlässlicher in seiner Politik, sozialer gegenüber Bedürftigen, freundlicher gegenüber Amerikas Verbündeten. Doch in einem Punkt zeigte sich eine erstaunliche Kontinuität. Biden präsentierte sich gegenüber China genauso unnachgiebig wie Donald Trump. So lag auch der provokante Besuch von Nancy Pelosi, der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Anfang August 2022 in Taiwan ganz auf der Linie des Weißen Hauses, eine direkte diplomatische Konfrontation mit China nicht mehr zu scheuen.

Der Konflikt zwischen der alternden Großmacht, den USA, und der aufstrebenden neuen Macht, China, scheint vielen politischen Beobachtern der dominierende Konflikt des 21. Jahrhunderts zu sein. Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht ist China dabei, die USA als das Kraftzentrum der Welt abzulösen. Welche Schlussfolgerung liegt auch näher, wenn man sich anschaut, wie rasch es China gelungen ist, von einem verarmten Bauernstaat zu einer führenden Technologienation aufzusteigen? Weniger als 40 Jahre hat China für diese Umwälzung benötigt und dabei in wenigen Jahren im Eiltempo sämtliche Etappen eines aufstrebenden Entwicklungslandes durchlaufen. Anfangs produzierte China billige Massenware, heute ist es das Weltzentrum für Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und das Internet der Dinge, mit dessen Hilfe sich Maschinen selbstständig vernetzen und sich eigenständig steuern.

Anstatt im Ende der Geschichte zu schwelgen, befinden wir uns in einer Welt, in der sich Krisen und Konflikte – vom rapide voranschreitenden Klimawandel bis zu den neuen geopolitischen Herausforderungen – häufen wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Der islamistische Terror, Chinas härterer Kurs, der Aufstieg der Autokraten in vielen Ländern, selbst in Europa, und nun auch Putins Krieg gegen die Ukraine stellen das Entwicklungsmodell des Westens der vergangenen 30 Jahre grundlegend infrage. Was ist geschehen? Warum hat sich das westliche Modell, das Freiheit und Wohlstand verspricht, nicht durchgesetzt? Warum haben sich Fukuyama und all diejenigen, die an den Siegeszug des westlichen liberalen Modells der Globalisierung glaubten, so grundlegend geirrt?

Es wäre jedoch verkürzt, die großen Umwälzungen, die unsere Welt verändern, auf einen Konflikt zwischen dem Westen, allen voran die USA, und China reduzieren zu wollen. Der Aufstieg Chinas scheint uns den Blick darauf zu verstellen, dass allerorten einst rückständige Länder nach einem Platz ganz oben in der Weltordnung streben. Indien, Vietnam, Bangladesch, Nigeria, Kenia, Pakistan, Brasilien, Mexiko, lange Zeit die Türkei oder auch Ägypten haben nicht ganz so spektakuläre Wirtschaftserfolge vorzuweisen wie China. Doch auch diese Länder befinden sich in einem lang anhaltenden Aufschwung, den wenige noch zu Beginn dieses dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung für möglich gehalten hätten.

Die Gewichte auf der Welt verschieben sich. Jene Mächte, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine Weltordnung schufen, verlieren, relativ gesehen, an Gewicht. Sie wachsen nicht mehr so schnell wie die aufstrebenden Länder, sodass der Abstand zwischen den entwickelten Ländern und den ehemaligen Entwicklungsländern schrumpft.

»Die Welt wird erzittern«

Was die Wirtschaftsleistung betrifft, so liegt China mit einem Bruttoinlandsprodukt von knapp 25 Billionen Dollar jährlich nach Kaufkraftparität, also nach Ausschluss der Wirkung von Wechselkursen, weltweit auf dem 1. Rang. Die USA folgen knapp mit rund 23 Billionen Dollar. Sicher, auf die Einwohner umgerechnet liegt China noch deutlich zurück: Knapp 17.000 Dollar je Einwohner nach Kaufkraftparität erreicht China, während jeder Amerikaner auf eine jährliche Wirtschaftsleistung von durchschnittlich 65.000 Dollar kommt. Doch auch in diesem Punkt wird China rasch aufholen, falls es der Regierung gelingt, das Wirtschaftswachstum von den boomenden Küstenregionen weiter ins Landesinnere zu tragen. Denn China folgt in diesem Punkt dem Westen: Angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung – eine verheerende Folge der jahrelang verfolgten Politik, jeder Familie nur ein Kind zuzugestehen – ist China dabei, immer mehr Lohnfertigung in Billiglohnländer auszulagern. Zunächst wanderten diese Arbeitsplätze vor allem nach Südostasien, nach Malaysia, Vietnam, auf die Philippinen und nach Indonesien. Heute werden viele Fabriken auch nach Afrika ausgelagert, beispielsweise nach Äthiopien.

Wer hätte diesen rasanten Aufstieg Chinas vor 40 oder 50 Jahren für möglich gehalten? »Wenn sich China erhebt ... wird die Welt erzittern« lautete schon im Jahr 1973 die Überschrift eines berühmten Essays des französischen Politikers und Mitglieds der Académie Française Alain Peyrefitte. Mit diesem Titel bezog er sich auf eine Aussage, die ursprünglich Napoleon Bonaparte zugeschrieben wurde. Er soll zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesagt haben: »Lasst China doch schlafen, denn wenn China sich erhebt, wird die Welt erzittern.« Die Aussage ist nicht verbürgt. Doch wie so vieles in der Geschichte, klingt diese Prophezeiung so schön, dass man sie gerne für wahr halten möchte.

Peyrefitte stellte Anfang der 1970er-Jahre eine für die damalige Zeit gewagte These auf, die heftige Kontroversen weit über die Grenzen Frankreichs hinaus auslöste. Denn damals knechtete Chinas Machthaber Mao Zedong das Land noch mit eiserner Hand und drangsalierte seine Bevölkerung mit der Kulturrevolution, die China unwiderruflich auf den Weg des Kommunismus führen sollte. Die Kulturrevolution stürzte das Land in Leid, Angst und furchtbare Hungerkrisen. Millionen Menschen wurden verschleppt, inhaftiert, in Lagern gefoltert und ermordet. Die Kulturrevolution, deren Ende erst 1976 – im Jahr von Maos Tod – beschlossen wurde, warf das Land wirtschaftlich um Jahrzehnte zurück. Mao war ein erfolgreicher Revolutionsführer im Chinesischen Bürgerkrieg, doch er war kein Führer für den Frieden.

Inmitten des Leids, das Mao über China brachte, erkannte Peyrefitte schon vor der ersten Ölpreiskrise, die im Jahr 1973 den Westen erschütterte, wie sich die Gewichte in der Welt von den damaligen Industriestaaten weg in Richtung China verlagern könnten. So wie Peyrefitte über die aktuelle Situation hinweg versucht hat, mit klarem, unbestechlichem Blick das Potenzial Chinas zu erkennen, so sollten auch wir versuchen, nüchtern und rational zu sehen, wie sich unsere Welt verändert und zu welchen Entwicklungen die Schwellenländer im Süden imstande sind. Dazu soll dieses Buch beitragen. »Schreiben, was ist«, hatte der Gründer des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Rudolf Augstein, seinen Redakteuren als Richtschnur vorgegeben. Daran wollen auch wir uns halten.

Der unterentwickelte Westen

Schon die Art, wie wir die Welt einteilen, wird zunehmend strittig. Da stellen wir auf die eine Seite die »Industrienationen«. Damit sind vor allem die USA, Kanada, Westeuropa, Japan, Australien und Neuseeland gemeint. Dabei sind diese Länder seit mindestens 40, 50 Jahren vor allem mit ihrer Deindustrialisierung beschäftigt, mit dem Wandel von einer Wirtschaft, die auf der Schwerindustrie basiert, hin zu einer Wirtschaft, die von Dienstleistungen und von der Fähigkeit, neue Produkte zu erdenken, geprägt ist. Für diese Ländergruppe wird auch gerne der Begriff »entwickelte Länder« verwendet – als wäre die Entwicklung in Europa und Nordamerika abgeschlossen. Das Gegenteil ist der Fall: In vielen Bereichen sind wir unterentwickelt, nicht nur im Klimaschutz, sondern auch in der Digitalisierung, wie Millionen Schulkinder in Deutschland während der Covid-19-Pandemie schmerzlich erleben mussten. Auch in anderen digitalen Bereichen wie der Künstlichen Intelligenz, der Vernetzung von Maschinen und Geräten, der Telemedizin, der Entwicklung von 5G-Mobilfunk oder Hochgeschwindigkeitszügen ist Europa im Vergleich zu Japan, Singapur oder China unterentwickelt.

Der Rest der Welt wurde lange Zeit als »Dritte Welt« bezeichnet. Ursprünglich war »Dritte Welt« ein Kampfbegriff der Bewegung, die gegen den Kolonialismus kämpfte. Der französische Demograph Alfred Sauvy prägte diesen Begriff im Jahr 1952 in einem Artikel für die französische Zeitung L’Observateur. Sauvy gab dem Begriff zwei Bedeutungen: Zum einen wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass es neben dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Ostblock eine andere, eine dritte Welt gebe. Zum anderen verwendete Sauvy den Begriff »Dritte Welt« in Anlehnung an den »Dritten Stand«, wie es ihn vor der Französischen Revolution gab – in Abgrenzung zu den Kirchenvertretern, dem Ersten Stand, und dem Adel, dem Zweiten Stand. »Diese Dritte Welt, missachtet, ausgebeutet, verachtet ... will auch etwas gelten«, schrieb Sauvy.4 Mit der Zeit wurde der Begriff »Dritte Welt« politisch unbeliebt, da sich die Meinung durchsetzte, er könne eine Rangfolge innerhalb der Staatengemeinschaft gedanklich zementieren, er stehe also genau für das, wogegen Sauvy diesen Begriff prägte.

Heute sprechen wir vor allem von Schwellenländern, einem Begriff, den viele Organisationen wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Europäische Union verwenden. Er bezeichnet Länder, die an der Schwelle, am Übergang von einem Entwicklungsland zu einer entwickelten Wirtschaft stehen. Allerdings umfasst dieser Begriff je nach Autor oder Institution andere Länder und unterschiedliche Entwicklungsstufen. Die Weltbank kommt auf 55 Schwellenländer und zählt beispielsweise Südafrika, Mexiko, Brasilien, Malaysia, Russland, die Ukraine und die Türkei dazu. Der IWF kommt auf 150 Schwellenländer und hat, anders als die Weltbank, auch Pakistan, die Philippinen, Thailand, China und Äthiopien auf seiner Liste. Dabei liegen zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und Äthiopiens Welten. Südkorea oder Israel gelten in vielen Klassifizierungen als Schwellenland. Der amerikanische Anbieter von Indizes auf Finanzinstrumente MSCI hat Südkorea aus seinem Aktienindex »Emerging Markets« herausgenommen und zu den entwickelten Ländern hochgestuft.

Daneben gibt es viele andere Begriffe für diese aufstrebenden Länder. In den 1990er-Jahren war viel von den »Tigerstaaten« die Rede, von den schnell wachsenden Ländern in Asien wie Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong, später auch Malaysia, Thailand, Indonesien und die Philippinen. Später setzten die »Löwenstaaten« zum Sprung ins öffentliche Bewusstsein an, als Bezeichnung für Afrikas Wachstumszentren Kenia, Nigeria und Südafrika.

Im Jahr 2001 kam der Begriff der BRIC-Staaten in Mode, ein Kunstwort für die vier Länder Brasilien, Russland, Indien und China. Der damalige Chefökonom der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, Jim O’Neill, prägte ihn. Aus den BRIC-Staaten wurden die BRICS, als einige Jahre später Südafrika dazugezählt wurde. Diese Ländergruppe konnte kaum unterschiedlicher sein. Doch es war ihnen angeblich gemein, dass sie schneller als die entwickelten Staaten des Westens wachsen und Finanzinvestoren deshalb besonders interessante Anlagemöglichkeiten bieten. Heute spricht kaum noch jemand von BRIC oder BRICS. Russland lebt nach wie vor hauptsächlich von der Ausbeutung seiner Rohstoffe. Brasilien wie auch Südafrika sind in einem Sumpf aus politischer Inkompetenz, grenzenloser Gier ihrer Politiker und Korruption politisch und wirtschaftlich gefangen. Und China litt in den Jahren 2020 bis 2022 unter den wirtschaftlichen Folgen einer immer härteren Null-Covid-Politik. Immerhin hatte das Konzept der BRIC-Staaten den Vorteil, den Blick der Europäer und Amerikaner auf jene Länder zu lenken, die ihnen mit hohen Wachstumsraten enteilten.

Gleichgültig, welcher Begriff gewählt wird, sie alle unterstellen, dass es Länder gibt, die jahrelang in einer Art Dornröschenschlaf gelebt haben und dann plötzlich wie von Zauberhand auferstehen und wirtschaftlich in einem Märchenland landen. Die Wirklichkeit ist weniger feenhaft. Ein hohes Wirtschaftswachstum, über Jahre hinweg durchgehalten, ist in der Regel mit heftigen sozialen Umwälzungen verbunden, die zumindest anfangs viele Verlierer und wenige Gewinner hervorrufen. Millionen entwurzelter Menschen müssen in die Städte ziehen, unter elendiglichen Bedingungen leben, mit Hungerlöhnen ihre Familien durchbringen und darauf hoffen, dass es wenigstens ihren Kindern vergönnt sein wird, zu guter Bildung, einem vielversprechenden Job und Wohlstand zu kommen.

Gemeinsam sind den Schwellenländern – bleiben wir bei diesem Begriff – hohe Wachstumsraten, eine rasche Urbanisierung, eine gewisse Industrialisierung und eine soziale Ungleichheit, die häufig genauso rasch wie die und oft sogar schneller als die Wirtschaftsleistung wächst.

Fliegende Gänse

In der amerikanischen Vorstellung herrscht der Begriff des »take off« vor – die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes könne abheben wie ein Flugzeug. Asiaten greifen lieber auf das Bild der Fluggänse zurück, wie es der japanische Ökonom Akamatsu Kaname geprägt hat: Ein Land – zuerst Japan, dann China – muss voranfliegen und die anderen Gänse führen, die weniger entwickelten Länder, die nicht die Kraft haben, um an der Spitze der Formation gegen den Wind zu fliegen. Dank der führenden Gans werden die hinterherfliegenden Gänse wirtschaftlich genauso erfolgreich wie die Fluggans an der Spitze der Formation. Diese Vorstellung prägt stark die chinesische Rhetorik über das gigantische Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße.

Das Bild von Ländern, die an der Schwelle zur Industrialisierung und einer hohen Wirtschaftsdynamik stehen, hat den Vorzug, besonders eingängig zu sein. Doch wie jedes Bild verstellt auch dieses Bild den Blick auf andere Aspekte. Dieses Bild unterstellt, dass Länder einen vorgezeichneten Entwicklungsweg gehen, von der Agrarwirtschaft zum Industriestaat und von dort zur Dienstleistungsgesellschaft. Doch das ist immer weniger der Fall. Viele Schwellenländer stehen an der Schwelle vom verarmten Agrarland zum hochtechnologischen IT-Staat, ohne dass sie jemals die Phase der Industrialisierung durchlaufen hätten.

Auch weckt der Begriff »Schwellenländer« die Vorstellung, es handele sich hier um eine einheitliche Gruppe von Ländern mit gleichen politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Merkmalen. Und wie im Bild von der Formation der Fluggänse sei China die Führungsgans, die alle anderen Schwellenländer mit sich nach vorne ziehe. Dies verleitete Justin Leverenz, Aktienfondsmanager für Schwellenländer bei der amerikanischen Fondsgesellschaft Invesco, gar zu der Aussage, dass Schwellenländer in den Augen der großen Investoren an den Finanzmärkten zunehmend »China plus der Rest« seien, sowohl in Bezug auf die relative Größe des Aktienmarktes als auch auf die Auswirkungen der chinesischen Wirtschaft auf die restlichen Schwellenländer.

Auch wenn es richtig ist, dass der Fokus seit Jahren auf China liegt, so wäre es verfehlt, die Veränderungen, die zu neuen Kräfteverhältnissen in der Weltwirtschaft führen werden, auf den Aufstieg Chinas zu verkürzen. Ohne die rasche Entwicklung in den anderen Schwellenländern hätte China als einsame Fluggans allein am weiten Himmel nicht den Aufstieg erleben können, den das Land unbestritten erreicht hat. Auch sind die Unterschiede zwischen Schwellenländern wie Brasilien, Russland oder Nigeria so groß, dass weder von einer Einheitlichkeit unter den Schwellenländern die Rede sein kann, noch davon, dass sich ihre Entwicklungsmodelle an China ausrichteten. In vielen Schwellenländern ist der Einfluss Chinas denkbar gering.

Die Neue Seidenstraße ist auf der einen Seite mit Sicherheit ein geoökonomisches Projekt, mit dem China seinen Einfluss auf die Weltpolitik vergrößern und seine Handelswege nach Westen verlängern will. Auf der anderen Seite ist es aber mit Sicherheit auch der Versuch, erst noch einen politischen Einfluss zu erhalten, den China bisher nicht hat – nicht nur auf europäische Länder wie Griechenland, Polen, Portugal oder Deutschland, sondern auch auf Regionen und Länder, die an den großen Seestraßen liegen wie Sri Lanka, Ostafrika, südliches Afrika, Westafrika.

Getragen wurde der neue Aufstieg Chinas zu einer angehenden Weltmacht von einer in der Geschichte wohl einmaligen Wirtschaftsdynamik. 30 Jahre lang erreichte das Land beeindruckende Wachstumsraten von 8 bis 10 Prozent jährlich. Doch in der Zwischenzeit sind sie auf rund die Hälfte gesunken. Sicher, die 5 bis 7 Prozent, die China jetzt ausweist, sind immer noch zwei- bis dreimal so hoch wie das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Doch das Wirtschaftswachstum in China wird sich zwangsweise normalisieren. Dies wird allein schon eine Folge der schrumpfenden Bevölkerung sein, eine Folge der jahrzehntelang brutal durchgesetzten Ein-Kind-Politik, die das Land erst in jüngster Zeit lockert. Auch wenn chinesischen Familien in Zukunft wieder mehr Kinder gestattet werden, werden die Nachwirkungen der Ein-Kind-Politik, die mehr Jungs als Mädchen hervorbrachte, gravierende demographische Veränderungen bringen. Die Regierung wird nicht mehr verhindern können, dass sich China auf dem Weg zu einer überalterten und schrumpfenden Gesellschaft befindet. Diese wird – wie wir es in Europa schon erleben – nicht mehr von der Dynamik einer jugendlichen Bevölkerung vorangetrieben, sondern mehr und mehr von Besitzstandsdenken geprägt sein. Alternde Bevölkerungen verlieren an Dynamik. Einkommen wird in alternden Bevölkerungen weniger wichtig als Vermögen.

Chinesisches Zeitalter?

Überalterte Gesellschaften wie China (und auch Deutschland) müssen einen immer größeren Teil der volkswirtschaftlichen Wohlstandsgewinne für die Versorgung der älteren Bevölkerung aufwenden. Gleichzeitig wird in China – wie auch in Deutschland – das Angebot an Arbeitskraft abnehmen. Wie Deutschland auch hat China in den vergangenen Jahren Lohnfertigungen stark ins Ausland verlagert. Allein aus diesem Grund muss die führende Fluggans China andere Gänse in ihre Formation aufnehmen, Produktionsstätten und somit auch Know-how in andere Schwellenländer auslagern. Das verschafft Ländern wie Indien, Südafrika, Nigeria, Bangladesch oder Kenia wiederum die Möglichkeit, in den kommenden Jahrzehnten wirtschaftlich aufzuschließen. Und wie es auch dem Westen nicht gelungen ist, die Billiglohnländer auf dem Niveau einfacher Zulieferer zu halten, so werden sich auch jene Länder, die heute von chinesischer Lohnfertigung profitieren, rasch entwickeln. Sie werden weiter nach oben streben und sich weiterentwickeln.

Die großen Veränderungen, die derzeit in der Welt stattfinden, lassen sich deshalb nicht auf den Aufstieg Chinas verkürzen. Was in den vergangenen 20 Jahren in Ländern wie Indien, der Türkei oder in vielen Ländern Afrikas geschehen ist, wird die Welt genauso verändern, wenn auf Dauer gesehen nicht noch mehr und am Ende tiefgreifender.

Die Veränderungen, die wir heute in der Welt beobachten, führen dazu, dass die Welt dabei ist, sich von Grund auf zu verändern. Für Europa muss es darum gehen, in diesem neuen Gefüge seinen Platz zu finden. Wie wird die Zukunft aussehen? Welche Wirtschaftsordnung wird künftig in der Welt vorherrschen? Welche Regierungsformen werden sich durchsetzen, liberal-demokratische, autoritäre oder andere politische Modelle? Welche Werte werden künftig in der Welt von Bedeutung sein? Welche Position will Europa in dieser neuen Welt anstreben? Und vor allem: Welche Position können wir realistischerweise anstreben?

Auf diese Fragen versucht dieses Buch eine Antwort zu geben, oder bescheidener: Bausteine möglicher Antworten zu geben. Doch zuvor müssen wir uns damit beschäftigen, wie die Spielregeln in dieser neuen Welt aussehen werden, wenn sich die Gewichte nach Asien, Afrika und Lateinamerika verschieben. Denn die neue Welt wird nicht mehr vom alten Westen beherrscht werden, von der Weltmacht USA und ihren europäischen Verbündeten. Die amerikanische Vormacht wird mit Sicherheit auch nicht durch eine Weltmacht China abgelöst werden. Wir treten in eine neue Zeit einer multipolaren Welt ein, in der viele verschiedene Länder eine Rolle spielen werden, manche vielleicht nur als Regionalmacht, andere vielleicht als dominierende Macht auf bestimmten Gebieten. Doch die neue Welt wird komplexer und damit auch instabiler sein als die alte Ordnung. Deshalb sollten wir die treibenden Kräfte kennenlernen, die in der Weltwirtschaft von morgen aufstreben, die großen Unternehmer in den Schwellenländern. Und wir müssen uns auch der Frage stellen, ob unsere Wirtschaft auf diese Herausforderungen gut vorbereitet ist und ob wir noch die richtigen Instrumente haben, um die neue Weltwirtschaft mitzugestalten. Der Aufstieg der Schwellenländer, besonders der Chinas, wird meiner Meinung nach zu wenig in seine Geschichte gestellt. Deshalb soll dieses Buch auch zugleich eine kleine Wirtschaftsgeschichte sein, um herauszuarbeiten, wie sehr die Entwicklung der verschiedenen Weltregionen miteinander verwoben ist.

Wie die Welt sich verändert

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Schwellenländer. Als junger Journalist in den 1990er-Jahren verfolgte ich fasziniert den rasanten Aufschwung, den damals die »Tigerstaaten« erlebten, wie wir damals die Länder im Südosten Asiens bewundernd nannten. Damals bemerkte ich die Veränderungen, die Afrika erlebte, kaum. Sicher, seit meinem Wirtschaftsstudium in den 1980er-Jahren in Lyon interessierte ich mich für afrikanische Musik und afrikanische Literatur, hauptsächlich die aus Westafrika. Doch für einen Wirtschaftsjournalisten war Afrika damals kein Thema. Das änderte sich schlagartig, als ich Ende 2010 zum ersten Mal nach Kenia reiste. Ich war davon beeindruckt, wie optimistisch die Menschen trotz aller Schwierigkeiten im Alltag nach vorne schauten und an dem rasanten Aufschwung teilhaben wollten, der das gesamte Land erfasst hatte. Ich begann, nach den Ursachen für diesen Aufschwung zu suchen. Denn Kenia hatte weder Gold noch Diamanten, Erdöl oder andere Rohstoffe, die das Land auf den Weltmärkten verkaufen konnte. Es war die Kombination aus Internet und Mobiltelefon, die den entscheidenden Wandel brachte. Das Internet allein bewirkte wenig. Die Menschen drängten sich in stickige Internetcafés, wo sie vor alten Computern mit altersmüden Röhrenbildschirmen mühsam Zugang zur Welt suchten. Erst das Smartphone brachte den entscheidenden Durchbruch, vereinte Internet und mobile Kommunikation.

Bald nach dem Mobiltelefon wurde in Kenia M-Pesa eingeführt. Von da an konnten sich die Menschen per SMS Geld schicken, auch wenn sie wie die meisten Kenianer kein Bankkonto hatten. Das war ein riesiger Fortschritt. Bis dahin mussten Familienväter, wenn sie der Familie zu Hause auf dem Land von Nairobi aus Geld schicken wollten, einem Busfahrer einen Briefumschlag mit Geldscheinen anvertrauen. Dafür verlangte der Fahrer selbstverständlich eine Gebühr. Ein Familienmitglied musste manchmal stundenlang an der Bushaltestelle auf dem Land auf den Bus mit dem Geld warten. Dank M-Pesa war es möglich, Geld binnen Sekunden zu einem Bruchteil der Kosten innerhalb der Familie zu versenden. Bald darauf lief M-Pesa mittels einer App auf den Smartphones und bietet noch viel mehr Möglichkeiten. Heute können die Nutzer mit M-Pesa Steuern bezahlen, Versicherungsverträge abschließen oder Aktien an der Börse handeln. M-Pesa funktioniert heute wie eine digitale Ersatzwährung neben der Landeswährung Schilling.

Ich ahnte, dass hier in den Schwellenländern Veränderungen vor sich gingen, die die Welt nachhaltig verändern würden. Bis dahin herrschte unter Ökonomen der Glaube vor, dass die Entwicklungsländer den Entwicklungspfad der entwickelten Länder im Eiltempo durchlaufen müssten. Doch in Kenia entstand genauso wie in Ostasien oder Lateinamerika etwas Neues, eine Gesellschaft, die sich immer weniger am Westen orientierte, die ihre eigenen Werte und ihre eigenen Regeln entwickelte. Es entstand eine Gesellschaft, die Digitalisierung nicht vorrangig als Bedrohung von persönlichen Rechten empfindet, sondern als Chance, besser an der Welt und ihren neuen Möglichkeiten teilzuhaben.

Ich weitete meine Recherche aus und schrieb das Buch Afrika ist das neue Asien,5 in dem ich diese Beobachtungen verarbeitete. Kurz nach dessen Erscheinen verließ ich meinen langjährigen Arbeitgeber, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, und widmete mich vorrangig meiner neuen Leidenschaft, der Wirtschaftsentwicklung Afrikas. Mit der Zeit merkte ich, wie sehr in den Schwellenländern die Orientierung am Westen abnahm, in Asien mehr noch als in Afrika. Der Westen wird in diesen Ländern zunehmend als eine Macht wahrgenommen, die zwar überheblich und selbstgefällig auftritt, aber immer mehr von den Erfolgen der Vergangenheit zehrt.

Die Beziehungen in der Welt verändern sich rasant. Lange, auch nach dem Ende der Kolonialzeit, blieb der Handel Afrikas auf Europa und etwas weniger stark auf Nordamerika ausgerichtet. Heute knüpfen die Schwellenländer immer mehr Beziehungen untereinander. Wer durch Afrika reist, sieht dort wie selbstverständlich Gemüsekonserven aus Saudi-Arabien, Haushaltswaren aus Malaysia, Maschinen aus Brasilien, Traktoren aus der Türkei, Mopeds aus Indien oder Agrarinvestoren aus Israel. Das Bild von hinterwäldlerischen Entwicklungsländern, die krampfhaft versuchen, ihre Rückständigkeit zu überwinden, ist überholt. Vielleicht war diese Sicht schon immer falsch – entstanden aus dem Hochmut eines Westens, in dem die Menschen glaubten, jeder wolle so leben wie sie.

Heute jedenfalls ist es offensichtlich, dass aus den Schwellenländern heraus eine neue Ordnung entsteht, die sich nicht unbedingt in Opposition zu westlichen Werten sieht, sich aber nicht in Bezug auf den Westen definiert. Ihr Anker sind nicht mehr zwingend westliche Kultur und westliche Traditionen. Ihre Bewohner streben nicht mehr unbedingt ein Studium in Europa oder den USA an. Eine Reise nach Dubai ist genauso erstrebenswert wie ein Trip nach Paris. Auch unterwerfen sie sich nicht mehr so leicht vom Westen diktierten Handelsverträgen. Die Schwellenländer entwickeln stattdessen politische und wirtschaftliche Beziehungen untereinander. Mit diesen Veränderungen will ich mich in diesem Buch befassen, mit ihren Ursachen und vor allem mit ihren Folgen für die Welt.

Die Jahre der Globalisierung waren von einer überheblichen Sicht des Westens auf die Welt geprägt.

Der Aufstieg Chinas verstellt uns den Blick darauf, wie stark sich andere Schwellenländer entwickeln.

Die aufstrebenden Länder vernetzen sich mehr und mehr untereinander.