Die Norland Nannys – Joan und der Weg in ein neues Leben - Ella Perkins - E-Book
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Die Norland Nannys – Joan und der Weg in ein neues Leben E-Book

Ella Perkins

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Beschreibung

England am Anfang des 20. Jahrhunderts: Drei Frauen, ihre Freundschaft und ihre große Berufung England, 1902: Die junge, kinderliebende Joan denkt nicht ans Heiraten und lässt sich am fortschrittlichen Norland Institute zur Nanny ausbilden. Nach ihrem Abschluss kümmert sie sich um die Kinder der Countess of Dudley, deren Familie mit dem König befreundet ist. Joan fühlt sich oft allein. Weder ist sie ein Teil der Dienerschaft, noch gehört sie zu der adeligen Familie. Als Reginald, der jüngere Bruder des Earl, aus dem Krieg zurückkehrt, entwickelt sich eine dramatische Liebesgeschichte. Denn Joan entwickelt Gefühle für den schwermütigen Mann, die sie nicht haben darf … Historischer Hintergrund: Tauchen Sie mit dieser hinreißenden Roman-Trilogie ein in die Welt der englischen Nannys! Die Norland Nannys und ihre Ausbildungsstätte, das Norland College, gibt es wirklich. Liebevolle, moderne und kindgerechte Pädagogik stand dort von Anfang an im Mittelpunkt – und so ist es noch heute. Emily Ward, eine Pionierin der Kindererziehung in England, gründete das inzwischen legendäre Institut vor ca. 130 Jahren. Dessen Nannys nehmen Englands Upperclass-Kinder inklusive Prinz George und Prinzessin Charlotte unter ihre Fittiche.

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Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Hanna Bauer

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com, Rekha Arcangel / arcangel.com und Colin Thomas / bookcoversphotolibrary.com

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Epilog

Prolog

London, Mai 1892

Emily Ward blieb vor den hohen Türen zum Salon stehen, hinter denen gedämpft der Singsang vieler Frauenstimmen zu hören war. Immer mal wieder erklang ein Lachen, schrill und fröhlich. Sie runzelte die Stirn. Bis zu diesem Moment war sie ganz auf ihr Ziel konzentriert gewesen, doch nun wurde sie wieder von der Vorstellung überrannt, dass niemand hören wollte, was sie zu sagen hatte.

Die Frauen, die sich hinter den Salontüren versammelt hatten, gehörten zu den klügsten der Londoner Gesellschaft. Viele von ihnen hatten sich dem Ziel verschrieben, jungen Frauen und Mädchen Bildung zugänglich zu machen. Emily war selbst Lehrerin; das Ziel einte sie. Aber wie würden sie Emilys Vorschlag aufnehmen? War er zu revolutionär? Zu weit gedacht? War die Welt bereit für Emilys Traum?

Der Butler stand geduldig vor den Salontüren. Er hüstelte. Emily warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Sind Sie so weit, Mrs Ward?«

»Einen Moment noch.«

Sie musste sich erst sammeln.

Du kannst das, dachte sie. Du schaffst das.

Die Wahrheit aber war, dass sie am liebsten weggerannt wäre.

Du weißt, was du willst. Du hast dir das gut überlegt. Also geh da rein, und erzähl ihnen von deinem Traum! Du wirst sie überzeugen, dass du mit deinem Können und ihrer Hilfe für viele junge Frauen den Unterschied machen kannst!

Sie lächelte. Oh, diese Stimme in ihrem Kopf klang verdächtig nach ihrem Mann Walter, der sie seit Wochen in ihrem Streben unterstützte. Jedes Mal, wenn sie Zweifel befielen, verstand er es, diese zu zerstreuen.

Der Butler wartete immer noch, stoisch stand er vor der Doppeltür. Emily trat näher. Sie versuchte, tief durchzuatmen, ihr Herz hämmerte in der Brust.

»Madam?«, fragte der Butler.

»Ja, einen Moment noch.«

Sie ertappte sich dabei, wie ihre Finger den schlichten Goldreif drehten, der erst wenige Monate an ihrem Ringfinger steckte und an dessen Gewicht sie sich bis heute nicht gewöhnt hatte; kein Wunder, dachte sie. Hatte sie doch die ersten gut vierzig Jahre ihres Lebens vortrefflich ohne Ring und damit einhergehender Verbindung zu einem Mann verbracht. Sie hatte trotzdem – oder gerade deswegen? – viel erreicht. Und heute war sie hergekommen, um den Frauen und vereinzelten Männern im Salon von Lucinda Jones ihre Ideen vorzustellen, von denen sie wusste, dass sie einigen revolutionär, anderen geradezu radikal erscheinen mussten.

Sie hatte es immer allein geschafft.

Dennoch hatte sie letzten Herbst dem Werben von Walter Cyril Ward nachgegeben. Weniger aus dem Impuls heraus, dass sie nicht länger allein sein wollte – denn sie war gern allein, keine Frage –, auch nicht, weil sie sich davon erhoffte, ihr Wunsch nach eigenen Kindern könnte sich so spät im Leben noch erfüllen. Nein. Für sie zählte, dass Walter ein guter Gefährte war und dass er sie in ihrem Bestreben unterstützte.

»Mrs Ward?«

Trotzdem hatte sie sich bis heute nicht an diesen Namen gewöhnt. Lord, Ward – machte es einen Unterschied?

Offensichtlich. Zumindest für die Welt machte es einen Unterschied, ob sie verheiratet war oder nicht. Sie hätte darüber lachen können. Als Mrs Walter Ward jedenfalls begegnete man ihren Ideen wohlwollender als der alten Jungfer Emily Lord – bei Letzterer konnte man darüber hinweggehen, sie wurde nun mal wunderlich auf ihre alten Tage, da konnte man nichts machen.

Emily gab sich einen Ruck. Sie nickte dem Butler knapp zu, atmete ein letztes Mal tief durch. Ihre Hand strich prüfend über den weiten Rock des bodenlangen, dunkelblauen Kleids. Glitt über die hochgesteckte Frisur ihrer dunkelblonden, feinen Haare, in die sich, das focht sie aber nicht an, erste weiße Fäden spannen.

Die Türen sprangen auf, der Butler meldete mit leiser Stimme ihre Ankunft. Das Stimmengewirr verstummte, als Emily den Salon betrat. Dutzende Frauen, einige Männer. Ein paar standen ins Gespräch vertieft herum, andere wiederum saßen auf den wie zufällig verteilten Sesseln und Sofas. Ihre Blicke ruhten auf Emily. Neugierig, wohlwollend, niemand ablehnend. Wenigstens das. Sie entspannte sich ein bisschen.

»Meine liebe Emily, wie wunderbar, dass Sie kommen konnten.« Mit weit ausgebreiteten Armen kam die Gastgeberin Lucinda Jones auf sie zu. Emily war immer wieder überrascht, wie überaus herzlich ihre Schulleiterin sein konnte, wenn sie sich im privaten Rahmen trafen; in der Notting Hill High School, in der sie gemeinsam junge Mädchen unterrichteten, war sie stets ruhig und beherrscht.

»Ich möchte Sie den anderen Gästen vorstellen. Einige kennen Sie ja bereits.« Lucinda zwinkerte ihr zu. Als Emily sie vor Kurzem ins Vertrauen gezogen hatte, dass sich ihre Zeit an der Schule dem Ende zuneigte, weil sie sich einer anderen Aufgabe widmen wollte, hatte Lucinda nach einem ersten Moment der Bestürzung – »ich verliere Sie nur sehr ungern, Emily!« – verständnisvoll reagiert und ihr jede nur erdenkliche Unterstützung angeboten.

Zumindest, bis sie hörte, was Emily plante. Nun, da hatte sie ihr Versprechen schon gegeben, und Lucinda gehörte zu den Frauen, die zu ihren Zusagen standen. Emily rechnete es ihr hoch an, dass sie ihr Versprechen gehalten und einen Salon einberufen hatte, bei dem sie neue Unterstützerinnen für ihre Pläne zu gewinnen hoffte.

»Wollen wir?«

Emily nickte tapfer. In ihrer Rocktasche tastete sie nach den Notizen für die kleine Ansprache, die sie halten wollte.

»Ladys und Gentlemen, ich möchte Ihnen unseren heutigen Gast vorstellen. Mrs Emily Ward ist so freundlich, uns ein wenig über ihre Pläne für eine Nanny-Schule zu erzählen, die sie schon in Kürze in den Räumlichkeiten der Notting Hill High School gründen will.«

Die Anwesenden blickten neugierig in Emilys Richtung. Die meisten wirkten interessiert, einige wandten sich sofort wieder ab – sie waren wohl eher um der Unterhaltung willen hergekommen. Emily versuchte, sich davon nicht nervös machen zu lassen.

»Guten Tag.« Sie hüstelte. »Bei meiner Arbeit als Lehrerin für die jüngsten Kinder an der Notting Hill High School ist mir etwas aufgefallen. Wussten Sie, dass die Kleinsten in ihren Familien zumeist von Dienstmädchen versorgt werden? Ein Kind, das mit drei Jahren zu uns kommt, hat so bisher nur die erzieherische Hand einer nicht darin ausgebildeten, zumeist viel zu jungen Frau erfahren. Die fehlende Bildung dieser Kindermädchen führt dazu, dass sie oft ungeduldig mit dem Kind sind, dass es ihnen an Einfühlungsvermögen fehlt und sie dies durch unangemessene Strenge kompensieren. Viele kleine Kinder blühen bei uns auf, und das liegt nicht nur daran, dass sie eben ein Umfeld geboten bekommen, in dem sie stimuliert werden, sondern auch, dass sie sich bei uns sicher fühlen. Das haben uns viele Eltern bestätigt. Mein Ziel ist es daher, die Bildung der Kindermädchen auf professionelle Beine zu stellen. Junge Frauen werden bei uns alles lernen, was es über Säuglingspflege, Kinderkrankheiten, Erziehung und Kinderbeschäftigung zu wissen gibt. Die Kurse werden dabei von fähigen Expertinnen erteilt, die selbst jahrelang als Kindermädchen gearbeitet und sich entsprechend fortgebildet haben. So schaffen wir von Anfang an für die Kleinsten eine wohlwollende, liebevolle Umgebung, in der sie gedeihen können und in der sie ganz individuell nach ihren Bedürfnissen gefördert werden. Sie werden liebevolle Zuwendung erleben, die ihnen vorher in vielen Fällen nicht zuteilwurde. Das ist das Ziel. Und Sie alle können mich auf diesem Weg begleiten.«

Emily hielt inne. Sie sah von ihren Notizen auf und lächelte verhalten. Lucinda Jones klatschte, und viele fielen ein. Bevor Emily wusste, wie ihr geschah, war Lucinda schon an ihrer Seite. »Kommen Sie. Ich stelle Ihnen ein paar Leute vor. Frances Buss kennen Sie bestimmt?« Lucinda hakte sich bei ihr unter und führte Emily zu einem Sofa in der Ecke, auf dem eine etwas dickliche Dame von gut sechzig Jahren thronte, umgeben von einem halben Dutzend anderen Frauen, die wie gebannt an ihren Lippen hingen.

Natürlich kannte Emily Ms Buss – wer kannte sie nicht? Vor über vierzig Jahren hatte die junge Frances Mary Buss als erste Frau die Leitung einer Schule in England übernommen. Unter ihrer Ägide war erst die North London Collegiate School, später die neu gegründete Camden School für Mädchen entstanden. Sie war außerdem die Präsidentin der Gesellschaft der Schulleiterinnen, in der sich Frauen versammelten, die jede für sich als Schulleiterin Großartiges leisteten. Aber Ms Buss war Vorreiterin und Vorbild für jede einzelne.

Emily betrachtete ihr Gegenüber interessiert. Sie waren sich bisher nicht begegnet, und sie war froh um die Chance, diese Ikone der Bildung für Mädchen und junge Frauen endlich kennenzulernen. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Queen Victoria stellte sie fest, wenngleich Frances Buss nicht so verbissen wirkte wie die Königin auf den offiziell von ihr veröffentlichten Fotos. Im Gegenteil – etwas Weiches, Wohlwollendes ließ ihr von zarten Falten gezeichnetes Gesicht von innen heraus strahlen.

»Frances, entschuldigen Sie, wenn ich Ihr Gespräch unterbreche.« Lucinda kannte keine Scheu. »Aber ich habe Ihnen doch so viel von meiner lieben Freundin und Kollegin Emily Ward erzählt. Hier ist sie.«

Der Blick, mit dem Frances Buss sie maß, war prüfend und neutral. Sie stand auf und gab ihr die Hand. »Das hat sie tatsächlich«, sagte sie an Emily gewandt. »Also viel erzählt. Meine Neugier könnte kaum größer sein.«

»Es ist mir eine Ehre«, stammelte Emily. Sie merkte, wie ihre Hände schwitzig wurden. »Ich bin voller Bewunderung für Sie und Ihre Leistungen, Ms Buss. Wie Sie bereits in jungen Jahren Lehrerin wurden und später sogar eine Mädchenschule gegründet haben.«

Das Lächeln ihres Gegenübers wurde etwas gequält. »Die erste öffentliche Schule für Mädchen, meinen Sie«, sagte sie kühl. »Kostenlos für die Schülerinnen.«

»Ja, genau. Und Ihr Einsatz für die Frauen …«

»Ja, nun. Ich weiß, was ich getan habe.« Ihre Stirn umwölkte sich. »Aber sagen Sie mal, was haben Sie denn vor? Das klang in meinen Ohren so abwegig, da musste ich Sie einfach kennenlernen. Sie wollen also junge Frauen, die nicht das Zeug zur Lehrerin haben, zu Kindermädchen ausbilden? Warum um alles in der Welt soll das nötig sein?«

»Eine gute Frage«, sagte Emily fest. Vor allem war es eine, auf die sie vorbereitet war. Ihre Nervosität ließ nach, sie bewegte sich nun auf sicherem Terrain. Sie versuchte nicht zum ersten Mal, Mitstreiterinnen für ihre neue Schule zu finden.

»Es gibt viele junge Frauen, die sich nach der Schulausbildung nicht befähigt sehen, das Lehrerinnenseminar zu besuchen, sei es aus mangelndem Interesse oder Können. Einige von ihnen sehen ihre Zukunft eher darin, sich um kleine Kinder zu kümmern – vom Säugling bis zum Schuleintritt. Wissen Sie, was Nannys lernen, bevor sie ihre Arbeit antreten?«

»Nun?« Frances Buss lächelte fein. Sie wusste, diese Frage war eine Falle.

»Nichts«, sagte Emily schlicht. »Im Grunde könnte jedes Dienstmädchen diese Aufgabe übernehmen. Oder ein Mädchen von der Straße. Eine Amme vielleicht. Keiner fragt nach, wie diese Frauen mit den Kindern umgehen. Weil wir geneigt sind, kleine Kinder als unperfekte Erwachsene zu betrachten, die wir mit Härte dazu bringen, sich den Regeln des Erwachsenenlebens zu unterwerfen. Aber so geht es nicht. Fröbel lehrt uns, kleine Kinder wie Bäume zu betrachten, die gehegt und gepflegt werden. Kleine Kinder brauchen Zuwendung und Liebe.«

»Sie wollen diesen Frauen also beibringen, wie sie Kinder lieben?«, warf eine Zuhörerin ein. »Das ist nun beileibe kein Hexenwerk.«

Emily wandte sich an sie. »Sicher lieben wir alle Kinder. Auf unsere Art. Aber sie überfordern uns auch oft mit ihren Forderungen, mit ihren Wutanfällen und all dem, das wir nicht verstehen, geschweige denn begleiten können. Und eine Nanny, die im Sinne der neuen Lehren von Fröbel ausgebildet wird, achtet auf die Bedürfnisse des Kindes, sie lässt es wachsen und gedeihen.«

»Aber öffnet das nicht der Tyrannei Tür und Tor?«, fragte eine andere Frau. Sie hatte ein verkniffenes Gesicht. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen vertiefte sich, als sie sprach.

»Darum geht es ja.« Inzwischen war Emily völlig in ihrem Element. »Was braucht das Kind? Warum braucht es das? Jeder Mensch ist anders. Ich bin überzeugt, dies beginnt bereits im Säuglingsalter.«

Ms Buss lauschte interessiert. Andere Frauen mischten sich nun ein und erkundigten sich, wie genau Emily sich diese Schule vorstellte. Was sie dafür brauchte. Manche waren von der Idee begeistert, andere blieben skeptisch. Das war nicht anders zu erwarten gewesen, Emily hatte sich dafür innerlich gewappnet. Trotzdem war sie enttäuscht. Vor allem Ms Buss’ Schweigen irritierte sie.

Schließlich wandten sich die Damen anderen Themen zu. Frances Buss beugte sich mit der Teetasse in der Hand zu Emily herüber, die inzwischen neben ihr auf dem Sofa saß.

»Eine kostenpflichtige Einrichtung, bei der gelehrt wird, wie man sich um Säuglinge und Kleinkinder kümmert. Das klingt ja erst mal ganz hübsch. Aber wäre es nicht viel wichtiger, dass die Schulbildung zum Wohle aller verbessert wird? Kämpfen wir nicht genau dafür seit Jahrzehnten?«

»Ja, sicher. Aber wenn wir alle nur ein Ziel verfolgen, werden andere Ideen allzu schnell unter die Räder kommen. Ich denke, wenn wir bei der frühkindlichen Entwicklung ansetzen, können wir noch viel mehr erreichen. In meiner Rolle als Lehrerin für die Kleinsten an der Notting Hill High School habe ich zu oft erlebt, dass Kinder mehr brauchten als nur das Wissen, das wir ihnen vermitteln konnten. Teilweise kamen sie mit drei Jahren zu uns und waren emotional völlig verwahrlost. Eine Umarmung, ein Streicheln hat sie verwirrt, weil sie derlei nicht kannten. Da frage ich mich schon, was in den Kinderstuben der Familien vor sich geht. Wie die jungen Frauen mit diesen Kindern umgehen, die für ihre Betreuung abgestellt werden und selbst kaum erwachsen sind.«

»Und wer soll sich das leisten?« Eine junge Frau mischte sich ein. Emily kannte sie nicht, doch sie antwortete ihr ebenso höflich wie Ms Buss.

»Die jungen Frauen, die ich ausbilde, schlagen nicht den typischen Weg als Lehrerin ein.«

»Sie wollen also die Dummen auf die kleinen Kinder loslassen.« Die Bemerkung kam von einer dicklichen Frau Anfang dreißig, die sich gerade ein halbes Stück Kuchen in den Mund schob. Puderzucker bestäubte ihre Finger. Sie kaute und schluckte hastig, ehe sie ergänzte: »Damit schütten Sie das Kind aber mit dem Bade aus.«

Schon war sie wieder in eine Diskussion verstrickt. Aber Emily nahm es gelassen.

»Nein«, widersprach sie. »Es gibt genug Frauen, für die der Lehrberuf nicht infrage kommt, weil sie schlicht kein Interesse daran haben. Und ist es nicht befreiend, ihnen eine Alternative zu bieten?« Langsam fühlte sie sich sicherer – hatte sie sich die Argumente doch im Vorfeld dieses Nachmittags gründlich zurechtgelegt. »Geht es nach Mr Fröbel, sollen wir den Kindern Raum geben, in dem sie nicht nur lernen, sondern auch spielen können, und das gilt auch für die Kleinsten. Wissen Sie, wie die Babys und Kleinkinder bisher erzogen wurden? Nach der Geburt wurden sie an die Nanny übergeben. Diese hatte ihre Arbeit von einer anderen Nanny gelernt, diese von einer weiteren und so fort. Natürlich gibt es viele Kindermädchen, die sich aufopferungsvoll und aufmerksam um ihre Schützlinge kümmern. Wie viele aber werden von anderen Gedanken getrieben? Geht es ihnen nicht meist darum, dass sie es so einfach wie möglich haben? Wird das Kind nicht über die Maße bestraft, wenn es von dem abweicht, was dem Kindermädchen bequem ist?«

Inzwischen hatten sich weitere Frauen um Emily und Ms Buss versammelt. Wie sollte diese Schule finanziert werden? Woher kamen die Lehrerinnen? Wie stellte Emily die Qualität ihrer Ausbildung sicher? Woher kamen die Schülerinnen?

Die letzte Frage bereitete ihr selbst das meiste Kopfzerbrechen. »Wir hoffen auf Empfehlungen von Ihnen und anderen Lehrerinnen. Wenn Sie Schulabgängerinnen haben, deren Lebensweg nicht vorgezeichnet ist, freue ich mich über eine Empfehlung.«

Sie spürte die Skepsis. Die Fragen der jüngeren Frauen gingen in eine andere Richtung.

»Wer kann sich eine so gut ausgebildete Nanny leisten?« Und: »Wenn ich mit einer hervorragenden Ausbildung ausgestattet in einen großen Haushalt ziehe, damit ich mich um die Kinder kümmere, da will ich doch nicht mit den anderen Bediensteten in der Küche hocken? Am Tisch der Familie aber habe ich auch keinen Platz.«

Emily antwortete wahrheitsgetreu auf jede der Fragen. Sie wusste, ihre Pläne stießen auf Skepsis, vielerorts auch auf Ablehnung. Aber seit letztem Herbst konnte sie nicht mehr davon lassen. Es war an der Zeit, ihren Traum zu verwirklichen. Sie hoffte, dass sie an diesem Nachmittag erste Verbündete fand. Aber an den Fragen merkte sie, dass es schwer werden würde.

Wieder schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Etwas, das Walter ihr letzten Herbst kurz nach der Hochzeit gesagt hatte.

Du lässt dich doch niemals unterkriegen.

Er hatte recht. Wenn sie hier keine Unterstützerinnen fand, würde sie ihren Traum zur Not auch alleine verfolgen.

~

»Und? Haben sie dir sehr zugesetzt?« Walter blickte von seiner Zeitung auf, als Emily zwei Stunden später in das Haus am Ladbroke Grove heimkehrte, das das Paar seit letztem Herbst bewohnte. Er hatte es sich im Kaminzimmer gemütlich gemacht, schmauchte eine Pfeife und trank dazu einen Whiskey.

Wortlos trat Emily zu ihm, sie beugte sich über ihn und küsste seine papierne Wange. Dann nahm sie das Whiskeyglas vom Tischchen, kippte den letzten Schluck hinunter und blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen schossen.

»Ms Buss ist nicht grundsätzlich abgeneigt, denkt aber, es gibt dringlichere Probleme als die Betreuung der Kleinsten. Und die anderen lehnen meine Idee rundweg ab, weil sie sie für Schwachsinn halten.«

»Hmhmmm.« Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. »Und was sagt uns das?«

Sie lachte. »Vermutlich nur, dass ich das Richtige tue, wenn sich so viel Widerstand regt. Immerhin konnte ich ein paar andere Damen davon überzeugen, dass meine Idee kein Unfug ist. Sie erkundigten sich, wann die ersten Nannys ihren Abschluss machen und ob sie sich in eine Warteliste eintragen könnten. Sie seien daran interessiert, eine von mir ausgebildete Nanny zu engagieren.«

»Das zeigt doch, dass der Bedarf da ist.«

»Ach«, machte Emily, »es zeigt vielleicht nur, dass sie mit ihren Bediensteten nicht zufrieden sind. Aber das kann ja tausend Gründe haben.« Sie wusste selbst nicht, weshalb sie so entmutigt war. Normalerweise sprach sie mit so viel Leidenschaft über ihr Projekt, dass sie jeden überzeugen konnte. Heute aber hatte sie versagt. Ausgerechnet!

»Du bist erschöpft, meine Liebe«, sagte Walter ruhig. »Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.«

»Du hast recht.«

Walter stand auf. Er holte ein zweites Glas aus dem Schrank und schenkte ihnen ein. Sie ließ sich im zweiten Sessel nieder. Ihre Füße schmerzten unerklärlicherweise, und hinter ihrer Stirn machte sich ein drückender Kopfschmerz breit.

»Erzähl es mir noch mal«, forderte Walter sie auf. »Warum willst du Nannys ausbilden?«

Emily nahm das Glas von ihm entgegen. Ein feines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Das machte er immer: sie mit provokanten Fragen aus der Reserve locken, bis ihre Leidenschaft wieder entfacht war.

»Weil es noch keine Ausbildung für Nannys gibt. Weil in diesem Land Hunderttausende Frauen einfach das machen, was ihr Instinkt ihnen einflüstert. Oder was ihnen am einfachsten scheint – was nicht unbedingt dasselbe sein muss. Bei meiner Arbeit mit den kleinsten Schülerinnen an unserer Schule habe ich erkannt, dass sie mehr bedürfen, als von uns mit Wissen gefüttert zu werden. Sie wollen auch spielen und die Welt erkunden. Sie brauchen Anleitung. Darum will ich jungen Frauen ermöglichen, sich fortzubilden. Damit sie ihren Schützlingen den bestmöglichen Start in ein glückliches Leben weisen können – und selbst an dieser Aufgabe wachsen und nicht länger daran verzweifeln.«

Walter nickte. »Dann gib nicht auf. Was du tust, ist richtig.«

»Aber wenn ich keine Unterstützerinnen finde …«

»Sie werden kommen«, unterbrach er sie. »Verfolge nur dein Ziel. Nicht das einer Ms Buss, nicht das von Lucinda Jones. Ginge es nach den beiden, wirst du in hundert Jahren noch kleine Kinder unterrichten – und das wirst du nur deshalb tun, weil du darin so exzellent bist. Aber du bist zu Höherem berufen, meine Liebe.«

Emily sah ihn über den Rand des Whiskeyglases an, sie lächelte. »Womit habe ich dich nur verdient?«, fragte sie und seufzte.

Er strich sich über den langsam ergrauenden Schnurrbart. »Ah, gute Frage. Ich meine mich zu erinnern, dass du erst beim zweiten Antrag Ja gesagt hast.«

»Beim ersten Mal warst du auf dem Weg nach Shanghai«, erinnerte sie ihn sanft. »Ich habe dir immer gesagt, wenn ich heirate, werde ich nicht die Frau eines Handlungsreisenden sein, der mehr Zeit in Asien verbringt als daheim in England.«

»Ich habe dir schon damals versichert, dass es die letzte Reise sein wird, bei der ich meine Nachfolge regle.«

Sie lächelte bei der Erinnerung an jene Zeit, die noch gar nicht so weit zurücklag. Walter hatte sein Geld als Teehändler verdient, und oft hatten ihn Reisen ins ferne Asien geführt. Die beiden verband eine jahrelange Freundschaft, der auch die langen Trennungen nichts hatten anhaben können – jedes Mal, wenn er aus Asien heimkehrte, kam er auf schnellstem Wege zu ihr und brachte ihr stets eine Kleinigkeit von seinen Reisen mit. Und immer war es, als hätten sie sich erst gestern gesehen, sie knüpften dort wieder an, wo sie aufgehört hatten. Jedes Wiedersehen war wie eine warme, freundschaftliche Umarmung. Und die Vorstellung, er könnte irgendwann nicht mehr von diesen gefährlichen Reisen zurückkehren, hatte sie lange sehr bedrückt.

Den zweiten Antrag machte er ihr am Tag seiner Rückkehr aus Shanghai – er war direkt von den Docks zur Schule gefahren, in der sie auch wohnte, im Gepäck einen Ring mit dunkelblauem Saphir, den er in der Fremde für sie erworben hatte. Mit diesem Ring hatten sie besiegelt, dass sie zukünftig gemeinsam durchs Leben schreiten würden. Die Heirat wenige Monate später – eine schlichte Zeremonie, nur wenige Gäste, die Brautleute waren in der Mitte des Lebens, es war mehr Vernunft als Liebe, die sie trieb – war lediglich eine Formalität gewesen.

Und nun saß sie hier. Was aus Vernunftgründen begonnen hatte, war dieser Bund der Zuneigung. Aber seit sie gemeinsam das Haus am Ladbroke Grove bewohnten, hatte sich ein Wandel vollzogen. Walter schien zufrieden damit zu sein, daheimzusitzen, mit Freunden von nah und fern zu korrespondieren, Besuch zu empfangen und seine Bücher zu lesen. Er war genug gereist für dieses Leben. Arbeit war nicht mehr zwingend notwendig, er hatte sein Geld gemacht und verwaltete das Vermögen. Aber er genoss auch Emilys Gesellschaft, wann immer sie zu Hause war – was zuletzt selten genug zutraf. Sie ging weiterhin jeden Morgen zur Norland Place School, wo sie unterrichtete. Ihre Wohnung dort stand immer noch leer – und das hatte sie auf die Idee gebracht, die Räume sinnvoll zu nutzen.

Sie hatte sich auf ihre Art daran gewöhnt, dass er für sie da war. Hatte sie anfangs noch protestiert, wenn er ihr ein Glas Whiskey holte – »Dafür haben wir Bedienstete!« –, nahm sie diesen kleinen Liebesdienst nun gerne von ihm an. Weil sie dann nicht gestört wurden. Weil sie plaudern konnten, wie es ihnen gefiel. Keiner klopfte an die Tür, niemand fragte, ob sie noch etwas brauchten.

Konnte aus Vernunft und Zuneigung etwa eine tief empfundene, zarte Liebe erwachsen?

»Ich habe nachgedacht.« Walter riss sie aus ihren Überlegungen.

»Die Ehe ist doch nichts für dich?«, scherzte sie.

Er lachte gutmütig. »Selbst wenn nicht – und du weißt, wie sehr ich dich schätze, meine Liebe –, würde ich mich an mein Wort halten.«

Sein Wort. Sie atmete tief durch, spürte das Fischbeinkorsett, das ihr die Brust eng machte. Sein Wort lautete: Ich bleibe an deiner Seite, damit du dir diesen Traum erfüllen kannst.

»Worüber dann?«

»Wie du mehr Unterstützerinnen gewinnen kannst. Wie wäre es denn, wenn wir hier einen Salon abhalten? Lade sie alle ein, lass sie zu uns nach Hause kommen. Sollen sie doch ihre Neugier befriedigen, wie wir alten Zausel leben.«

»Du wärst bereit, an meiner Seite zu stehen? Die Damen können recht anstrengend werden, wenn man sie nicht gewohnt ist.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn es der Sache dienlich ist und dir hilft?«

Sie stand auf. Unerklärlich war das mit den Gefühlen, lange hatte sie geglaubt, sie wäre dazu gar nicht in der Lage, und dass sie Walter heiratete, geschah eher aufgrund seiner Hartnäckigkeit und ihrem Ehrgeiz. Niemand hatte Ms Emily Lord ernst genommen, die alte Jungfer mit hochfliegenden Plänen. Seit sie als Mrs Walter Ward auftrat, war das anders. Und sie hatte gedacht, das wäre schon der größte Vorteil, den sie aus dieser Ehe zog. Aber da war noch mehr. Wärme. Nähe. Die vor allem.

Jetzt hätte sie ihn am liebsten umarmt und geküsst. Weil er ihre Ziele sah. Weil er sie unterstützte. Nichts davon war selbstverständlich, aber er machte es. Manchmal war es, als hätten sie die Rollen getauscht, als wäre sie der Mann, der morgens zur Arbeit ging, während er daheimblieb und sich seinen häuslichen Aufgaben widmete.

Sie hatte ihn einmal gefragt, ob ihn das nicht störte, ob er nicht lieber seinen Teehandel wieder aufnehmen wollte. Er hatte sie verständnislos angesehen. »Aber warum denn? Wir haben doch genug Geld. Oder stört es dich, wenn ich daheim bin?«

Es störte sie nicht. Im Gegenteil. Und als sie jetzt lächelte und ihn fragte: »Wollen wir zu Bett gehen? Es war ein langer Tag«, da verstand er sofort.

»Nur zu gerne, meine Liebe.«

Bevor sie hinausgingen, löschte er eigenhändig das Licht. Die Dienerschaft musste ja nun wirklich nicht alles mitbekommen.

Kapitel 1

London, Juni 1902

Joan betrat mit dem kleinen Säugling auf dem Arm das Frühstückszimmer, wo der Earl und die Countess of Dudley wie jeden Morgen saßen und bei Kaffee und süßen Brötchen die Zeitung lasen. Joan knickste und reichte dann den Jungen an Lady Rachel weiter, die ihn mit einem Lächeln hochhob. »Da ist ja mein Schatz! Wie hast du geschlafen, kleiner Roderick?«

Sie blickte Joan fragend an.

»Nun, so gut wie immer«, sagte Joan. Sie musste sich ein Gähnen verkneifen. Auch nach acht Wochen hatte sie sich noch nicht an den Schlafmangel gewöhnt. Aber sie wusste, dass es schon bald besser werden würde, wenn das Baby nicht mehr nachts Hunger bekam.

Lady Rachel kitzelte den Kleinen am Kinn. Er verzog das Gesicht und fing an zu weinen.

»Oje, er ist noch etwas müde.« Joan nahm ihn wieder entgegen. »Ich hoffe, er schläft noch mal, bevor wir nachher losmüssen.«

»Heute ist also der große Tag?«, meldete sich Lord William zu Wort. Er tunkte sein Brötchen in die Kaffeetasse, was ihm einen bösen Blick von Lady Rachel eintrug. Er grinste.

»O ja.« Vielleicht war sie auch deshalb so unausgeschlafen. Gestern Abend war sie viel zu aufgeregt gewesen, um zur Ruhe zu kommen. Lange lag sie wach und stellte sich vor, wie sie heute Mittag in der Feierstunde des Norland Institutes zu dessen zehnjährigem Jubiläum als eine der ersten Nannys eine hohe Auszeichnung erhalten würde. Ihr Engagement für die Familie Dudley sollte auf diesem Weg honoriert werden. Lady Rachel hatte sich bereit erklärt, eine kleine Rede zu halten.

Die Countess schob ein paar dicht beschriebene Blätter unter ihre Kaffeetasse, die sie bei Joans Eintreten gelesen hatte. »Sie werden das schon meistern«, versicherte sie ihr. »Sind die anderen Kinder schon auf?«

»William schläft noch. Gladys und Lillian spielen.«

»Sorgen Sie bitte dafür, dass alle pünktlich zur Abfahrt fertig sind. Die Mädchen bitte in identischen Kleidern, Nanny Hodges.«

»Selbstverständlich, Lady Rachel.«

Joan trug Roderick aus dem Frühstückszimmer. Die Begegnung des Babys mit seiner Mutter hatte keine fünf Minuten gedauert. So war es oft morgens. Die älteren Kinder würden später zu Lady Rachel gehen, damit diese sie begrüßte. Auch dieses Aufeinandertreffen dauerte selten länger als zehn Minuten.

Es stand Joan natürlich nicht zu, den Umgang der Dudleys mit ihren Kindern zu hinterfragen. Seit sie vor über fünf Jahren ihre Arbeit bei der Familie aufgenommen hatte, waren die Countess und der Earl immer die liebevollen Eltern gewesen, die sich jede Nanny für ihre Schützlinge wünschte. Doch beide waren sehr beschäftigt, und oft sahen die Kinder ihre Eltern tagelang nur morgens und am Abend kurz vor dem Schlafengehen, denn auch ihre Mahlzeiten nahmen sie getrennt von den Erwachsenen ein.

Joan spürte einen leichten Widerstand in sich, als sie an die vielen Dinge dachte, die sie noch erledigen und beachten musste, bevor sie in zwei Stunden aufbrachen. Zum Glück hatte sie Millie. Die Amme half ihr, wo sie nur konnte. Leider war die junge Frau auch unerfahren, weshalb Joan ihr immer alles sagen musste, was zu tun war.

Es wäre schön, wenn es heute einfach mal um mich gehen würde. Wenn ich nicht ständig auf alles achten müsste.

Andererseits: Was sie tat, war mehr als ein Beruf. Sie hatte ihr Herz an die Kinder verloren, und auch deshalb würde sie heute als eine der Besten ausgezeichnet werden. Ihre Exzellenz sollte anderen Nannys zum Vorbild gereichen, sie anspornen, ebenfalls ihr Bestes zu geben.

Als sie drei Stunden später aus der Kutsche stieg und an der hellen Sandsteinfassade des Norland Institutes hochsah, weitete sich ihr Herz, und der Groll darüber, dass ihr selbst an diesem besonderen Festtag ihre Arbeit nicht erspart blieb, wich einem seligen Gefühl, das sie erst nicht einordnen konnte. Doch dann erkannte sie: Es war fast eine Heimkehr, die sie innerlich so sehr erfasste. Das Norland Institute war erst kürzlich in dieses neue Gebäude eingezogen. Dennoch verknüpfte Joan all die Erinnerungen an ihre Zeit im Norland Institute mit den hohen Sprossenfenstern und dem hübschen Portikus. Sie atmete tief durch.

Lady Rachel trat neben sie. »Ist Ihnen nicht wohl, meine Liebe?«, erkundigte sie sich.

»Doch, es ist nur …«

Ergreifend. Das war wohl das passende Wort. Aber Lady Rachel hatte ihre Antwort gar nicht abgewartet, sondern schritt auf den Eingang zu. Als Countess verstand sie es, sich in jeder gesellschaftlichen Situation souverän zu bewegen. Joan hatte sich in den vergangenen Jahren viel von ihr abgeschaut, das merkte sie jetzt. Sie straffte die Schultern und folgte ihr.

Die Feierstunde begann erst am frühen Nachmittag. Vorher war die Countess Dudley noch mit Mrs Ward verabredet, und Joan hatte auch einen Termin, auf den sie sich außerordentlich freute.

Die gebohnerten Marmorfliesen der Eingangshalle führten in die hellen Gänge, von denen die Unterrichtsräume abgingen. Die Countess steuerte die Treppe an. Joan bog ab und ging Richtung Speisesaal. Dort war sie mit Katie Fox verabredet, mit der sie in den vergangenen zwölf Monaten korrespondiert hatte.

Das Norland Institute legte sehr viel Wert darauf, dass die Schülerinnen sich untereinander in ihren Anstrengungen bestärkten und die Jüngeren von den Älteren lernten. Joan hatte vor sieben Jahren ihren Abschluss gemacht und gehörte damit trotz ihrer sechsundzwanzig Jahre zu den erfahrensten Nannys. Für sie war es eine Ehre gewesen, als Mrs Ward sie vor einem Jahr anschrieb und bat, am Mentorinnenprogramm für Studentinnen teilzunehmen.

Katie Fox hatte letztes Jahr im August ihren Jahreskurs im Norland Institute begonnen, und obwohl Joan die meiste Zeit des Jahres in London verbrachte, hatte sich in den letzten Monaten keine Zeit für ein Treffen ergeben. Denn während der Schwangerschaft hatte Lady Rachel immer wieder Joans Unterstützung eingefordert, und so tauschte sie sich mit Katie regelmäßig auf dem Postweg aus. Sie freute sich, heute die junge Frau kennenzulernen, die all die Monate so gewitzt von ihren Erfahrungen geschrieben hatte, dass Joan direkt Lust bekam, selbst noch einmal hier die Schulbank zu drücken.

Sie lächelte wehmütig, als sie den Gang entlanglief. Die Erinnerung an ihre Zeit am Norland Institute würde sie wohl für immer im Herzen tragen. Damals war das Institute noch an seiner alten Adresse untergebracht gewesen – am Holland Park Terrace, wo die Einrichtung schon ein Jahr nach der Gründung am Norland Place hingezogen war. Vor einem Jahr war man schließlich in die großen, hellen Räumlichkeiten am Pembroke Square umgezogen.

»Joan Hodges?« Eine jugendlich helle Stimme. Joan drehte sich um. Hinter ihr stand eine kleine junge Frau in der dunkelbraunen Tracht der Nannys. Die blonden Haare trug sie zu einem kunstvollen Knoten im Nacken aufgesteckt, ihre blauen Augen blitzten vergnügt. Die Wangen waren leicht gerötet, sie hatte einen wachen Blick und reckte entschlossen das spitze Kinn.

»Du musst Katie Fox sein.« Sie gaben sich die Hand, standen dann einen Moment verlegen voreinander, bis Katie sich räusperte.

»Herrje, das ist ja so aufregend. Wie schön, dass du da bist.«

Joan lächelte. »Als ich vorhin das Gebäude betreten habe, war das ein komisches Gefühl. Denn als ich Schülerin war, befand sich das Institute noch am Holland Park Terrace.«

»Davon habe ich gehört. Dort war es wohl etwas beengter.«

Joan lachte. »Wir haben uns zu fünft ein winziges Zimmer mit Stockbetten geteilt. Es gab nur einen Schreibtisch, und wenn wir lernten, konnten höchstens zwei von uns daran arbeiten. Die anderen drei hockten auf den Betten oder auf dem Boden.«

»Klingt gemütlich. Oh, möchtest du eine kleine Führung? Etwas Zeit habe ich noch. Später soll ich bei Mrs Ward noch etwas abholen.« Katie zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Die Anstecknadeln.«

»Ich bin schon so neugierig. Aber eine Führung wäre schön, das lenkt mich von der Aufregung ab.«

Sie machten sich auf den Weg. Katie erzählte, Joan stellte Fragen. Sie verglich ihre eigenen Erfahrungen als Norlanderin mit denen, die Katie rund sieben Jahre später gemacht hatte. Fast kam es Joan so vor, als hätte sich die Schule nicht verändert. Doch sie war gewachsen, über sich hinaus. Mehr Schülerinnen, neue Lehrerinnen. Obwohl Katie auflachte, als Joan fragte, ob Ms Daringham noch da sei.

»Natürlich! Hat sie damals auch schon immer bei jeder richtigen Antwort mit der Nase gezuckt wie ein altes Kaninchen?«

»Es war so schwierig, dabei nicht zu lachen!« Sie kicherten. Katie führte Joan in einen Raum, den sie das Studierzimmer nannte. An den Wänden standen Pulte, jedes war einer Schülerin zugewiesen. Katies befand sich unter einem Fenster.

»Ich habe viel Glück gehabt. Dieser Platz ist sehr begehrt.« Katie zog einen zweiten Stuhl heran, und sie setzten sich an ihren Schreibtisch. Sie zeigte Joan die Lehrbücher, die im Moment verwendet wurden – über Säuglingspflege, Kindererziehung, aber auch Hauswirtschaft und Fremdsprachen gehörten zum Curriculum. »Oh, ich wollte dich noch fragen, ob ich für den Norland Quarterly über dich schreiben darf.«

»Über mich? Was gibt es denn da schon zu erzählen?«

»Immerhin bist du eine der Nannys, die heute ausgezeichnet werden. Ich möchte über die Feierstunde berichten und dachte, eine persönliche Note wäre ganz schön.«

Joan überlegte nicht lange. Sie hatte zwar das Gefühl, dass es zu viel der Ehre war, neben der Auszeichnung noch in der vierteljährlichen Zeitschrift des Norland Institutes hervorgehoben zu werden. Aber sie wusste von anderen Nannys, die gelegentlich für das Heft schrieben, und ja, sie freute sich, wenn sie auf diesem Weg ein wenig von ihrer Berufspraxis erzählen konnte.

»Einverstanden.«

»Oh, wunderbar!« Katie klatschte begeistert in die Hände. Sie zog aus dem Pult eine Kladde und einen Bleistift und schlug sie auf. »Erzähl mir alles darüber, wie du zum Norland Institute gekommen bist!«

Joan lächelte. Alles? Oh, da müsste sie früh anfangen. Sie legte die Hände in den Schoß. »Es begann, als ich zehn Jahre alt war. Kurz zuvor waren meine Eltern gestorben, und mein Onkel nahm mich bei sich auf.«

Die Erinnerung trug sie fort. Joan dachte wehmütig an das kleine Mädchen, das mit einem Pappkoffer und einer Puppe unter dem Arm in das düstere Haus ihres Onkels kam. Die Puppe mit dem Porzellangesicht hatte er ihr mitgebracht, als er sie in ihrem Elternhaus abholte. Joan hatte gedacht, sie wäre zu alt für Puppen, aber diese schloss sie sofort ins Herz. An ihr hielt sie sich fest, Tag und Nacht. Sie umsorgte das Puppenkind, wie sie selbst gern umsorgt worden wäre. Ihr Onkel gab sich Mühe, aber schon damals war er ein alter Junggeselle gewesen, dem es sichtlich schwerfiel, sein Leben mit einem Kind zu teilen. Besser wurde es erst im Laufe der Jahre, als Joan größer wurde. Was für die meisten heranwachsenden Frauen selbstverständlich war – der Wunsch nach einer eigenen Familie –, regte sich nicht bei ihr. Als sie sechzehn war, fragte Onkel George sie, was denn aus ihr werden sollte, wenn sie keinen Mann wollte. Er hatte das einfach hingenommen, war ihr auf Augenhöhe entgegengekommen. Du willst nicht heiraten? Gut! Aber was möchtest du dann mit deinem Leben anfangen?

Erst hatte sie gedacht, Lehrerin sei etwas für sie, denn sie wollte gern für andere Kinder da sein. Doch dann erzählte Onkel George ihr eines Abends von der Frau seines Geschäftsfreunds Walter Ward, die gerade eine Nannyschule gründete. Bis heute wusste Joan nicht, ob er ihr damit einen anderen Weg aufzeigen wollte oder ob er ganz unbedarft von der Schule sprach.

Joan saß da wie elektrisiert. Nanny sein. Für Kinder sorgen. Nicht die eigenen, doch Kinder, die immer noch nah an meinem Herzen sind. Das will ich mit meinem Leben anfangen.

Es fühlte sich richtig an, und sie bat ihn, sich für sie nach dieser Schule zu erkundigen.

»Und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.«

»Eine schöne Geschichte.« Katie hatte während Joans Schilderung aufmerksam zugehört. Jetzt blickte sie auf ihre etwas spärlichen Notizen. »Herrje. Das muss ich jetzt schnell noch aufschreiben, und dann ist es schon Zeit fürs Mittagessen, danach muss ich zu Mrs Ward …«

»Schon in Ordnung. Ich finde allein hinaus. Es war schön, dass wir uns kennenlernen konnten. Sag, weißt du schon, wo du deine erste Anstellung findest?« Joan stand auf.

»Mrs Ward hüllt sich da noch in ihr geheimnisvolles Schweigen.«

»Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als sie mich zu sich rief und ihr Lederbuch aufschlug. Aber bestimmt wird sie eine wundervolle Familie haben, die sich auf dich freut.«

»Das hoffe ich.«

Joan stand ebenfalls auf. Sie schloss Katie in die Arme. »Viel Erfolg weiterhin. Wir bleiben in Kontakt?«

»Auf jeden Fall!«

Joan blieb am Fenster stehen und blickte hinaus, während Katie ging. Familie. Ich hatte nie viel Familie. Aber hier habe ich sie gefunden.

Kapitel 2

Der Flur lag still vor ihr, die blank geputzten Fliesen erstreckten sich in einem Schachbrettmuster vor Katie. Nur ihre leisen Schritte hallten auf dem glatten Steinboden wider. In weiter Ferne hörte sie die hellen Stimmen ihrer Mitstudentinnen, ein geheimnisvolles Summen wie von einem Bienenschwarm, das vermutlich eher einem aufgeregten Plappern glich, säße sie nun neben ihnen unten im Speisesaal.

Sie hatte von der Schulleiterin Mrs Sharman die Erlaubnis bekommen, sich vor der Zeit vom Mittagstisch zu erheben, damit sie für die Feierlichkeiten dieses Tags noch eine besonders ehrenvolle Aufgabe erfüllen konnte. Katie hatte daraufhin rasch den letzten Schluck Tee heruntergestürzt und das kleine Stückchen Toast mit Cheddar in den Mund gesteckt. Da es abends ein feierliches Dinner für alle Absolventinnen, die Alumni und Gäste des Norland Institutes geben sollte, hatten sie mittags nur einen Imbiss zu sich genommen. Sie strich über die weiße Schürze, die sie über ihrem braunen Kleid trug – die Tracht der Schülerinnen ähnelte der Uniform der Absolventinnen bis auf wenige Details.

»Keine Eile«, sagte Mrs Sharman. Aber sie lächelte nachsichtig, denn sie wusste natürlich, wie begierig Katie Fox darauf war, die Lieferung aus dem Büro der Schulgründerin Mrs Ward zu holen. Jede Schülerin am Norland Institute wartete gespannt auf die Enthüllung der Auszeichnungen, die am heutigen Tag zum ersten Mal an besonders verdiente Absolventinnen der Schule verliehen werden sollten.

Leichtfüßig sprang Katie die Treppe hoch. Nach dem Gespräch mit Joan hatte sie sich schweren Herzens verabschiedet. Sie hoffte, dass sich nach der Feierstunde noch mal die Gelegenheit ergab, mit Joan Hodges zu reden. Sie selbst würde ja schon bald ihre erste Stelle antreten. Joan aber, die so sehr in sich ruhte und die Nannyuniform trug, als gehörte sie einfach zu ihr, hatte ihr so viel über ihren Werdegang erzählt, dass Katie problemlos einen längeren Artikel für den Norland Quarterly schreiben konnte.

Die Tür zum Büro war nur angelehnt. Katie klopfte leise, doch aus dem Innern drang kein Laut. Sie wartete, klopfte ein zweites Mal. Innerlich war sie ganz unruhig, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ. Erst als auf ihr drittes Klopfen immer noch keine Antwort kam, schob sie behutsam die Tür auf.

»Hallo?«, rief sie in die Stille des großen Arbeitszimmers. »Mrs Ward, sind Sie da? Ich … wollte die Anstecknadeln abholen.«

Das Arbeitszimmer war leer. Auf dem Schreibtisch lag eine offene Schatulle, daneben eine Mappe aus hellem Kalbsleder. Katie trat ein. Auf dem weichen Orientteppich vor dem wuchtigen Schreibtisch standen zwei Besucherstühle. Die Regale an den Wänden enthielten eine Sammlung Fachbücher. Das wusste Katie nicht zuletzt deshalb, weil sie schon häufiger hier gewesen war, um sich eines der Werke für ihr Studium auszuleihen. Die bodentiefen Fenster des Erkers gaben den Blick frei auf einen kleinen Park direkt vor dem Gebäude.

Sie stand auf dem Teppich und wartete. Was sollte sie jetzt tun? Die Schatulle lag geöffnet auf der Schreibtischunterlage, sie konnte einfach hingehen und sie mitnehmen. Aber sie blieb stehen.

Ach, das ist doch Unsinn, dachte sie. Auftrag ist Auftrag.

Trotzdem waren ihre Schritte zögerlich, als sie den Schreibtisch umrundete und sich über die Schatulle beugte.

Die kleinen Broschen lagen auf schwarzen Samt gebettet, ein halbes Dutzend in jeder Reihe. Katie hielt die Luft an. Das waren sie. Die Ehrenabzeichen ihrer Schule, die an diesem Tag an die verdientesten jungen Frauen verliehen wurden, die bereits seit einigen Jahren die wundervolle Aufgabe erfüllten, der sich alle Absolventinnen des Norland Institutes verschrieben hatten. Sie waren wunderschön. Kleine Wappen aus Sterlingsilber, gekrönt mit einer blauen Blüte inmitten grüner Efeublätter aus Emaille, darunter das Motto der Schule eingestanzt: Love Never Failth – Die Liebe höret nie auf. Darüber befand sich die Nadel, verbunden durch winzige Ösen. Fortis in arduis stand dort. Stark in Schwierigkeiten. Katie lächelte. O ja, diese beiden Mottos waren es, die sie zu dem Entschluss gebracht hatten, sich als Schülerin am Norland Institute zu bewerben. Die Idee war von einer Freundin ihrer Familie gekommen, deren Nichte vor vier Jahren die Schule besucht hatte und in den höchsten Tönen davon schwärmte, welche Chancen das Leben als Nanny den jungen Frauen bot, die nach einjähriger Schulzeit eine Anstellung in den Haushalten reicher und adeliger Familien fanden. Nicht nur, dass sie sich der verantwortungsvollen Aufgabe widmeten, die Kinder der besseren Gesellschaft großzuziehen, nein: Sie durften auch bei ihren Aufträgen die Welt kennenlernen, denn die Kunden des Norland Institutes lebten auf allen fünf Kontinenten. Die Nichte der Freunde, Daisy, war beispielsweise gerade von einer Stellung zurückgekehrt, die sie nach Stockholm geführt hatte. Sie schwärmte von der Stadt im Norden, war aber auch schon voller Vorfreude auf die nächste Aufgabe, die sie über den Atlantik in den Haushalt eines Eisenbahnmoguls in Amerika führen sollte.

Reisen war immer schon ein Traum von Katie gewesen. Und hier bot sich ihr die Gelegenheit, die Welt zu erkunden.

Damals hatte sie nicht mal ansatzweise geahnt, wie sehr das Leben in diesem Haus sie verändern würde. Wie es jede veränderte, die herkam, auf eine gute, stärkende Art.

»Sie sind hübsch, nicht wahr?«, sagte eine Stimme von der Tür.

Katie machte einen Schritt nach hinten. Sie sah auf und blickte in das gütige Gesicht der Begründerin des Norland Institutes. Mrs Ward betrat auf lautlosen Sohlen das Zimmer. »Sehen Sie sie nur in Ruhe an, mein Kind«, sagte sie leise. »Dafür sind sie da.«

Katie senkte gehorsam noch einmal den Kopf. Sie widerstand dem Impuls, eine der Broschen zu berühren.

»Sie haben abgerundete Ecken. Damit unsere ausgezeichneten Absolventinnen sie auch bei der Arbeit tragen können und nicht Gefahr laufen, ihre Schützlinge zu verletzen.« Mrs Ward umrundete den Schreibtisch. Sie nahm eine der Broschen aus der Schatulle, strich mit dem Finger über die Emailleblüte und lächelte. »Ich freue mich so darüber. Wie ein kleines Kind an Weihnachten, können Sie sich das vorstellen?«

Katie räusperte sich. »Ja, das kann ich.« Sie stand neben Mrs Ward und überragte sie um eine Haupteslänge, obwohl sie selbst nicht besonders groß war. Nicht zum ersten Mal dachte sie, dass Mrs Ward etwas Mütterliches an sich hatte, das sich auf all ihre Schützlinge erstreckte, obwohl keine der jungen Frauen, die zu ihr kamen, jünger als siebzehn war.

»Seit zehn Jahren tragen die Schülerinnen nun schon das Licht des Norland Institutes in die Welt hinaus«, fuhr Mrs Ward fort. »Jede Absolventin, die ihre Prüfungen ablegt und anschließend im Haushalt ihres Dienstherrn diese herausragende Vertrauensstellung einnimmt, indem sie sich um das Wertvollste kümmert, was diese Familien haben – ihre Kinder, ihre Zukunft –, vollbringt Großes. Und jene, die sich durch besonders treue Dienste auszeichnen, wollen wir heute ehren. Nicht, weil sie besser sind als die anderen, sondern weil sie uns als Vorbild dienen sollen. Sie sind das Leuchtfeuer für diejenigen, die noch nicht für sich sprechen können. Sie sind der Schutz für alle, die sich nicht selbst schützen können.«

Sie verstummte, und Katie sah sie erwartungsvoll an.

»Entschuldigen Sie, meine Liebe. Ich habe eine kleine Ansprache vorbereitet. Gut möglich, dass ich sie gerade noch mal geprobt habe.«

Katie lächelte nachsichtig. Sie konnte Mrs Ward nicht böse sein, unmöglich! Die Gründerin der Schule hätte Spottgedichte vortragen können, und Katie hätte an ihren Lippen gehangen.

Mrs Wards Finger berührte das Motto. »Die Liebe höret nie auf«, murmelte sie. »1. Korinther. Wissen Sie, warum ich diesen Spruch gewählt habe?«

Katie schüttelte den Kopf.

»Sie und Ihre Gefährtinnen lernen erst ein Jahr lang Seite an Seite, Sie schlafen gemeinsam in einem der Schlafsäle, Sie sitzen bei den Mahlzeiten beisammen … Anschließend gehen Sie hinaus in die Welt. Sie sorgen für die Kinder. Diese kleinen, oftmals so hilflosen Wesen, die auf Sie angewiesen sind. Sie bedürfen Ihres Schutzes, Ihrer Liebe. Ich weiß, was Sie mit dieser Aufgabe auf sich nehmen, jede Einzelne. Denn diese Kinder werden Ihnen in den gemeinsamen Jahren alles abverlangen, was Sie geben können. Und manchmal wird auch das nicht reichen. Machen Sie sich das bewusst, Katie – Ihre Schützlinge werden Sie so lange brauchen, bis Sie sie an die Hand einer Gouvernante oder eines Hauslehrers abgeben. Die ersten Jahre ihres Lebens aber werden Sie da sein. Tag und Nacht. Auch wenn es manchmal Ihre Kraft übersteigt.«

Katie nickte. »Darum bin ich hergekommen«, sagte sie leise.

»Manchmal reicht all unser Pflichtbewusstsein nicht, unser ganzes Wissen darüber, was kleine Kinder und Babys brauchen. Aber unsere Liebe für jene, die uns anvertraut wurden, wird nie enden. So wie ich jede Einzelne von Ihnen liebe, auch wenn Sie in die Welt hinausgehen und Ihre Arbeit aufnehmen, so werden Sie diese Kinder lieben wie Ihre eigenen. Denn Sie werden zumeist diejenige sein, die ihnen in den Nächten das Fläschchen geben und sie wickeln. Sie werden ihre ersten Schritte begleiten, und vielleicht sagen die Kinder Ihren Namen vor dem ihrer eigenen Eltern. Und Ihre Liebe wird auch dann nicht aufhören, wenn Sie den Haushalt verlassen, weil das jüngste Kind der Kinderstube entwachsen ist. Das macht Sie zu guten Nannys. Zu den besten, die es gibt.«

Mrs Ward war verstummt, und Katie wusste gerade nicht, was sie sagen sollte. Mrs Ward fasste genau das in Worte, was sie sich von ihrer Arbeit erhoffte. Ihr Blick fiel auf das in Kalbsleder gebundene Buch, das neben der Schatulle lag. Sie wusste, darin verbarg sich der reiche Schatz, der das Norland Institute auszeichnete – Informationen über die einzelnen Klienten, die an Mrs Ward herantraten und gerne eine Nanny aus ihrer Schule einstellen wollten. Details über besondere Fähigkeiten und Talente der Nannys. Finanzen. Und vieles mehr. Auch über Katie stand sicher etwas darin. Sie schluckte. Zu gern hätte sie gewusst, wohin ihr Weg sie führte.

»Jetzt habe ich Sie aber lange genug aufgehalten.« Mrs Ward lächelte. Ein Kranz feiner Fältchen umrahmte ihre Augen. »Manchmal höre ich mich gerne reden.«

»Ach, ich höre Ihnen auch gern zu«, sagte Katie herzlich. Denn es stimmte – die Worte der Schulgründerin fielen bei ihr auf fruchtbaren Boden. Schon bald würde Mrs Ward auch für sie das dicke Buch heranziehen und ihr eine Anstellung vorschlagen. Sie war schon so gespannt auf diesen Moment. Fast hätte sie danach gefragt. Doch weil sie ahnte, dass Mrs Ward nicht vorgreifen würde, schwieg sie.

»Dann setzen wir dieses Gespräch morgen fort. Kommen Sie nach der Studierstunde zu mir, Ms Fox. Ich denke, ich habe gute Nachrichten für Sie.« Mrs Ward lächelte. »Und nun gehen Sie, damit Mrs Sharman sich nicht zu viele Sorgen machen muss. Sie ist fast so aufgeregt wie ich. Heute ist ein großer Tag für uns alle.«

Mary MacArthur wollte gar nicht lauschen. Aber als sie zu dem Raum lief, wo sich nach der Beschreibung der Haushälterin die Wäschekammer befand, kam sie an einer Tür vorbei, die nur angelehnt war. Die Stimmen dahinter weckten ihre Neugier, und Neugier war schon immer ihr größtes Problem gewesen. Sie verlangsamte ihre Schritte und spitzte die Ohren.

»Neugier ist der Katze Tod!« Fast konnte sie die Stimme ihrer Mutter hören, die sie tadelte, weil sie lieber bei den Nachbarn lauschte oder sich am Tratsch beteiligte, statt ihren Haushaltspflichten nachzukommen. Als älteste Tochter einer kinderreichen Familie hatte Mary schon früh mithelfen müssen.

Heute war ihr erster Tag am Norland Institute, vielleicht war das nicht der richtige Moment, ihre Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Aber sie konnte nicht anders. Ihr schwirrte ohnehin bereits nach wenigen Stunden der Kopf von den zahllosen Anforderungen und Aufgaben, die an sie herangetragen wurden. Das war so ganz anders, als morgens zu überwachen, dass ihre jüngeren Geschwister sich nicht kabbelten und alle sauber und satt um kurz nach sieben auf dem Weg zur Schule waren.

Sie tröstete sich damit, dass sie schon bald in ihre neue Arbeit hineinwachsen würde und der heutige Tag ohnehin eine Ausnahmesituation darstellte, denn am Nachmittag fand die große Feierstunde statt, mit der das Schuljahr abgeschlossen wurde.

So hatte es ihr Sarah erzählt. Sarah war eine kleine, dunkelhaarige Waliserin, die mit einem schwer verständlichen Akzent sprach – und vor allem unfassbar schnell! Sie gehörte seit drei Monaten zu den Hausangestellten der Schule, kannte jeden Winkel und erzählte Mary flüsternd von Mrs Ward, der Gründerin, die oben in ihrem Arbeitszimmer saß und über alles wachte. »Ihr entgeht wirklich nichts!«, versicherte Sarah ihr. »Wenn du ein Glas fallen lässt, peng, steht’s in ihrem Buch.« Sie hielt eines der Gläser hoch, die sie polieren sollten. »Aber wenn du gute Arbeit leistest, weiß sie das auch. Und sie kennt uns alle mit Namen, auch die letzte Spülmagd. Ihr geht es nicht nur um die Studentinnen. Obwohl die ja das Herz unserer Schule sind.«

Mary konnte das gar nicht glauben.

Sie näherte sich der Tür, die nur angelehnt war. Mit angehaltenem Atem lauschte sie, doch was auch immer die Frauen im Zimmer dahinter besprachen – sie taten es ruhig und so leise, dass Mary nur Bruchstücke aufschnappen konnte. Offensichtlich unterhielt sich Mrs Ward mit einer Studentin.

Mary war voller Bewunderung für diese jungen Frauen, die, davon war sie überzeugt, Großartiges leisteten. Die lernten und danach in die Welt hinausgingen, um ihr Wissen zum Wohle anderer Menschen anzuwenden. Ihr Traum war es, eines Tages eine wie sie zu sein und die Uniform zu tragen, die sie unverkennbar als Norland Nannys auswies.

Sie hingegen war nur eine Haushaltshilfe, eine von vielen. Mädchen für alles, eingesetzt in Küche und Wäschekammer. Niemand beachtete sie und ihre Gefährtinnen, die sich hinter den Kulissen darum kümmerten, dass die zwanzig Studentinnen sich auf den Jahreskurs konzentrieren konnten, nach dem sie dazu befähigt waren, sich um die Kinder reicher Leute zu kümmern.

»Irgendwann kokelst du dir die roten Haare an, wenn du überall deine Nase reinsteckst«, das hatte ihr älterer Bruder Finn immer gesagt. Aber Finn war nicht mehr da, er hatte sich vom Acker gemacht. Sein Geld fehlte der Familie, nach seinem Verschwinden war alles noch schwerer geworden. Wie sollte ihre Mutter Mary und die Geschwister satt bekommen, wie genug Kleidung kaufen, die Miete aufbringen? Davor hatte er wenigstens jede Woche ein paar Schilling bei ihrer Mutter abgeliefert.

Mary verstand ihn. Finn war zwanzig, und er hatte keine Lust, bis ans Ende seines Lebens für seine Eltern zu sorgen und die hungrigen Mäuler der jüngeren Geschwister zu stopfen.

Da hörte sie schon das Rascheln von Stoff. »Vielen Dank, Mrs Ward«, rief die junge Frau über die Schulter und trat aus dem Zimmer. Sie trug die Uniform der Studentinnen – braunes Kleid, weiße Schürze mit Rüschen, eine weiße Schleife am Kragen des Kleids – und hielt mit beiden Händen eine Schatulle fest an sich gedrückt. Sie war klein, das blonde Haar trug sie zu einem Knoten im Nacken aufgesteckt, die Wangen waren leicht gerötet. Ohne Mary zu bemerken, eilte sie zur Treppe.

Mary hörte ihre Schritte auf den Stufen. Dann ging eine Tür auf, mit lautem Geschnatter strömten die anderen Studentinnen aus dem Speisesaal. Sie waren unterwegs zu dem Nähzimmer, wo sie ihre Festkleider ein letztes Mal bügelten, die letzten Flusen abzupften, lose Knöpfe annähten und einander beim Anziehen halfen, bevor es gleich zum Festakt ging.

Dann war alles still. Mary näherte sich langsam der Tür, die noch immer einen Spaltbreit offen stand.

»Herzensgut«, so hatte Sarah die Schulgründerin Mrs Ward beschrieben. Aber ob sie auch einem einfachen Dienstmädchen gegenüber so aufgeschlossen wäre?

Mary spürte ihr Herz heftig klopfen. Tu’s nicht, tu’s nicht, flüsterte es im engen Käfig ihrer Brust.

Nur einen ganz kurzen Blick wollte sie riskieren. Behutsam schob sie die Tür auf und schaute in das Zimmer dahinter.

Eine ältere Frau um die fünfzig saß am Schreibtisch. Das in Kalbsleder gebundene Buch lag aufgeschlagen vor ihr, und gerade notierte sie etwas. Nur das Kratzen ihres Füllers war zu hören. Obwohl in weniger als einer Stunde bereits die Feierlichkeiten begannen, saß sie hier und trug in aller Ruhe etwas in dieses Buch ein. Mary bekam kurz ein schlechtes Gewissen, denn längst hätte sie doch mit den Bettlaken aus der Wäschekammer im Schlafsaal stehen müssen.

»Kann ich etwas für dich tun, mein Kind?«, fragte die Frau, ohne den Kopf zu heben.

Mary senkte betreten den Kopf. Sie fühlte sich ertappt.

Mrs Ward löschte die Tinte, klappte das Buch zu und legte den Füllfederhalter auf die kleine Schale vor sich. Sie faltete die Hände und blickte Mary an. Sie blieb ganz ruhig, als könnte sie nichts erschüttern. »Nun?«, fragte sie sanft. »Du bist das neue Dienstmädchen, nicht wahr? Mary MacArthur?«

Mary machte hastig einen Knicks. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht lauschen, aber …«, flüsterte sie heiser.

Sie spürte, wie sie rot bis zu den Haarwurzeln wurde.

Mrs Ward lächelte nachsichtig. »Aber du bist neugierig, richtig?«

Mary nickte. Sie musste schlucken. Mein Gott, sie wird mich rauswerfen, dachte sie. Ich hab’s nicht mal einen Tag hier ausgehalten, weil ich zu neugierig war.

Nein. Sie hatte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen können, weil sie mehr wollte. Das war schon immer so gewesen. Mary Traumfängerin, so hatte ihre Mutter sie früher genannt. Früher, bevor sie aus der Schule genommen wurde, damit sie daheim aushalf. Sie war eine Träumerin, ja. Aber nur, weil sie sich nicht mit dem begnügen wollte, was das Schicksal ihr zugedacht hatte. In ihr schlummerte immer noch dieser Ehrgeiz. Sie war ja bereit, hart zu schuften! Ihr Leben bestand immer schon aus Arbeit, nichts als Arbeit. Hier wurde sie wenigstens dafür entlohnt, dass sie sich die Hände im Seifenwasser ruinierte oder dass ihr die Knie schmerzten, wenn sie den ganzen Tag die Böden schrubbte.

»Gefällt es dir bei uns?«

»Sehr gut, Ms Ward, alle sind so freundlich zu mir.«

»Du kannst Mrs Ward sagen.«

Jemine, jetzt hatte sie in ihrer Aufregung der Schulgründerin auch noch unterstellt, dass sie unverheiratet war. Dabei wusste doch jede im Haus, dass Emily Ward verheiratet war, seit über zehn Jahren schon. Sie hatte auch zwei Kinder, das wusste Mary von Sarah, »aber nur adoptiert, sie war zu alt für eigene, als Mr Ward sie geheiratet hat«. Sarah hatte die Lippen geschürzt, als sie das erzählte; als wäre es eine Schande, keine eigenen Kinder zu haben.

Dabei war die Liebe zu den Kindern anderer Familien doch das, was die Norland Nannys auszeichnete. Und Mary war überzeugt, dass man jedes Kind lieben konnte. So wie sie ihre jüngeren Geschwister liebte, jedes einzelne vom Tag seiner Geburt an.

»Entschuldigen Sie, Mrs Ward. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Das glaube ich dir. Dennoch bist du unaufgefordert eingetreten, statt deinen Pflichten nachzugehen. Und das an deinem ersten Tag bei uns.« Aufmerksam beobachtete Mrs Ward sie.

Mary spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. O nein, dachte sie. Schon am ersten Tag wurde sie wieder vor die Tür gesetzt. Dabei hatte sie so sehr gekämpft, bis man ihr diese Stellung anbot. Als ihre Mutter Mary eröffnete, sie müsse nach Finns Verschwinden auch zum Haushaltseinkommen beitragen, hatte sie wochenlang gelogen, wann immer anderswo eine Stelle frei war. Jeden Morgen war sie zu der Schule am Pembroke Square gekommen und hatte am Dienstbotenaufgang gefragt, ob eine Stelle frei war. Dieses Haus war ihr Traum gewesen, seit sie von seiner Existenz erfahren hatte. Und wie groß war ihre Freude gewesen, als ihr letzte Woche von der sichtlich genervten Hausvorsteherin mitgeteilt wurde, dass man ihr eine Stellung anbot. »Aber nur, wenn du gut arbeitest und dich still verhältst!«, hatte sie Mary ermahnt.

»Möchtest du mir erzählen, warum du das getan hast?«, fragte Mrs Ward sanft.

»Ich bin sonst nicht so, das schwöre ich Ihnen.« Mary riss die Augen weit auf. »Ich mache immer meine Arbeit, ich beklag mich nicht, wenn es mehr zu tun gibt. Ich bin fleißig, hab mich jahrelang um die fünf jüngeren Geschwister gekümmert, weil meine Mam es nicht schaffte, sie musste ja arbeiten. Aber heute ist mein erster Tag, das ist alles so aufregend, und ich … Ich will doch nur …« Sie schluckte.

Mrs Wards Blick blieb aufmerksam und gütig, ihre Hände ruhten gefaltet auf dem Buch. Der Kragen ihres dunkelblauen Kleids berührte fast ihre vollen Wangen. Das hellbraune Haar trug sie hochgesteckt, es sah so weich aus wie der Flaum eines frisch geschlüpften Gänsekükens. Alles an ihr war weich und zart. Nur das verlieh Mary den Mut, ihren größten Wunsch auszusprechen.

»Ich will lernen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Was möchtest du denn lernen, mein Kind?«

Konnte es eine sanftere, gütigere Frau geben als Mrs Ward? Wohl kaum. Trotzdem kostete es Mary große Überwindung, auf die Frage zu antworten. »Alles. Lesen kann ich, schreiben auch, aber ich möchte …« Sie holte tief Luft. »Ich möchte eine Nanny werden. So wie all die anderen Mädchen hier.«

Die Stille nach ihren Worten dehnte sich. Mary wagte nicht, den Blick zu heben. Mrs Ward war aufgestanden und umrundete den Schreibtisch. Sie blickte erst auf, als die kleine Frau ihr die Hand auf den Ärmel der Dienstmädchenuniform legte.

»Dein Wunsch ehrt dich, Mary. Und ich verstehe, wie verführerisch das alles für dich sein muss. Die Gemeinschaft der jungen Frauen, die hier zusammenkommen und gemeinsam lernen, begründet oftmals eine lebenslange Freundschaft. Wenn dich dieser Kurs interessiert, gibt es vielleicht jemanden, der dir ein Empfehlungsschreiben ausstellt?«

Mary seufzte. »Leider nicht.«

»Das ist schade. Unsere Kursplätze sind begrenzt.«

Selbst wenn sich jemand fand, der für sie ein gutes Wort einlegte, wusste Mary doch, wie unmöglich ihr Unterfangen war. Das Schulgeld würde sie niemals aufbringen können.

»Es war auch nur eine Idee.« Sie senkte den Kopf und wandte sich zum Gehen.

»Ist es das wirklich?«, rief Mrs Ward ihr nach.

Mary drehte sich um. Kurz schöpfte sie Hoffnung, dass Mrs Ward ihr in einem Akt reinster Güte anbot, sie ohne das Schulgeld am Norland Institute aufzunehmen. »Nein. Es war mein Traum, seit ich von diesem Haus gehört habe. Ich liebe kleine Kinder, und sie mögen mich. Ich glaube, das wäre der richtige Platz für mich.«

Mrs Ward nickte nachdenklich. »Es gibt viele, die sich berufen fühlen«, sagte sie nur und kehrte hinter ihren Schreibtisch zurück.