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Für manche Abenteuer ist man nie zu alt! „Die Oma und der Punk“ von Simone Jöst jetzt als eBook bei dotbooks. Oma Emma hat die Nase voll! Erst vertreibt ihre geldgeile Familie sie aus ihrer Villa und nun soll sie in dieser „Seniorenresidenz“ versauern. Kurz entschlossen haut sie ab – und trifft Jule, eine … nun ja, extrovertierte junge Frau mit bunten Rastalocken und schweren Stiefeln. Mangels Alternativen folgt Emma ihr in deren WG. Schlimmer kann das alles ohnehin nicht mehr werden, glaubt sie. Falsch gedacht! Denn Jule nimmt es mit Recht und Ordnung nicht immer ganz genau und so schlittern die beiden von einem Abenteuer ins nächste. Flippig, rasant, spannend: Das coolste Krimi-Duo seit Langem! Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Oma und der Punk“ von Simone Jöst. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Über dieses Buch:
Oma Emma hat die Nase voll! Erst vertreibt ihre geldgeile Familie sie aus ihrer Villa und nun soll sie in dieser „Seniorenresidenz“ versauern. Kurz entschlossen haut sie ab – und trifft Jule, eine … nun ja, extrovertierte junge Frau mit bunten Rastalocken und schweren Stiefeln. Mangels Alternativen folgt Emma ihr in deren WG. Schlimmer kann das alles ohnehin nicht mehr werden, glaubt sie. Falsch gedacht! Denn Jule nimmt es mit Recht und Ordnung nicht immer ganz genau und so schlittern die beiden von einem Abenteuer ins nächste.
Flippig, rasant, spannend: Das coolste Krimi-Duo seit Langem!
Über die Autorin:
Simone Jöst lebt im Odenwald. Beflügelt von der Lust, sich ständig neue Geschichten auszudenken, entdeckte sie das Spannungsgenre für sich. Seitdem publizierte sie zahlreiche Krimi-Kurzgeschichten und arbeitete als freie Mitarbeiterin in einem kleinen Verlag. Sie ist Herausgeberin diverser Anthologien und liebt nichts mehr als schwarzen Humor und weiße Schokolade.
Simone Jöst veröffentlicht bei dotbooks auch:
»Die Oma und der Punk auf heißer Spur«
»Die Oma und der Punk – Gestorben wird später«
Die Website der Autorin: www.simonejoest.de
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Originalausgabe November 2016
Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Anke Hennek
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/mikibith, sokolenok, Fabio Michele Capelli, Ann.and.Pen, photonesis, Ole-la
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-792-5
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Simone Jöst
Die Oma und der Punk
Kriminalroman
dotbooks.
Für dich, lieber Leser.
Für wen sonst?
Im Fernsehen sah das ganz einfach aus. Der Held schwingt sich mit Leichtigkeit über das Balkongeländer, springt geschmeidig zwei Meter in die Tiefe und landet auf den Füßen oder rollt sich elegant ab. Emmas müde Gelenke hielten einem solchen Sprung nicht mehr stand. Ihre Flucht aus dem Seniorenheim bedurfte einer etwas längeren und gründlicheren Planung.
Der Mond blinzelte durch die Baumkronen im Park und zeichnete bizarre Schatten an die Fassade der Seniorenresidenz. Emma stand auf ihrem Balkon, tippelte mit den Fingerspitzen nervös auf die Lehne eines verblichenen Plastikstuhls und überlegte. Ihr Vorhaben war aberwitzig und weit weg von allem, was man Vernunft nannte.
Auf dem Rücken trug sie den pinkfarbenen Rucksack ihrer Enkelin. Trixi hatte ihn vergessen, als sie mit ihrer Mutter einen dieser scheinheiligen Pflichtbesuche gemacht hatte. Der Beutel war klein und leicht genug, um darin die nötigsten Dinge wie Geld und Pass zu verstecken. Das Mädchen wird den Verlust nicht lange bedauert haben. So, wie Emma ihre Schwiegertochter kannte, hatte sie Trixi bestimmt schon einen Ersatz in der Stadt gekauft.
Eine kühle Brise blies durch Emmas graues Haar. Zwei Bettlaken, die sie heimlich aus der Wäschekammer entwendet hatte, knotete sie mit größter Sorgfalt an ihren Enden zusammen und zerrte daran, um sicherzugehen, dass sie sich nicht voneinander lösten. Dann zog sie die Verandatür ihres Zimmers von außen zu und lauschte in die Nacht. Die Blätter der Pappeln wirbelten im Wind, rauschten sanft und untermalten das Tremolo ihres Herzschlags. Die Melodie der Panik, dachte Emma und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Jetzt nur Ruhe bewahren, altes Mädchen«, sprach sie sich Mut zu und fädelte die Laken um eine der eisernen Stangen des Balkongeländers, bis beide Enden gleich lang und lose nach unten in den Park baumelten. Später, wenn sie unten angekommen war, musste sie die Tücher nur noch hinabziehen und mitnehmen, um die Spuren ihrer Flucht zu beseitigen. Wenn das Pflegepersonal ihr Fehlen am nächsten Morgen bemerkte, würde zuerst das Gebäude nach ihr abgesucht werden, denn die Ausgänge waren nachts verschlossen und videoüberwacht. Irgendwann, wenn sogar die Suche in der Parkanlage vergebens bliebe, müsste sich die Heimleitung eingestehen, dass die alte Dame spurlos verschwunden war. Zu diesem Zeitpunkt würden sie dann aller Wahrscheinlichkeit nach Emmas Sohn Konstantin benachrichtigen und vielleicht auch noch die Polizei. Bis dahin blieb ihr genügend Zeit unterzutauchen.
Soweit die Theorie. Der schwierigste Teil ihres Abenteuers bereitete ihr viel mehr Sorgen. Sie musste über das Balkongeländer steigen. Für eine ältere Dame ohne sportliche Ambitionen, dafür mit Arthrose in den Gelenken, war das eine große Herausforderung. Um ihre altersbedingte Restmobilität voll ausschöpfen zu können, hatte sie sich zu diesem Anlass die erste Jeans ihres Lebens gekauft. Die Kinnlade der Verkäuferin war schier zu Boden geklappt, als Emma sich lauthals über ihren noch einigermaßen knackigen Hintern darin freute und sich vor dem Spiegel im Laden drehte.
Emma bekreuzigte sich und schaute nach links und rechts durch die Parkanlage. Es war niemand zu sehen. Die Lichter in den Zimmern ihrer Mitbewohner waren längst erloschen. Die Nachtschwester hatte den letzten Rundgang vor einer halben Stunde beendet und sich wie jede Nacht in die kleine, verqualmte Kaffeeküche zurückgezogen. Nur das Schnarchen von Oma Krause aus dem Nachbarzimmer drang mehr oder minder leise durch das gekippte Fenster nach draußen.
Emma spürte ein Kribbeln in ihrem Bauch und fühlte sich genau wie damals, als sie 13 war und der pickelige Nachbarsjunge den Romeo vor ihrem Zimmerfenster gab, während ihr Vater nebenan fernsah. Ihre Hände waren feucht. Sie umklammerte das Geländer und hob ihr rechtes Bein langsam hinüber, denn heute war sie definitiv keine 13 mehr, und ihre Knochen ächzten. Als sie rittlings auf der Brüstung saß, mit einem Bein bereits in der Freiheit und dem anderen noch in der Hölle, strauchelte sie und verlor beinahe das Gleichgewicht. Emma verfluchte ihren idiotischen Plan. Wenn sie abstürzte und sich die Knochen brach, würde sie dort unten auf dem Rasen liegen bleiben, bis jemand sie fand, und dann musste sie nicht nur weiterhin in diesem Heim ausharren, sondern sie untermauerte damit selbst die Behauptung ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter, dass sie unzurechnungsfähig sei. Allein der Gedanke an die beiden gab Emma neuen Mut zur Flucht.
Vorsichtig hob sie das andere Bein über das Geländer, als ob sie von einem Fahrrad stiege. Sie suchte mit den Fußspitzen auf der Abflussrinne an der Außenseite des Balkons nach Halt. Schweiß stand ihr auf der Stirn, und die Finger wurden rutschig. Vorsichtig ging sie in die Hocke, fuhr mit den Händen an den Gitterstäben nach unten und überlegte, wie sie aus dieser Position am besten die baumelnden Enden der Bettlaken zu fassen bekäme. Wie sie es auch drehte und wendete, sie musste eine Hand vom Geländer lösen. Allein der Gedanke daran beschleunigte ihren Herzschlag. Die Arthrose in den Großzehgelenken machte ihr das Stehen auf Zehenspitzen unerträglich, und deshalb probierte sie eine neue Strategie aus. Sie kniete sich auf die nur wenige Zentimeter hervorstehende Bodenplatte des Balkons und versuchte, nach dem Bettlaken zu greifen. Der Abstieg war schwieriger als gedacht. Jetzt musste sie nur noch das Laken unter sich zu fassen bekommen und sich daran abseilen, doch das war leichter gesagt als getan.
Emma verweilte in ihrer misslichen Lage, und jede Sekunde, die sie wartete, bohrte sich die Kante der Steinfliesen tiefer in ihre Kniescheiben. Sie biss die Zähne zusammen und beugte sich seitlich nach unten, bekam den Stoff zu fassen und zog ihn ein Stückchen zu sich empor. Dabei rutschte sie ab und stürzte in die Tiefe. Zum Glück konnte sie die Laken packen und sich daran festklammern. Emma zappelte mit den Beinen, schlang sie nach einigen Fehlversuchen um die Betttücher, was ihr zusätzlichen Halt gab, und schickte ein Stoßgebet in die Dunkelheit. Einen Moment lang baumelte sie mit pochendem Herz am Balkon wie eine Kirchturmglocke.
Emma lauschte, ob irgendjemand sie gehört hatte. Im Haus blieb alles still, keine Stimmen, kein Licht. Ihr Puls beruhigte sich langsam, und sie ließ sich Zentimeter für Zentimeter nach unten gleiten. Ihre Arme verloren an Kraft, und plötzlich war das Laken zu Ende, aber der Boden war noch ein gutes Stück entfernt. Für einen jungen Menschen stellte das kein Problem dar. Ein geschmeidiger Sprung – und die Flucht wäre geglückt. Für einen alten Menschen jedoch eine schier ausweglose Situation, denn Knochenbrüche heilen mit fortgeschrittener Jugendlichkeit nicht mehr so schnell. Emma sah sich bereits mit eingegipsten Knöcheln im Krankenbett liegen. Ihr geldgieriger Sohn nebst Gemahlin würden Blumen vorbeibringen und Mitgefühl heucheln.
Plötzlich packte jemand Emmas Fußgelenke.
»Ich hab dich. Halt dich fest, ich helfe dir.«
Es war die Stimme einer Frau. Zuerst dachte Emma an eine der Pflegerinnen. Doch die würden Alarm schlagen, statt sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien, und sie würden sie außerdem nicht duzen. Dankbar nahm Emma die Hilfe an und landete unversehrt auf dem Rasen. Die Laken zog sie mit sich in die Tiefe, denn es sollte keine Beweisstücke ihrer Flucht geben.
»Was war das denn für ein cooler Stunt?«
Emma seufzte.
»Bist du Emma von Stratnitz?«
»Kommen Sie von Herrn Lehmann?«, fragte Emma misstrauisch.
»Nicht so direkt«, antwortete die Frau zögerlich und sah aus, als ob sie nicht wusste, wovon Emma sprach.
»Ausgemacht war, dass er draußen auf der Straße auf mich wartet.«
»Hab mir doch gleich gedacht, dass hier etwas nicht stimmt. Los komm! Wir sollten uns schnellstmöglich aus dem Staub machen. Quatschen können wir später.«
Die Frau, von der Emma im Dunkeln nicht viel erkannte, packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich in Richtung Ausfahrt. Emma hatte Mühe, Schritt zu halten, und stolperte. Die Laken klemmte sie sich unter den Arm. Die losen Enden schleiften wie ein weißer Hochzeitsschleier hinter ihr her und verschwanden mit Emma in der dunklen Nacht.
Im Schutz der Ziersträucher huschten die beiden über den kurz geschnittenen Rasen, den der Gärtner liebevoller versorgte als das Personal die Heimbewohner. Die Frau lief leicht nach vorn gebeugt vor Emma her. Sie wusste genau, wo sie in Deckung gehen musste, um nicht die Bewegungsmelder der Laternen zu aktivieren. Daran hätte Emma nicht gedacht.
Die Seniorenresidenz lag außerhalb des Stadtzentrums auf einem Hügel, eingebettet in einen wunderschönen Park mit weiß lackierten Bänken, Gipsbüsten und exotischer Vegetation. Die Hochglanzprospekte, auf die Emma seinerzeit hereingefallen war, versprachen den Bewohnern größtmögliche Ruhe und Erholung. Wenn man jedoch hinter die Kulissen schaute und sich nicht vom ersten Eindruck blenden ließ, erkannte man schnell, dass die angeblich heile Welt gar nicht so heil war. Emma konnte es kaum erwarten, ihr mehr oder weniger unfreiwillig gewähltes Zuhause zu verlassen. Sie schaute auf die Uhr. Bis jetzt lief noch alles nach Plan. Herr Lehmann musste bereits draußen auf der Straße warten.
Sie erreichten das Hauptportal. Das große schmiedeeiserne Tor erinnerte Emma an eine Gefängnispforte. Statt es zu öffnen, schob sich ihre Retterin am Zaun entlang und verschwand hinter einer mannshohen Ligusterhecke.
»Was tun Sie da?«, fragte Emma und schaute ihr neugierig hinterher.
»Was wohl?« Die Frau umklammerte zwei Eisenstäbe und stieg auf den Betonsockel des Zaunes. Von dort aus hievte sie sich mit einer der Jugend vorbehaltenen Leichtigkeit auf eine der Querverstrebungen. Emma ahnte, was nun folgte, und blickte sich sehnsüchtig nach der Hauptpforte um.
»Vergiss es, Oma, die ist nachts abgeschlossen.«
Emma wusste nicht, was ihr bei diesen Worten mehr aufstieß: dass das Tor abgeschlossen war und sie nun auch über den Zaun in die Freiheit klettern sollte oder dass die junge Frau sie so geringschätzig als Oma titulierte. Sie blähte die Nasenflügel und schnaubte.
»Was jetzt? Kommste mit oder bleibste da?«
»Müssen wir wirklich da rüber?«, fragte Emma und deutete auf den drei Meter hohen Zaun, der vor ihr in die Höhe ragte.
»Wenn du nicht entdeckt werden willst, dann ja«, sagte die Frau und kletterte weiter nach oben.
Emma seufzte und folgte ihr hinter die Ligusterhecke. Sie stopfte die Bettlaken durch die Eisenstangen auf den Fußweg und stieg mühsam auf den Betonsockel. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Klar, kletter einfach bis nach oben, und dann schwing dich drüber wie vorhin an deinem Balkon.«
Der Balkon! Das war kein motivierender Gedanke. Wenn Konstantin sie hier über den Zaun steigen sähe, würde er sie tatsächlich für unzurechnungsfähig erklären lassen. Konstantin! Allein für sein dummes Gesicht, wenn die Heimleitung ihm mitteilte, dass seine Mutter verschwunden sei, lohnte es sich, diese Tortur auf sich zu nehmen.
Dank der neuen Jeans hatte Emma wenigstens die volle Beinfreiheit, die ihr in ihrem Alter noch geblieben war. Sie tat es der jungen Frau gleich und stieg von einer Querverstrebung zur nächsten, bis sie sich in schwindelerregender Höhe über die pfeilbewehrten Eisenstangen hieven sollte.
»Keine Panik, das klappt doch ganz gut, Oma.«
»Ich helfe Ihnen gleich, von wegen Oma!«, keuchte Emma und wollte ihrer Fluchthelferin zeigen, dass sie nicht so alt und gebrechlich war, wie sie sich jedoch fühlte. Mutig manövrierte sie sich über den Zaun und begann, auf der anderen Seite wieder hinabzuklettern. Als sie auf dem Trottoir ankam, zitterte sie vor Anstrengung.
Im Laternenschein konnte Emma etwas mehr von ihrer Komplizin erkennen. Sie war Anfang 20, zierlich und trug einen Minirock zu wollenen Strumpfhosen und dicke Armeestiefel. Der Ausschnitt ihres T-Shirts war zur Seite gezogen und verschwand unter einer schäbigen Sweatjacke mit Kapuze. Ihre Haarpracht bestand aus rotbraunen, verfilzten und zu fingerdicken Würsten zusammengedrehten Strähnen. Emma wollte sich nicht ausmalen, wie viele Tierchen in diesen Rastalocken ein Zuhause gefunden haben mochten. Sie bestaunte das Aussehen der jungen Frau und fragte: »Sind Sie eine Punkerin?«
»Wie kommste denn auf so einen Quatsch?«
»Entschuldigen Sie, aber Ihre Haare, Ihre Kleidung … wie nennt man Sie denn sonst?«
»Wie wär’s einfach mit – Jule?«
Emma kam sich unsäglich taktlos vor und errötete. In ihren Kreisen war sie noch nie zuvor mit einer solchen Person in Berührung gekommen.
»Ich bin Emma von Stratnitz«, versuchte sie, von ihrem misslungenen Auftritt abzulenken.
»Dachte ich mir.«
»Sollte ich Sie kennen?«, fragte Emma.
»Nein.« Mehr sagte ihre Fluchthelferin nicht.
Emma hielt vergebens nach Herrn Lehmanns Wagen Ausschau. Sie hatte den Detektiv beauftragt, ihr bei der Flucht aus der Residenz zu helfen und Nachforschungen über ihren Sohn Konstantin und seine Frau Barbara anzustellen. Leider war von ihm weit und breit keine Spur.
Das Mondlicht legte sich wie ein silbriger Mantel über die nächtliche Landstraße. Gegenüber dem Hauptportal auf der anderen Straßenseite befand sich eine Bushaltestelle mit türkisfarbener Sitzbank und Glaswänden. Direkt daneben verströmte eine diffuse Laterne orangefarbenes Licht.
»Sieht nicht so aus, als ob du abgeholt wirst«, stellte Jule fest. »Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?«
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich warte lieber, bis Herr Lehmann kommt«, lehnte Emma ab.
Jule grinste und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals hinauf. Es war ziemlich kühl für eine Juninacht. Emma bereute, dass sie nur einen Pullover übergezogen und auf ihre Jacke verzichtet hatte. Sie wollte verhindern, dass ihre Flucht gleich als solche erkannt wurde, sobald Schwester Waltraude in ihrem Kleiderschrank nachschaute. Der Wind frischte auf. Emma fröstelte. Sie hob die Bettlaken vom Boden auf und legte sie wie eine Stola um ihre Schultern.
Die Fassade des Altenheims schimmerte im Mondlicht durch die Hecke. Es wirkte aus der Ferne wie ein Schloss. Emma hatte sich damals von Konstantin und den Hochglanzprospekten übertölpeln lassen. Das sollte er nun büßen.
»Sicher, dass du warten willst? Da steht mein Wagen«, sagte Jule und deutete auf einen alten Mercedes am Straßenrand. Er parkte zur Hälfte im Graben. Jule zog einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche und wollte die Fahrertür aufschließen.
»Scheiße, verdammte Kacke!«, schrie sie plötzlich, trat mit voller Kraft gegen den Reifen und raufte sich die Haare. Emma erkannte den Grund ihres Wutausbruchs. Die Seitenscheibe war eingeschlagen, und Scherben verteilten sich auf dem Fahrersitz. Jule riss die Tür auf und kniete sich mitten hinein. Sie beugte sich nach hinten zur Rückbank, pulte mit dem Finger in einem Riss im Sitzpolster und suchte etwas. Gleich darauf kam sie rückwärts aus dem Wagen gekrochen und grinste. Sie hielt ein kleines Stückchen Plastik in der Hand und murmelte: »Ich wette, der hat die SD-Karte hier gesucht.«
Noch ehe Emma fragen konnte, was eine SD-Karte ist und wer nach ihr gesucht haben könnte und vor allem warum, zog Jule ihre Jacke aus. Sie schlang sich den Stoff um die Hand und wischte damit die Glassplitter vom Sitz. Einige fielen auf den Asphalt, andere verschwanden im Fußraum des Wagens. In Emma regte sich der Hausfraueninstinkt.
»Haben Sie vielleicht einen Autostaubsauger im Kofferraum?« Sie hatte die Frage noch nicht komplett ausgesprochen, da traf sie Jules entgeisterter Blick.
»Nee, der ist zufällig zur Reparatur! Sehe ich aus, als ob ich einen Staubsauger im Gepäck habe?«
»Entschuldigung, ich wollte nicht unhöflich sein.«
Emmas Wangen glühten. Die Frage war in der Tat dumm gewesen. So alt und schäbig, wie dieser Mercedes aussah, hatte er wahrscheinlich noch nie einen Staubsauger zu Gesicht bekommen. Emma schätzte, dass sein Baujahr ihrem Geburtsjahr entsprach, und lächelte. Sie ging langsam um das Fahrzeug herum und schaute durch das Fenster der Beifahrerseite. Die Sitzbezüge waren abgewetzt. Überall flogen Krümel, Kaugummipapier und anderer Müll herum. Mitfahren wollte Emma in diesem Wagen bestimmt nicht. Zumindest nicht, solange sie eine Wahl hatte.
Plötzlich wurde die Residenz von allen Seiten taghell angestrahlt, und die Laternen im Park flammten ebenfalls auf. Hektische Rufe waren zu hören.
»Scheiße, die haben uns bemerkt.« Jule sprang in das Auto und stieß die Beifahrertür von innen auf. »Los, komm schon, steig ein.«
Emmas erster Impuls war, die Tür zuzuschlagen und sich im Gebüsch zu verstecken, bis der Detektiv kam. Das war auf alle Fälle besser, als sich in den dreckigen Wagen zu setzen und mit dieser Person, die sie nicht einmal kannte, irgendwohin zu fahren.
Die Stimmen kamen direkt auf das Eingangsportal zu. Wenn Emma nicht einstieg, würde man sie entdecken und wieder ins Heim zurückbringen. Der Gedanke an Schwester Waltraude genügte, um all ihre Bedenken über Bord zu werfen. Sie ließ die Bettlaken unauffällig von den Schultern nach unten rutschen, sodass sie sich nicht in die undefinierbaren Krümel auf dem Polster setzen musste, und stieg ein.
Jule fuhr mit quietschenden Reifen und zerborstenem Fenster in Richtung Innenstadt. Emma stützte ihren Ellenbogen am Beifahrerfenster ab, legte die Wange gegen ihre Faust und lächelte. Die Flucht aus dem Altenheim war der Beginn eines neuen Lebens, in dem sie sich nicht länger schikanieren ließ.
Sie rasten über die dunkle Landstraße. Am Rückspiegel baumelte eine nackte Frau aus Pappe, und aus dem Aschenbecher quollen Kippen ohne Filter. Der Gestank im Wagen war entsetzlich. Zum Glück blies der kalte Fahrtwind durch das eingeschlagene Fenster.
»Warum biste denn aus dem Heim ausgebüchst?«, fragte Jule, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
»Weil ich dort nicht den Rest meines Lebens verbringen möchte.« Das stimmte, aber es gab noch ein paar andere Beweggründe, die Emma der jungen Frau allerdings nicht auf die Nase binden wollte. Dafür kannte sie sie zu wenig.
Jule war auf den ersten Blick so anders als all die Menschen, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte. Emma von Stratnitz lebte früher in der Welt der Reichen, in einer Luxusvilla mit Gärtner und Haushaltshilfe im begehrtesten Viertel der Stadt. Kurt, ihr Mann, Gott hab ihn selig, war Vorstandsvorsitzender eines erfolgreichen Automobilkonzerns gewesen, und sie mussten sich über Geld keine Sorgen machen. Leute wie Jule waren ihr bisher nur am Rande begegnet, aber Menschen wie ihr Sohn Konstantin und seine Frau Barbara, für die Luxus und Wohlstand an erster Stelle standen, kannte sie dafür umso mehr.
»Was haste denn mit diesem Detektiv zu tun? Warum wollte er dich mitten in der Nacht abholen?«
Emma hatte keine Lust, der jungen Frau die wahren Gründe ihrer Flucht zu erklären. Es war besser zu schweigen, bis sie Kontakt zu Herrn Lehmann aufgenommen hatte. Eigenartig, dass er nicht wie vereinbart gekommen war. Am Telefon hatte er von kompromittierenden Neuigkeiten gesprochen, die er herausgefunden habe und die ihr von Nutzen sein könnten. Er wollte sie abholen und in ein Hotel bringen, in dem sie vorerst untertauchen und planen konnte, wie sie weiter vorgehen wolle. Er hatte für sie ein Zimmer auf seinen Namen reserviert. Nur dumm, dass sie nie darüber gesprochen hatten, in welchem Hotel er sie einquartieren wollte. Und jetzt?
»Das ist eine lange Geschichte.«
»O. k., musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst.«
»Können wir irgendwo anhalten und telefonieren?« Emma wollte Herrn Lehmann anrufen. Vielleicht hatten sie sich nur um wenige Minuten vor dem Altersheim verpasst, und er suchte jetzt nach ihr.
Jule griff in ihre Jackentasche, zog ein Handy hervor und reichte es Emma.
»Ich … ähm …«
Jule grinste.
»Hast noch nie mit so ’nem Ding telefoniert, was?« Emma schüttelte den Kopf. »O. k., wie ist die Nummer? Ich tippe sie für dich ein.«
Emma schlug sich gegen die Stirn. In der Eile hatte sie vergessen, sie zu notieren. Sie seufzte und starrte wieder aus dem Fenster in die Dunkelheit.
»Ich kenne Herrn Lehmanns Nummer nicht auswendig.«
Jule grinste und legte das Handy auf Emmas Schoß. Mit der einen Hand lenkte sie den Wagen durch die Nacht und mit der anderen zog sie eine Visitenkarte aus ihrer Tasche und wedelte damit durch die Luft.
»Bin ich gut oder bin ich gut?«
Emma nahm die Karte und traute ihren Augen kaum, als sie Herrn Lehmanns Adresse und Telefonnummern sah.
»Sie kennen den Mann?«
»Das nicht direkt, aber ich war nur gerade bei ihm zu Hause.«
»Sie waren bei ihm? Wo ist er?«
»Das ist auch eine lange Geschichte, aber lassen wir das. Ich kenne ihn nicht persönlich, bin nur über seine Visitenkarten gestolpert.« Jule grinste.
»Das verstehe ich nicht.«
»Musste auch nicht«, lenkte Jule vom Thema ab und erklärte Emma stattdessen, wie sie das Handy zu bedienen hatte. Ihr Anruf blieb unbeantwortet. Sie überlegte.
»Könnten Sie mich bitte zu einem Hotel oder einer Pension bringen?«
»Wenn du willst, kannst du auch bei uns pennen.«
Der Gedanke, dass Jules Zuhause dem Zustand dieses Wagens ähnelte, beängstigte Emma. Es war jedoch keine dumme Idee. In so einem Milieu würde man unter keinen Umständen nach ihr suchen. Konstantin würde wahrscheinlich alle Hotels und Pensionen in der Umgebung absuchen. Der Herr Stararchitekt würde die ganze Stadt in Aufruhr versetzen, um seine Mutter zu finden. Nicht, dass er sie liebte und sich um sie sorgte, er spielte vielmehr für die Öffentlichkeit den braven Saubermann, dem nichts über das Wohl seiner Familie ging, der keine Kosten scheute und das nobelste Altersheim für seine von ihm zutiefst geliebte Mutter ausgewählt hatte. Anfangs war Emma auf seine scheinheiligen Worte hereingefallen und hatte ihm geglaubt, aber die Wahrheit war eine andere. Sie war simpel und einfach – seine Frau Barbara wollte Emmas Villa haben. Und was diese Person wollte, das bekam sie auch.
Seit dem Tod von Kurt intrigierte und log diese Frau, dass sich die Balken bogen. Barbara hatte befunden, dass die Villa mit Garten im Nobelviertel der Stadt für Emma alleine zu groß sei, und es lag ihr nichts mehr am Herzen, als das Haus ihrer Schwiegermutter für sich zu erobern. Sie organisierte klammheimlich ein paar Renovierungsarbeiten am Gebäude und ein paar Terrorspielchen für die Schwiegermutter, damit diese irgendwann mehr oder weniger freiwillig das Feld räumte. Eine kostengünstige Möglichkeit, um sich eine der begehrtesten Immobilien der Stadt unter den Nagel zu reißen. Mit beharrlicher Ausdauer und infamer Dreistigkeit gelang es ihr, dass Konstantin sich zusehends von seiner Mutter entfernte und nur noch Streit und Hass zwischen ihnen herrschte. Eines Tages war Emma am Ende ihrer Kräfte angelangt und dachte wahrhaftig über den Umzug in ein Altenheim nach. Das Ganze geschah unter dem Deckmäntelchen der Verschwiegenheit, denn Konstantin und Emma waren Personen des öffentlichen Interesses. Vor der Presse sprach er scheinheilig von inniger Verbundenheit mit seiner Mutter. Leider sei sie in letzter Zeit immer verwirrter, und er habe keine andere Wahl, als sie zu ihrer eigenen Sicherheit in die teuerste Seniorenresidenz der Stadt einzuquartieren. Konstantin spielte mit den Medien, stand gern im Rampenlicht und Barbara noch viel mehr.
Das Verschwinden seiner Mutter würde ein gefundenes Fressen für die Presse sein, und der Druck auf Konstantin würde immens groß werden. Er konnte es sich gar nicht erlauben, nicht nach ihr zu suchen, auch wenn ihm ihr Verschwinden im Grunde sehr gelegen kam. Emma wollte ihn ein paar Tage schmoren lassen und dann mithilfe von Herrn Lehmanns Recherchen eine Schlinge um Konstantins oder Barbaras Hals legen. Wenn ihr Sohn glaubte, sie dermaßen hinters Licht führen zu können, sollte er sie kennenlernen. Er würde ihr Spielchen mitspielen müssen, ob er wollte oder nicht. Und er wollte nicht, davon war sie überzeugt. Emma grinste bei der Vorstellung, dass es in ihrer Hand lag, wie lange sie ihn zappeln ließ. Eine reizvolle Vorstellung, sich bei ihm und Barbara für die Demütigungen der vergangenen Jahre zu revanchieren.
»Und, Oma, was is jetzt? Kommste mit zu uns?«, fragte Jule.
Emma betrachtete die junge Frau von der Seite und überlegte. Ohne weitere Instruktionen ihres Detektivs musste sie neu planen. Warum also sollte sie die Einladung ausschlagen? Sie hatte nichts zu verlieren und im Notfall konnte sie immer noch in eine Pension ziehen.
»Wenn ich Ihnen keine allzu großen Umstände mache, würde ich das Angebot sehr gerne in Anspruch nehmen.«
»Hör endlich auf, mich ständig zu siezen.« Sie lächelte Emma an und vergaß für einen Moment die dunkle Landstraße.
»Gerne, aber ich will dann auch kein Oma mehr von dir hören.«
Die beiden Frauen lachten.
»Du fragtest mich, ob ich mit zu euch komme?«
»Ich wohne in einer WG. Außer mir lebt dort noch Kalle, der ist ein bisschen bekloppt, aber sonst o. k., und Anja. Sie ist unser Brain.«
»Euer Brain?«, fragte Emma.
»Sie ist diejenige, die alles im Griff hat und sich mehr als zwei Gedanken macht.« Jule grinste.
»Ich verstehe.« Emma fühlte sich wie ein Astronaut, der gleich auf einem fremden Planeten landen und eine ihm gänzlich neue Spezies entdecken würde. Wenn diese Kreaturen nicht bissen, sollte ihr alles recht sein. Schlimmer als Konstantin nebst Gemahlin und Enkelmonster konnte es nicht kommen. Oder doch?
Zuerst hatte Emma nicht bemerkt, dass sie verfolgt wurden, als jedoch der Wagen hinter ihnen immer näher aufrückte, bis direkt an ihre Stoßstange, bekam sie es mit der Angst zu tun.
»Spinnt der?«, fauchte Jule und gab Gas.
Sie gewann einen kleinen Vorsprung, den der Verfolger schnell wieder aufholte. Emma klammerte sich an ihrem Sitz fest und schaute besorgt nach hinten.
»Ob das Herr Lehmann ist? Vielleicht hat er gesehen, wie ich zu dir ins Auto gestiegen bin.«
Der Wagen versetzte dem Mercedes einen kleinen Stoß.
»Hey!«, schrie Jule und hatte alle Mühe, nicht von der Straße abzukommen. »Das isser bestimmt nicht. Wieso sollte der uns von der Straße drängen?«
Sie umklammerte das Lenkrad und beschleunigte.
Emma war es unmöglich, den Wagentyp oder ein Nummernschild auszumachen. Erst im Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Fahrzeugs erkannte sie einen Mann mit Glatze am Steuer – das war alles, was sie sah. Genug für Jule.
»Dieser Arsch! Na, warte.«
»Weißt du, wer das ist? Was will er von uns?«
Jule antwortete nicht und konzentrierte sich auf die Straße. Sie beschleunigte den alten Mercedes und forderte ihm Höchstleistungen ab, bis sein Motor ächzte. Emma fühlte sich dem Wagen zutiefst verbunden. Zwei Senioren auf der Flucht durch die Nacht.
Immer wieder touchierte der Verfolger ihre Stoßstange, nur leicht, aber ausreichend, um Emmas Puls jedes Mal in die Höhe zu jagen. Jule fuhr in die Stadt, bog in Seitenstraßen ein und schlug Haken wie ein Hase. Emma betete, dass sie nicht an eine rote Ampel gerieten und anhalten mussten. Vereinzelte Nachtschwärmer überholte Jule waghalsig. Doch dann geschah, was Emma die ganze Zeit befürchtete. Die Ampel vor ihnen sprang auf Rot. Jule bremste ab und wurde langsamer. Kurz vor der Haltelinie gab sie wieder Gas und schoss über die Kreuzung. Ihr Verfolger hinterher. Er raste um ein Haar in ein Auto, das wild hupte. Sein Wagen schlingerte, prallte gegen einen Laternenpfahl und blieb stehen. Die Kühlerhaube schob sich wie eine Ziehharmonika zusammen. Rauch stieg aus dem Motorraum und zischte nach oben.
»Kind!«, rief Emma entsetzt und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
»Wass’n? Der hätte uns kaltgemacht, wenn er uns erwischt hätte.« Sie schaute in den Rückspiegel. Das rote Licht der nächsten Ampel verfärbte ihr Gesicht.
Emma bekreuzigte sich. Auf was hatte sie sich nur eingelassen?
Jule parkte den Wagen in dem schäbigen Hinterhof eines sechsstöckigen Wohnhauses. Eine Glühlampe baumelte an einem losen Stück Kabel über der Haustür und beleuchtete einen Teil des Hofes. Mit der Sauberkeit wurde es hier nicht so streng genommen. Die Mülltonnen neben dem Parkplatz quollen über und verbreiteten einen widerlichen Gestank. Emma nahm die Lakenenden und presste sie sich vor die Nase. Kinderfahrräder und ein verrosteter Wäscheständer lehnten an einer mit buntem Graffiti beschmierten Betonmauer. Irgendwo hinter den Mülltonnen raschelte etwas. Ratten? Emma schauderte und folgte Jule dicht auf den Fersen.
»Willst du das Auto mit der aufgebrochenen Scheibe einfach so stehen lassen?«
Jule wandte sich kurz um und zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Der Kasten gehört mir eh nicht. Ich habe ihn von Kalle ausgeliehen.«
Jule kramte ihren Schlüssel hervor und öffnete die Haustür. Schon auf der Schwelle schlug ihnen der Gestank von ranzigem Fett und Linsensuppe entgegen. Emma war versucht, sich elegant aus dem Staub zu machen und doch in einer Pension zu übernachten. Sie zwang sich einzutreten.
»Ist nicht gerade dein gewohntes Ambiente, was?«, lachte Jule. Sie zog zusammengerollte Werbeblätter aus einem der eingedellten Blechbriefkästen und stopfte sie in einen anderen. Im Laufschritt eilte sie die knarzende Treppe nach oben. Das Linoleum auf den Stufen blätterte bereits an den Kanten ab, und das Holzgeländer war von den vielen Händen, die darauf entlanggeglitten waren, blank poliert. Emma überlegte und entschied zu bleiben. Es war mitten in der Nacht. Bis sie jetzt ein freies Zimmer fand, würde es ewig dauern, und der Gedanke, dass ihr Verfolger irgendwo dort draußen wieder die Spur aufgenommen haben könnte, gruselte sie.
Die Treppe schien kein Ende zu nehmen, und erst im vierten Stock blieb die junge Frau vor einer Tür stehen.
»Mann, hätte ich gewusst, dass du so lahm bist, hätten wir den Fahrstuhl genommen«, raunzte sie.
»Das ist nicht dein Ernst, hier gibt es einen Fahrstuhl, und du hast mich trotzdem die ganzen Stufen hinaufgejagt?«, keuchte Emma und zog sich die letzten Schritte am Geländer hoch. Ihr Puls hämmerte, und sie wünschte sich nichts mehr als eine kurze Pause. Seniorensport war nicht das, was sie nach dieser aufregenden Nacht noch brauchte.
»Nee, natürlich hat diese Bruchbude keinen Fahrstuhl, wollte dich bloß ein bisschen ärgern.« Jule grinste über das ganze Gesicht. Ihre Zähne blitzten weiß, und ihre grünen Katzenaugen strahlten. Sie war hübsch, wären nur nicht diese schrecklichen Rastalocken, die sie Frisur nannte, Emma jedoch viel eher als verfilzten Wischmopp bezeichnen würde. In Jules rechter Augenbraue steckte ein Piercing.
Sie schubberte ihren Fuß an der Wade. Emmas Inspektion ihrer Person schien ihr unangenehm.
»Wass’n? Bin wohl nicht so fein wie du oder deinesgleichen!«, blaffte sie und schloss die Wohnungstür auf.
»Warte, Jule«, sagte Emma. »Entschuldige, dass ich dich so unhöflich angestarrt habe. Ich … es ist einfach alles so verrückt heute Nacht. Mein ganzes Leben scheint eben aus den Fugen zu geraten, und ich …«
»Ist schon gut, mach dir keinen Kopf und komm erst mal rein.«
Emma folgte ihr, und als sie eintrat, wusste sie nicht, was genau sie empfand. Es war eine Mischung aus Freude über ihren Ausbruch aus dem Seniorenheim, Freude, dass sie Konstantin und Barbara nun in eine prekäre Lage bringen würde, und Freude darüber, dass sie endlich ihr Leben selbst wieder in die Hand nahm und nicht eher ruhen würde, bis sie das erreicht hatte, was sie wirklich wollte. Jule und diese WG waren in ihren Plänen nicht vorgesehen, aber es fühlte sich richtig an, hier zu sein, in dieser Welt, die sich von der ihren so grundlegend unterschied. Sie griff nach Jules Hand und schaute ihr in die Augen.
»Danke, Mädchen, du weißt gar nicht, was du für mich heute Nacht getan hast.«
»Kann mir’s denken«, grinste sie und blinzelte Emma verschwörerisch zu. »Komm, wir kochen uns einen Kaffee.«
Jule schob Emma in den Flur und schloss die Tür.
Die Wohnung war entgegen Emmas Befürchtungen ganz und gar nicht verlottert. Ein Herrenrad war an die Wand gelehnt, und Poster von Konzertveranstaltungen oder Rockstars, die normalerweise an Litfaßsäulen hingen, zierten die Wände. Jule zog ihre Jacke aus und warf sie über einen Holzstuhl neben dem Eingang. Sie marschierte geradewegs auf eine angelehnte Tür an der Stirnseite des Flurs zu. Emma folgte ihr, vorbei an vier weiteren weiß lackierten Türen. Sie waren alle geschlossen. Emma folgte Jule. Es roch nach frisch gebackenem Kuchen. Die Küche war ein Sammelsurium an Mobiliar. Ein alter Holztisch mit vier unterschiedlichen Stühlen stand vor dem Fenster. Ein Küchenbüfett, ein Schrank mit Fensterscheiben und Gardinen, wie Emma ihn von ihrer Mutter noch kannte, und ein überfülltes Regal befanden sich an der gegenüberliegenden Wand. Herd, Spülbecken und Kühlschrank hatten ihren Weg scheinbar über Secondhand-Läden in diese Wohnung gefunden. Das alles verströmte einen eigenen Charme und machte die Küche zum wohl gemütlichsten Platz, an dem Emma jemals gewesen war. Blumentöpfe mit Rosmarin, Schnittlauch, Basilikum und anderen Küchenkräutern standen auf der Fensterbank. Emma spiegelte sich in der dunklen Scheibe. Dabei sah sie, wie Jule sie heimlich beobachtete.
»Danke«, sagte Emma und drehte sich zu ihr um, »dass ich bei euch wohnen darf. Das ist sehr freundlich, zumal du mich gar nicht kennst.«
»Red keinen Stuss, du warst in der Klemme, und ich hab dir geholfen. Wenn ich dich nicht so abgefahren fände, hätte ich dich einfach stehen, ähm, hängen lassen.« Jule hantierte an der Kaffeemaschine und legte eine Filtertüte ein.
»Abgefahren?« Emma war erstaunt und wickelte sich aus ihren Laken. Sie knüllte sie zusammen, legte sie auf den Boden und setzte sich auf einen der Stühle. Ihren Rucksack legte sie auf den Tisch.
»Klaro, oder wie würdest du es bezeichnen, wenn sich nachts eine Oma aus dem Altersheim abseilt, wie Tarzan an einer Liane über dem Erdboden hängt und einen rosafarbenen Rucksack mit Blumenmuster auf dem Buckel trägt?«
Emma lachte. Es war in der Tat eine skurrile Situation gewesen.
»Trotzdem hättest du mich im Park stehen lassen können.«
»Hätte ich, aber du sahst mir nicht so aus, als ob du dich oft nachts auf der Straße herumtreibst und gewusst hättest, was du tun solltest.«
Emma nickte zustimmend. Ohne Jule wäre sie tatsächlich hilflos gewesen. Zu Fuß hätte sie nicht bis in die Stadt laufen können, und dass mitten in der Nacht ein Bus die Haltestelle vor dem Hauptportal der Seniorenresidenz anfuhr, war auch unwahrscheinlich. Irgendetwas musste geschehen sein. Herr Lehmann war bisher sehr zuverlässig gewesen. Ob es Probleme bei seinem Überwachungsauftrag gegeben hatte? Vielleicht war er aufgeflogen, und Konstantin hatte ihn entdeckt.
»Wieso wolltest du dich mit einem Detektiv treffen, nachts auf der Landstraße? Das ist schon merkwürdig, findest du nicht?«
Das war es in der Tat, aber Emma lag nichts ferner, als Jule in ihre Geheimnisse einzuweihen. Das Mädchen hatte die Visitenkarte ihres Detektivs, war bei ihm zu Hause gewesen und behauptete trotzdem, ihn nicht zu kennen. Es war besser zu schweigen, zumindest so lange, bis sie mit Herrn Lehmann gesprochen hatte. Morgen früh würde sie ihn anrufen und alles Weitere mit ihm klären.
Jule setzte sich zu Emma, griff nach ihrer Hand und tätschelte sie.
»Ist schon o. k., musst mir nichts erzählen, wenn du keinen Bock hast. Sag mal, wie alt bist du überhaupt?«
»Wieso?«
»Deine Hände fühlen sich knochig an. Das erinnert mich irgendwie an das Skelett in unserer Schule früher.«
Emma zog ihre Hand zurück. Sie zupfte verlegen an ihren grauen Haaren und stand auf. Vielleicht sollte sie doch lieber in eine Pension gehen.
»Tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe, aber ist doch so.« Jule zog Emma wieder auf ihren Stuhl zurück. Dabei stand sie selbst auf und holte zwei Becher für den Kaffee.
»Zucker? Milch?«
Emma fühlte sich unbehaglich und zugleich von der Offenheit des Mädchens angezogen. Heimlich betrachtete sie ihre Hände. Sie waren wirklich knochig und hatten schon einige Altersflecken, aber mit einem Skelett wollte sie sich nicht vergleichen lassen.
»73«, sagte Emma
»73 Würfel Zucker oder 73 Tropfen Milch?«
Emma lachte. »Nein, so alt bin ich und einem Skelett wahrscheinlich wirklich schon nahe.«
Jule goss Kaffee in die Becher und stellte sie wie Bierkrüge auf den Tisch. Einen Beutel Milch und eine Zuckerdose stellte sie daneben.
»Was hattest du eigentlich im Park der Residenz zu suchen?«, fragte Emma.
Jule schwieg und schnitt den Kuchen auf der Anrichte an, dessen Duft durch die ganze Wohnung zog.
»Du arbeitest nicht im Heim, sonst hätte ich dich bestimmt schon einmal gesehen und sonst müsstest du auch nicht über das Gartentor klettern. Trotzdem wusstest du ganz genau, wo die Bewegungsmelder der Parkbeleuchtung waren. Wieso kennst du dich dort so gut aus?«
Jule legte zwei Stücke frischen Streuselkuchen auf Teller, servierte sie und setzte sich wieder. Statt zu antworten, biss sie in den Kuchen und blies den losen Puderzucker beim Ausatmen über den Tisch. Als sie zu Ende gekaut hatte, schleckte sie sich die Finger ab.
»Ich war schon ein paar Mal dort.«
»Jemanden besuchen?«
»Nein, ich geh ab und zu auf Tour.«
»Auf Tour?«
»Du bist aber wirklich nicht von dieser Welt. Auf Tour bedeutet so viel wie – einbrechen.«
»Einbrechen?« Emma war schockiert.
»Jetzt schau mich nicht so an. Das Heim ist doch der ideale Ort, um den reichen Säcken die Kohle aus den Taschen zu ziehen.« Jule biss ein zweites Mal in ihren Kuchen und fuhr mit vollem Mund fort. »Die Gruftis merken doch gar nicht, wenn ich nachts einsteige, und außerdem sind die offenen Balkontüren wie persönliche Einladungen. Die Leutchen schnarchen meistens so laut, dass ich mich noch nicht einmal anstrengen muss, leise zu sein. Besser geht’s doch gar nicht.«
Das Altenheim war in der Tat nur für betuchte Senioren erschwinglich. Emma hatte an warmen Tagen auch das eine oder andere Mal nachts die Balkontür offen gelassen, und schnarchen tat sie nach Aussagen ihres verstorbenen Mannes auch, genau wie Oma Krause im Nebenzimmer.
»Da hatte ich wohl Glück, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind. Hast du gestern auch etwas gestohlen?«
Jule antwortete nicht und biss erneut in den lauwarmen Kuchen. Ende der Diskussion.
Sie saßen eine Weile schweigend beieinander und aßen. Emmas Blick fiel auf die Küchenuhr.
»Himmel, es ist schon drei Uhr. Ich bin hundemüde. Könntest du mir bitte zeigen, wo ich schlafen soll?«
Jule erhob sich. Sie lief hinaus in den Flur, öffnete die vorletzte Tür und knipste das Licht an.
»Das ist meine Bude. Da kannst du erst einmal pennen.«
In der Mitte des Zimmers befand sich ein großes Bett mit einem gigantischen Baldachin aus roten und orangefarbenen Tüllstoffen. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, voll beladen mit Zeitschriften, Zetteln, Stiften und einem Miniaturtotenschädel, aus dessen Mund Räucherstäbchen ragten. Ein Schrank, eine kleine Kommode und ein Sofa, ein Stuhl sowie jede Menge Poster von diesem irrwitzigen Piraten aus dem Kino vervollständigten das Zimmer.
»Schön hast du es hier«, sagte Emma und meinte es auch so. Die Rottöne in dem Raum wirkten behaglich. Ordnung war nicht gerade das richtige Wort, das Emma einfiel, als sie die zerknüllten Kleiderhaufen auf dem Boden betrachtete. Jule lächelte.
»Das Bad ist hier.« Sie öffnete die Tür im Flur neben ihrem Zimmer. Hier herrschte das Chaos junger Leute, und trotzdem fühlte es sich heimelig an. Emma zog eine Braue hoch, als sie eine zerdrückte Zahnpastatube in der Duschkabine entdeckte und einen Nachttopf aus Porzellan auf der Fensterbank, gefüllt mit Tampons und Kondomen. Nur beim Anblick eines Pornoheftes neben der Toilette wurde ihr unbehaglich.
»Frag mich nicht!«, sagte Jule, als sie Emmas empörten Blick sah. »Das gehört Kalle.«
Jule kramte in einem Wandschränkchen und zauberte eine neue Zahnbürste sowie ein Handtuch und einen Waschlappen für Emma hervor.
»Hier, das kannst du haben. Ich hole dir auch gleich noch ein Nachthemd, weil ich mal davon ausgehe, dass du so etwas nicht in deinem winzigen Girlie-Rucksack hast.«
Ehe Emma sich bedanken konnte, war ihre Gastgeberin verschwunden. Sie betrachtete sich im Spiegel. Skelett. Sie war definitiv noch nicht so alt, dass man sie als Skelett bezeichnen musste. Im Gegenteil, für ihr Alter sah sie noch ganz passabel aus. Sie legte Wert auf Körperpflege, trug meistens ein natürliches Make-up und zu besonderen Anlässen kokettierte sie auch gerne mit etwas mehr Farbe auf den Lippen. Ihre Haare waren grau, hatten dafür nicht diese lila Verfärbung, die man nach missglückten Friseurbesuchen oft beobachten konnte. Emmas Haar war zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten, und wenn sie nicht gerade auf der Flucht aus einem Altersheim war, dann zupfte sie ihre Haare manchmal mit einer Portion Haargel frech zurecht. Emma war mit ihrem Spiegelbild zufrieden. Ihr Körper verschonte sie vor lästigen Speckröllchen, und die wenigen, die sie besaß, machten sie nicht fett, sondern unterstrichen ihre Weiblichkeit. Das hatte bei dem spanischen Bauarbeiter fast gereicht, um ihn zu betören, wenn nur Konstantin nicht dazwischengekommen wäre.
Jule kehrte mit einem langen T-Shirt zurück. Emma bedankte sich und machte sich bettfertig. Als sie in Jules Zimmer zurückkehrte, legte sie ihre Kleidung und den Rucksack auf den Stuhl.
»Meine Bettlaken habe ich noch in der Küche liegen, die kann ich fürs Sofa nehmen«, schlug Emma vor.
»Du kannst gerne im Doppelbett neben mir schlafen.« Jule huschte aus dem Zimmer und verschwand im Bad.
Emma wunderte sich über dieses Angebot. Jule kannte sie doch gar nicht und wollte sogar ihr Bett mit ihr teilen. Für einen Moment fühlte sich der Gedanke, neben einer Fremden zu liegen, unangenehm an, doch dann empfand sie es plötzlich als neues Abenteuer. Nichts war seit ihrer Flucht noch so, wie sie es gewohnt war. Warum also nicht auch neben einer Fremden schlafen?
Emma zog die Decke zurück und kuschelte sich in die Daunen. Sie löschte das Licht auf dem Nachttisch und lauschte in die Dunkelheit. Im Bad nebenan hörte sie, wie Jule das Wasser in der Dusche aufdrehte.
Das Zimmer war stockfinster. Aus dem Hinterhof drang das Fauchen zweier Katzen empor. Irgendwo im Haus schnarchte jemand. Emma schloss die Augen und spürte den Puls in ihren Adern wie Ameisenkribbeln. Das Wasser im Badezimmer wurde abgestellt, und gleich darauf öffnete sich die Zimmertür. Jule hatte sich beeilt und schlüpfte zu Emma unter die Decke. Sie war nackt. Emma erschrak und kroch hastig auf die andere Seite des Bettes. Sie hatte vergessen zu fragen, auf welcher Seite sie schlafen sollte. Trotzdem empfand sie es als unangenehm, dass Jule nackt zu ihr ins Bett stieg. Kaum hatte es sich Emma bequem gemacht, kroch Jule ihr hinterher, schlang ein Bein um das ihre und drückte ihren Oberkörper gegen sie. Emma schrie auf, löste sich aus der Umarmung und sprang aus dem Bett. Sie hielt sich die Decke bis zum Kinn vor ihren Körper. Jule knipste das Nachttischlicht an, und Emma schrie ein zweites Mal. Denn neben ihr im Bett lag nicht Jule, sondern ein junger Mann mit pickeligem Gesicht und einem spärlichem Flaum von Barthaaren, dafür aber einem umso besser ausgestatteten Gemächt in voller Erregung. Er schnappte sich das andere Ende der Decke, das er sich voller Scham bis zum Kinn hinaufzog. Emma hatte alle Mühe, dass ihr die Decke nicht entglitt. Es war ein Tauziehen. Jeder versuchte, so viel Tarnung zu bekommen wie nur möglich, um nicht als Verlierer in Nachtwäsche oder nackt im Zimmer zu stehen.
»Wer sind Sie? Wo ist Jule?«, stammelte der Jüngling. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen.
»Ich bin Emma. Jules Gast«, antwortete sie und lachte, als sie sich des Bildes bewusst wurde, dass sie abgaben. Sie steckten beide mit hochroten Köpfen unter derselben Decke, und die Situation ließ sich nur lösen, indem einer auf seine Tarnung verzichtete und das Feld räumte. Emma würde das gewiss nicht tun.
Jule betrat das Zimmer und entdeckte den ungebetenen Besucher. Sie schnappte sich eine Zeitung vom Boden, rollte sie zusammen und schlug auf den jungen Mann ein wie auf ein lästiges Insekt. Er hob die Hände zum Schutz über seinen Kopf und ließ die Decke fallen.
»Was machst du in meinem Bett?«, schrie sie ihn wütend an. Ihre Locken wirbelten um ihren Kopf. Immer wieder schlug sie mit der Zeitung auf ihn ein. »Verpiss dich!«
Der junge Mann flitzte aus dem Zimmer und verschwand im dunklen Flur. Emmas Puls raste.
»Wer war denn das?«, fragte sie und bugsierte die Decke wieder zurück ins Bett.
»Der ist doch bekloppt, der Arsch«, schimpfte Jule und sprang mit einem Satz auf die Matratze. Emma legte sich daneben und löschte das Licht.
»Das war mein Mitbewohner. Das war Kalle.«
»Porno-Kalle?«, entfuhr es Emma und erinnerte sich an das Schmuddelheft neben der Toilette.
Jule brüllte vor Lachen. »Genau der. Gute Nacht, Emma.«
Die Nacht war kurz. Emma erwachte aus dem Tiefschlaf, als jemand an die Zimmertür trommelte. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Einige Wimpernschläge später kam die Erinnerung an ihre Flucht und an Porno-Kalle zurück. Intuitiv zog sie die Decke fester an sich.
»Jule!«, rief eine Frauenstimme vor der Tür. »Alte, wach auf!«
Die Alte war schon wach, dachte Emma und schmunzelte, aber Jule schlief noch den Schlaf der Gerechten. Auf ihrem Kopfkissen war nur ein wirres Geflecht aus Rastalocken und eine Nasenspitze zu entdecken. Emma rüttelte sanft an Jules Schulter.
»Aufwachen, es hat geklopft.«
Ein lang gezogenes Murren war die Antwort. Jule ruderte mit ihren Armen durch die Luft und drehte sich zur Seite. Ihre niedlichen Sommersprossen waren Emma letzte Nacht gar nicht aufgefallen.
»Jule!«, schrie die Frau im Flur und hämmerte wild gegen die Tür. »Steh endlich auf. Da ist wieder dieser Typ am Telefon, und er klingt gar nicht lustig.«
Blitzschnell schlug Jule die Augen auf, schoss in die Höhe und aus der Tür hinaus in den Flur. Emma war zu Tode erschrocken. Wie konnte ein Mensch mitten aus dem Schlaf gerissen nur eine solche Geschwindigkeit an den Tag legen? Für Emma ein Ding der Unmöglichkeit. Sie rekelte ihren steifen Körper und setzte sich auf die Bettkante. Mit den Handflächen fuhr sie über ihr Gesicht und blinzelte der Sonne entgegen, die durch die staubige Fensterscheibe schien. Aus dem Flur hörte sie jede Menge Fäkalausdrücke und Jule ins Telefon fluchen. Emma schlich zur Tür und schaute nach.
»Bist du bekloppt? Ich hab mir gleich gedacht, dass du die Wagenscheibe eingeschlagen hast, aber das mit der Verfolgung war das Allerletzte! Ich hätte mich schon noch bei dir gemeldet, mir ist halt etwas dazwischengekommen.« Jule lief mit nackten Füßen auf den Holzdielen auf und ab und presste ihre Hand gegen die Stirn.
»Dann mach’s doch das nächste Mal selbst … das wirst du bezahlen, du Wichser.«
Am anderen Ende der Leitung wurde etwas gesagt, das Jule in Rage versetzte. Ihre Gesichtsfarbe wechselte in ein tiefes Rot. Sie blieb stehen und schimpfte mit erhobener Faust.
»Vergiss es! Wenn du die Karte haben willst, gilt jetzt ein neuer Deal, nach meinen Regeln. Ich will einen Riesen mehr für die zerschlagene Fensterscheibe.«
Jule lauschte.
»Was geht mich dein beschissener Auftraggeber an. Soll er seine Sachen doch selbst regeln, wenn er nicht zahlen will.«
Emma hörte, wie der Anrufer lauter wurde und in den Hörer brüllte.
»Halt’s Maul! Entweder ich bekomme die Kohle wie ausgemacht plus Zuschlag, oder du siehst die Karte gar nicht mehr. Mir ist es scheißegal, ob er dich über die Klinge springen lässt. Fuck you!«
Jule knallte den Hörer mit solcher Wucht auf, dass Emma einen Satz nach hinten machte. Jule schnaubte mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten an ihr vorbei und sprang zurück ins Bett, das unter der Wucht ihres Aufpralls ächzte.
»Entschuldige«, stammelte Emma, »dass ich gelauscht habe, das ging mich nichts an.« So viele Kraftausdrücke hatte sie noch nie auf einmal gehört und fühlte sich unangenehm berührt. Sie klaubte ihre Kleidung zusammen und wollte sich auf den Weg ins Badezimmer machen.
»Ach, der Depp nervt einfach.« Jule setzte sich im Schneidersitz auf und boxte auf eines von fünf kleinen roten Kissen in ihrem Bett ein.
»Hast du Schwierigkeiten?«, fragte Emma.
»Nicht mehr als sonst auch«, knurrte Jule.
»Entschuldige, das geht mich nichts an, ich wollte nicht indiskret sein.« Emma drehte sich um und wollte gehen.
Jule sprang auf und packte sie am Handgelenk.
»Warte, du warst nicht indiskret, im Gegenteil.«
Im selben Moment hallte ein Schrei aus der Küche, der nichts Gutes verhieß.
»Wer war das? Jule? Kalle? Wer hat meinen Kuchen angeschnitten?«
»Oh, Mist«, flüsterte Jule und schloss leise die Zimmertür. »Anja hat den Streuselkuchen als Geburtstagsüberraschung für ihre Chefin gebacken. Ups, muss ich wohl vergessen haben.«
Kaum hatte Jule das gesagt, flog ihre Zimmertür auf und eine pummelige junge Frau stand mit wutverzerrtem Gesicht auf der Schwelle. Ihre sorgfältig gekämmte Föhnfrisur war durcheinandergeraten und fiel in losen Strähnen um die runden Wangen. Ihr großer Busen hob und senkte sich vor Aufregung, und ihre Fäuste stemmte sie in die runden Hüften.
»Jule, du wusstest ganz genau, dass ich den Kuchen heute brauche, um meine Chefin zu überraschen. Mann!«
»Jetzt reg dich mal nicht so auf. Kauf halt einen beim Bäcker und gut ist. Mach dir mal nicht ins XXL-Hemd.«
Anja schnappte nach Luft und lief zornig in die Küche zurück.
»Jule!«, rief Emma entsetzt und hatte mit der Frau Mitleid. »Wie kannst du mit deiner Freundin nur so herzlos reden.«
»Wenn du mir sagen willst, was ich zu tun habe, kannste dich gerne in der Reihe hinten anstellen. Mann, ich hab echt keinen Bock auf so ’n Mist. Wenn’s dir nicht passt, kannste ja gehen.« Dabei zeigte sie auf die Tür.
Emma nickte.
»Das ist vielleicht besser so. Ich werde mich rasch fertig machen, und dann gehe ich.« Emma marschierte ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Sie schaufelte sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Dann betrachtete sie ihr Spiegelbild, beobachtete, wie die Wassertropfen langsam in ihren Falten hinabliefen. Was auch immer in Jule gefahren war, es war besser, wenn Emma die WG verließ. Der Detektiv hatte bereits ein Zimmer für sie reserviert, das sie beziehen konnte, sobald sie ihn telefonisch erreicht hatte.
Sie wollte gerade das T-Shirt über ihren Kopf streifen und in die Dusche steigen, als ein Stöhnen aus der Ecke des Raumes ertönte. Erschreckt ließ Emma ihr Hemd wieder zurückgleiten und drehte sich nicht minder schnell wie Jule vorhin um. Für einen kurzen Moment gefror ihr das Blut in den Adern. Auf der Toilette saß Porno-Kalle, hielt sein Magazin und noch etwas anderes fest in der Hand und starrte Emma mit glasigem Blick an.
»Das darf doch nicht … Oh mein Gott!«, schrie Emma entsetzt und wollte aus der Tür rennen. Weil sie im Eifer des Gefechtes jedoch vergaß, dass sie diese abgeschlossen hatte, schepperte sie mit voller Wucht dagegen. Mit fahrigen Händen griff sie nach dem Schlüssel, doch der fiel aus dem Schloss auf den Boden. Emma bückte sich, wollte ihn aufheben. Dabei rutschte ihr T-Shirt ein Stück in die Höhe und bot Kalle einen kurzen Blick auf ihren Po, was er mit einem weiteren Stöhnen quittierte. Emma wäre am liebsten im Erdboden versunken und schoss hoch. Trotz zittriger Finger gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Sie floh in Jules Zimmer und verkroch sich unter der Bettdecke.
Jule schlüpfte gerade in eine mit Flicken übersäte Jeans.
»Entschuldige«, stammelte Emma, »aber ich kann gerade nicht ins Badezimmer gehen.« Ihr Puls raste. Das war zu viel für eine Frau ihres Alters. Jules fragenden Blick konnte sie nicht beantworten. Niemals wollte sie das in Worten aussprechen, was ihr soeben widerfahren war. Es war so demütigend.
Plötzlich lachte Jule und schlug sich mit den Händen auf die Schenkel. Sie deutete zur Tür und machte eine frivole Handbewegung, die Kalles Treiben aufs Beste widerspiegelte.
»Kalle?«
»Oh mein Gott«, jammerte Emma, schloss die Augen und nickte.
Der Vorfall mit Kalle besänftigte Jule. Sie entschuldigte sich bei Emma für ihr Aufbrausen und bat sie zu bleiben, solange sie wollte. Emma sagte zögernd zu, schlug aber vor, das Frühstück in einem Café einzunehmen. Einen zweiten Kontakt mit Kalle an diesem Morgen hätte sie nicht ertragen.
Der Kaffeeautomat hinter der Theke des Bistros, in dem Jule normalerweise bediente, röchelte. Der Wirt, ein sonnengebräunter Südländer, hantierte mit Tassen und trällerte ein Lied. Als er Jule erblickte, huschte ein Lächeln über sein wunderschönes Gesicht. Emma seufzte.
»Ciao Bella, du bist zu früh, deine Schicht beginne erst heute Mittag. Oder nein, warte«, er hielt in der Bewegung inne und neigte den Kopf zur Seite, »sage nichts, du habbe Sehnsucht nach mir?«