Die Pädagogin der glücklichen Kinder - Laura Baldini - E-Book

Die Pädagogin der glücklichen Kinder E-Book

Laura Baldini

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Beschreibung

»Die Pädagogin der glücklichen Kinder« | Historischer Roman über eine mutige Kinderärztin, die die Pädagogik revolutionierte Laura Baldinis fesselnder Roman über die junge Emmi Pikler (1902-1984), die unter den Nazis um ihr Leben fürchtete und von den Eltern ihrer Schützlinge gerettet wurde Wien, 1930er Jahre: Die frisch promovierte Emmi ist begeistert von den modernen Ansätzen der Kindermedizin, denn Ärzte, Analytiker und Pädagogen arbeiten zum Wohle der Kleinsten zusammen. Hier will sie ihre eigenen Ideen einer liebevollen Erziehung weiterentwickeln. Als sie ihren späteren Mann kennenlernt, scheint Emmis Glück vollkommen. Doch dann ergreifen die Nazis die Macht, und Emmi, die Jüdin ist, gerät in Lebensgefahr. Sie kann sich mit ihrer Tochter zur Familie eines »ihrer« Kinder retten. Aber niemand weiß, ob das Versteck sicher ist. Und ob Emmi ihren Mann je wiederfinden kann … Leserinnen von historischen Büchern können in dieser Romanbiografie das Schicksal der großen Kinderärztin Emmi Pikler entdecken. Das friedliche und erfüllte Zusammenleben von Eltern und Kindern war eines der zentralen Anliegen von Emmi Pikler. Früh erkannte sie, dass Kinder, die in den Vorstädten Wiens auf der Straße spielten und auf Bäume und Eisenbahnpuffer kletterten, viel seltener Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen hatten als Kinder aus wohlhabenden Familien, die sich ruhig verhalten und »benehmen« mussten.. Also fing sie an, die Bewegungsentwicklung von Kindern zu beobachten. Was Emmi Pikler vor hundert Jahren erforschte, hat heute mehr Relevanz denn je.  »Ein fesselnder Roman über eine mutige Frau, die für ihre bahnbrechenden Forschungen einstand und trotz starkem Gegenwind ihren Weg ging.« Der Sonntag Bedeutende Frauen, die die Welt verändern Mit den historischen Romanen unserer Reihe entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erzählen unsere Autor:innen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Annika Krummacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com, stock.adobe und alamy.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Budapest, Februar 1945

Budapest, Herbst 1920

Wien, Januar 1924

Wien, Herbst 1924

Wien, Frühling 1925

Semmering, Sommer 1925

Wien, Frühling 1927

Wien, Herbst 1929

Wien, September 1930

Triest, Oktober 1930

Wien, Frühjahr 1931

Triest, Herbst 1931

Budapest, Sommer 1932

Wien, Januar 1933

Budapest, Frühling 1933

Budapest, Sommer 1933

Budapest, Februar 1934

Budapest, Frühling 1934

Budapest, Sommer 1935

Budapest, Frühling 1936

Budapest, Frühsommer 1936

Budapest, Sommer 1936

Budapest, Herbst 1936

Budapest, Winter 1936

Budapest, Frühling 1938

Budapest, Herbst 1939

Budapest, Frühjahr 1940

Budapest, Herbst 1940

Budapest, Sommer 1941

Budapest, Herbst 1943

Budapest, Frühling 1944

Budapest, Sommer 1944

Budapest, April 1945

Budapest, Mai 1945

Budapest, Herbst 1945

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Budapest, Februar 1945

Der Wasserfleck an der Decke der Gefängniszelle schien über Nacht weiter gewachsen zu sein. Im schummrigen Licht der Glühbirne war auch zu sehen, wie die Schimmelflecken an den Wänden beständig größer wurden.

Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit György in dieses Gefängnis im Norden Ungarns verlegt worden war? Er und die beiden Männer, mit denen er sich die triste Zelle teilte, hatten längst aufgehört, kleine Striche in den abblätternden Putz der Zellenwand zu kratzen.

Tage waren zu Wochen, Wochen zu Monaten und schließlich Monate zu Jahren verschwommen. In der ganzen langen Zeit hatte György die Hoffnung niemals aufgegeben. Er war davon überzeugt gewesen, dass er die verhasste Zelle mit den unbequemen Stahlrohrbetten und den kratzigen, stinkenden Decken eines Tages wieder verlassen würde. Mit einem schier grenzenlosen Optimismus hatte er sich in Form gehalten, hatte jeden Tag Liegestütze, Strecksprünge und Klappmesser gemacht. Als Sportlehrer wusste er, was seinem Körper guttat. In den Bibliotheken der Gefängnisse, in denen er die letzten Jahre verbracht hatte, hatte er sich unterschiedlichste Bücher ausgeliehen, um auch seinem Gehirn Nahrung zu geben. Er hatte über die Gefahren von Wundbrand gelesen und über die Fortpflanzung von Blattläusen und Nacktschnecken. Mit seinem erworbenen Wissen hatte György seine Mitinsassen aufgeheitert und sie in Diskussionen verwickelt. Sein Ziel war es, die Gefangenschaft gesund zu überstehen. Wenn er seine Frau und seine Tochter wieder in die Arme schloss, wollte er ihnen nicht wie ein klappriger Greis gegenübertreten. Er war davon überzeugt, dass die Faschisten nicht ewig an der Macht bleiben würden und Hitler irgendwann die Kraft ausgehen würde. Es konnte nicht mehr lange dauern. Mit dem Einstieg der Amerikaner in den Krieg war klar, dass Deutschland irgendwann in die Knie gezwungen werden würde. Es war bloß eine Frage der Zeit.

Doch gestern war Györgys Zuversicht mit einem Schlag zerstört worden. Seither hatte die Angst ihn fest im Griff und umklammerte sein Herz wie eine eisige Faust.

»Genießt die letzte Nacht in der feudalen Unterkunft«, hatte der Gefängniswärter zu ihm und den beiden Mitgefangenen gesagt. Er machte kein Geheimnis aus seiner judenfeindlichen Einstellung. »Ab morgen werdet ihr drei mit einem Haufen anderer Juden losmarschieren.«

Die Männer wussten, was diese Worte bedeuteten, denn die Gerüchte darüber, wohin die Gefangenen gebracht werden sollten, waren bis ins Gefängnis gedrungen. Seitdem weinte Peter, der Jüngere der beiden, fast ununterbrochen, während Karel, der Ältere, mit leerem Blick an die Zellenwand starrte und beharrlich schwieg. Beide schienen mit dem Leben abgeschlossen zu haben.

Sie hatten gehört, dass alle Gefangenen zu Fuß nach Deutschland geschickt wurden. Ihr Ziel war eines der Vernichtungslager. Hitler konnte den Krieg nicht mehr gewinnen, doch die Nazis wollten so viele Juden wie möglich mit in den Untergang nehmen, als trügen diese die Schuld an der Niederlage des »Tausendjährigen Reichs«.

György starrte zum Wasserfleck an der Decke. Ein weiterer Tropfen hatte sich gebildet, der auf den Fliesenboden klatschte und in den undichten Fugen versickerte. Es war Györgys letzte Nacht in einem ungarischen Gefängnis. Diesen Moment hatte er sich anders vorgestellt – freudig und optimistisch. Er hatte gehofft, wieder mit seiner Familie vereint zu werden und sein früheres Leben fortführen zu können. Stattdessen drohte ihm jetzt der Tod. Noch nie war er so real gewesen.

Draußen herrschte eisige Kälte. Keiner der Gefangenen war ausreichend warm gekleidet, um den Marsch unversehrt zu überstehen. Die meisten Männer würden noch vor dem Ziel sterben. Die Lager waren alle weit weg. Unter den Gefängnisinsassen wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, wie die Nazis mit ihren Gegnern umgingen. György hatte ausreichend Fantasie, um sich den Rest selbst auszumalen. Diejenigen, die überhaupt bis zum Lager gelangten, würde man dort töten. Die Nazis waren gründlich. Wer auf ihren Listen stand, wurde erbarmungslos umgebracht. Es erschien György wie ein böser Zynismus, dass er ausgerechnet jetzt, da der Krieg fast zu Ende war, doch noch sterben musste.

Budapest, Herbst 1920

Die Straßen waren vom Regen der letzten Tage noch matschig, und in den Vertiefungen hatten sich Schlammpfützen gebildet. Doch zum ersten Mal seit einer Woche war der Himmel über Budapest wieder blau und wolkenlos. Die Sonne glitzerte auf den sanften Wellen der Donau, die die Stadt in die beiden Teile Buda und Pest teilte, und der Blick auf den Festungsberg mit der Matthiaskirche und dem imposanten Bau des Finanzministeriums war ungetrübt.

Während das altehrwürdige Buda im Glanz der herbstlichen Sonne erstrahlte, zeigte sich in Pest ein anderes Stadtbild. Im Stadtteil Taban, wo sich die Anlegestellen der »Donaudampfschiffahrtsgesellschaft« befanden, drängten sich am Abhang des Gellértbergs niedrige Lagerhallen. Die Gebäude hatten schon bessere Zeiten gesehen. Der Putz blätterte hier und dort ab, die Dächer hatten Löcher, und es stank nach Unrat. Ratten huschten über die unbefestigte Straße, die zum Frachthafen am Franz-Josefs-Kai führte.

Emmi und Eva versuchten, die braunen Pfützen auf dem Weg geschickt zu umrunden. Trotzdem versanken die Absätze ihrer Schuhe im weichen Untergrund und beschmutzten das teure Leder. Dem Jungen neben ihnen erging es noch schlimmer. Die Räder seines einfachen Handkarren steckten fest, und das kleine Fässchen mit Essiggurken, das er damit transportiert hatte, war auf die Straße gerollt. Zum Glück hatten die Metallringe die Dauben zusammengehalten, doch der Bursche fluchte trotzdem. Hätte es die Zeit zugelassen, hätten Emmi und Eva ihm ihre Hilfe angeboten. Aber so konnten sie ihm bloß mitleidige Blicke zuwerfen und an ihm vorbeilaufen. Sie waren spät dran. Bereits in einer Stunde sollte das Frachtschiff Richtung Wien ablegen.

»Wäre es nicht klüger gewesen, du hättest ein Personenschiff genommen?«, fragte Eva besorgt.

Emmi schüttelte entschieden den Kopf. Dabei rutschte ihr das kinnlange Haar in die Stirn, und sie schob es mit der freien Hand energisch zurück. Mit der anderen trug sie einen kleinen Reisekoffer, in dem sich alles befand, was sie für die nächsten Wochen benötigte. Es war nicht viel: zwei Kleider, Strümpfe, eine Strickjacke, Unterwäsche, ein Notizblock und Stifte.

»Das wäre zu riskant«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung, wann wieder ein Personenschiff Richtung Wien fährt. Die ersten Vorlesungen beginnen schon in drei Tagen.«

Im Juni hatte Emmi sich an der medizinischen Fakultät in Wien eingeschrieben, denn als Jüdin konnte sie in Budapest nicht studieren. Seit Miklós Horthy die linke Räteregierung unter Béla Kun mit Gewalt abgelöst und die Macht übernommen hatte, galten für Juden strenge Zulassungsbeschränkungen. Zahlreiche Wissenschaftler und Künstler hatten im letzten Jahr Ungarn verlassen. Es hatte eine wahre Auswandererwelle gegeben, deren Ende nicht in Sicht war. »Ich werde mir von diesem Herrn Horthy ganz gewiss nicht meine Zukunft verbauen lassen«, hatte Emmi gesagt und war im Juni in ihre Geburtsstadt Wien gereist, wo sie sich problemlos an der Universität hatte immatrikulieren können. Doch als sie wieder nach Budapest gekommen war, hatte man den Personenverkehr zwischen den beiden Städten fast vollständig eingestellt, weshalb es jetzt schwieriger war, außer Landes zu gelangen.

Ängstlich ergriff Eva Emmis Hand. »Ich mache mir Sorgen. Es ist nicht ungefährlich, illegal mit einem Frachtschiff zu reisen. Was passiert, wenn man dich erwischt? Oder wenn der Kapitän bloß das Geld von dir kassiert und dich dann an die Behörden ausliefert?«

Die beiden jungen Frauen verband seit Jahren eine enge Freundschaft. Sie hatten die Schulzeit gemeinsam gemeistert und sich durch alle Krisen ihres bisherigen Lebens begleitet. Eva war Emmi zur Seite gestanden, als diese mit nur zwölf Jahren ihre Mutter verloren hatte, und später, als Eva kleine Streitereien mit irgendwelchen Klassenkameradinnen gehabt hatte, war Emmi für sie da gewesen. Jetzt würden sich Emmis und Evas Wege zum ersten Mal trennen. Während Emmi nach Wien ging, würde Eva in Budapest Chemie studieren, denn sie war keine Jüdin und unterlag damit auch nicht dem Numerus clausus.

»Ach, das wird schon alles gut gehen«, versicherte Emmi und bemühte sich um ein sorgloses Lächeln. »Der Kapitän hat mir versprochen, dass ich sicher in Wien ankommen werde. Er wird mich gewiss nicht verraten oder den Behörden ausliefern.«

»Aber ich werde dich vermissen«, sagte Eva.

»Und ich dich erst«, antwortete Emmi.

Von ihrem Vater hatte sie sich schon am Vorabend verabschiedet. Er war stolz, dass sein einziges Kind Emmi in seine alte Heimat Wien zurückkehrte, um dort Ärztin zu werden. Vor vielen Jahren war er nach Budapest gegangen, wo er sich erfolgreich eine Existenz als Tischler aufgebaut hatte. Es war ihm gelungen, mit der Herstellung von Brotschiebern so viel Geld zu verdienen, dass er Emmi ein gutes Leben ermöglichen konnte. Der Abschied war Vater und Tochter überraschend leichtgefallen.

Ganz anders gestaltete sich die Trennung von der Freundin. Emmi spürte, wie sich Tränen ankündigten, doch sie hielt sie tapfer zurück. Mit dem Tod ihrer Mutter hatte sie gelernt, ihre Gefühle vor anderen zu verbergen. Es war ihr unangenehm gewesen, ständig zu erklären, dass sie einen tragischen Verlust hatte hinnehmen müssen. Inzwischen fiel es ihr leicht, gute Laune vorzutäuschen, auch wenn ihr elend zumute war. Niemals würde sie in der Öffentlichkeit weinen. Eva war aus weniger hartem Holz geschnitzt. Sie schniefte so laut, dass sogar die Hafenarbeiter, die ihnen entgegenkamen, sie voller Mitleid ansahen.

»Wien ist nicht aus der Welt«, beruhigte Emmi die Freundin. »Wenn du Sehnsucht nach mir hast, kommst du mich besuchen.«

»Du weißt, dass das so nicht stimmt und wir uns höchstens in den Ferien sehen können.«

»Und an langen Wochenenden oder einfach so, wenn uns danach ist«, entgegnete Emmi und bemühte sich um eine fröhliche Stimme, auch wenn Evas Traurigkeit ansteckend wirkte.

Mittlerweile hatten die beiden den Hafen erreicht. Mehrere Schiffe lagen hintereinander am Kai.

»Welches ist deins?«, fragte Eva. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und sah sich um.

»Das dahinten«, erklärte Emmi und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das hinterste Schiff. Es hatte Kohle gelagert, das in riesigen Haufen auf der Ladefläche lag.

»Wo um Himmels willen willst du da Platz finden?«, fragte Eva ungläubig.

»Ich werde schon irgendwo sitzen können«, versicherte Emmi. »Schließlich habe ich keine Luxusfahrt auf der Donau gebucht. Hauptsache, ich komme rasch nach Wien.«

Wenn alles nach Plan lief, würde sie schon morgen Abend bei der Familie ihrer Mutter sein. Emmi kannte die Verwandten nur flüchtig. Trotzdem hatte man nicht gezögert, sie aufzunehmen, als sie um Unterstützung gebeten hatte. Auf lange Sicht sollte Emmi bei einer ledigen Cousine der Mutter unterkommen, Tante Leopoldine, die derzeit im Salzkammergut auf Sommerfrische war. Sie würde in zwei Wochen wieder in Wien sein.

Eva zwang Emmi, den Koffer abzustellen. Dann nahm sie sie in den Arm und schluchzte laut. »Spätestens zu Allerheiligen bin ich bei dir! Ganz egal, was passiert. Wenn keine Züge fahren und die Personenschifffahrt eingestellt wird, setze ich mich auch auf so einen Haufen dreckiger Kohlen.«

»Oder du nimmst dein Fahrrad«, erwiderte Emmi lachend.

Eva liebte ihr Fahrrad, auch wenn es nach wie vor als skandalös galt, wenn Frauen damit herumfuhren. Doch diese Freiheit ließ sich Eva, die sonst nicht die Tapferste war, nicht nehmen.

»Gute Idee«, meinte Eva. »Entlang der Donau kann das nicht so lange dauern. Vielleicht wäre ich sogar schneller als so ein altes Frachtschiff.« Sie wischte sich erneut die Tränen aus den Augen. »Und du versprichst mir, dass du gut auf dich aufpasst.«

»Versprochen.«

»Und du schreibst mir, sobald du in Wien angekommen bist.«

»Es ist das Erste, was ich machen werde.«

»Und wenn es dir nicht gefällt, dann kommst du sofort wieder zurück nach Budapest.«

Emmi trat einen Schritt zurück und sah Eva ernst an. Eine blonde Strähne hatte sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst und hing der schmächtigen kleinen Freundin in die helle Stirn. Eva wirkte viel jünger, als sie tatsächlich war.

»Bitte mach dir keine Sorgen um mich«, bat Emmi. »Mir fällt es doch auch schwer, dich zu verlassen.«

»Den Eindruck habe ich nicht«, schniefte Eva.

»Was denkst du denn? Aber wenn ich Ärztin werden will, muss ich nach Wien gehen. Hier in Ungarn sind mir die Hände gebunden. Horthys Judenhass ist schier grenzenlos. Wenn er könnte, würde er uns alle des Landes verweisen.«

»Aber du kommst doch wieder zurück, oder?« Evas Stimme klang weinerlich.

»Ja, natürlich kehre ich zurück. Ich kann dich doch nicht alleinlassen.« Sie zwinkerte Eva aufmunternd zu. »So, und jetzt muss ich an Bord gehen!«

Bevor Emmi Gefahr lief, von Evas Gefühlen angesteckt zu werden, löste sie sich aus der Umarmung. Sie schnappte ihren Koffer, schickte der Freundin eine letzte Kusshand und lief dann zielstrebig auf das Frachtschiff zu, ohne sich umzudrehen. Auf keinen Fall wollte sie weinend das Schiff betreten.

Es gab keinen Grund zur Trauer. Emmi ging nach Wien. Seit dem Zerfall des Vielvölkerstaats war Wien mehr denn je ein Magnet für Wissenschaftler und Künstler aus allen Teilen der einstigen Habsburgermonarchie. Und Emmi würde dazugehören.

Geschickt kletterte sie über eine schmale Brücke aufs Schiff. Sobald sie den sicheren Boden des Hafens verlassen hatte, spürte sie, wie ein freudiges Kribbeln ihren Körper durchzog. Ihr Abenteuer hatte begonnen. Emmi konnte es kaum erwarten.

Wien, Januar 1924

Erbarmungslos schrill läutete der Wecker und riss Emmi aus ihren Träumen. So schnell es ihr müder Körper erlaubte, beendete sie das grelle Geräusch. Sie wollte Tante Poldi, bei der sie nun schon seit gut drei Jahren wohnte, nicht wecken. Die alleinstehende Frau schlief morgens gerne länger, da sie abends meist spät ins Bett ging. Sie war eine begeisterte Theaterbesucherin, aber auch Tanzveranstaltungen, Kabaretts und Konzerten gegenüber nicht abgeneigt. Ihre privilegierte finanzielle Lage erlaubte ihr Vergnügen dieser Art.

Ein Teil der Wiener Bevölkerung kämpfte auch gut fünf Jahre nach Kriegsende noch mit Armut und Arbeitslosigkeit, der große Hunger der ersten Nachkriegsjahre war jedoch für die meisten überstanden. Trotz hoher Inflation und herrschenden Mangels waren in Wien erste Ansätze einer Aufbruchsstimmung erkennbar. Grund dafür war das Trennungsgesetz vom Land Niederösterreich, das der roten Stadtregierung die Entscheidungsfreiheit über die Steuereinnahmen ermöglichte. Seither wurden große Pläne geschmiedet, um der sozialen Ungerechtigkeit die Stirn zu bieten. Das Geld sollte in den sozialen Wohnbau, in die Bildung und die Gesundheit der Bevölkerung investiert werden.

Eines dieser Vorzeigeprojekte sollte Emmi heute kennenlernen – im Rahmen ihres Praktikums in der neu gegründeten Heilpädagogischen Abteilung der Universitätsklinik im Allgemeinen Krankenhaus. Der Gedanke daran vertrieb mit einem Schlag ihre Müdigkeit. Sie rappelte sich im Bett auf und lauschte. Aus der Küche drangen bereits die ersten Geräusche. Tante Poldi war schon munter. Das konnte nicht an Emmis Wecker gelegen haben.

Sie zog die Decke weg und bereute es schon im nächsten Moment. Eisige Kälte schlug ihr entgegen. Tante Poldis Wohnung wurde über einen zentralen Kachelofen im Wohnzimmer geheizt. Dort herrschten auch nachts angenehme Temperaturen. Emmi hatte gestern Abend dummerweise vergessen, die Tür zu ihrem Zimmer offen zu lassen, damit etwas von der Wärme auch in ihr Zimmer gelangte. Jetzt bekam sie die Rechnung präsentiert.

Rasch sprang sie aus dem Bett. Auch der Parkettboden war eisig. Da half es nichts, sich auf den bunten orientalischen Teppich zu stellen, der unter dem kleinen Schreibtisch lag. Beim Anziehen stellte sie fest, dass auch ihre Kleidung klamm war vor Kälte. Ein Blick aus dem Fenster verriet den Grund. Es hatte letzte Nacht wieder angefangen zu schneien. Mindestens zwanzig Zentimeter Neuschnee waren gefallen, und noch immer rieselten dicke Flocken vom grauen Himmel. Emmi konnte sich nicht daran erinnern, in Budapest jemals so viel Schnee erlebt zu haben.

Als sie fertig angezogen war, ging sie ins Badezimmer. Tante Poldi hatte sich vor Jahren fließendes Wasser in die Wohnung leiten lassen. Ein Luxus, der den meisten Wienern fremd war. Leider war das Wasser, das aus der Leitung kam, eisig kalt. Heute fühlte es sich an, als wäre es gefroren. Emmi begnügte sich mit einer raschen Katzenwäsche. Mit einer Bürste kämmte sie ihren Pagenkopf, klemmte die vorderen Strähnen mit einer Haarspange aus der Stirn und begutachtete kritisch ihr Spiegelbild, doch sie war mit dem Ergebnis zufrieden.

In der Küche duftete es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und getoastetem Weißbrot.

»Guten Morgen«, begrüßte Emmi ihre Tante Poldi, die am Herd stand und gerade zwei Eier in eine Pfanne gleiten ließ. Sie trug einen flauschigen Morgenmantel und hatte ihr graues Haar nachlässig zusammengebunden.

Poldi galt in Emmis Familie als Enfant terrible. Sie hatte sehr früh sehr reich geheiratet, war aber nie schwanger geworden. Als ihr Ehemann schon drei Jahre nach der Hochzeit einer Lungenkrankheit zum Opfer gefallen war, hatte Poldi auf einen weiteren Bund der Ehe verzichtet. Sie hatte zwar eine Ausbildung zur Lehrerin gemacht, war aber nie im Lehramt tätig gewesen. »Warum sollte ich mich noch einmal an einen Mann binden oder mich den Regeln einer Schule unterwerfen?«, pflegte sie zu sagen. »Mein Leben ist perfekt, so wie es ist. Ich verfüge über genügend Geld, um das tun und lassen zu können, wonach mir der Sinn steht.« Wie es Poldi gelungen war, ihren Reichtum während des Krieges weiter auszubauen, wusste niemand so genau, und Emmi fragte nicht nach. Sie war froh, dass sie bei der unkonventionellen Tante ein Dach über dem Kopf gefunden hatte. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte Emmi so viele Freiheiten genossen wie bei Tante Poldi.

»Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt«, sagte Emmi.

»Aber nein. Ich habe mir extra den Wecker gestellt, damit ich dir vor Beginn deines ersten Praktikums ein ordentliches Frühstück richten kann.«

Tante Poldi schenkte Kaffee in ein Häferl und goss Milch dazu. »Hier, bitte!« Sie stellte die dampfende Tasse vor Emmi auf den Tisch.

»Das ist lieb von dir. Vielen Dank«, sagte Emmi gerührt. In den letzten Jahren war ihr immer wieder schmerzlich bewusst geworden, wie sehr sie ihre Mutter vermisste. Sie war viel zu früh gestorben, und zur älteren Cousine der Mutter, die der Vater dann ins Haus geholt hatte, um Emmi versorgt zu wissen, war nie eine warme Beziehung entstanden. Ganz anders war nun ihr Verhältnis zu Tante Poldi in Wien.

»Bist du sehr aufgeregt?«, fragte die Tante und setzte sich an den Tisch, nachdem sie für Emmi und sich je ein fertiges Spiegelei auf einen Teller geschoben und ein geröstetes Weißbrot vom Vortag dazugelegt hatte.

Emmi überlegte. Ursprünglich hatte sie sich für Frauenheilkunde interessiert, doch dann hatte sie sich für Kinderheilkunde entschieden. Maßgeblich dazu beigetragen hatte ein Vortrag von Dr. Pirquet, dem Leiter der Universitätskinderklinik des Allgemeinen Krankenhauses, in dem er die Heilpädagogische Abteilung vorgestellt hatte. Dort arbeiteten erstmals Ärzte, Pädagogen und Psychologen zusammen. Kinder, die lange Zeit auf der Station verbringen mussten, wurden nicht nur medizinisch versorgt, sondern erhielten auch Unterricht. Das war einzigartig in ganz Europa. Emmi freute sich darauf, Dr. Lazar zu begegnen, dem Leiter der Heilpädagogischen Abteilung. Ja, sie war ein wenig angespannt, aber es war eine freudige Aufregung.

»Ein bisschen«, gab sie zu.

»Du musst mir heute Abend alles über die Universitätskinderklinik erzählen«, bat Tante Poldi sie. »Meine Freundin Lili Roubiczek hat von der Heilpädagogischen Abteilung geschwärmt. Eines der Kinder, das sie in ihrem Kinderhaus betreut, musste ins Krankenhaus. Sie hat es dort besucht und war begeistert. Lili meinte, dass Kinder dort besser aufgehoben seien als in so manchem Kindergarten dieser Stadt.«

Offenbar hatte Emmi etwas ratlos ausgesehen, denn Tante Poldi schob gleich eine Erklärung hinterher: »Lili und ihre Freundin haben das Kinderhaus in der Troststraße gegründet. Es ist das erste Haus, in dem nach den Methoden von Maria Montessori gearbeitet wird.«

»Den Namen Maria Montessori habe ich noch nie gehört«, gab Emmi zu. Ihre Tante erzählte von so vielen interessanten Menschen aus ihrem Bekanntenkreis – Ärzten, Malern, Musikern –, dass Emmi sich nicht alle merken konnte. Manchmal hatte sie den Eindruck, als gäbe es nichts, wofür Tante Poldi sich nicht interessierte. Ihr Talent, Menschen einander vorzustellen und so für hilfreiche Verbindungen zu sorgen, war einzigartig.

»So genau weiß ich über die Italienerin auch nicht Bescheid«, räumte Tante Poldi ein. »Sie ist Ärztin und hat ein neues pädagogisches Konzept entwickelt. So hat es zumindest Lili erzählt.«

»Klingt interessant«, sagte Emmi.

»Ich muss Lili noch einmal genauer fragen«, meinte Tante Poldi nachdenklich. »Auf alle Fälle muss die Heilpädagogische Abteilung gut sein, wenn Lili davon begeistert ist. Sie hat einen sehr kritischen Blick. Außerdem habe ich gehört, dass Sigmund Freuds Tochter Anna dort vor Kurzem ein Praktikum absolviert hat.«

Emmi stopfte sich das letzte Stück Toast in den Mund und spülte mit Milchkaffee nach. Dann wischte sie sich mit der Serviette über den Mund.

»Deshalb freue ich mich ja so auf die Arbeit«, sagte sie. »Ich habe bis jetzt nur Gutes von der Abteilung gehört.«

»Ich kann mir vorstellen, dass viele Studenten in die Klinik wollten«, meinte Tante Poldi.

»Das stimmt. Ich hatte wirklich großes Glück«, bestätigte Emmi und warf einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand. In zwei Stunden musste sie in der Universitätsklinik sein. »Denkst du, dass heute die Straßenbahnen pünktlich fahren werden?«

Tante Poldi lachte. »Emmi, schau mal aus dem Fenster. Es liegt so viel Schnee, dass die Männer mit dem Schneeräumen gar nicht nachkommen.«

»Das heißt, ich sollte besser zu Fuß gehen?«

»Wenn du nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen willst, würde ich dir das dringend raten!«

Also machte sich Emmi mit doppelter Geschwindigkeit über ihr zweites Stück Toastbrot her. Das schmutzige Geschirr stellte sie in die Spüle. Noch bevor sie mit dem Abwasch anfangen konnte, hielt Tante Poldi sie zurück.

»Lass nur, ich mach das schon«, sagte sie. »Schau du lieber, dass du rechtzeitig in der Kinderklinik bist.«

»Du bist die Beste!« Emmi lief ins Vorzimmer, wo ihr dicker Wintermantel hing. Sie setzte ihre Mütze auf und griff nach Schal und Fäustlingen. Über die neuen Winterstiefel, die sie sich kurz nach Chanukka gekauft hatte, war sie heute besonders dankbar.

 

Genau wie Tante Poldi es vorhergesagt hatte, herrschte Chaos auf den Straßen. Kinder, die unterwegs in die Schule waren, bewarfen sich mit Schneebällen und genossen die weiße Pracht, die das Leben in der Stadt verlangsamte. Ihr fröhliches Lachen wurde ebenso gedämpft wie alle anderen Geräusche. Was des einen Freud, war des anderen Leid. Die Straßenfeger hatten ihre Besen gegen Schaufeln eintauschen müssen und bemühten sich redlich, die Gleise der Straßenbahnen frei zu bekommen. Ihr Erfolg war überschaubar, denn kaum war eine Strecke schneefrei, wurde sie schon wieder zugeschneit.

Emmi verzichtete lieber auf öffentliche Verkehrsmittel. Das Risiko, stecken zu bleiben, war einfach zu groß. Auf gar keinen Fall wollte sie am ersten Tag ihres Praktikums zu spät kommen. Tante Poldis Wohnung lag in der Taborstraße in der Nähe des Karmelitermarkts, einer Gegend, wo in den letzten Jahren der Anteil der jüdischen Bevölkerung gestiegen war. Nur die wenigsten von ihnen waren strenggläubig. Auch Tante Poldi und Emmi gingen nicht sonderlich oft in die Synagoge und aßen durchaus Gerichte, die nicht koscher waren. Nur an den traditionellen Feiern hielten sie fest. Der nächste Höhepunkt im Kalender war Purim, ein Fest, das Emmis Vater gerne als jüdischen Fasching bezeichnete.

Emmi stapfte Richtung Universität und versank dabei stellenweise knöcheltief im Schnee. Die Äste der Pappeln, die im Sommer für ausreichend Schatten sorgten, bogen sich unter der Last des nassen Schnees. Ein humpelnder Mann kam Emmi entgegen. Er stützte sich auf eine Krücke, eine Prothese ersetzte ein Bein. Mittlerweile hatte Emmi sich an den Anblick verstümmelter Männer gewöhnt. Der größte und schrecklichste Krieg aller Zeiten hatte eine ganze Generation von ihnen als Krüppel zurückgelassen. Wer körperlich unversehrt geblieben war, hatte seelische Narben davongetragen. Emmi hatte von Männern gehört, die nächtelang nicht schliefen oder schweißgebadet aus Albträumen aufschreckten, in denen sie sich wieder in einem Schützengraben befanden.

Sie ließ die trüben Gedanken hinter sich und überquerte den Ring. Der Prachtboulevard, der die Wiener Altstadt umschloss, war für gewöhnlich voll von flanierenden Passanten, Fuhrwerken und vereinzelten Automobilen, denen man eine große Zukunft voraussagte. Heute wirkte er geradezu verwaist. Nur hin und wieder kamen Emmi Fußgänger entgegen, die genau wie sie selbst auf die Tram verzichteten und zu Fuß zur Arbeit gingen. Die Bettler, die für gewöhnlich an der Mölkerbastei hockten, einem der letzten Überbleibsel der alten Stadtmauer, waren heute nicht gekommen. Emmi pflegte ihnen Wechselmünzen aus ihrem Portemonnaie in die verbeulten Blechdosen zu werfen. Sie hoffte inständig, dass die armen Menschen irgendwo ein trockenes Plätzchen gefunden hatten. Immer noch lebten viel zu viele Obdachlose auf den Straßen Wiens. Da halfen auch die Maßnahmen der Stadtregierung nichts. Es würde noch Jahre in Anspruch nehmen, bis alle Menschen mit bezahlbaren Wohnungen und ausreichend Arbeit versorgt waren.

Emmi zog den Schal enger um den Hals. Geschmolzene Schneeflocken hatten die Wolle durchnässt, sodass sie kaum noch wärmte. Gut, dass Emmi ihr Ziel bald erreicht hatte. Das Gebäude der Universitätsklinik lag bereits vor ihr.

Über die Stufen stapfte sie zum Eingang hinauf, schüttelte den Schnee von ihrem Mantel und marschierte zum Portier. Ein Mann mittleren Alters sah kurz von seiner Zeitung auf und musterte Emmi über den Rand seiner Brille hinweg. Der eine Ärmel steckte leer in der Sakkotasche. Noch bevor Emmi nach dem Weg fragen konnte, wies er mit der verbliebenen Hand zu den Stufen. »Dr. Lazar erwartet die Praktikanten vor seinem Büro.« Dann widmete er sich wieder seinem Artikel. Offenbar war Emmi nicht die erste Studentin, die heute von ihm hatte wissen wollen, wohin sie gehen sollte. Sie bedankte sich und stieg in den ersten Stock hinauf. Es roch nach Desinfektionsmittel, aber in einem viel dezenteren Ausmaß, als sie es aus anderen Krankenhäusern gewohnt war.

Über einen Gang gelangte sie zu einem Büro. Vor einer offenen Tür hatten sich bereits sechs junge Männer versammelt. Zwei davon kannte sie aus dem Anatomiekurs und winkte ihnen fröhlich zu. Hans, ein Student, mit dem sie im Sezierkurs zusammengearbeitet hatte, trat zu ihr.

»So ein Sauwetter«, schimpfte er. »Ich wäre beinahe zu spät gekommen. Die Tram ist stecken geblieben, und wir mussten alle aussteigen.«

»Ich habe gleich auf die Straßenbahn verzichtet und bin den ganzen Weg gelaufen.«

»Kluges Mädchen!«, kommentierte Hans grinsend.

Da trat ein kleiner, schlanker Mann im Arztkittel auf den Gang. Er zog eine Metallbrille aus der Manteltasche und setzte sie sich auf die spitze Nase. Freundlich sah er in die Runde.

»Wie schön, dass Sie es alle pünktlich geschafft haben«, sagte er und zog eine Taschenuhr aus der anderen Kitteltasche. »Da Sie alle hier sind, können wir gleich mit unserem Rundgang durch die Abteilung starten.« Er schob die Uhr zurück in die Tasche. »Aber erst einmal zeigt Fräulein Zak Ihnen die Garderobe. Dort können Sie Ihre Straßenkleidung ablegen. Wir haben Arbeitskittel für Sie vorbereitet.«

Eine hübsche junge Frau in Schwesterntracht, mit einem weißen Häubchen auf dem dunklen Haar, kam den Gang entlang. Sie hielt ein Klemmbrett im Arm und grüßte in die Runde.

»Guten Tag. Ich bin Viktorine Zak, die leitende Stationsschwester. Kommen Sie mit.« Sie winkte die Studenten mit sich und las im Gehen die Namen vor. Als sie bei Emmis Namen angelangt war, lächelte sie. »Ich nehme an, dass Sie Emmi Reich sind. Sie sind der einzige weibliche Praktikant.«

Emmi bejahte.

»Aber keine Angst, es gibt noch mehr Frauen in der Abteilung. Bei uns arbeiten neben den Pflegekräften auch zwei Ärztinnen«, erklärte Fräulein Zak stolz. »Das ist deutlich mehr als in allen anderen Abteilungen. Sie werden Frau Dr. Weiss und Frau Dr. Bruck bald kennenlernen.«

»Ich freue mich darauf«, sagte Emmi.

Sie hatten die Garderobe erreicht, wo alle ihre Mäntel ausziehen und in die vorbereiteten Arztkittel schlüpfen konnten. Dass hier auch weibliche Kollegen arbeiteten, hatte sich bei der Schneiderei noch nicht herumgesprochen. Die Ärmel waren für Emmi so lang, dass sie sie zweimal aufkrempeln musste, und auch an den Schultern war der Mantel deutlich zu breit. Sie kam sich vor wie ein Kind in der Kleidung des Vaters.

Viktorine Zak bemerkte ihr Unwohlsein. »Ich werde Frau Dr. Weiss bitten, Ihnen morgen einen ihrer Kittel zur Verfügung zu stellen«, sagte sie entschuldigend.

»Das ist sehr freundlich. Vielen Dank.«

In den weißen Kitteln ging es zurück zu Dr. Lazars Büro, wo für jeden Studenten ein Stuhl bereitstand. Emmi betrat den Raum als Letzte und musste sich ganz nach vorne setzen. Es war ihr nur recht. So verpasste sie keines von Dr. Lazars Worten. Der Arzt sprach sehr leise.

»Sie haben sich für ein Praktikum an der Universitätskinderklinik entschieden«, fing er an. »Diese Klinik wurde 1911 gegründet und wird seither von Dr. Pirquet geleitet.« Er räusperte sich. »Seit einigen Jahren gibt es an der Klinik eine Heilpädagogische Abteilung, der ich vorstehen darf. Der Name der Abteilung verrät auch schon die Besonderheit. Es ist ein Ort, an dem Ärzte, Pädagogen und Psychologen zusammenarbeiten.«

»Warum Pädagogen?«, fragte einer der Studenten.

»Die meisten Kinder, die wir betreuen, verbringen mehrere Wochen bei uns«, erklärte Dr. Lazar. »Wir haben festgestellt, dass es nicht reicht, sie medizinisch zu versorgen. Die Kinder müssen auch kognitiv gefordert werden. Sie erhalten bei uns ganz normalen Unterricht. Genau wie in den Schulen.«

»Aber sind sie denn dazu in der Lage, wenn sie doch krank sind?«, wollte ein anderer Student wissen.

»Ein gebrochenes Bein hindert einen nicht am Lernen.«

»Aber in Ihrer Abteilung befinden sich auch schwachsinnige Kinder. Wie und vor allem was sollen die lernen?«, widersprach der Student.

»Auch diese Kinder, oder besser gesagt gerade diese Kinder bedürfen einer speziellen Förderung. Während ein gesundes Kind selbstständig in einem Buch lesen kann, braucht ein schwachsinniges Kind unsere Unterstützung.«

»Und was machen die Psychologen?«, wollte der Student wissen. Unter dem offenen weißen Kittel trug er einen feinen Anzug. Die Schuhe waren aus feinstem Leder, und am Handgelenk prangte eine wertvolle Uhr. Sein zur Schau getragener Reichtum war nicht zu übersehen.

»Ich bin davon überzeugt, dass es exogene und endogene Wurzeln für Probleme aller Art gibt«, sagte Dr. Lazar. »Um zu erkennen, wo die Schwierigkeiten liegen, benötigen wir differenzierte Beobachtungen. Niemand kann das besser als unsere Kollegen aus der Psychologie.«

»Arbeiten etwa auch Psychoanalytiker bei Ihnen?« Der Student sprach das Wort wie eine Beschimpfung aus.

Neugierig drehte sich Emmi nun zu ihm um. Er war ihr schon in anderen Vorlesungen aufgefallen und hatte einmal sehr abfällige Bemerkungen über Juden gemacht. Über seine rechte Wange zog sich eine hässliche Narbe, wahrscheinlich das Ergebnis eines Initialrituals einer schlagenden Burschenschaft. Emmi hatte von diesen Bünden gehört, denen ausschließlich Männer angehörten.

»Ja«, sagte Dr. Lazar. »Ich schätze die Meinung der Kollegen. Es ist mir in den letzten Jahren gelungen, unseren Klinikleiter Dr. Pirquet davon zu überzeugen, dass eine Zusammenarbeit verschiedener Professionen befruchtend ist. Wir erzielen erfreuliche Ergebnisse.«

»Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die Psychoanalyse jüdischer Unsinn sei«, warf der Student ein.

»Noch vor hundert Jahren war man davon überzeugt, dass der Aderlass die einzig richtige Methode sei, Menschen zu heilen. Zum Glück entwickelt die Wissenschaft sich weiter.« Dr. Lazar klang immer noch freundlich.

»Aber birgt es nicht Gefahren, wenn so viele verschiedene Professionen an einem Patienten herumdoktern?«, beharrte der Student.

»Jeder neue Blickwinkel erweitert die Sicht und ermöglicht ein tieferes Verstehen«, widersprach Dr. Lazar ruhig. Seine Geduld war offenbar grenzenlos. Emmi hätte den Studenten an seiner Stelle schon längst in die Schranken gewiesen. »Wir halten wöchentlich einen runden Tisch ab. Bei diesen Besprechungen wird über jeden unserer kleinen Patienten gesprochen. Die Meinung unseres Pflegepersonals ist dabei ebenso wichtig wie die der Ärzte, der Pädagogen und der Psychologen.«

»Wie kann denn wohl eine Krankenschwester oder eine Lehrerin den Gesundheitszustand eines Kindes beurteilen?«, entgegnete der Student provokant.

Dr. Lazar schüttelte kaum merklich den Kopf. »Sobald Sie an einer unserer Besprechungen teilgenommen haben, werden Sie verstehen, was ich meine. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Kürzlich wurde ein Kind bei uns eingeliefert, das nicht redete. Es war in einer Pflegefamilie untergebracht gewesen. Man attestierte ihm eine schwere geistige Behinderung. Es starrte die ganze Zeit über an die Wand.«

»Also ein schwachsinniges Kind«, sagte der Student.

»Schwester Viktorine Zak beschäftigte sich mit dem Kind und fand heraus, dass es lesen und schreiben konnte.«

»Dann war es vielleicht bloß stumm«, schlug ein anderer Student vor.

»Die Frage ist doch: Was führte dazu, dass dieses Kind aufgehört hatte zu sprechen?« Dr. Lazar sah nun in die Runde.

»Die Stimmbänder wurden verletzt«, mutmaßte ein dritter Student.

»Eine Krankheit, die den Kehlkopf befallen hat«, riet ein anderer.

»Es sind nicht immer Krankheitserreger oder Unfälle, die zu körperlichen Symptomen führen«, erklärte Dr. Lazar. »Dr. Weiss, die auch Analytikerin ist, hat sich auf die Suche nach dem Übel begeben. Es hat sich herausgestellt, dass das Kind kurz vor Kriegsende eine schreckliche Gewaltszene mit ansehen musste. Die eigene Mutter war vor seinen Augen misshandelt und danach getötet worden. Es haben dem Kind schlicht die Worte gefehlt, um diese Bilder zu beschreiben.«

Für einen Moment schwiegen alle betreten.

Emmi war die Erste, die sich zu Wort meldete. »Hat das Kind seine Sprache wiedergefunden?«

»Es ist gerade dabei«, sagte Dr. Lazar und schenkte Emmi ein Lächeln. »So ein Prozess der Verarbeitung braucht seine Zeit. Was ich Ihnen mit diesem Beispiel sagen will: Die einfachste Lösung ist nicht immer die richtige. Um ein Krankheitsbild zu verstehen, muss man mehr untersuchen als bloß die nicht funktionierende Stelle im Körper. Wir betrachten unsere kleinen Patienten möglichst ganzheitlich.«

Fasziniert hing Emmi an den Lippen des Arztes. Alles, was er sagte, klang für sie plausibel.

»Es steht Ihnen allen frei, sich für eine andere Praktikumsstelle zu entscheiden«, meinte Dr. Lazar. »Wer hier mitarbeiten und von uns lernen will, der muss sich an unsere Regeln halten.«

Er wandte sich an den vorlauten Studenten. Doch statt zu widersprechen, hatte der seinen Kopf eingezogen und schwieg, tief über seinen Notizblock gebeugt.

»Fein«, sagte Dr. Lazar zufrieden. »Dann lade ich Sie alle zu einem Rundgang durch unsere Abteilung ein.«

 

Emmi war vom ersten Tag an von der Universitätsklinik begeistert. Ihr Praktikum in der Heilpädagogischen Abteilung glich einer abenteuerlichen Reise, auf der sie täglich etwas Neues dazulernte. Fasziniert saugte sie die Erklärungen von Dr. Lazar und Dr. Pirquet auf. Doch niemand in der Abteilung verstand es besser, die Kinder zu beobachten, als Viktorine Zak. Haargenau protokollierte die Krankenschwester das Verhalten der Kinder und trug ihre Beobachtungen in die wöchentlichen Besprechungen, an denen auch die Praktikanten teilnehmen durften. Jeden Tag wurde Emmi bewusster, dass man hier nicht nur Diagnosen stellte und die kleinen Patienten mit Medikamenten behandelte. Man war bemüht, die Kinder zu verstehen und dem auffälligen Verhalten auf den Grund zu gehen.

Nach einem der wöchentlichen runden Tische sagte Viktorine Zak zu Emmi: »Jedes Kind ist individuell. Es gibt einen ganz speziellen Schlüssel, der zu seinem Inneren führt und der uns hilft, es zu verstehen. Unsere Aufgabe ist es, diesen Schlüssel zu finden.«