Die Papageieninsel - Verena Ullmann - E-Book
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Die Papageieninsel E-Book

Verena Ullmann

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Beschreibung

Ein vielversprechendes Debüt über Vertrauen, Freiheit und Selbsterkenntnis

„Hannah muss ungefähr acht Jahre gewesen sein, da waren sie plötzlich da. An dem kleinen Haken an der Decke über ihrem Bett hatte man die beiden Papageien aus Stoff aufgehängt. Wenn sie nicht schlafen konnte, sprach sie mit ihnen und Coco und Lora gaben Antworten auf all ihre Fragen.“

Lange hatte sie nicht mehr an sie gedacht. Doch als sie nun als junge, aufstrebende Frau zur Fortbildung auf eine kleine Mittelmeerinsel geschickt wird, warten ungeahnte Herausforderungen auf sie. Und auf einmal sind sie wieder da, ihre zwei Papageien aus der Kindheit und helfen ihr, inmitten großer Selbstzweifel, Misstrauen und Leistungsdruck einen Weg zu finden, der sie frei werden lässt.

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Seitenzahl: 172

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Verena Ullmann

Die Papageieninsel

oder Von der Kunst,sich selbst zu finden

Roman

Diederichs

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Copyright © 2019 Diederichs Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: Weiss Werkstatt, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25149-9V001

www.diederichs-verlag.de

1

Hannah hasste es zu warten. Zwischen fremden Menschen herumzustehen. Die hektischen Finger an den Oberschenkeln, den nächsten Schritt im Kopf. Sie sah den Koffern zu, die nacheinander auf das Fließband knallten. Sie hatte den besten Platz erwischt. Hinter ihr schepperten Gepäckwagen suchend über gesprungene Fliesen. Es war ein kleiner Flughafen mit kurzen Wegen. Der Ausgang war vorne rechts ausgeschildert: Exit, in einen Leuchtkasten gesperrt mit Schmutz hinter den Buchstaben. Dort müsste sie jemand von CHL abholen. Das hoffte sie zumindest. Denn sie hatte keine Ahnung, wie sie von dort zur Firma finden sollte. Auf die Fortbildung war sie gespannt, aber hätte sie die nicht in Berlin machen können, wo auch ihr zukünftiger Arbeitsplatz sein würde? Sie war gerade erst umgezogen und hatte noch nicht einmal ihre Kartons auspacken können. Dabei wollte sie endlich ankommen und sich einleben. Ihr Stadtviertel entdecken, ein neues Lieblingscafé finden und sich einen neuen Freundeskreis aufbauen. Ohne den Gedanken im Hinterkopf, dass sie in ein, zwei Jahren wieder alle Zelte abbrechen müsste. Von Zwischenstationen hatte sie genug. Endlich konnte sie langfristig planen. Eine Flugreise war das Letzte gewesen, wonach ihr der Sinn stand. Die Personalerin am Telefon hatte sie letzte Woche völlig überrumpelt: »Für die Einarbeitungsphase haben wir Sie der Inselniederlassung zugeordnet«, hatte sie gesagt und ihr dann das Flugticket zugemailt. Weder von der Insel noch von diesem Flughafen hatte Hannah jemals etwas gehört. Auf der Firmenhomepage waren keinerlei Informationen über diesen Standort zu finden gewesen, was sie nun noch mehr beunruhigte. Sie fühlte sich an ihrem ersten Arbeitstag wie ins kalte Wasser geworfen und konnte nicht einmal die Wartezeit nutzen, um sich vorzubereiten. Sie checkte wiederholt ihr Smartphone, rief die E-Mails ab, aber es wurden keinerlei Benachrichtigungen angezeigt. Vielleicht hatte sie auch keinen Empfang. Ein Mann mit penetrantem Aftershave drängte sich neben sie ans Fließband. Hannah spannte die Arme an, um ihren Platz zu sichern. Aber der Mann, der viel größer und breiter war als sie, wich nicht zurück. Ihr Koffer rutschte aus der Luke, sie stürzte sich auf das Hartschalenungetüm, der Mann ebenso. Mit seinen kräftigen Fingern hob er ihn vom Fließband und stellte ihn vor sich ab. »Sorry, Miss. That’s mine«, sagte er, lächelte und zeigte ihr das Adressschild. Hannahs Name stand nicht darauf. Bevor sie ihre Kiefer lockern und eine Entschuldigung murmeln konnte, war der Mann mit ihrem Kofferdoppelgänger schon auf dem Weg zum Ausgang. Als sie ihm hinterherblickte, sah sie, dass auf seiner Schulter ein riesiger grüner Papagei saß.

***

Hannah steckt das Smartphone zurück in die Tasche und setzt sich hin. Sie versucht, sich zu entspannen, ertappt sich aber dabei, wie sie die Haut um ihre Fingernägel abzupft. Lass es, befiehlt sie sich und versteckt ihre Hände zwischen ihren Oberschenkeln. Seit fünf Minuten drehen vor ihr dieselben paar Gepäckstücke ihre Runden, wie die Gedanken in ihrem Kopf. Gedanken an die letzten Wochen. Die Probleme mit der Kündigungsfrist. Überstunden. Projektübergaben. Schwierige Kunden. Diskussionen. Überstunden. Permanenter Schlafmangel. Projektübergaben. Schwierige Kunden. Und dann noch der Umzug. Es kann nur besser werden, nicht wahr? Ein weiterer unnötiger Blick auf ihren Touchscreen. Nach und nach werden die Gepäckstücke vom Band gehoben. Ein Schwung neuer kommt hinzu. Ein Rucksack vollgestopft mit Fragen. Sollte ich jetzt nicht glücklich sein? Hab ich jetzt nicht endlich die Stelle bei CHL, von der ich immer träumte? Auf die ich jahrelang hingearbeitet habe? Aber viel Freude ist da nicht. Eine Tasche voll Angst wird heraufbefördert, die gegen das Metall donnert. Schwarze Koffer ziehen vorüber. Ich muss einen guten ersten Eindruck machen. Ich darf die Fehler vom letzten Mal nicht wiederholen, mich nicht so im Hintergrund halten. Ich muss Kontakte zu den richtigen Leuten knüpfen, schreibt Hannah auf ihre innere To-do-Liste. Dass sie mich genommen haben, heißt noch gar nichts. Ich muss was daraus machen. Ich werde das Beste daraus machen, dieses Mal und gleich die Fortbildung voll ausnutzen. Zwei Reisetaschen fallen von der Luke aufs Band. Aber glaubt man nicht immer, dass beim nächsten Mal alles besser wird? Aber warum glaubt man das? Und wie soll das gehen? Wenn man doch immer noch dieselbe ist … Die Haut an ihrem linken kleinen Finger brennt ein wenig. Ich werde an mir arbeiten müssen, in jeder Hinsicht, stellt Hannah fest und dann leider auch, dass keine weiteren Koffer mehr aus der Luke fallen.

***

»Was kann ich für Sie tun?« Die Frau mit dem gestreiften Halstuch lächelte, als wüsste sie nicht, dass die Leute meistens nur an ihren Schalter kamen, um sich zu beschweren.

Hannah legte ihr Flugticket vor.

»Mein Koffer war eben nicht dabei.« Sie fixierte die Frau, die einen kurzen Blick auf ihr Ticket warf, etwas in ihren Computer eintippte und dabei weiterlächelte, als hätte sie noch immer nicht begriffen, dass es ein Problem gab.

»Das tut uns sehr leid. Ich bin mir sicher, dass wir Ihren Koffer schnell finden werden. Und dann lassen wir ihn sofort zu Ihrer Unterkunft bringen. Tragen Sie hier bitte Ihren Namen, Ihre Kontaktdaten und die Adresse Ihrer Unterkunft ein.«

Hannah zögerte, das Formular entgegenzunehmen.

»Was heißt ›schnell‹?«, fragte sie. »Wissen Sie, ich brauche den Koffer wirklich dringend!«

»In spätestens ein bis zwei Tagen haben Sie ihn zurück. Das kann ich Ihnen versichern.«

Ein bis zwei Tage. Hannahs Magen zog sich zusammen. Sie drehte sich um, um für kurze Zeit das Lächeln der Servicekraft aus dem Blickfeld verschwinden zu lassen. Sie atmete ein, ohne dass wirklich Luft in ihre Lunge kam. Ein bis zwei Tage ohne alles! Sie wandte sich wieder der Frau zu.

»Und wo … wo ist mein Koffer jetzt? Ich meine, ich habe ihn in Berlin aufgegeben … die Koffer der anderen Passagiere sind doch auch hier angekommen … wie kann das sein?«

»Es tut uns sehr leid. Wir werden uns darum kümmern.« Mit ihren manikürten Fingern schob sie Hannah noch einmal das Formular entgegen. Hannah presste ausgefranste Großbuchstaben und Ziffern in die Kästchen. Der Kugelschreiber schmierte. Natürlich schmierte er! Nichts in diesem Flughafen funktionierte, dachte Hannah und knallte den Stift auf die Theke. Aber die Anspannung verschwand nicht, sondern wurde größer. Plötzlich schämte sie sich ein wenig. Die Frau am Schalter machte schließlich nur ihren Job. Sie konnte nichts dafür, dass Hannah auf diese Insel musste. »Tut mir leid. Vielen Dank«, sagte Hannah, steckte ihr Ticket zurück in ihre Handtasche und ging.

***

Ihr Koffer. Eine ehemalige Kollegin hatte ihr das Modell empfohlen. Groß, aber leicht zu schieben. Sie hatte Stunden gebraucht, ihn zu packen. An der Gardinenstange hatte sie ihre Blusen aufgereiht. Die bewährten, eher unscheinbaren, die sich gut kombinieren ließen, neben den extravaganteren, die sie letzte Woche erst bestellt hatte. Die Seidenbluse war für den ersten Arbeitstag reserviert. Nur die, mit langen Ärmeln? Die Büros würden sicher klimatisiert sein, überlegte sie. Freizeitkleidung würde sie nicht brauchen. Zwei Wochen sind nicht viel. Trotzdem: Lieber zu viele Blazer als zu wenige. Sie wollte nicht den Anschein erwecken, als würde sie nur einen besitzen. Brauchte sie das Reisebügeleisen? Die Schuhe nahmen so viel Platz weg. Die Stilettos stellte sie wieder in den Schrank. Zu aggressiv. Die neuen Pumps aus Mailand mussten auf jeden Fall mit. Bei den Ballerinas zögerte sie wieder. Sie waren unglaublich bequem, aber schon ausgetreten. Nein, sie durfte gar nicht erst in die Versuchung kommen, sich damit zu zeigen. Laptoptasche und Kosmetiktasche standen bereit. Ionen-Föhn und Paddel-Bürste. Gürtel, Armbanduhr, Ohrringe und Halskette. Eine in Gold. Die in Silber auch? Sie musste sich die neuen Pumps noch einmal ansehen. Brauchte sie eine Sonnenbrille oder sah das zu sehr nach Urlaub aus? Vielleicht, wenn im Handgepäck noch Platz war. Sie schrieb, um den Gedanken loszuwerden »Sonnenbrille? Regenschirm?« auf den Zettel, der auf dem Esszimmertisch lag:

Ladegerät!

Müll raus

Schlüssel

***

»HANNAHKAHL, CHL«. Das Schild mit ihrem Namen war nicht zu übersehen, gehalten von einer Frau um die Fünfzig. Hannah straffte ihre Schultern, hob den Kopf. Es ging los. Ihr Lächeln fühlte sich an, als wäre es von der Angestellten der Fluglinie auf sie übergesprungen. »Guten Tag, Frau Kahl! Ich bin Frau Bergé-Patt von CHL. Hatten Sie einen guten Flug? Ja? Folgen Sie mir!« Hannah musterte ihr maßgeschneidertes Kostüm und den energischen, federnden Gang. Wahrscheinlich gehörte sie zu den bewundernswerten Menschen, deren ruhige Hände immer wussten, wo ihr Platz war. Hände, die nicht herabhingen, sich ständig umentschieden oder etwas zum Festhalten brauchten. Vielleicht war sie ihre neue Vorgesetzte, die sie hier höchstpersönlich abholte, dachte Hannah. Sie spürte, wie die Ränder ihrer neuen Lederpumps auf der Haut scheuerten. Ihre Füße fühlten sich nach dem Flug geschwollen und klebrig an. Dazu der unebene Fliesenboden des Terminals. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, Schritt zu halten. »Entschuldigen Sie, Frau Bergé-Patt, dass ich so spät dran bin, aber es gab ein Problem mit meinem Koffer. Ich müsste vielleicht noch ein paar Dinge besorgen und …« Frau Bergé-Patt wandte sich zu ihr um und lächelte. Auf ihren Wangen zeichneten sich kleine Grübchen ab. »Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Kahl, das passiert hier immer wieder! Spätestens in zwei Tagen ist Ihr Koffer wieder da, und in der Zwischenzeit versorgen wir Sie mit allem, was Sie brauchen«, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die Hannahs Zweifel in Luft auflösten. Hannah kannte diese Frau nur ein paar Sekunden und verspürte schon den Wunsch, ein wenig wie sie zu sein.

Draußen waren es fünfunddreißig Grad. Die heiße Luft flimmerte. Hannah zog ihren Blazer aus, bevor sie in das Auto stieg. Ein alter Ford Fiesta. Frau Bergé-Patt strich über das Lenkrad, warf die Plastikflaschen, die vor dem Beifahrersitz lagen, nach hinten zu den übrigen, die den Fußraum der Rücksitzbank füllten. Am Innenspiegel baumelte ein Anhänger aus zerrupften roten Federn. »In fünf Minuten sind wir schon auf der Fähre, und die Überfahrt dauert dann noch einmal zwanzig Minuten«, erklärte sie. Hannah spürte, wie sich Schweißtropfen an ihrem Haaransatz bildeten. Die Lüftung war auf ihrer Seite kaputt. Entlang des Flughafengebäudes standen blank polierte Taxis, die bestimmt eine funktionierende Klimaanlage hatten. »Freuen Sie sich schon auf die kommenden sechs Monate?«, fragte die Fahrerin. »Sechs Monate? Nein, also ich bin nur zwei Wochen hier. Für die Einarbeitung«, erklärte Hannah.

»Ach ja? Als was haben Sie sich denn beworben?«

»Junior Consultant«, erwiderte Hannah, und Frau Bergé-Patt lachte unerwartet laut. »Das sagen sie alle.« Darauf wusste Hannah nichts zu antworten. Sie betrachtete die vertrockneten Sträucher, die an ihrem Fenster vorbeizogen. Wenn es ein Witz gewesen sein sollte, fand sie ihn nicht lustig. Sie hatte lange gebraucht, um eine neue Stelle zu finden, die ihr langfristig eine Perspektive bot. Dass es dann tatsächlich CHL in Berlin geworden war, hatte sie erst einmal verdauen müssen. Ihre Schwester war unglaublich stolz auf sie gewesen, als sie es erfahren hatte, und die Neuigkeit sofort sämtlichen Verwandten und Bekannten erzählt. »Jetzt hast du es endlich geschafft!«, hatte sie gesagt.

Aber kaum hatte Hannah den Arbeitsvertrag unterschrieben, kamen ihr die ersten Zweifel. War es wirklich das, was sie wollte? War sie den Anforderungen überhaupt gewachsen?

Jetzt, in diesem stickigen, zugemüllten Ford Fiesta, mit den ersten scheinbar unbedachten Worten, die aus Frau Bergé-Patts Mund kamen, war Hannah fast ein bisschen erleichtert, dass nicht nur sie selbst unzureichend vorbereitet war. Zwei Wochen, hatte die Frau aus der Personalabteilung gesagt, da war sie sich sicher.

Sobald sie auf der Fähre geparkt hatten, stieg Hannah aus dem Auto, stellte sich an die Reling und atmete die Meeresluft ein, die ihr die verschwitzten Haare über die Schultern wehte. Frau Bergé-Patt tat es ihr gleich. Für einen kurzen Augenblick vergaß Hannah, warum sie hier war und dass sie eigentlich gar nicht hier sein wollte. Sie betrachtete die Wellen, die an der Fähre vorbeizogen.

»Wie lange arbeiten Sie schon bei CHL?«, fragte Hannah Frau Bergé-Patt.

»Bald zehn Jahre.«

»In welchen Niederlassungen waren Sie? Auch in Berlin?«

»Um Gottes willen, nein! Ich war von Anfang an hier auf der Insel, und hier werde ich auch bis zur Rente bleiben. Falls ich überhaupt jemals in Rente gehe.« Kleine Lachfältchen bildeten sich um ihre Augen.

Dann war sie wohl tatsächlich für die Einarbeitung zuständig, folgerte Hannah. Oder war sie im Personalwesen tätig? Sie traute sich nicht, danach zu fragen. Vielleicht hatte sie es am Flughafen erwähnt, und Hannah hatte es überhört, weil sie sich darauf konzentriert hatte, ihren eigenen Namen zu sagen und sich den umständlichen von Frau Bergé-Patt zu merken.

Dann kramte Frau Bergé-Patt ein kleines Notizbuch aus der Innentasche ihres Jacketts, in dem sie furchtbar schwitzen musste.

»Was frühstücken Sie gerne?«, fragte sie Hannah »Dann nehme ich gleich die Bestellung auf.«

»Die Bestellung?«

»Ja. Kaffee oder Tee? Orangensaft? Belegte Brote? Süß oder herzhaft? Müsli mit Milch oder Joghurt? Obst haben wir natürlich auch. Oder ein Ei? Ich muss doch wissen, was ich Ihnen morgen ans Bett bringen soll!«

Hannah versuchte, ihre Irritation mit einem Lächeln zu überspielen.

»O. k. Also ich hätte gerne einen Kaffee, schwarz, mit Zucker. Ein Brötchen mit Butter und Marmelade. Und einen Apfel.«

»In Ordnung«, sagte Frau Bergé-Patt und notierte es in ihrem Büchlein. »Wenn Sie mal etwas anderes möchten, brauche ich das schriftlich von Ihnen. Ach, ich hatte Ihnen meine Karte noch nicht gegeben. Das tut mir leid!«

Sie zog eine Visitenkarte zwischen den Seiten des Notizbuches hervor und überreichte sie Hannah:

Heidrun Bergé-Patt

Frühstücksservice und Fahrdienst

CHL GmbH

»Oh, Danke schön! Eine ungewöhnliche Kombination …«, rutschte es Hannah heraus.

»Finden Sie?« Frau Bergé-Patt sah sie erstaunt an. »Vor dem Frühstück fährt doch niemand irgendwohin, oder?«

»Nein, also so hab ich das noch gar nicht betrachtet«, ruderte Hannah zurück.

War das ihr Ernst? Oder ein seltsamer Scherz mit falschen Visitenkarten, um Neuankömmlinge zu veräppeln? Aber warum sollte sie das tun? Hannah beschloss, eine höfliche Distanz zu Frau Bergé-Patt zu wahren. Sobald man ihr auf der Insel ihre neuen Kollegen vorstellen wird, würde sie bestimmt schnell Anschluss finden.

Frau Bergé-Patt lehnte sich gegen die Reling und blätterte in ihrem Notizbuch.

Charly:

Kaffee, Milch, Zucker

Rührei, 2 Toast, Butter

Ab 6:30 Uhr

Clarissa:

Grüner Tee Cappuccino, Zucker

Müsli (klassisch), Joghurt (natur) Milch

kleiner Obstsalat

Ab 8:30 Uhr

Hatte ihr Clarissa nicht noch einmal geschrieben, wegen der Milch?

(fettarm)

ergänzte sie in Klammern.

Sie drehte das Notizbuch und schlug es von hinten auf.

Hannah: 2

schrieb sie in die nächste Zeile. Zwei Monate könnte die Neue durchhalten, wenn überhaupt. Länger als Lena wahrscheinlich. Nicht so lange wie dieser Sven oder Clarissa, davon war Frau Bergé-Patt überzeugt. Eine Zeit lang hatte sie mit Paolo Wetten darüber abgeschlossen. Aber Paolo wollte nicht mehr wetten, er fand es irgendwie unangebracht. Jetzt trug sie ihre Schätzungen nur noch diskret in ihr Notizbuch ein. Sie meinte es nicht böse. Sie war froh um jeden, der blieb. Aber manche waren einfach nicht ambitioniert genug, um zurechtzukommen. Und manche waren zu ambitioniert. Bei Hannah tippte sie auf Letzteres. Frau Bergé-Patt stützte sich wieder auf die Reling und lächelte, während sie den Sonnenuntergang betrachtete. Die Insel kam immer näher. Ihre Insel. Sie liebte das Ruckeln, wenn sie mit dem Fiesta über den Kies bretterte. Den Duft der Feigenbäume vor ihrem Bungalow. Das Lärmen der Zikaden nachts vor ihrem Fenster. Für sie war die Insel der schönste Ort auf Erden. Sie würde niemals verstehen, wie man dieses kleine Paradies freiwillig verlassen konnte.

2

»Reception« stand auf dem kleinen kastenförmigen Gebäude, als hätte es einst zu einem billigen Hotel oder einem Campingplatz gehört. Online hatte Hannah immer nur das imposante Berliner CHL-Gebäude gesehen. Aus Glas und Stahl mit roten Emblemen. Sie zögerte, als sie durch die Schwingtür trat. Die langgezogene Theke war in einem ockerfarbenen Ton lackiert und glänzte, als wäre sie aus Plastik und nicht aus Holz. An der Wand hing ein Schlüsselbrett in derselben scheußlichen Farbe. Hinter der Theke saß ein Mann in ihrem Alter, der sie über seine kleine runde Brille hinweg ansah.

»Guten Tag, mein Name ist Hannah Kahl. Ich …«

»Hallo, Hannah! Ich bin Paolo. Willkommen auf unserer wunderschönen Insel! Kannst du bitte dort drüben Platz nehmen?«

Hannah stutzte. Warum hatte er sie gerade geduzt? Wusste er nicht, wer sie war? Aber er hatte doch ihren Namen genannt! Er zeigte auf den abgenutzten Stoffsessel gegenüber, der zwischen zwei Topfpflanzen stand. Seine Stimme klang zart, und seine Locken sahen aus, als hätte er sie morgens alle einzeln drapiert. Hannah setzte sich auf ihren Thron zwischen den Palmen. Immerhin war sie alleine hier, und das Gespräch würde bestimmt nicht lange dauern. Sie überlegte, was auf seiner Visitenkarte stehen könnte. Paolo Irgendwas, Rezeption und Palmenzucht. Oder Rezeption und Hair Stylist. Sie unterdrückte ein Schmunzeln. An der Decke surrte ein Ventilator. Paolo legte einen Schlüssel und eine schwarze Schachtel auf die glänzende Fläche. Dann nahm er hinter der Theke Platz. Hannah konnte nicht sehen, was er dort tat. Sie hörte Papier rascheln. Vielleicht füllte er irgendwelche Formulare aus. Er wirkte konzentriert, fast angespannt. Und immer wieder blickte er auf und lugte über seinen Brillenrand und die Theke hinweg, als müsste er überprüfen, ob sie noch da war.

Paolo spitzte seinen Bleistift. Er nahm seine Arbeit ernst. Er wusste, dass er ihr nirgendwo so ungestört und ausgiebig nachgehen konnte wie hier auf dieser Insel. Dieser paradiesische Ort, der sehr klein war und ihm dennoch jeden Tag viele neue Eindrücke bot. Dafür war er unglaublich dankbar. Und trotzdem machte er sich immer noch Sorgen. Sorgen, nicht gut genug zu sein. Nicht gut genug für die Welt außerhalb der Insel. Und so spürte er, wie sich die Insel langsam von einer Zuflucht in ein Gefängnis verwandelte. Wie wird es hier wohl für die Neue sein?, fragte er sich. Was wird sie hier finden?

***

Hannah hat das Gefühl, in dem durchgesessenen Sessel zu versinken. Jetzt spürt sie, wie erschöpft sie ist. Ihr Körper entspannt sich zum ersten Mal seit Wochen und scheint mit dem roten Stoff zu verschmelzen. Ihre Finger geben Ruhe. Ihre Füße kühlen ab. Immer wieder fallen ihre Augen zu, ihr Kopf kippt nach vorne. Sie reißt ihn wieder nach oben, öffnet mühsam ihre Augen zu zwei Schlitzen, sucht Paolo hinter der verschwommenen Theke. Den Schlaf schmeckt sie schon auf ihrer Zunge. Ich darf nicht einschlafen!, sagt sie sich. Ich bin doch gerade erst angekommen. Zuerst muss ich einchecken, mir frische Kleidung besorgen und eine Zahnbürste. Ich muss dringend duschen. Ich muss mir alles erklären lassen. Ich muss mich auf die Fortbildung vorbereiten, die morgen beginnt. Ich muss, denkt sie, ich muss und muss noch so viel. So viel denken und so viel tun. Dann kippt ihr Kopf nach hinten auf die Lehne. Sie lauscht dem Surren des Ventilators. Doch da ist noch etwas anderes. Ein Rauschen, das anschwillt und wieder nachlässt, das geht und kommt. Das Meer, denkt sie, da draußen ist das Meer. Sie hört das Wellenrauschen immer deutlicher, als würde sie am Strand sitzen. Als würden die Wellen an den Strand schwappen und ihre Füße umspülen. Sie atmet die salzige Luft ein, spürt den Wind in ihrem Gesicht. Und der Wind trägt ein weiteres Geräusch mit sich … ein Flattern. Eilige, kraftvolle Flügelschläge, die sich ihr nähern. Hannah fühlt, wie sich in ihrem Innersten Worte loslösen. Zwei Namen, die langsam aufsteigen und die ihre Lippen schon zu formen versuchen, bevor Hannah überhaupt versteht, was sie bedeuteten: Coco, flüstert sie. Lora. Dann fällt sie in einen tiefen Schlaf.

***

Hannah schreckte hoch. Sie war tatsächlich im Sessel eingeschlafen. Jemand hatte sie mit einer Wolldecke zugedeckt. Draußen war es schon wieder hell. Paolo saß hinter der Theke. Er hatte ein anderes T-Shirt an. »Wie spät ist es?«, rief sie und sprang auf.

»Keine Ahnung«, antwortete Paolo »Ungefähr halb zehn.« Hatte sie tatsächlich über zwölf Stunden hier geschlafen? Hannah konnte es nicht fassen.

»Warum haben Sie mich nicht aufgeweckt? Sie können mich doch nicht hier einfach … sitzen lassen!«

Hannahs Herz raste. Unter ihren Armen hatten sich große Schweißflecken gebildet. Sie wühlte in ihrer Handtasche, suchte nach ihrem Deo. Bis ihr einfiel, dass es in der Kosmetiktasche war. Im Koffer. Ihr Koffer!

»Du hast heute frei«, sagte Paolo.

»Frei? O. k., aber trotzdem! Ich kann doch nicht hier … oh Gott!«