3,99 €
Die Papiermacherin (399) Alfred Bekker und Silke Bekker schrieben als Conny Walden. Der Umfang dieses Buchs entspricht 444 Taschenbuchseiten. Eine leidenschaftliche Liebesgeschichte zwischen zwei Welten. Um 1000 nach Christus in West-China: Eine Gruppe Papiermacher wird von Uiguren verschleppt und Richtung Westen gebracht. Unter ihnen sind auch Meister Wang und seine hübsche Tochter Li. In Samarkand lernt Li den sächsischen Ritter Arnulf von Ellingen kennen, der von der Papiermacherin sogleich fasziniert ist. Zwischen den beiden entfaltet sich eine leidenschaftliche Liebe. Doch als Arnulf Opfer einer Intrige wird, müssen beide fliehen, und eine abenteuerliche Reise über Venedig bis nach Magdeburg beginnt …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Die Papiermacherin: Historischer Roman
Alfred Bekker
Published by Alfred Bekker, 2021.
Title Page
Die Papiermacherin
Copyright
Erstes Kapitel: Der Stoff, der die Gedanken trägt
Zweites Kapitel: Gefangen und verschleppt
Drittes Kapitel: Arnulf von Ellingen
Viertes Kapitel: Steppenwind
Fünftes Kapitel: Auf dem Weg in die Stadt der Bücher
Sechstes Kapitel: Am Hof des Kaisers
Siebtes Kapitel: Der Prinz von Samarkand
Achtes Kapitel: Ein Ritter aus Saxland
Neuntes Kapitel: Eine Warnung
Zehntes Kapitel: Ritt in die Eisenberge
Elftes Kapitel: Ein weiter Weg nach Westen
Zwölftes Kapitel: Nach Bagdad
Dreizehntes Kapitel: Die Heilige Stadt
Vierzehntes Kapitel: Neue Wege
Fünfzehntes Kapitel: Konstantinopel
Sechzehntes Kapitel: Li
Siebzehntes Kapitel: Belagert
Achtzehntes Kapitel: Zweikampf
Neunzehntes Kapitel: Geständnisse und Wendungen
Zwanzigstes Kapitel: Verrat und Intrige
Einundzwanzigstes Kapitel: Papiere
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Venedig
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Ein neuer Anfang
Vierundzwanzigstes Kapitel: Eine kalte Zeit
Fünfundzwanzigstes Kapitel: Nach Magdeburg
Epilog
Sign up for Alfred Bekker's Mailing List
Further Reading: Die Bernsteinhändlerin
About the Author
About the Publisher
Alfred Bekker und Silke Bekker schrieben als Conny Walden
Der Umfang dieses Buchs entspricht 444 Taschenbuchseiten.
Eine leidenschaftliche Liebesgeschichte zwischen zwei Welten.
Um 1000 nach Christus in West-China: Eine Gruppe Papiermacher wird von Uiguren verschleppt und Richtung Westen gebracht. Unter ihnen sind auch Meister Wang und seine hübsche Tochter Li. In Samarkand lernt Li den sächsischen Ritter Arnulf von Ellingen kennen, der von der Papiermacherin sogleich fasziniert ist. Zwischen den beiden entfaltet sich eine leidenschaftliche Liebe. Doch als Arnulf Opfer einer Intrige wird, müssen beide fliehen, und eine abenteuerliche Reise über Venedig bis nach Magdeburg beginnt ...
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
COVER STEVE MAYER
© 2010 by Alfred Bekker und Silke Bekker. Die Originalausgabe erschien im 2011 Goldmann Verlag unter dem Pseudonym Conny Walden.
© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
––––––––
Alles kann durch Nicht-Handeln bewegt werden.
Lao-she
Li strich sich mit einer schnellen, nervösen Geste die einzelne blauschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur herausgestohlen hatte. Die junge Frau hielt den Blick gesenkt und wirkte äußerlich vollkommen ruhig. Doch in ihrem Inneren herrschte ein Höchstmaß an Anspannung. Es bringt nichts ein, wenn der Bauer versucht, die Regenwolken zu beschleunigen, um genug Wasser für den Reisanbau zu haben!, erinnerte sie sich an eine Weisheit aus einem der aus feinstem Seidenpapier zusammengehefteten Bücher, deren Seiten von kunstfertigen Kalligrafen mit den Worten ehrwürdiger Weiser beschrieben worden waren. Manchmal gab es kleine Zeichnungen, die diese Sinnsprüche illustrierten. Bilder, die oft nur aus wenigen Strichen bestanden und auf den ersten Blick wie beiläufig dahingezeichnet aussahen. Doch ein zweiter Blick offenbarte stets das außerordentliche Können, das den Herstellern solcher Bücher eigen war.
Kein Wunder, dass solche Schriften mitunter ein Vermögen kosteten, wenn man nicht gerade in freundschaftlicher oder verwandtschaftlicher Beziehung zu jemandem stand, der diese Kunst beherrschte.
Li versuchte ihren Atem ruhig und stetig werden zu lassen, um auf diese Weise ihrer inneren Unruhe besser Herr zu werden.
Der Blick ihrer dunklen Mandelaugen, die genau in der Mitte eines feingeschnittenen, ebenmäßigen Gesichts lagen, war auf einen ernst dreinblickenden Mann gerichtet, dessen zu einem Zopf geflochtenes Haar bereits grau durchwirkt war. Dieser Mann war ihr Vater. Sein Name war Wang und er galt als einer der besten Papiermacher weit und breit. Kaum jemand verstand diese Kunst so wie er, kannte das Geheimnis, wie heftig die Stoffe zu Brei zerstampft werden mussten, aus denen dann der Stoff des Geistes und der Schrift werden konnte – Papier! Das Schöpfsieb zu handhaben, erforderte viel Übung und Geschick und selbst wenn die Blätter dann gepresst wurden, konnte man beim Lösen der Drehpresse noch alles verderben.
Wang nahm eines der fertig getrockneten Blätter empor und hielt es gegen das, durch das offene Fenster herein scheinende Sonnenlicht. Schließlich nickte der Meister und auf seinem bis dahin sehr streng wirkenden Gesicht erschien ein beinahe entspannter Zug.
Wang drehte den Kopf und sah seine Tochter an.
„Du bist eine gelehrige Schülerin gewesen“, sagte er. „Ich kann dir nichts mehr beibringen. Alles, was du jetzt noch zu lernen hast, wird die Erfahrung der Jahre bringen.“
„Ich danke dir für deine Worte“, sagte Li – unendlich erleichtert darüber, dass die Blätter, die sie angefertigt hatte, dem strengen Blick von Meister Wang standgehalten hatten. Ein verhaltenes Lächeln spielte um ihre Lippen. Das Gesicht ihres Vaters aber blieb ernst. Der Blick wirkte in sich gekehrt. Nachdem Lis Mutter vor Jahren der Seuche anheim gefallen war, die Seidenhändler aus Xingqing in die Gegend brachten, hatte Li ihren Vater nie wieder wirklich unbeschwert erlebt. Fast die Hälfte der Bevölkerung in der kleinen Stadt am äußersten westlichen Rand des Reiches Xi Xia hatte das Fieber hinweg gerafft. Darunter auch zwei von Lis insgesamt drei Brüdern. Der dritte Bruder war dann bei einem Überfall einer uigurischen Räuberbande ums Leben gekommen. Gold und Seide flossen seit langer Zeit die Seidenstraße entlang. In letzter Zeit war vor allem der Handel mit Pferden hinzugekommen, denn das Reich des im fernen Bian regierenden Kaisers wurde ständig von Aufständen bedroht. Dementsprechend groß war dort der Bedarf der widerstreitenden Mächte an Reittieren. Doch nach Pferden, Gold und Seide gierte es auch andere.
Der Handel an der Seidenstraße hatte auch dem Papiermacher Wang und seiner Familie Wohlstand gebracht. Da, wo Verträge geschlossen, Warenlisten aufgeschrieben und Wechsel ausgestellt wurden, brauchte man diesen besonderen Stoff fast so dringend wie die Handelsware selbst. Papier trug die Verse der Weisen aus Tibet, die Suren des Koran oder die Heilige Schrift der Nestorianer, die den Glauben an Jesus Christus bis an die Grenzen des Reichs der Mitte gebracht hatten, genauso wie Zahlen und Liefertermine. Überall waren daher die Künste der Papiermacher ebenso gefragt wie jene von Schreibern und Übersetzern.
„Die Kunst, die ich dich gelehrt habe, ist mehr wert, als ein Klumpen Gold oder ein großer Besitz“, sagte Wang an seine Tochter gewandt. „Besitz kann man dir nehmen, dein Wissen aber nicht. Die Zeiten sind unsicher und der Reichtum zieht die Räuber an wie das Licht die Motten. Aber niemand kann dir deine Fertigkeit in der Kunst des Papiermachens nehmen, die ich in deine Seele gepflanzt habe, so wie es mein Vater bei mir getan hat. Denk immer daran: Wissen und Können sind nicht nur dein wertvollster Besitz, sondern wohl auch der Einzige, den du mit Sicherheit behalten wirst, bis deine Seele zu den Ahnen gegangen ist.“
„Ich werde dieses Wissen immer in Ehren halten“, versprach Li.
„Du weißt, dass ich aus Erfahrung spreche“, fuhr Wang fort. Der Respekt gegenüber ihrem Vater verbot es Li, darauf hinzuweisen, dass sie diese Geschichte schon dutzendfach zu hören bekommen und ihre Lektion gewiss längst daraus gelernt hatte. „Du warst noch ein Säugling, als wir die Hauptstadt verlassen mussten“, fuhr Wang fort. „Aber es kommt mir manchmal vor, als sei es erst gestern gewesen... Eine gutgehende Papierherstellung gehörte mir und ich ließ zwanzig Gesellen für mich arbeiten!“ Wenn Wang von der Hauptstadt sprach, dann meinte er keineswegs die Hauptstadt von Xi Xia, sondern das ferne Bian, wo die Söhne des Himmels das Reich der Mitte regierten. „Der Kaiserhof und die Verwaltung hatten einen so hohen Bedarf an frischem Papier, dass man sich das hier, am Rand der zivilisierten Welt, gar nicht vorzustellen vermag“, erklärte Wang. „Und es gab so viele abgelegte Seidengewänder, die man verwenden konnte – hier dagegen müssen wir ja oft genug alle möglichen Lumpen zerstampfen und wie du weißt, mengen einige meiner wenig ehrenhaften Konkurrenten sogar getrocknetes Gesträuch, Holzspäne und Stroh in den Papierbrei, was man den Blättern später auch ansieht! Ja, manche Blätter riechen sogar nach Hühnermist, Kamelhaaren und Dingen, die so unrein sind, dass ich mir gar nicht erst vorzustellen versuche, wie unsere edle Kunst da im wahrsten Sinn des Wortes in den Schmutz gezogen worden ist.“ Wang machte eine wegwerfende Handbewegung und verzog angewidert das Gesicht. Allein der Gedanke, dass auf solch unreines Papier womöglich heilige Gebete oder hohe Poesie geschrieben wurden, erschien ihm wohl wie eine unerträgliche Entweihung. Nie wurde er müde, sich über solchen Frevel am sauber ausgeführten Handwerk aufzuregen. Dann schüttelte er den Kopf und sein Gesichtsausdruck bekam einen Zug von Melancholie. „Ich hätte in Bian mein Lebtag ein gutes Auskommen haben können und wahrscheinlich hätte ich am Ende meiner Tage jedem meiner Söhne eine eigene Papiermanufaktur vererben und jeder meiner Töchter eine reichliche Mitgift hinterlassen...“ Wang ersparte es Li dieses Mal, sich das damalige Verhängnis noch einmal in aller Ausführlichkeit berichten lassen zu müssen. Ein Verhängnis, das mit der Machtergreifung eines Militärgouverneurs begann, der sich zum Kaiser aufgeschwungen hatte. Durch die Denunziation eines Konkurrenten war Wang auf eine Liste unliebsamer Personen gekommen. Nur die rasche Flucht hatte ihm und seiner Familie das Leben gerettet. Sein ehemaliger Besitz war in die Hände des Staates gelangt. Alles hatte er zurücklassen und hier, im äußersten Westen neu angefangen.
Xi Xia gehörte von Rechts wegen zwar auch noch zum Reich des Himmelssohnes, aber faktisch war das Gebiet unabhängig. Hier hatte Wang ein sichere Zukunft für seine Familie erhofft.
Doch diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt.
Seine Frau und seine Söhne waren tot – und die Manufaktur, die Wang betrieb, hatte nur drei angestellte Gesellen. Zweimal hatte Wang sie wieder aufbauen müssen. Einmal nach einem großen Feuer und ein anderes Mal nach einem Überfall von Steppenräubern. „Am Ende mit leeren Händen vor die Ahnen zu treten – das wünsche ich niemandem!“, murmelte Wang vor sich hin. Li wusste, dass er in diesem Augenblick mehr zu sich selbst, als zu ihr sprach.
––––––––
Von draußen waren jetzt aufgeregte Stimmen zu hören. Einer der Gesellen aus der Manufaktur stürzte herein. „Reiter kommen! Es sind viele! Sie tragen Fackeln!“
„Bei allen Göttern!“, murmelte Wang und das Gesicht des Papiermachers wurde bleich. „Verschließt Fenster und Türen!“, rief er und fasste dann den Gesellen bei den Schultern. „Sind die Türen und Läden der Werkstatt verschlossen, Gao?“
„Es wird uns nichts nützen!“, fürchtete der Geselle.
Li eilte zum Fenster und schob den schweren Vorhang zur Seite. Das Donnern der Hufe war bereits unüberhörbar. Schreie gellten. Es waren von heiseren Männerstimmen ausgestoßene Befehle und Li verstand zumindest ein paar Bruchstücke davon.
„Uiguren!“, stieß sie hervor.
In Xi Xia lebten Tanguten, Uiguren und Angehörige des Han-Volkes aus dem Reich der Mitte seit jeher mehr oder weniger friedlich zusammen. Auf den Märkten dominierten diese drei Sprachen zusammen mit dem Persischen und Li war daher von klein auf mit dem Uigurischen in Berührung gekommen, viele der Händler und Karawanenführer sprachen einen der uigurischen Dialekte und man sagte, dass es fast unmöglich war, ein Pferd oder ein Kamel zu einem gerechten Preis zu erhandeln, wenn man dieser Sprache nicht mächtig war.
Li hatte immerhin genug davon aufgeschnappt, um sich einigermaßen verständigen zu können, so wie sie auch etwas Persisch verstand. Andernfalls hätte sie auf dem Markt keinen Handel abschließen können, denn kaum einer der Händler konnte sich gut genug in der Zunge des Han-Volks ausdrücken.
Mindestens hundert Reiter preschten die Hauptstraße entlang, in der sich fast alle Häuser des Ortes und die Stallungen der Karawansereien wie an einer Perlenkette aufreihten. Eine Schutzmauer aus angespitzten Palisaden umschloss zumindest den inneren Bereich des Ortes, der um eine Wasserstelle herum angelegt worden war.
Meister Wangs Haus lag ebenso wie die Manufaktur außerhalb dieses geschützten Bereichs. Normalerweise zog man sich bei Gefahr hinter die Palisaden zurück – doch dazu war es angesichts der Plötzlichkeit, mit der die Reiter aufgetaucht waren, zu spät. Die ersten Häuser brannten bereits. Die Angreifer schleuderten ihre pechgetränkten Fackeln auf die Dächer, die sofort Feuer fingen. Die tangutischen Wächter waren völlig unvorbereitet. Sie wurden schnell niedergekämpft. Ihre Todesschreie mischten sich mit dem Prasseln der Flammen und dem panischen Stimmengewirr derer, die doch versuchten, hinter die Palisaden zu gelangen. Doch dort versuchte man gerade die Tore zu schließen.
Von den Brustwehren aus empfing die Angreifer ein Pfeilhagel. Einige der Uiguren wurden aus den Sätteln geholt, aber noch ehe die tangutischen Bogenschützen ihren zweiten oder dritten Pfeil eingelegt hatten, kämpften die ersten Angreifer bereits die Wächter am Tor nieder und preschten in den inneren Bereich.
Die ersten Uiguren hatten auch das Haus von Meister Wang erreicht. Im Vorbeipreschen warf einer von ihnen eine Fackel durch das Fenster, ehe Li die Läden hatte schließen können.
Die Fackel rollte über den Boden. Die Flammen erfassten einen Vorhang und papierenen Wandschmuck. Der Inhalt einer Öllampe entzündete sich und es dauerte nur Augenblicke bis dichter Qualm entstand.
„Hinaus!“, hörte sie den heiseren, hustenden Ruf ihres Vaters. Sie sah seine Gestalt durch den dichten Rauch taumeln, dann eine zweite – den Lehrling Gao.
Das ist ihr Ziel, durchfuhr es Li mit bitterer Wut im Herzen. Sie wollen uns ins Freie treiben... Uns und das Vieh!
Der Qualm biss Li in den Augen. Zusammen mit ihrem Vater und dem Lehrling Gao stürzten sie wenige Augenblicke später zur Tür hinaus ins Freie, wo sie die Uiguren bereits in Empfang nahmen. „Los, schneller!“, rief einer von ihnen in schlechtem, akzentschweren Chinesisch, um dann allerdings gleich in einen Uiguren-Dialekt zu wechseln. „Raus mit euch! Oder wir schneiden euch gleich die Kehlen durch!“ Das Gesicht des Uiguren wurde durch eine Narbe gezeichnet, die sich von der linken Augenbraue diagonal über das gesamte Gesicht bis zum rechten Mundwinkel zog. Ein Schwertstreich musste ihm das Gesicht auf diese Weise entstellt haben. Er trug einen Helm, dem man noch ansehen konnte, dass das Falken-Abzeichen des Herrschers von Xi Xia grob entfernt worden war – ein Abzeichen, wie es die Außenposten und Kundschafter trugen, deren Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, rechtzeitig vor einem Überfall zu warnen.
Doch dazu waren jene Männer wohl einfach nicht mehr gekommen. Mochten die Götter wissen, wo jetzt die Aasfresser an ihren Gebeinen nagten. Ihre Ausrüstung hatten die Uiguren offenbar unter sich aufgeteilt.
Wang stieß unterdessen einen Schrei des Entsetzens aus, als er sah, dass seine Werkstatt in hellen Flammen stand. Einer der Männer war ins Innere eingedrungen und kehrte jetzt mit einem Schöpfsieb zurück, bei dem er sich wohl nicht so recht im klaren war, ob es irgend einen Wert besaß.
Er warf es schließlich achtlos in den Staub, als ein Reiter heranpreschte und ihm etwas zurief. Li verstand die Worte sinngemäß. Offenbar hatten die Uiguren es geschafft, den Stadtkommandanten gefangen zu nehmen.
Die Männer hoben die Arme hoch und stießen wilde Freudenschreie aus.
„Das gibt ein hohes Lösegeld“, rief der Mann mit der Narbe.
Li atmete tief durch. Darum ging es dieser Bande also in erster Linie: Lösegeld. Wer reich oder mächtig oder noch besser beides gleichzeitig war, für dessen Freiheit würde viel Silber gezahlt werden und er hatte eine gute Aussicht, bald schon unversehrt zurückkehren zu können. Das Schicksal der anderen war dagegen völlig ungewiss.
Für uns wird niemand zahlen!, dachte Li resignierend.
––––––––
Die Kämpfe innerhalb der Befestigung waren abgeflaut. Hier und da war noch das Wimmern von verletzten Tanguten zu hören. Die Uiguren erstachen sie, um ihnen ungestört Waffen, Stiefel und Brustharnische abnehmen zu können.
Zusammen mit den Pferden wurden Li, ihr Vater und der Geselle Gao auf den Platz vor dem Palisadentor getrieben. Rinder und Hühner liefen dort ebenfalls herum und einer der Uigurenkrieger regte sich darüber auf, dass auch unreine und für Muslime ungenießbare Schweine sich hier tummelten.
Der Narbengesichtige trat auf Li zu, packte sie grob am Handgelenk und entriss ihr Armreifen und Kette. Beides ließ er nach kurzer Begutachtung in den Taschen seines Lederwamses verschwinden. Dann fasste er Li grob am Kinn, bog ihren Kopf zur Seite. Durch den Druck seiner Finger auf ihre Wangen zwang er sie dazu den Mund zu öffnen, sodass er ihre Zähne sehen konnte. „Du siehst hübsch aus“, sagte er. „Mit etwas Glück können wir dich gut verkaufen.“ Dann stieß er sie so grob vorwärts, dass sie zu Boden fiel.
Ihr Vater wollte ihr helfen, und machte ein paar schnelle, entschlossene Schritte auf den Narbigen zu, so als wollte er sich auf ihn stürzen. Aber ein anderer Uigure hielt ihm die Spitze seines Schwertes an die Kehle. „Vorsicht!“, stieß der Uigure grimmig hervor. „Ich werde dich Respekt lehren!“
Er hob sein Schwert und holte aus.
„Lass ihn!“, hielt ihn die Stimme des Narbigen auf.
Irritiert senkte der andere Uigure seine Klinge. „Wieso hast du Mitleid mit einem wie dem? Er hat mich doch angreifen wollen!“
„Mein Vater wollte mich nur schützen!“, mischte Li sich ein.
Der Mann mit der Narbe achtete jedoch nicht weiter auf die junge Frau. Er deutete auf die Werkstatt, aus deren Fenstern jetzt dunkle Rauchsäulen herausquollen. „Gehört dir die Werkstatt?“, fragte er in barbarischem Chinesisch.
„Ja.“
„Dann bist du einer, der den Stoff macht, auf dem die gemalten Worte stehen!“
„Ja, so ist es.“
„Gepriesen sei Allah!“, stieß er hervor und er sandte dabei einen Blick in Richtung des Himmels. Er deutete auf das Schöpfsieb, das zuvor achtlos in den Staub geworfen worden war. „Dann gehört dir das?“
„Ja“, nickte Wang.
„Beim Propheten, ich habe deinesgleichen schon dabei zugesehen, wie ihr das Papier schöpft, auch wenn ich nicht verstanden habe, was man eigentlich dazu tun muss. Aber egal, so einen wie dich brauche ich!“ Der Mann mit der Narbe hob das Sieb auf und warf es Wang zu. Dieser fing es auf. „Mag sein, dass du die Worte des Propheten nicht zu lesen vermagst, aber Allah wird sehen, dass ich dabei geholfen habe, sein Buch zu verbreiten, indem ich diesen schlitzäugigen Heiden gefangennahm! Wir nehmen alle mit, die zu dir gehören, Mann! Und dein Sieb nimm mit dir – denn du wirst schon sehr bald beweisen müssen, dass du die Wahrheit gesprochen und mich nicht angelogen hast!“ Er bedachte Wang mit einem abschätzigen Blick und wandte sich anschließend an jenen Krieger, der Wang gerade noch den Kopf hatte abschlagen wollen. „Pass auf diesen Mann besonders gut auf und krümme ihm und allen, die für ihn arbeiten, kein Haar, Mahmut!“
„Wie du befiehlst, Herr!“, gab Mahmut etwas irritiert zurück.
Der Mann mit der Narbe klopfte ihm heftig auf die Schulter. „In Samarkand und Buchara schreiben persische Gelehrte angeblich jeden Tag ein Buch! Sie diktieren ganzen Heerscharen von Kalligraphen ihre Weisheiten und füllen Bibliotheken, die so unsagbar groß sind, dass Allah es einem einfachen Mann wie mir nicht gestattet, sich das wirklich vorstellen zu können! Man braucht dort so dringend Papier wie das Wasser zum Trinken und ich habe gehört, dass man einen guten Preis für einen Papiermacher erzielen kann, der sein Handwerk versteht!“
„Allah hat dir Weisheit gegeben, Herr!“, meinte Mahmut unterwürfig. Offenbar gehörte er zu der noch kleinen, aber immer zahlreicher werdenden Gruppe unter den Uiguren, die den Worten des Koran folgten, während gemeinhin der Glaube des Mani an einen immerwährenden Kampf zwischen dem Licht und der Dunkelheit unter den Uiguren am meisten verbreitet war. Mahmuts Haltung straffte sich etwas. Er hob den Blick und sah abwartend zu seinem Anführer.
Der Narbengesichtige machte eine ausholende Geste und rief den in der Nähe befindlichen Männern zu: „Es muss noch mehr Papiermacher hier geben. Findet sie alle! Man wird uns ihr Gewicht in Silber aufwiegen!“
„Wir sollten allerdings trotzdem so schnell wie möglich von hier verschwinden, Toruk!“, meinte Mahmut. „Der Kaiser von Xi Xia wird Jagd auf uns machen, bis wir die Grenzen seiner Herrschaft hinter uns gelassen haben!“
Toruk, der Narbengesichtige, lachte heiser auf. „Der Kaiser von Xi Xia ist ein armseliger Narr, der anscheinend glaubt, dass er sich nur denselben Titel zu geben braucht wie der Herr des Reichs der Mitte. Aber bei der Weisheit des Propheten Mani! Ein Sohn des Himmels wird dieser tangutische Emporkömmling nie werden – und vor seiner armseligen Macht braucht auch niemand zu zittern!“ Toruk wandte sich noch einmal Wang zu. „Zeig uns, mit wem du dein Handwerk verrichtest!“, forderte er. „Na los!“
Wang deutete auf Gao. „Das ist mein Geselle und meine Tochter Li habe auch auch in die Geheimnisse dieser Kunst eingewiesen. Sie hat den Grad meisterlicher Vollkommenheit bereits erreicht.“
Toruks Blick wanderte zu der jungen Frau. Li gefiel die Art und Weise nicht, wie der Uigure sie ansah. Sein Gesicht verzog sich.
„Bist du noch Jungfrau?“, fragte er.
„Ja, Herr“, antwortete sie.
„Auch dafür ließe sich ein guter Preis erzielen! Wir werden sehen, für welches deiner Talente das Gebot höher ist!“
Die Uiguren nahmen nichts mit, was sich nicht auf dem Rücken eines Pferdes hieven ließ. Die erbeuteten Pferde wurden zusammengetrieben und zu einem Gutteil mit Waren und Silbervorräten der Fellhändler beladen. Sämtliche Sättel, die man auftreiben konnte, wurden anderen Gäulen auf den Rücken geschnallt.
„Vater, was wird jetzt?“, fragte Li, während sich all das vor ihr abspielte.
„Was nun geschieht, haben wir nicht in der Hand“, sagte der Papiermacher mit einer äußeren Gelassenheit, die Li nicht in derselben Weise aufzubringen vermochte. Furcht vor der Ungewissheit schnürte ihr die Kehle zu. Als Konkubine irgendeines der ungezählten Klein-Khane an der Seidenstraße verkauft zu werden, war nun wirklich nicht das, was sie sich für ihr Leben vorgestellt hatte. Aber zur Arbeit in einen fernen, unzivilisierten Ort fortgeschafft zu werden, war ebenfalls keine rosige Aussicht. Li hörte nicht zum ersten Mal davon, dass begehrte Handwerker von Räuberbanden verschleppt wurden, um an weit entfernten Orten, an denen an ihrer besonderen Kunst ein Mangel bestand, zu dienen. Begabte Waffenschmiede gehörten ebenso dazu wie Baumeister oder Rechenkünstler. Normalerweise gelang es keinem von ihnen jemals in seine Heimat zurückzukehren und darüber, wie es ihnen in der Fremde erging, konnte man nur Vermutungen anstellen.
Li wurde auf ein Pferd gesetzt. Da ihr Kleid zum Reiten eigentlich nicht geeignet war, schlitzte der Uigurenkrieger, der ihr in den Sattel half, es kurzerhand mit seinem Schwert ein Stück auf.
Innerhalb von weniger als einer Stunde hatten die Uiguren alles auf den Rücken von Pferden gebracht, was sie mitzunehmen gedachten – Menschen und Waren. Ohnmächtig vor Wut stand so mancher Händler da, der hilflos mitansehen musste, wie seine Waren fortgeschafft wurden. Allerdings nur der Teil, der sich problemlos mitnehmen ließ. Krüge und andere zerbrechliche Gegenstände zerschlugen die fremden Reiter manchmal aus purem Mutwillen.
Allerdings wagte es niemand, sich zu wehren. Die Händler - die meisten von ihnen Perser – konnten froh sein, wenn man sie nicht für reich hielt, sodass es vielleicht lohnte, sie zu verschleppen und ein Lösegeld zu fordern.
Dieses Schicksal ereilte hingegen mehrere Dutzend Angehörige der angesehensten Familien. Die Uiguren nahmen immer nur ein Familienmitglied gefangen und gingen bei der Einschätzung des Reichtums der jeweiligen Familie schlicht nach der Ausstattung des jeweiligen Hauses oder der Art der Kleidung.
Li klammerte sich am Sattelknauf fest. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf dem Rücken eines Pferdes saß, denn hin und wieder war sie mit ihrem Vater oder dessen Gesellen die Nachbarorte abgeritten, um Lumpen aufzukaufen. Lumpen, die man zerstampfen und aus denen man schließlich den kostbaren Stoff fertigen konnten, der Gedanke und Gesetze trug und dessen ganz besondere Magie es sogar ermöglichte, dass er sich fliegend in die Lüfte erhob – vorausgesetzt man wusste ihn richtig zu falten und die Windgeister waren einem gnädig.
Auch die anderen Gefangenen wurden auf Pferde gesetzt. Sie zu fesseln schien man nicht für nötig zu halten. Schließlich war keiner von ihnen bewaffnet.
Darüber hinaus wurde jedes dieser gefangenen Pferde noch mit Gepäck behängt, darunter waren gepökeltes Fleisch, Felle, Decken und was den Uiguren sonst noch wertvoll erschien. Nur Waffen, Schmuck und Silbermünzen hielten Toruk und seine Männer von den Gefangenen fern. Gürtel und farbige Gewänder, die den Reitern gefielen und den ein oder anderen Zierdolch nahmen die berittenen Krieger sofort an sich. Dann preschte die Horde davon. Zurück blieben zahllose Tote. Wen die Uiguren von der tangutischen Stadtwache noch lebend aufgefunden hatten, war umgebracht worden. Schließlich wollte man verhindern, dass sie in Kürze verfolgt werden.
Die Zurückbleibenden waren waffenlose Händler und verzweifelte Angehörige der Verschleppten, die nun zusehen mussten, ein Lösegeld aufzutreiben. Und das, nachdem man gerade vollkommen ausgeplündert worden war! Wer keine reichen Verwandten andernorts hatte, für den sahen die Aussichten für eine Rückkehr schlecht aus.
Der Ritt war so scharf, dass Li Mühe hatte, sich im Sattel zu halten. Sie war völlig verkrampft und klammerte sich mit alle Kraft am Knauf fest. Die Uiguren nahmen die Pferde mit den Gefangenen in ihre Mitte. Es war keineswegs ausgeschlossen, dass diese dreisten Diebe, sich soeben genau die Pferde zurückholten, die sie zuvor auf dem Pferdemarkt feilgeboten hatten.
Li war sich nicht sicher, aber sie glaubte zumindest einen der Reiter wiederzuerkennen. Er ritt ganz in ihrer Nähe, hatte eine ledrige Haut, die von einem Faltenrelief durchzogen wurde. Das Haar war grau durchwirkt und sein Mantel wurde von einer messingfarbenen Spange zusammengehalten, die die Form eines gleichschenkligen Dreiecks besaß.
Das Zeichen der Manichäer!, erkannte Li. Dieser Glaube war selbst in die Kernlande des Reichs der Mitte vorgedrungen, wo seine Missionare behaupteten, der Prophet Mani sei nicht nur der Vollender der Lehre Jesu Christi gewesen, sondern auch eine Wiedergeburt des Weisen Lao-she. Li hatte sich von dem Eiferertum, das man unter den Anhängern Manis so häufig finden konnte, immer abgestoßen gefühlt. Aber all die strengen Regeln und die rigide Moral, der sich die Mani-Gläubigen unterwarfen, hielten sie offenbar nicht davon ab, sich als Räuber und Mörder zu betätigen. Raub und Handel waren für diese Nomaden ohnehin nur zwei Seiten ein und derselben Medaille.
––––––––
Den ganzen Tag über ritten sie ununterbrochen – abgesehen von einer kurzen Rast, die an einem Wasserloch eingelegt wurde.
Sie passierten stetig steiler werdende Anhöhen und erreichten schließlich ein gebirgiges Land, in dem der Boden immer steiniger und karger wurde.
Das Tempo, mit dem bisher die Pferde vorwärts getrieben worden waren, wurde etwas gemäßigter. Man stellte sich offenbar auf eine weite Reise ein und wollte die Tiere nicht zu Schanden hetzen. Li hielt sich in der Nähe ihres Vaters, und versuchte, sich nicht zu weit von ihm zu entfernen, soweit das möglich war, ohne bei den Uiguren Aufsehen zu erregen.
„Der Mann mit der Narbe – Toruk! Er scheint der Anführer zu sein“, sagte Li, als sie zwischenzeitlich etwas langsamer ritten, um die Pferde zu schonen. Die uigurischen Reiter hatten ein sehr feines Gespür dafür, wie viel sie ihren Reittieren zumuten konnten.
Wang nickte. „Ja, er könnte der Mann sein, den man anderswo auch den narbigen Schlächter nennt“, meinte er. „Der dicke Perser aus Samarkand hat mir davon berichtet, als ich ihm das Papier für seine Lieferlisten verkauft habe!“ Wang war weitaus besser an das Reiten gewöhnt, als seine Tochter. Er hatte Li davon erzählt, wie er schon als Junge von seinem Vater, der ebenfalls Papiermacher gewesen war, auf längere Botschaftsritte geschickt worden war. In Bian, mitten im Herzland der Mittleren Reiche war das zu jener Zeit ohne Gefahr möglich gewesen, denn niemand außer den Soldaten des Kaisers, hatte Waffen tragen dürfen. Der Sohn des Himmels garantierte die Sicherheit für alle und seine Gesetze hatte in jener Zeit noch unumschränkte Gültigkeit gehabt. So hatte niemand hatte befürchten müssen, unterwegs von Räuberbanden überfallen zu werden.
In Xi Xia waren die Verhältnisse in dieser Hinsicht allerdings immer schon weitaus unsicherer gewesen. Es war niemandem zu empfehlen, allein durch die Steppe zu reiten. Einer Frau schon gar nicht. Und selbst von schwer bewaffneten Eskorten begleitete Karawanen waren vor der Gier der Nomadenstämme nicht sicher. Manchmal konnte man sie mit Wegzoll zufrieden stellen. Dass sie so dreist waren, einen Ort mit Befestigungsanlagen anzugreifen, kam dagegen nicht so häufig vor. Li war sich inzwischen sicher, dass ihr der Manichäer mit der Dreiecksspange tatsächlich auf dem Markt begegnet war. Vermutlich erinnerte er sich gar nicht daran. Nein, er war auf ganz andere Dinge konzentriert gewesen, erkannte Li. Auch wenn der Manichäer damals so getan hatte, als wäre er einer der unzähligen Händler der Umgebung, so hatte er in Wahrheit wohl die Verhältnisse in der Stadt ausgekundschaftet.
„Was weiß man über den narbigen Schlächter?“, fragte Li, der inzwischen jeder Muskel ihres Körpers schmerzte und die nur noch zu den Göttern betete, dass dieser furchtbare Ritt bald ein Ende haben möge.
„Er ist der Sohn eines Uiguren-Khans in den westlichen Bergen.“
„Und der Herr von Xi Xia lässt ihn gewähren?“, fragte Li verständnislos.
„Du weißt, wie schwach der Kaiser von Xi Xia ist.“
Der Geselle Gao meldete sich nun zu Wort. „Solange niemand seine ferne Residenz angreift, wird er kaum etwas zu unternehmen versuchen“, war er überzeugt. „Dort schaut man gebannt nach Osten, wie der neue Sohn des Himmels sich behauptet und ob man ihm vielleicht in Zukunft wieder Tribut zahlen muss!“
Gao war ein gelehriger junger Mann, der das Handwerk des Papiermachers gut erlernt hatte, wie Meister Wang nicht müde wurde zu betonen – schon deswegen, damit Gao nicht auf die Idee kam, seine Kunst anderswo für gutes Silber zu verkaufen. Ihm hätte es schließlich frei gestanden, ins Reich der Mitte zurückzukehren, denn seine Sippe war nicht in Ungnade gefallen. Vielmehr entstammte er einer Familie von Schreibern, die es hier her verschlagen hatte, als die Macht der Kaiser aus dem Reich der Mitte noch bis nach Xi Xia reichte und im Namen der Himmelssöhne Steuern erhoben, eingetrieben und verzeichnet werden mussten. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Das Reich der Mitte glich an seinen Rändern einem zwar kunstvollen, aber altersschwachen, ausgefransten und mottenzerfressenen persischen Wandteppich, dessen Maschen sich unaufhaltsam weiter auflösten. Jeder Versuch, diesen Vorgang anzuhalten, machte es nur schlimmer.
In jener Zeit, als das Reich Xi Xia die Herrschaft der Himmelssöhne von Bian abgeschüttelt hatte wie eine lästiges Joch, hatte auch Gaos Familie nach und nach ihren bescheidenen Wohlstand verloren. Die Zahl der Schreiber hatte sich ebenso verringert wie der Soldaten und Beamten. Und Steuern wurden häufig nicht nach Listen erhoben, sondern nach reiner Willkür festgesetzt.
Unter anderen Umständen hätte Wang sicher gefunden, dass Gao ein passender Schwiegersohn für seine Tochter gewesen wäre. Eigentlich brachte er alles dafür mit. Er war handwerklich geschickt und hatte die Kunst des Papiermachens auf eine Weise gelernt, wie es sonst nur wenige von sich behaupten konnten. Somit hatte er in jedem Fall eine sichere Grundlage, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Davon abgesehen besaß er Erwerbssinn und ein sanftmütiges, ausgeglichenes Wesen, wie Wang es sich für einen Ehemann seiner Tochter gewünscht hätte. Aber der Papiermacher hatte sich immer vorgestellt, dass durch die Heirat seiner Tochter auch der Besitz vermehrt würde. Und solange sie jung und hübsch war, so hatte er immer gemeint, brauchte er diese Hoffnung noch nicht aufzugeben.
Li hatte diese Pläne ihres Vater immer mit gemischten Gefühlen betrachtet. Sorge zu tragen, dass sich der Besitz der nachfolgenden Generationen mehrte, war gewiss die Pflicht eines Vaters. Aber hatte nicht Wangs eigenes Leben gezeigt, dass Besitz nicht alles war? Auf jeden Fall keine Gewähr für wirklich tief empfundenes Glück. Li hatte in diesem Zusammenhang immer an die selbst gewählte Armut der tibetischen Mönche denken müssen, die die Lehren Buddhas verbreiteten, und dabei einzig auf die Weisheit ihrer Worte und die Kraft ihres persönlichen Beispiels als Mittel der Bekehrung setzten. Aber eigenartigerweise schien auch für die Mönche der Nestorianer die Aufgabe des Besitzes eine Voraussetzung für die Erlösung zu sein – und wenn zwei so unterschiedliche Lehren wie die von Buddha und Christus in diesem Punkt übereinstimmten, dann war vielleicht ein wahrer Kern darin.
Der Überfall der Uiguren hatte natürlich alles über den Haufen geworfen, was Wang je an Zukunftsplänen für seine Tochter geschmiedet hatte. Nicht einmal die Götter mochten jetzt wissen, was vor ihnen lag.
––––––––
In der ersten Nacht lagerten die Uiguren für wenige Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen an einer Wasserstelle. Sie lag geschützt zwischen den kargen, felsigen Bergen und man musste sie wohl kennen, um sie zu finden.
Der Uigure mit dem Dreiecks-Amulett der Manichäer, den Li inzwischen für einen der Unterführer hielt, gab einigen seiner Leute die Anweisung, die Gefangenen zu fesseln. Daraufhin wurden lange Hanfseile aus den Satteltaschen geholt. Eigentlich waren sie wohl dazu da, Pferde anzubinden.
Doch der narbige Toruk schritt ein.
„Wohin sollen sie denn schon gehen – bei Nacht allein in dieser Einöde?“, fragte der Anführer des räuberischen Trupps. „Davon abgesehen werden die meisten von ihnen es nicht gewohnt sein, an einem Tag mehr Meilen im Sattel hinter sich zu bringen, als sie es vermutlich je zuvor in ihrem Leben getan haben.“
Toruk wandte sich dann persönlich an die Gefangenen. Im Schein des Lagerfeuers, das die Uiguren entzündet hatten, sah sie, wie ein Muskel nur wenig oberhalb der Narbe, die seine Züge entstellte, unruhig zuckte. „Wer es wagen sollte, zu fliehen, hat keine Gnade zu erwarten!“, rief er. „Wir werden jeden, der das versucht, sofort töten, gleichgültig, ob seine vornehme Herkunft ein gutes Lösegeld verspricht oder wir ihn nur als Arbeitssklaven verkaufen könnten!“ Dann wiederholte Toruk seine Worte noch einmal in einem barbarischen, akzentbeladenen Dialekt der Sprache des Han-Volkes, wie es einige seiner Abkömmlinge in die am westlichsten gelegenen Provinzen des Reichs der Mitte gebracht hatten. Li hatte nur deswegen keine Mühe, ihn zu verstehen, weil sie zuvor schon auf Uigurisch verstanden hatte, was er wollte. Schließlich ließ Toruk annähernd dieselben Worte auch noch einmal auf Persisch folgen. Eine so große Gelehrsamkeit in der Kunst, fremde Sprachen zu erlernen, hatte Li ihm gar nicht zugetraut. Aber andererseits kamen diese Nomaden entlang der Seidenstraße weit herum und konnten kaum erwarten, dass man in den großen Städten, die sich sowohl im Osten als auch im Westen wie an einer Perlenkette aufreihten, irgendjemand die Zunge eines unbedeutenden Nomadenstammes beherrschte.
Li zitterte. In der Nacht wurde es empfindlich kalt und abgesehen von dem, was sie am Leib trug, hatte sie nichts bei sich. Toruk sah dies und ein schiefes Lächeln spielte um seine Lippen. „Der Dung der Pferde mag euch Abkömmlinge von streunenden Hunden wärmen", knurrte er. „Aber vielleicht ist es besser, euch beim Feuer zusammenzutreiben - dann kann man euch besser sehen und niemand unter euch empfindlichen Bewohnern fester Häuser wird mir in den nächsten Nächten am Husten sterben..."
„Wir sollen mit diesem Gewürm aus dem Han-Volk an einem Feuer sitzen?", ereiferte sich jetzt Mahmut. „Bei Allah, Mani und den Windgeistern der Steppe - du verlangst viel von mir, Toruk."
Toruk lachte. „Du verlangst aber auch viel von dem neuen Gott Allah, den du im Westen kennen gelernt hast. Ich glaube nicht, dass seine Imame es gut heißen, wenn du alles in einem Atemzug anrufst. Oder machen die Anhänger Mohammeds neuerdings auch jeden Berggeist zu einem ihrer Heiligen? Das wäre mir neu."
„Du meinst, so wie es die Manichäer tun!", knurrte Mahmut und in seinen Augen funkelte es auf eine Weise, die erkennen ließ, dass für ihn Toruks Spott nur schwer erträglich war. Eine Hand Mahmuts schloss sich um den Griff des leicht gebogenen Schwertes, das er am Gürtel trug und das ganz offenkundig nach Art der Perser und Araber geschmiedet war.
Das erkannte sogar Li, die ansonsten weder etwas von den Kriegskünsten noch von Waffen verstand. Damaszener Stahl hatte einen geradezu legendären Ruf, der auch auf den Märkten von Xi Xia Bestand hatte. Aber noch berühmter war der so genannte schwarze Stahl, der aus den Bergen Chorasans kam. Persische Schmiede gossen ihn zu dunklen Barren. Li hatte schon gesehen, wie sie auf den Märkten hin und wieder gehandelt und in reinem Silber aufgewogen wurden, denn aus diesen Barren ließen sich Schwerter von besonderer Festigkeit schmieden. Zumindest wenn sie in die Hände von vollendeten Schmiedemeistern kamen, wie sie im Dienst des Himmelssohnes im fernen Bian standen.
Diese Nomaden allerdings hatten solche Schwerter nicht selbst geschmiedet, sondern vermutlich beim Überfall auf Karawanen erbeutet oder weit im Westen gegen das Raubgut eingetauscht, das sie anderswo erbeutet hatten.
„Lasst die Gefangenen etwas trinken!“, rief Toruk seinen Männern zu. „Führt sie in Gruppen zu zehnt an die Wasserstelle und lasst sie trinken, wenn die Pferde genug gesoffen haben! Und erschlagt nicht zu viele, wenn sie Widerstand leisten. Sonst hat sich der Raubzug nicht gelohnt!“
Die Uiguren brüllten vor Lachen, aber Li lief es kalt über den Rücken.
––––––––
„Mir knurrt der Magen“, meinte Wang später leise an seine Tochter gewandt. Er rieb sich die Hände. Offensichtlich fror auch er. Sie kauerten am Feuer und mussten zusehen, wie die Uiguren ihre Vorräte auspackten.
„Sie werden uns nicht verhungern lassen, sonst können sie uns nicht weiterverkaufen“, meinte Li. „Oder für die hochwohlgeborenen Mitglieder unserer Leidensgemeinschaft noch ein Lösegeld erwarten...“
„Was auch geschieht, wir werden es ertragen müssen, Li. Es gibt nichts, was wir tun könnten. Nichts, was unsere Lage verbessern könnte.“
Li sah ihren Vater an und auf ihrer glatten Stirn erschien ausnahmsweise eine Falte – gut sichtbar im Licht des immer stärker prasselnden und aufflammenden Feuers. „Heißt das, wir müssen jede Hoffnung aufgeben?“, fragte sie flüsternd.
„Oh nein, davon kann keine Rede sein!“, erwiderte Wang. „Aber so, wie sich die Bäume und das Gras der Steppe dem Wind beugen, werden wir uns auch beugen müssen. Wir sind nicht der Wind, Li – sondern das Gras.“
––––––––
Li schlief unruhig und unbequem auf dem nackten Boden. So weit wie möglich hatte sie sich zusammengerollt. Das Wiehern eines Pferdes und die rauen Rufe von Toruks Leuten weckten sie schließlich.
Li taten die Beine und das Gesäß weh. Jeder Muskel und jede Sehne bis hinauf zum Rücken schmerzten, als sie versuchte, sich zu erheben.
Wang bemerkte, wie es seiner Tochter ging. „Wir sind das Reiten nicht gewöhnt“, sagte er. „Nicht auf diese Weise zumindest...“
„Ich kann mich kaum bewegen“, meinte Li.
„Doch, du kannst“, sagte Wang. „Du kannst mehr aushalten, als du im Moment für möglich halten magst. Was immer geschieht – nimm es als Prüfung, so wie es der Weise Lao-she von uns fordert.“
Li widersprach nicht – denn auch, wenn ihr Vater im Moment einen wenig würdevollen Eindruck machte, so änderte dies nichts an dem tiefen Respekt, den sie vor ihm empfand.
Die Worte Lao-shes und anderer Weiser kannte sie sehr wohl. Aber im Augenblick glaubte sie nicht daran, stark genug zu sein, um diese Prüfungen zu bestehen.
––––––––
Noch ehe die Sonne aufging, wurde die Reise fortgesetzt. Von Norden her blies ein eisiger Wind, während sich im Osten bereits die ersten Strahlen der blutroten Morgensonne über den Horizont stahlen. Die Berge bildeten gezackte Schattenlinien, die sich dunkel und drohend dagegen abhoben.
Bevor der Zug aufbrach, verrichteten die Muslime unter den Uiguren ihr Morgengebet. Etwa zwei von zehn Männern bekannten sich zum Glauben an die Lehre Mohammeds. Die anderen waren offenbar bei den unter den Uiguren traditionell stark verbreiteten Manichäertum geblieben zu sein. Mit skeptischen Gesichtern betrachteten sie ihre betenden Gefährten.
„Als wir Uiguren noch ein großes Reich hatten, wäre es undenkbar gewesen, dass jemand etwas anderem als der Lehre des Mani folgte!“, hörte Li einen der Männer sagen. „Kein Vater sollte zulassen, dass seine Söhne auf Karawanen nach Westen ziehen, denn was sie von dort mitbringen sind ansteckende Krankheiten und diesen neuen Glauben, der sich verbreitet wie eine Pestilenz!“
Nach allem, was Li über die Lehren von Mohammed, Mani und Jesus wusste, war ihnen allen gemein, dass sie ihren Gläubigen auftrugen, alle Nichtgläubigen zu missionieren und dafür zu sorgen, ihren Glauben bis in die hinterste Ecke der Welt zu tragen.
Nur an einen einzigen Gott zu glauben, erschien ihr sehr eintönig und vor allem schien der Respekt vor den Ahnen nicht der Wert zuzukommen, den sie für angemessen gehalten hätte. Und so konnte Li es gut verstehen, dass es unter den Uiguren nicht wenige gab, die sich sowohl an den Gebeten zu Mani als auch an Allah beteiligten. Sie hatten wohl ihre ganz persönliche Mischung beider Glaubenswelten für sich gefunden oder wollten einfach auf Nummer sicher gehen, was wohl hieß, möglichst keinen Gott oder Propheten durch Nichtbeachtung zu beleidigen und sich so viel übernatürliche Hilfe wie möglich zu sichern.
––––––––
An das, was in den nächsten zwei Tagen geschah erinnerte sich Li später nicht mehr in allen Einzelheiten. Sie krallte sich am Sattelknauf ihres Reittieres fest und versuchte, nicht aus dem Sattel zu rutschen. Die Pausen waren selten, zu Essen gab es die ganze Zeit über nichts und nur dann, wenn die Pferde getränkt wurden, konnten auch die Gefangenen etwas von dem eiskalten Wasser der kleine Wasserläufe oder Quellen zu sich nehmen, die Toruks Leute offenbar hervorragend kannten.
Als dann in der Ferne ein Lager mit einigen hundert Jurten auftauchte, glaubte Li zunächst ihren Augen nicht zu trauen. Schließlich hatten sich die Reiter in den letzten Tagen bewusst abseits der Handelswege bewegt und waren außerdem allen Siedlungen ausgewichen, die es weit verstreut in diesem immer karger werdenden Land gab.
Eine Stadt aus Zelten lag vor ihnen und manche von ihnen waren größer als so manches Haus.
Toruks Männer trieben die Pferde auf dem letzten Teil des Weges noch einmal voran. Im Lager war man inzwischen auch auf die Ankömmlinge aufmerksam geworden und innerhalb kurzer Zeit hatten sich hunderte von Männern, Frauen und Kindern versammelt. Einige wolfsähnliche, halbwilde Hunde kläfften den Rückkehrern heiser entgegen. Die Benommenheit, die Li so lang betäubt hatte, war nun wie weggeblasen.
Toruk und seiner Männer ließen sich für ihren reichen Beutezug feiern, während die im Lager Gebliebenen sich um die Pferde kümmerten. Li wurde förmlich aus dem Sattel gerissen. Dutzende von Kindern fassten sie an.
„Sie sieht wie eine aus dem Han-Volk aus!“, hörte sie eine Frau sagen. „Wie die Soldaten, die euren Vater und eure älteren Brüder umgebracht haben!“
Daraufhin sahen Li die Kinder wie einen bösen Geist an. Sie wichen zunächst unwillkürlich zurück, während ihre Mutter ihnen sagte, dass die meisten Gefangenen dem Han-Volk aus dem Reich der Mitte entstammten. Ein Junge spuckte darauf hin aus. Wenig später wurde ein Klumpen aus trockenem, recht festem, aber nichts desto trotz entsetzlich stinkenden Kameldung geworfen. Li versuchte sich mit den Armen zu schützen.
Es folgten Steine und Erdklumpen, die durch die Luft regneten, während einer der Gefangenen rief, er sei doch ein Tangute und stamme keineswegs vom Han-Volk ab. Aber Tanguten schienen in diesem Zeltlager keineswegs beliebter zu ein, als Menschen aus dem Reich der Mitte. Und so bekam der Tangute – ein vornehmer Händler, dessen ebenso vornehme Kleidung durch den Gewaltritt der letzten Tage ohnehin schon arg gelitten hatte, noch ein paar zusätzliche Dreckklumpen ab.
Aber eine durchdringende Stimme ließ alle anderen verstummen. Es war Toruk höchstpersönlich, der diesen Mob zum Schweigen brachte. „Kümmert euch um die Pferde! Und gebt dann den Gefangenen Wasser, Decken und etwas zu essen!“
„Sind wir die Gastgeber dieser hochnäsigen Stadtleute?“, rief die Frau, deren Mann offenbar irgendwann im Kampf gegen die Soldaten des Reichs der Mitte umgekommen war. Wahrscheinlich bei einem der Überfälle, die die Nomaden inzwischen wohl schon bis ins Kernland führten. Oder sie hatten sich als Söldner eines aufständischen Kriegsherrn anwerben lassen. Die Frau verzog verächtlich das Gesicht.
„Diese Gefangenen sind wertvoller Besitz – und den wirst auch du pflegen wie einen guten Sattel!“, herrschte Toruk sie an, woraufhin sie verstummte.
Byzanz!
Konstantinopel.
Nova Roma...
Wie viele Namen hatte diese mächtigste aller Städte der Christenheit schon getragen – Namen, die einen geradezu legendären Klang hatten. Arnulf von Ellingen zügelte sein Pferd und blickte die gewaltigen, ehrfurchtgebietenden Mauern empor, die weder die Goten noch Hunnen, Bulgaren oder Araber hatten überwinden können.
Die Kaiserpfalz in Magdeburg kam Arnulf dagegen wie ein befestigtes Gehöft vor – und das, obwohl man dort seit der Regentschaft von Kaiser Otto Magnus und seiner ersten Gemahlin Editha versucht hatte, ein Rom an der Elbe zu schaffen. Aber dessen imposanter Palast mochte zwar das Oktadon des großen Karl in Aachen übertreffen, aber gegenüber dem, was man in Konstantinopel finden konnte, wirkte es doch letztlich nur ärmlich.
Der Ritter aus dem Geschlecht derer von Ellingen setzte den Helm ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das dunkelblonde Haar war fast schulterlang. Der dichter werdende Bart war wohl erst während der Reise entstanden, die dieser Mann hinter sich hatte. Er trug ein ledernes Wams und darüber einen Umhang, der auch dafür sorgte, dass sein Schwert nicht so deutlich hervortrat. Die wachen, grünen Augen konnten kaum den Blick von den gewaltigen Mauern wenden, deren einzelne Steine einst mit einer Präzision aufeinander geschichtet worden waren, die Arnulf nur bewundern konnte – hatte er doch selbst schon zeitweilig den Bau von Burgen in der Billunger Mark überwacht. Daher war ihm bewusst, welcher Leistung es bedurfte, um einen solchen Schutz zu errichten.
Eine Mauer für die Ewigkeit, dachte Arnulf.
Schon aus der Ferne hatte die Stadt, die von den normannischen Händlern einfach nur Miklagard – die große Stadt – genannt wurde, einen überwältigenden Eindruck auf Arnulf gemacht. Golden schimmernde Kuppeln, Kirchen von einer Größe, in der ganze Burgen verschwunden wären und dahinter das blaue Band jener Meerenge, die die pontische See mit dem Mittelmeer verband.
„Worauf wartet Ihr?“, drangen die Worte einer heiseren, sehr dunklen Stimme zu ihm. „Die Mauern dieser Stadt könnt Ihr auch von der anderen Seite bestaunen und glaubt mir, sie sind keineswegs die größten Wunder, die es in Konstantinopel zu bewundern gibt!“
Die Stimme gehörte einem Mann in einer Mönchskutte, der auf einem mageren Schecken ritt, dessen Stockmaß wesentlich niedriger war als bei Arnulfs edlem Ross. Der Mönch drückte seinem Tier die Fersen in die Flanke und zog an dem Ritter vorbei. Nach ein paar Pferdelängen hielt sein Pferd plötzlich an und der Mönche drehte sich im Sattel herum. „Ihr wollt doch nicht so lange warten, bis alle Tore geschlossen sind! Oder man uns für bulgarische Spione hält, weil wir uns die Mauern zu genau ansehen.“
Arnulf löste sich nun von dem Anblick. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen und er strich sich über das markante Kinn, das nach all den Wochen, die sie ununterbrochen unterwegs gewesen waren, von einem immer dichter werdenden Bart bedeckt wurde. „Wir sind vor niemandem auf der Flucht, Fra Branaguorno!“, wandte er sich dann an den Mönch, der Arnulf als Begleitung auf seiner Reise zugeteilt worden war. Fra Branaguorno stammte angeblich aus Elbara, einem Dorf bei Mailand. Andere wiederum behaupten, seine Mutter sei eine entlaufene Mauren-Sklavin aus Sizilien gewesen, die ihr Kind vor einem Kloster ausgesetzt hatte, in der Hoffnung, dass es auf diese Weise eine gute Erziehung und eine Zukunft auf ein Leben in Gläubigkeit haben würde. Aber auch wenn so manches Geheimnis die Vergangenheit von Fra Branaguorno zu umgeben schien, so leuchtete sein Ruhm in der Gegenwart um so klarer. Die besonderen Geistesgaben des Jungen mussten sich schon früh offenbart haben.
Jedenfalls war Fra Branaguorno inzwischen für seine Sprachkundigkeit und Gelehrsamkeit berühmt. Während einer Zusammenkunft der Großen des Reiches, die Kaiser Otto III. in Verona einberufen hatte, waren die Dienste von Fra Branaguorno bei Verhandlungen mit Griechisch sprechenden Gesandten aus Konstantinopel benötigt worden. Dass er außer Griechisch auch einige der Sprachen des Ostens zumindest in den Grundzügen kannte, da er sie auf einer Pilgerreise ins Heilige Land sprechen gelernt hatte, schien er der geeignete Mann zu sein, Arnulf von Ellingen bei der heiklen Mission zu begleiten, mit der er von Kaiser Otto betraut worden war. Davon abgesehen genoss Fra Branaguorno das persönliche Vertrauen des Kaisers. Beide teilten dieselbe Vision: Die Vorstellung von einem Reich des Glaubens und einer Erneuerung des römischen Kaisertums im Zeichen der Christenheit. Was Carolus Magnus und Otto der Große begonnen hatten, wollte der jetzige Kaiser fortführen und Fra Branaguorno hatte ihn darin in langen Gesprächen bestärkt.
Mochte der dürre, blassgesichtige Mann, der trotz seiner grazilen Gestalt auf dem viel zu kleinen Schecken geradezu plump wirkte, auch als einfacher Bettelmönch auftreten, so hatten weder der Kaiser noch Arnulf von Ellingen je einen Mann von höherer Bildung und größerem Wissen kennen gelernt. Arnulf war in Magdeburg selbst Zeuge einiger Unterhaltungen gewesen, die der Mönchsbruder mit dem beinahe noch jungenhaft wirkenden Kaiser geführt hatte. Und Otto, der selbst als hochgebildet und trotz seines jugendliche Alters bereits sehr kenntnisreich und belesen galt, war deutlich anzumerken gewesen, wie sehr er diesen mindestens ebenbürtigen Gesprächspartner schätzte.
Otto vertraute Fra Branaguorno wie ansonsten nur wenigen in seiner Umgebung und Arnulf von Ellingen gab sich keinerlei Illusionen darüber hin, dass ihm der Mönch auch deshalb zur Seite gestellt worden war, um ihn zu bewachen. Zu viel hing davon ab, dass die Mission von Erfolg gekrönt war, zu der man den Ritter von Ellingen auf die Reise in die östlichen Länder geschickt hatte.
Länder, von deren Größe und Lage man in der Kaiserpfalz zu Magdeburg und selbst unter den Gelehrten der Abtei von Corvey nur eine sehr vage Vorstellung hatte.
Außer Fra Branaguorno reiste noch jemand mit dem Ritter. Es handelte sich um einen siebzehnjährigen Jungen, der Arnulf als Knappe diente. Sein Name war Gero und er war ein weitläufiger Verwandter jenes berühmten Gero, dem der Großvater des jetzigen Kaisers einst die slawischen Marken zwischen Elbe und Oder gegeben hatte. Manche nannten die Billunger Mark seitdem immer noch die Mark des Gero.
Gero hatte aschblondes Haar und blassblaue Augen. Im Schwertkampf und beim Bogenschießen war Gero immer ein gelehriger Schüler gewesen, aber das Schreiben und Lesen hatte er früh aufgegeben. Die Beschäftigung mit langen Reihen von Zeichen, die auf Pergament gemalt worden waren, grauste ihn und vor allem fehlte ihm die Geduld dazu, lange genug zu üben. Nur durch ständige Übung entstand wahre Meisterschaft, wusste Arnulf. Darin unterschied sich der Schwertkampf nicht von der Kunst des Schreibens und Lesens oder dem Lautenspiel, das Gero im Übrigen weitaus besser beherrschte.
Am besten verstand Gero sich auf den Umgang mit Pferden und so traf es sich gut, dass die Versorgung von Arnulfs Pferd zu den Hauptpflichten seines Knappen gehörte.
Arnulf drehte sich zu Gero herum, deutete auf die Mauern und meinte: „Schau dir das ja nur gut an, Gero. So etwas wirst du vielleicht nie wieder zu Gesicht bekommen, es sei denn, unserem Herrn gelingt es, ein paar der Baumeister abzuwerben, die sich in dieser Stadt verdingen!“
Dann trieb Arnulf sein Pferd wieder vorwärts und Gero folgte seinem Beispiel.
Die drei Männer ritten entlang der mächtigen Mauern, die ein unüberwindliches Bollwerk zwischen der Stadt und ihrem leicht zu erobernden Umland darstellte.
Die Sonne war bereits milchig geworden und sehr tief gesunken. Händler, denen sie unterwegs begegnet waren und die zweifellos aus Konstantinopel gekommen waren, hatten ihnen berichtet, dass die Tore der Stadt früh bei Einsetzen der Dämmerung geschlossen wurden. Der Zeitpunkt änderte sich jeden Tag etwas und lag anscheinend in der Verantwortung der einzelnen Offiziere, die an dem entsprechenden Abschnitt der Stadtmauer die Verantwortung trugen. Wie die Kaufleute, denen Arnulf und seine Begleiter begegnet waren, ihnen berichtet hatten, wurden für diese Posten zurzeit nur noch Waräger genommen – Angehörige der aus Nordmännern bestehenden Leibgarde des Kaisers. Niemandem sonst schien man noch zu trauen. Auch wenn zurzeit ein brüchiger Frieden herrschte, so fürchtete man sich hinter den mächtigen Mauern des zweiten Roms doch ständig vor den Angriffen der Bulgaren – und davor, dass Wächter bestochen wurden und feindliche Kämpfer ins Innere der Stadt drangen und vielleicht einen Brand legten. Obwohl die Stadt so gut wie ausschließlich aus Steinhäusern errichtet war, gehörte ein Feuer zu den wenigen Dingen, die ihren Bewohnern wirklich gefährlich werden konnten.
Der andere Feind, gegen den die Mauern nichts ausrichten vermochten, waren die Seuchen, die die Stadt des Konstantin immer wieder heimsuchten. Diese Seuchen kamen mit den Schiffen und da es wohl an keinem Ort der Welt mehr Schiffe gab als hier, war es nicht weiter verwunderlich, dass sich an diesem Ort nicht nur die Waren und Güter, sondern auch die Krankheiten der ganze Welt sammelten.
Daher hatte sich Fra Branaguorno eingehend bei den Händlern, die sie unterwegs getroffen hatten erkundigt, ob derzeit eine Epidemie in der Stadt ausgebrochen sei.
Für diesen Fall hätte der Mönch vorgeschlagen, in einer der kleineren Ortschaften des thracischen Umlandes abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten.
„Von diesen Schrecknissen habe ich nie etwas gehört!“, hatte Arnulf gestanden.
Und in Fra Branaguornos Gesicht war daraufhin ein verhaltenes, weises Lächeln erschienen. „Alle möglichen Nachrichten und Erzählungen machen sich von einem Ort wie diesem in alle Himmelsrichtungen auf den Weg. Erzählungen von goldenen Kuppeln und Schiffen, die griechisches Feuer speien. Geschichten von den Ratten in den engen Gasse und dem Gestank des Todes, der sich ausbreitet, wenn die Seuchen kommen... Aber offenbar haben es letztere nicht bis nach Magdeburg geschafft!“
„Wann wart Ihr das letzte Mal in der großen Stadt?“, fragte Arnulf.
„Oh, das ist schon einige Jahre her. Eigentlich hätte ich Bischof Bernward von Würzburg begleiten sollen, als er zur Brautwerbung von Kaiser Otto aufbrach... Aber man brauchte, wie so oft, meine Dienste dringend anderweitig...“
„Wie üblich!“ meinte Arnulf.
––––––––
Wenig später erreichten sie das Xylokerkos-Tor.
Die Wächter waren Normannen. Sie sprachen ein Griechisch, das in den Ohren von Männern wie Branaguorno barbarisch klingen musste.
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr in der Stadt?“, fragte der Offizier – ein baumlanger Waräger mit blauen Augen und blonden, zu Zöpfen geflochtenen Haaren, die unter seinem Helm hervorquollen.
„Wir besitzen ein Empfehlungsschreiben, um bei Johannes Philagathos vorgelassen zu werden, der zurzeit am Hof von Kaiser Basileios weilt...“
„Die halbe Stadt heißt Johannes“, meinte der Waräger. „Von dem Euren habe ich nichts gehört. Zeigt mir einfach Euer Dokument, dann sehen wir weiter.“
Fra Branaguorno holte den Brief hervor und reichte ihn dem Offizier. Der blonde Hüne faltete ihn auseinander und blickte mit gerunzelter Stirn auf die Reihen von Buchstaben. „Das ist Latein, kein Griechisch“, stellte er fest.
„Bei allen Heiligen, dies muss wahrhaftig eine Stadt der Wunder sein, wenn hier sogar die Nordmänner lesen können!“, entfuhr es Gero erstaunt.
Der Waräger hatte das gehört. „Saxland?“ fragte er.
„Ja, daher kommen wir“, bestätigte Arnulf, obwohl Branaguorno ihm zuvor eigentlich eingeschärft hatte, sämtliche Verhandlungen am Tor seinem Griechisch sprechenden Begleiter zu überlassen. Schon deshalb, weil Branaguorno nicht zum ersten Mal in der Stadt des Konstantin weilte und sich auskannte, wie man mit den Wachoffizieren umgehen musste. Im Notfall hätte er sogar gewusst, wen man bestechen musste, um zu bekommen, was man wollte.
Allerdings hatten sich die Verhältnisse offenbar seit seinem letzten Aufenthalt doch in einigen Punkten geändert. Schon das, was die Händler, denen sie auf ihrem Weg durch Thracien begegnet waren, ihnen erzählt hatten, war für Fra Branaguornos Ohren sehr erstaunlich gewesen. Die Waräger-Garde des Kaisers hatte es zwar auch vor Jahren schon gegeben - aber die Krieger aus dem rauen Norden hatten Wichtigeres zu tun gehabt, als Tore zu bewachen. Dass der Kaiser schon die Elite der Soldaten mit so profanen Aufgaben betrauen musste, war ein Zeichen dafür, wie unsicher man sich trotz der gewaltigen Mauern fühlte, die sich vom Marmara-Meer bis zu einer Bucht mit dem Namen „Goldenes Horn“ zogen und damit die auf einer dazwischenliegenden Halbinsel liegende Stadt vollkommen abschloss.
Der Waräger-Offizier musterte noch einmal Branaguorno von oben bis unten, dann wandte er sich zunächst Arnulf und dann Gero zu. „Saxland!“, sagte er noch einmal, diesmal wie eine Feststellung.
Unter den Nordmännern war Saxland ein Sammelbegriff, der nicht nur das Land der Sachsen zwischen Elbe und Ems, sondern alle Herzogtümer des Regnum Teutonicorum. Manchmal bezeichneten die Nordmänner aber auch das gesamte Reich Kaiser Ottos so und schlossen nicht nur die Länder zwischen Alpen und Nordsee, sondern auch Italien und Burgund ein. Warum auch nicht? Da die Sachsen den deutschen König und den römischen Kaiser stellten, waren sie offensichtlich unter allen Völkern des Reiches dasjenige, welches die Vorherrschaft hatte.
„Wir kommen mit einer schriftlichen Botschaft von Kaiser Otto“, sagte Arnulf. Die Sprache der Sachsen war von jener der Nordmänner nicht so verschieden, dass man sich nicht hätte verständigen können, wenn man sich Mühe gab und nicht zu schnell sprach. Manchmal, so hatte Arnulf schon des Öfteren gedacht, war es für einen Sachsen schwieriger, einen Schwaben oder Baiern zu verstehen, als einen Dänen.
„Mir reicht es schon, dass Ihr keine Bulgaren seid“, meinte der Waräger. „Ich bin Thorstein aus Birka und diente früher dem König von Orkney, bevor ich mich von den Kiewer Rus anwerben ließ und schließlich hier, in der goldenen Stadt mein Glück gemacht habe.“
„Es ist mir eine Freude, Euch kennen zu lernen, Thorstein aus Birka!“
„Ganz meinerseits.“ Er lachte. „In Britannien habe ich gegen Euch Sachsen gekämpft und bin immer siegreich gewesen.“
„Nun, hier braucht Ihr Euch nicht davor zu fürchten, dass ich gekommen wäre, um das zu rächen.“
„Da bin ich aber froh!“, meinte Thorstein ironisch und seine Männer konnten ein Lachen nicht verkneifen. Der Offizier wandte sich dann an Gero. „Du bist der Knappe dieses edlen Ritters?“
„So ist es“, nicke Gero, sichtlich verlegen.
„Ich weiß nicht, was man dir über uns aus dem Norden erzählt hat, aber dass du der Ansicht bist, unsereins könnte nicht dazu taugen, Lesen zu lernen, ist schon fast ein Grund, dich herauszufordern!“
Die anderen Waräger lachten – und Fra Branaguorno schien sehr erleichtert darüber zu sein, dass Thorsteins Worte offenbar als Scherz gemeint waren.
Thorstein und seine Männer ließen sie passieren – allerdings erst, nachdem sie sich genauestens hatten zeigen lassen, welche Waffen die drei Männer mit sich führten. In Fra Branaguornos Fall waren das ohnehin nur die Waffen des Geistes – und was Arnulf und Gero betraf, so hatte niemand etwas dagegen, dass sie ihre Schwerter mit sich führten. Wohl aber suchten die Krieger der kaiserlichen Leibgarde nach brennbaren Stoffen, besonderen Ölen oder dergleichen, die vielleicht darauf schließen ließen, dass hier jemand beabsichtigte, einen Brand zu legen und der Stadt zu schaden.
Wer so etwas in die Stadt einführte, brauchte dazu eine besondere Genehmigung.
Schließlich wurde es Arnulf und seinen Begleitern gestattet, das Tor zu durchreiten.
Etwa mehr als zehn Schritte eines großgewachsenen, langbeinigen Mannes breit waren die Mauern, die Konstantinopel schützten. Von der Innenseite aus waren Türen zu sehen, die wohl zu Wachstuben und Unterkünften der Bewacher führten. Die Wehrgänge mit ihren Zinnen, von denen aus die kaiserlichen Soldaten das Umland beobachteten, mussten breiter sein, als im Reich Kaiser Ottos die meisten Straßen.
Gero konnte nicht anders, er drehte sich noch einmal im Sattel herum. Ganze Fuhrwerke hätten auf diesen Gängen die Mauer entlang fahren können und es musste ohne weiteres möglich sein, auch größere Katapulte dort zu bewegen.
Es blieb Gero kaum Zeit, sich umzusehen, denn mehr als ein Dutzend Bettler umringten ihn und seinen Herrn bereits. Den Mönch Branaguorno beachteten sie dabei kaum. Offenbar nahmen sie nicht an, dass bei dem hageren, blassen Mann in der groben Kutte überhaupt etwas zu ergattern war.
Die Bettler – unter ihnen Kinder, Halbwüchsige und Krüppel - redeten unablässig in griechischer Sprache auf Arnulf und Gero ein.