Die Parallelklasse - Patrick Bauer - E-Book

Die Parallelklasse E-Book

Patrick Bauer

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Beschreibung

Die Suche danach, was aus dem Traum einer multikulturellen Gesellschaft geworden ist

Was machen eigentlich die Klassenkameraden von früher alle so? Ist aus ihnen das geworden, was wir damals schon von ihnen dachten? Und inwieweit prägt die Schule, die wir besuchten, den Lebenslauf von uns allen? Als der Journalist Patrick Bauer Ahmed, seinen besten Freund von einst, zufällig wiedertrifft, will dieser ihm Drogen verkaufen. Ahmed und Patrick waren gemeinsam auf einer fortschrittlichen Grundschule in Berlin-Kreuzberg, auf der Kinder aus unterschiedlichen Verhältnissen und Kulturen von früh an einen gemeinsamen Lebensweg beginnen sollten. Warum hat das nicht geklappt?

Irgendwo, an irgendeiner Stelle haben sich die Klassenkameraden von Patrick Bauer verloren. Die deutschen Kinder starteten nach der Grundschule in ein Leben, wie man es sich vorstellt: Abitur, Studium, Ausbildung, WG, Freundin, Freund, Job. Man trifft sich hier und da. Nicht alle sind glücklich geworden. Aber niemand ist wirklich aus der Reihe gefallen. Fast alle der zahlreichen Mitschüler aus anderen Kulturen, der Mitschüler mit den lustigen Namen, die für die deutschen Kinder so schnell normal geworden waren, sind dagegen in eine andere Welt abgebogen. In eine Welt, von der die anderen nichts mehr mitbekamen. Und so macht sich Patrick Bauer – in Zeiten, da so viele Meinungsmacher schnelle und einfache Erklärungen dafür finden wollen, warum es mit dem Miteinander zwischen »Einheimischen« und den »Zuwanderer-Nachfahren« in Deutschland nicht so recht funktionieren will – auf eine sehr komische und anrührende Suche nach seinen alten Klassenkameraden.

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Seitenzahl: 231

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Patrick Bauer

Die Parallelklasse

Ahmed, ich und die anderen – Die Lüge von der Chancengleichheit

Luchterhand

Alle Menschen in diesem Buch gibt es so oder so ähnlich wirklich, sie heißen aber eigentlich anders. Damit die Protagonisten frei sprechen konnten, bekam auch die Blücher-Grundschule einen fiktiven Namen. Wenn nötig, wurden Adressen und Orte, Aussehen und Beruf verfremdet. Manche Biografien und Begegnungen werden verkürzt dargestellt, andere wurden aus Gründen der Lesbarkeit miteinander verwoben oder ergänzt. Viele Erinnerungen liegen lange zurück, der Autor kann nicht garantieren, dass seine Mitschüler sie nicht anders erinnern. Sowieso gilt: Der Autor schildert in diesem Buch seine ganz subjektive Sicht auf die Menschen, die er freundlicherweise treffen durfte.

1. Auflage

© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-06827-1

www.luchterhand-literaturverlag.de

Für Heinz, den Berliner Jungen aus Lichterfelde-West

»Die Türken gehören zu Berlin wie der Korn zur Molle.«

Harald Juhnke, Legende

»An Berliner Schulen: Salamiverbot. Auf den Pausenhöfen gilt Halal-Stufe Rot.«

K.I.Z., Rapper

»In jeder Szene und Schicht der deutschen Gesellschaft, in jeder Klasse gibt es Menschen, die sich abschotten. Wenn man von Abschottungspolitik spricht, dann sollte man sich nicht an die fremdstämmigen Deutschen halten, sondern eher an die Großbürger, also an die Spitzen der Gesellschaft.«

Feridun Zaimoglu, Schriftsteller

1.

Die Angst der Kartoffeln

Als ich Ahmed nach zehn Jahren wiedersehe, will er mir Drogen verkaufen. Wir treffen uns zufällig in einem großen Park, in dem es mehr Dealer gibt als Bäume. Er lehnt am Gitter des Fußballkäfigs, in dem wir früher oft spielten. Ich drehe gerade eine Jogging-Runde.

»Ey, brauchst du was zu rauchen«, fragt er.

»Nein, danke«, keuche ich und bleibe stehen.

»Ich kann auch was Härteres besorgen!«

»Ahmed, ich bin’s, Patrick!«

Ahmed spuckt auf den Kiesweg, schaut sich um, geht einen Schritt zurück hinter eine Hecke.

Er flüstert: »Du bist jetzt kein Bulle, oder?«

»Sehe ich so aus?«

»Ja, Alter!«

Ich trage ein weißes T-Shirt, eine kurze Hose, Laufschuhe. Ahmed betrachtet meine dünnen, weißen Beine. Er trägt eine Bomberjacke, darunter ein Muskelshirt, und eine lilafarbene Karottenhose, die er am Ende in weiße Tennissocken gesteckt hat. Das ist in dieser Ecke von Berlin die Uniform von Jungs wie Ahmed. Von harten Jungs und von Jungs, die hart sein wollen. Ahmeds Haut sieht aus wie gegrillt. Der Berliner Rapper Bushido, dessen Mutter aus Franken und dessen Vater aus Tunesien stammt, hat dieser Uniform eine Hymne namens »Sonnenbankflavour« gewidmet, er reimt darin: »Der Sonnenbankflavour, die künstliche Bräune, du kannst sie alle holen, komm, ich fick deine Freunde.« Bushido beschreibt damit auch gleich, wie freundlich dieser Kleidungsstil wirken soll: überhaupt nicht.

»Obwohl«, sagt Ahmed, »du siehst nicht aus wie ein Bulle, eher schwul!« Er lacht. Sein Lachen ist ein heiseres Glucksen, wie damals. »Ahmed, lach nicht so frech«, hatte Frau Schach immer gesagt und musste dann selbst lachen. Dem schmächtigen Ahmed mit der Zahnlücke konnte man nichts übel nehmen, erst recht nicht, wenn er so gluckste. Ahmed ist nicht sehr groß geworden, dafür muskulös, die Zahnlücke hat er noch. »Krass«, sagt er und breitet seine Arme aus, »schön, dich zu sehen!« Ahmed und ich waren mal Freunde. Von der ersten bis zur sechsten Klasse. Im Jahr 1990 wurden wir eingeschult. Die Mauer war gerade geöffnet worden und in den Supermärkten rund um die Grundschule gab es keine »Smarties« mehr, weil die Menschen in den ausgebleichten Jeans, die über den nahe gelegenen Grenzübergang strömten, ganz verrückt nach »Smarties« waren. Ahmed und ich mochten »Smarties«, deshalb mochten wir die Menschen in den ausgebleichten Jeans nicht. Das vereinte uns.

Als ich Ahmed das letzte Mal sah, waren wir beide 16. Ich wollte damals wirklich etwas zu rauchen kaufen, war aber zu schüchtern, Ahmed anzusprechen, der mit einigen älteren Jungs im Park stand, die so aussahen, als hätten sie Rauchbares im Angebot. Es hat sich viel verändert seit diesem Tag. Bestimmt auch in Ahmeds Leben. Nur der Fußballkäfig, neben dem er steht, ist noch immer derselbe.

»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sage ich.

»Wo hätten wir uns denn sehen sollen«, fragt Ahmed.

Er sagt auch, dass er kein Dealer sei, aber ein Bekannter von ihm verkaufe dort hinten, wo die Schwarzen nicht den Drogenhandel kontrollieren, Haschisch. Manchmal helfe er dem Bekannten bei der Kundensuche. Ahmed spricht dann Jogger wie mich an, bleiche Heranwachsende oder Väter mit Kinderwägen. Denn: »Jede Kartoffel will kiffen!«

»Kartoffeln« hat Ahmed die Deutschen schon in der ersten Klasse genannt. »Wie soll ich euch sonst nennen, ihr esst doch immer nur Kartoffeln, jeden Tag«, sagte er, das hätte ihm auch sein älterer Bruder Abdul bestätigt, und der habe schon einige Kartoffeln kennen gelernt. Ich protestierte, denn bei mir zuhause gab es meistens Nudeln. Aber wenig später kamen aus Italien Gnocchi nach Deutschland, und ich liebte Gnocchi. In eines dieser Poesiealben, die jeden Tag herumgereicht wurden, schrieb ich »Knockie« unter die Rubrik »Leibspeise«. »Was sind denn Knockie«, fragte Ahmed. Ich erklärte, das seien kleine Klöße, die man wie Nudeln zum Beispiel mit Tomatensoße esse, die aber aus Kartoffeln und Mehl hergestellt werden. Ja, ich war manchmal ein altkluges Kind. »Sogar eure Nudeln sind aus Kartoffeln«, schrie Ahmed begeistert und gluckste darüber noch Wochen später.

Nun, im Park, sagt Ahmed, habe er genug Zeit, die Kartoffeln mit dem Haschisch, und seinen Bekannten mit den Kartoffeln glücklich zu machen, denn er habe gerade keine Arbeit. »Ich bin viel zu Hause bei meiner Frau und meiner Tochter. Und manchmal hier.« Nachdem er zwei Afrikanern mit wenigen Handzeichen bedeutet hat, dass er sich neben dem Fußballkäfig um die Jogger kümmert und dabei von ihnen nicht gestört werden will, fragt Ahmed: »Und du studierst wahrscheinlich?«

»Ich arbeite«, sage ich.

»Aber eine Studentenarbeit«, sagt Ahmed.

Er schaut mich lange an. »Du findest es bestimmt ätzend, was ich hier mache, oder?« »Nein, nein«, sage ich schnell. Vielleicht hätte ich mich nicht zu erkennen geben sollen. Wie wir hier stehen, im Gestrüpp eines Stadtparks, den wir beide durchqueren, ich als joggende Studentenkartoffel, er als gelangweilter Helfer seines dealenden Bekannten, wird sehr deutlich, warum wir uns so lange nicht gesehen haben. Unsere Leben haben nichts mehr gemeinsam. Nichts außer diesen Park, der auf unserem Weg liegt. Unsere Leben hatten noch nie besonders viel gemeinsam. Aber es gab eine Zeit, als das keine Rolle spielte.

Unsere Schule, die Blücher-Grundschule, stand und steht noch heute an der Grenze zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Neukölln. In einem Kiez, der schon Probleme hatte, bevor der Begriff »Problemkiez« erfunden war. Die Arbeitslosenquote liegt bei fast zwanzig Prozent, der Anteil von Anwohnern mit nichtdeutschem Pass weit darüber. Die Hälfte der Kinder in meiner Klasse hatte Eltern, die nicht aus Deutschland stammten. Wir wurden alle Anfang der achtziger Jahre geboren, meine Mitschüler gehörten zur zweiten Einwanderergeneration. Ehsans Eltern zum Beispiel waren aus dem Iran geflohen. Die Eltern von Arzu, Elin, Murat, Sibel, Aylin und Fatih waren wie die Eltern von Ahmed als »Gastarbeiter« aus der Türkei nach Deutschland gekommen – und geblieben. Ibrahims Familie hatte den Libanon verlassen müssen. Samis Vater war ein afghanischer Anwalt. Cem hatte eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater. Julians Vater war Perser, die Mutter deutsch. Dina war die Tochter von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Anupamas Familie war in Sri Lanka bedroht worden.

Genauso unterschiedlich wie die Geschichten der Kinder aus nichtdeutschen Familien waren aber auch die Geschichten der deutschen Kinder in meiner Klasse. Tanjas Mutter war arbeitslos. Die Eltern von Simon betrieben eine Öko-Bäckerei, die von Max ein teures Restaurant. Antons Eltern waren Psychologen, die Mutter von Judith Versicherungsangestellte. Die Familien der deutschen Kinder stammten zwar aus demselben Land – besonders viel gemeinsam hatten sie deswegen aber noch lange nicht.

Unsere Grundschule war damals eine fortschrittliche. Wir waren die ersten Schüler Berlins, die samstags keinen Unterricht hatten. Und, was mir damals weniger wichtig erschien: Viele Lehrer und Eltern sahen es als Chance, dass die Schüler solch unterschiedliche Hintergründe hatten, dass hier Akademikerkinder und Kinder aus weniger privilegierten Verhältnissen zusammen lernten – und voneinander. Wenn Ahmed wieder mal eine Sechs im Diktat bekam, erklärte ich ihm die Sache mit dem Dativ, und er machte dafür meine Mathe-Hausaufgaben. Wir stritten uns über Lieblingsfarben, Lieblingsvereine, Lieblingsmitschüler, Lieblingslehrer oder wegen »Mensch ärgere dich nicht«, wir bildeten Grüppchen und waren sicher sehr oft gemein zueinander. Aber eine Sache spielte in unserer Klasse nie eine Rolle: Unsere Herkunft. Wir alle kamen aus Berlin.

Erst als der strenge Herr Sontheimer, unser Klassenlehrer für die letzten zwei Grundschuljahre, uns in einer grauen Nachmittagsstunde mitteilte, welche Oberschul-Empfehlung jeder Schüler bekommen würde, fiel es uns auf. Fast alle Kartoffelkinder sollten Abitur machen. Und die Kartoffeln, deren Noten für das Gymnasium nicht reichten, wurden von ihren Eltern trotzdem aufs Gymnasium geschickt. Notfalls mit Hilfe eines Anwalts. »Die Ausländer bleiben hier«, sagte Ahmed. Er meinte die Straße, in der wir beide wohnten. Gegenüber lag eine Realschule. Er sollte Recht behalten: Er und sein Bruder und die anderen Kinder, deren Nachnamen ich am ersten Schultag noch so lustig fand, weil sie klangen wie die Spezialitäten auf den Speisekarten der zahlreichen Dönerläden im Kiez, kamen nicht mit. Der große Fatih, Sami und Sibel waren die einzigen Kinder mit so genanntem Migrationshintergrund, die eine Empfehlung für das Gymnasium erhielten. Sibel durfte dort nicht hin, das bringe doch nichts, meinte der Vater. Sami kam mit mir in die nächste Klasse. Der große Fatih sagte nicht, wohin er gehen würde.Arzu war bereits nach der vierten Klasse auf eines der wenigen Gymnasien der Stadt gewechselt, das mit der fünften Klasse beginnt, sie war ihrer besten Freundin Anna gefolgt. Die beiden hatten wir nur das »Streber-Duo« genannt oder »Maxi« und »Mini«, weil Anna riesengroß war und Arzu sehr klein. »Arzu ist fast deutsch, so gut ist sie in allen Fächern«, stellte Ahmed fest. Ahmed kam auf die Realschule. »Viel Spaß auf deiner Kartoffelschule«, sagte er zum Abschied. Wir verabredeten uns noch gelegentlich zum Fußballspielen, aber Fußball wurde mit der Zeit unwichtiger. Jedenfalls für mich.

Für die Hobbykicker im Fußballkäfig hinter ihm interessiert sich Ahmed am Tag unseres Wiedersehens auch nicht mehr. Diese verschwitzten Kartoffeln sehen nicht aus, als wollten sie etwas kaufen. »Ich muss langsam los«, sagt Ahmed und drückt wahllos auf seinem Handy herum.

»Wir können uns ja mal auf einen Kaffee treffen, Ahmed.«

»Ja, oder du kommst auf einen Tee vorbei.«

Wir tauschen Telefonnummern aus, Ahmed erzählt, dass er von Kreuzberg nach Neukölln gezogen sei.

»Ich bin verheiratet, ich habe ein Kind, ich wohne in keiner WG oder so, meine Frau kocht den Tee, wenn du zu Besuch kommst, man muss bei uns die Schuhe ausziehen und so, es ist alles ein bisschen anders bei mir«, sagt er.

»Ach komm, ich werde mich schon benehmen«, sage ich, »du lebst ja nicht auf einem anderen Planeten.«

Aber ich glaube, in diesem Moment sind wir uns da beide nicht sicher.

Von Menschen, die in Kreisstädten in der Nähe irgendwelcher Seen oder Berge aufgewachsen sind –, und die erst in die berüchtigten Bezirke Berlins zogen, als sie nach billigem Wohnraum und großstädtischem Kitzel suchten –, werde ich oft bewundernd, besorgt oder mitleidig gefragt, wie das so war, in Kreuzberg und Neukölln aufzuwachsen, im Ghetto. Die Wahrheit ist: Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend keine Probleme. Nur einmal wurde ich von einer Gruppe Gleichaltriger, offensichtlich »nichtdeutscher Herkunft«, mit einem kleinen, signalroten Plastiknothammer aus einem Linienbus bedroht, mit dem man im Falle eines Unfalls die Scheiben einschlagen soll. Mir wurde von den Jungs recht plausibel erläutert, dass man mit so einem Nothammer auch meine Schläfe einschlagen könne, daher rückte ich eine Mark und sechzig Pfennig sowie einige Fußballsammelbilder raus. Vielleicht ist es so: Ich hatte eine schöne Kindheit in einer zuweilen unschönen Umgebung. Ich sah auf meinem Schulweg Junkies in ihrem Erbrochenen liegen, wurde regelmäßig Zeuge von Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Halbstarkenbanden und machte immer einen weiten Bogen um den Neubaukomplex in der Nähe des berüchtigten U-Bahnhofs Kottbusser Tor, weil ein paar ältere Kinder berichtet hatten, dort besäße jeder Anwohner ein Butterfly-Messer. Ich wurde recht früh mit sozialen Realitäten konfrontiert. Aber ich fühlte mich sicher.

Ahmeds Bruder Abdul glaubte mir bei unserer ersten Begegnung nicht, dass ich deutsch bin. »Quatsch, du siehst nur so aus«, sagte er, »du bist bestimmt ein Albaner, ja genau, ein muslimischer Albaner!« Vielleicht lag das daran, dass er einfach nicht wahrhaben wollte, dass sein Bruder freiwillig mit einer Kartoffel den Nachmittag verbrachte. Vielleicht habe ich mich damals aber auch ganz gut integriert. Ich konnte zum Beispiel auf Türkisch »Ich ficke deine Mutter« sagen, bevor ich überhaupt wusste, was »ficken« bedeutet. Wir sagten das ständig. Ich weiß gar nicht, wer damit angefangen hatte. Wir sagten es so vor uns hin.

»Amana sikim, das sind zu viele Hausaufgaben!«

Oder: »Natürlich wird Bayern Meister, amana sikim!«

Oder auch: »Die Mädchen sind blöd, amana sikim!«

Es hatte keine Bedeutung. Dachte ich. Bis mir der große Fatih während des Kunstunterrichts bei Herrn Bimmel in der vierten Klasse zehnmal seine Faust auf den Oberarm schlug. Ich war elf. Ich hatte mittlerweile eine vage Ahnung, was ficken bedeutet. Wir hatten herumgealbert und irgendwen nachgeäfft, und dann hatte ich es gesagt, mal wieder. Bloß: Diesmal hatte ich dabei dem großen Fatih ins Gesicht geschaut. Es spielte keine Rolle, dass seine Mutter gar nicht gemeint war, dass es nur eine Floskel war. Für Ironie interessierte sich der große Fatih nicht. Der große Fatih war ein wirklich lieber Junge im Körper eines ausgewachsenen Mannes. Eigentlich setzte er seine Kraft nie gegen uns ein, nicht mal gegen die Idioten aus der 4a. Er gab nur manchmal damit an, Coladosen mit der bloßen Hand zerquetschen zu können. Doch in dieser Kunststunde war der große Fatih plötzlich ganz still. Er wartete, bis Herr Bimmel sich einer Farbkleckserei zugewandt hatte, beugte sich über meinen Tisch und fing an. Seine Schläge waren präzise und gleichmäßig. Als wären zehn Fausthiebe das gerechte Strafmaß für einmal »Amana sikim«. Bamm, Bamm, Bamm, Bamm, Bamm. »Fatih, bitte!« Fatih atmete beschäftigt. Bamm, Bamm, Bamm, Bamm, Bamm. Mein Oberarm glühte. Herr Bimmel musterte noch immer die Farbkleckserei, er interessierte sich für Kunst, nicht für Kinder. Noch Wochen danach spürte ich ein Ziehen in meiner Schulter. »Entschuldigung«, flüsterte Fatih, als er fertig war, »aber das darfst du nicht zu mir sagen. Das beleidigt meine Ehre.« Ich schaffte es, erst in der kleinen Pause zu heulen. Unten, in der dunklen Schultoilette im Keller, auf die ich mich sonst nie wagte. Zuhause fragte mich meine Mutter, warum ich meinen rechten Arm so merkwürdig bewege. Ich behauptete, beim Klettern auf dem Spielplatz gefallen zu sein. Was hätte ich sagen sollen? Dass Fatih mich bestrafen musste, weil ich diese geheimnisvolle Sache namens Ehre verletzt hatte, als ich aus Versehen angekündigt hatte, etwas Schlimmes mit seiner Mutter zu machen? Seit diesem Tag habe ich nie wieder »Ich ficke deine Mutter« gesagt. In keiner Sprache.

Ich konnte auch schönere Dinge auf Türkisch sagen, nützliche Dinge. »Köpek« heißt Hund und »küme« Haufen. »Dört Kilo, üç Mark!«, das weiß ich noch, heißt: »Vier Kilo, drei Mark!« »Lan« bedeutet »Mensch« oder »Mann«, man kann »lan« an jeden beliebigen Satz hängen, was wir auch taten. »Wie geht’s, lan«, »Pass mal auf, lan«, »Bis morgen, lan«. »Abi« heißt Bruder und »Anne«, Mutter, hört man morgens, mittags und abends in jedem Berliner Hinterhof. Bei uns im Haus schrie ein kleines Mädchen alle zehn Minuten nach ihrer Mutter. In allen erdenklichen Varianten: »Ahhhhhne!«, »Annäh!«, »Anneeeeh!«, »Ahhhnähä!« Ich dachte lange Zeit, Anne sei der Vorname der Mutter. Wie meine Mutter eben Nicola heißt und ich die Mutter von Anton »die Ursel« nannte und die von Max »die Sabine«. Als ich dann das erste Mal bei Ahmed zu Besuch war und er »Anne« in die Küche rief, und noch etwas, das ich nicht verstand, fragte ich ihn: »Wieso haben alle türkischen Mütter den gleichen Vornamen?« Ahmed war entsetzt, dass ich überhaupt auf die Idee kommen konnte, man dürfe die eigene Mutter beim Vornamen rufen. Ich hatte es nicht anders gelernt, es war bei mir zuhause verpönt, »Mama« zu sagen. Selbst meinen Opa durfte ich nicht Opa nennen. »Ich sehe hier weit und breit keinen Opa«, schimpfte er, wenn ich es doch tat. »Deutsche sind komisch«, sagte Ahmed.

Als Exot galt ich auch beim Fußball, in der Jugendmannschaft von Rot-Weiß Neukölln. Ich war dort der einzige Deutsche. Es war daher wichtig, zu wissen, dass »Balo« auf Türkisch Ball heißt und »Pas« – wenig überraschend – Pass. Genau genommen war ich nicht der einzige Deutsche, wir waren fast alle deutsche Staatsbürger, aber ich war der Einzige mit deutschen Eltern, einem deutschen Namen und einer deutschen Technik, also musste ich immer in der Abwehr spielen. Manchmal sogar als Libero. Eine heute vergessene Position, die einst in dunklen Fußballzeiten die Deutschen okkupiert hatten und auf der Franz Beckenbauer zu Weltruhm gekommen war. »Wo sollst du sonst spielen«, fragte Ali, der Trainer, »Deutsche können vorne nichts. Außerdem heißt du Bauer. Das ist perfekt! Klingt so ähnlich wie Beckenbauer!« Alis Vater war der vielleicht größte Fan von Franz Beckenbauer. Ohne die Aussicht, in der Nähe des Kaisers zu leben, sagte Ali mal, wäre sein Vater nie in dieses strenge Land ausgewandert. Alis Vater konnte leider nicht ahnen, dass der Kaiser auf einem Berg in Kitzbühel lebt und nur selten zu den Untertanen in den Arbeitervierteln von Berlin hinabsteigt. Nach zwanzig Jahren Schufterei in einer Kartonagenfabrik hatte die Kaisertreue des Vaters dennoch nicht nachgelassen und er beherrschte nach wie vor nur dieses eine deutsche Wort: Beckenbauer.

Bei Auswärtsspielen gegen »echt deutsche Mannschaften«, wie Trainer Ali sie nannte, etwa in Marzahn oder Hellersdorf, am grauen Stadtrand, in den Ostbezirken, wo die Jungs Ronny hießen und die Väter Glatze trugen und die Mütter so viel rauchten, wie ihre Pitbulls bellten, wurde ich von den Gegenspielern angeglotzt wie einer, der zum Feind übergelaufen war.

»Warum spielst du bei den Kanaken?«

»Du stinkst ja auch schon nach Knoblauch!«

»Schaut mal, ein blonder Türke!«

Dann kamen sofort meine Mitspieler angerannt: »Lasst unseren Deutschen in Ruhe, ihr Kartoffeln!« Und wenn der große Fatih mir nicht eine Lektion erteilt hätte, ich hätte die Marzahner und Hellersdorfer sicher übel beschimpft. Sie hätten es ohnehin nicht verstanden. Sie verstanden auch unsere Kommandos und Absprachen auf dem Platz nicht, und deshalb gewannen wir meist. Wenn wir die Kartoffeln im Schatten der Plattenbauten besiegt hatten, spendierte Trainer Ali zurück in der Zivilisation in Kreuzberg jedem von uns einen Döner. Mit doppelt Knoblauchsoße.

Schweinefleisch esse ich bis heute nicht sehr gern. Mir leuchtete sofort ein, was mir Ahmed in der ersten Klasse erklärt hatte: Schweine leben in ihrem eigenen Dreck, deshalb ist ihr Fleisch dreckig. »Es ist nicht nur dreckig, noch schlimmer: Das Fleisch ist unrein«, korrigierte Ahmed mich, als ich die anderen Salamibrötchen essenden Kinder über die Herkunft ihres Brotbelags informierte.

Mein Heimatbezirk war geprägt von türkischen Traditionen, von arabischen Eigenheiten und von muslimischen Bräuchen. Ich mochte diese vertraute Fremde, die mich umgab. Den türkischen Markt vor unserer Haustür. Den Gebetsraum im Gewerbehof nebenan, vor dessen Tür immer so viele Schuhe standen. Eine sehr ordentliche Religion ist das, die den Gläubigen vorschreibt, dass man in ihrem Haus die Straßenschuhe ausziehen muss, dachte ich, ganz wie bei uns zuhause. Ich mochte das Zuckerfest. Wie großartig, dachte ich: Eine Feier zu Ehren von Süßigkeiten und die Kinder müssen nicht zur Schule. Meine Eltern sagten mir jedoch, ich dürfe an diesem Tag nur zuhause bleiben, wenn ich vorher wie die muslimischen Kinder dreißig Tage fasten würde. Ich mochte den Geschmack von frischem Ayran und den Supermarkt mit der endlosen Oliven-Theke. Ich mochte die Autokolonnen der Hochzeitsgesellschaften. Und die Holzkettchen, mit denen die alten türkischen Männer in der U-Bahn herumspielten. Als ich viele Jahre später zum ersten Mal nach Istanbul reiste, als erwachsener Mann, verstand ich zwar auf der Straße kein Wort, denn die Leute beschimpften sich weder aufs Übelste noch gaben sie sich Fußball-Kommandos, aber: Ich fühlte mich gleich zuhause. Die Melodie der Stimmen kam mir bekannt vor. Auch die Gerüche. Das hektische Hupen.

Bevor jedoch der Eindruck entsteht, ich sei in »Klein-Istanbul«, wie Kreuzberg in großen Tageszeitung aus kleinen Städten gerne genannt wird, aufgewachsen wie ein türkischer Junge: Meine Kindheit war zu einem viel wesentlicheren Teil geprägt von Fahrradklingeln, von linksalternativen Wohnprojekten, von Bioläden und Anti-Kriegs-Demonstrationen. Ahmed musste sich bei mir zuhause genauso anpassen wie ich bei ihm. Mein Vater erzählte von seiner Tramper-Reise durch die Türkei, von den Bergen und den Wasserpfeifen dort. Und Ahmed sagte danach: »Cooler Typ!« Mein Vater stellte sich in die Küche und kochte am liebsten abenteuerliche Tofu-Gerichte. »Er kocht?«, fragte Ahmed, »krasser Typ!« Den Tofu kommentierte er nicht weiter. Allein aus Höflichkeit gegenüber meiner Mutter, die rechtzeitig zum Abendessen von der Arbeit kam. Als Ahmeds lustiger Vater einmal von der Arbeit kam, als ich bei den Etürklüs zu Besuch war, in dieser Wohnung, in der man denken konnte, man laufe über Moos, wenn man die Augen schloss, weil überall sehr dicker, flauschiger Teppichboden auslag, hörte er, dass wir die Puppe der kleinen Schwester aus dem Fenster geschmissen hatten, und sagte zu uns: »Wenn das noch einmal passiert, schmeiße ich euch auch aus dem Fenster!« »Krasser Typ«, sagte ich zu Ahmed, aber der sagte nur: »Wir machen das mit der Puppe lieber nicht noch mal!« Das war mir ziemlich egal, Hauptsache, es gab bei Ahmed zu Hause das Fleisch, das bei meinen Vegetarier-Eltern nicht auf den Teller kam. Ahmeds Mutter, deren Vornamen ich nie erfuhr, stand in der Küche, ließ es stundenlang kochen und braten, machte nie Kartoffeln dazu und sang Lieder, die ich zwar nicht mitsingen konnte, die aber bis zum Einschlafen in meinem Kopf blieben. Ahmeds Mutter ging nach dem Mittagessen putzen. Der Vater arbeitete in einer Schlosserei.

»Wie haben sich deine Eltern kennen gelernt?«, fragte ich Ahmed mal, aber das war einer dieser Momente, in dem wir wohl beide merkten, dass die Fragen, die wir uns stellten, nicht dieselben waren. »Was meinst du damit?«, fragte Ahmed zurück. »Na ja, meine Eltern waren zusammen im Leistungskurs und meine Mutter fand meinen Vater erst blöd, aber dann waren sie auf einer Party …« Ahmed unterbrach mich: »Ey, ich habe keine Ahnung, was meine Eltern gemacht haben und es ist mir egal.« Ahmeds Mutter war die Einzige in der Familie Ertüklü, die meine merkwürdigen Fragen mochte. »Du bist ein anderer Junge«, sagte sie. Einmal stand ich neben ihr in der Küche, nahm all meinen Mut zusammen und fragte: »Wo haben Sie Ihren Mann kennen gelernt?« »Zuhause, als Kind«, sagte sie, »mein Vater kannte seinen Vater, wir haben geheiratet, ganz einfach.« Es klang wirklich einfacher als die Geschichte meiner Eltern. Meine Eltern haben beide studiert und nie geheiratet. Ahmed hatte vier Geschwister. Ich bin Einzelkind. Ahmed redete viel vom Willen Allahs. Ich wurde nicht mal getauft. Unser Wohnzimmer stand voller Bücher. Das Wohnzimmer der Ertüklüs stand voller VHS-Kassetten. Dort lief der Fernseher den ganzen Tag und Ahmed konnte in der großen Pause von weltbewegenden Fernsehereignissen wie der »Mini Playback Show« berichten. Ich war froh, als wir endlich überhaupt einen Fernseher besaßen und ich die »Sendung mit der Maus« sehen durfte. In den Sommerferien flog Ahmed mit seiner Familie in die anatolische Heimat. An Weihnachten fuhr ich mit meinen Eltern in die schwäbische Provinz.

Wären wir nicht in eine Klasse gekommen, hätte ich Ahmed nie kennen gelernt.

Heute würden Ahmed und ich wohl nicht gemeinsam eine Schule besuchen, selbst wenn wir in einer Straße leben würden. Der Tag unserer Einschulung liegt über zwanzig Jahre zurück. Die Menschen in den gebleichten Jeans gehören längst zu diesem Land, aber man kann nicht behaupten, dass das Zusammenleben von Türken und Deutschen, von Deutschen und Deutschen, deren Familien aus der Türkei oder anderen Ländern stammen, sich verbessert hätte. In der Zwischenzeit wurden ausländerfeindliche Brandanschläge verübt, es wurden Lichterketten gebildet und es wurde Wahlkampf geführt mit der Hetze gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Mal wurde verkündet, das Boot sei voll. Mal wurde gewarnt, es fehle an Fachkräften aus dem Ausland. Und kurz nachdem die deutsche Fußballnationalmannschaft mit 23 Spielern, von denen elf einen »Migrationshintergrund« haben, im Sommer 2010 bei der Weltmeisterschaft in Südafrika die Beobachter aus aller Welt mit schnellem Kombinationsspiel begeistert und den dritten Platz erreicht hatte, wurde ein Buch veröffentlicht, in dem ein Volkswirt behauptet, Deutschland schaffe sich ab, und Schuld daran sei eine fatale Kombination aus Geburtenrückgang, wachsender Unterschicht und vor allem massiver Zuwanderung aus muslimischen Ländern. Thilo Sarrazins Machwerk – voll dröger Zahlenorgien und schwer lesbarer Rechtfertigungen – wurde zu einem historischen Bestseller. Nicht nur das: Sarrazin, dieser bei öffentlichen Auftritten so störrisch anmutende Aktenmensch, wurde mit Unterstützung der Bild-Zeitung für einige Monate zu einem Volkshelden. Obwohl dieser Mann, den die SPD niemals loswerden wird, nur gängige Ressentiments zusammengefasst und mit diversen Studien zu belegen versucht hatte. Oder: gerade deshalb.

Das Widerwärtige an »Deutschland schafft sich ab« waren nicht mal die wirren, rassistischen Unterstellungen, sondern das von Verwertbarkeit und Elitedenken durchsetzte Bild, das Thilo Sarrazin von den Menschen hat. Aber das Gros der Käufer, die bestimmt nicht alle Leser waren, freute sich wohl darüber, dass »die Ausländer« endlich einmal hart angepackt wurden, lange genug habe die deutsche Gesellschaft aus »falscher politischer Korrektheit« »Parallelgesellschaften« und »Sozialschmarotzer« geduldet. »Endlich sagt mal einer die Wahrheit!«, hieß es in einem sehr repräsentativen Leserbrief. Dabei war all das, worüber nun nach Sarrazin in den Talkrunden zur »Integration« debattiert wurde, nicht neu. Gesagt wurde auch vor Sarrazin viel. Nur getan wurde wenig an den sozialen Brennpunkten des Landes. An Brennpunkten, wie es sie vor allem in Kreuzberg und Neukölln gibt. Dort, wo tatsächlich die Mehrheit der Menschen einen »Migrationshintergrund« hat – und wenig Bezug zu dem Land, in dem sie leben. Wenn ich an meine Grundschulzeit zurückdenke, denke ich an eine friedliche Koexistenz. Doch die friedlichen Zeiten, wenn es sie denn je gab, sind vorbei.

Wirklich bewusst wurde mir das im Münchner Bezirk Neuhausen-Nymphenburg, dem Gegenteil eines Problembezirks. Über den 9. Stadtbezirk schreibt die Stadt München: »Nach der Sozialstruktur dominiert in Neuhausen die Mittelschicht und in Nymphenburg die gehobene Mittelschicht. In beiden Stadtteilen überwiegt mittleres bis höheres Ausbildungsniveau.« Von den 87 846 Einwohnern haben lediglich 2 303 keinen Job. Die Sonne scheint über den Biergärten, es werden ausreichend Kinder geboren, die in angemessen teuren Kinderwägen an den schmuck sanierten Häusern vorbeigeschoben werden. Die Grünen erhielten bei den vergangenen Kommunalwahlen 20,1 Prozent der Wählerstimmen. Kurz: Den Menschen in Neuhausen-Nymphenburg geht es gut. 21,2 Prozent der Einwohner von Neuhausen-Nymphenburg sind Ausländer. In Neukölln ist der Anteil nichtdeutscher Bewohner nur unwesentlich höher, er liegt dort bei 21,8 Prozent. Neuhausen-Nymphenburg und Neukölln haben trotzdem so viel gemeinsam wie Franz Beckenbauer und ich auf der Libero-Position. Erstens: Viele der vermeintlichen Ausländer in Neukölln haben einen deutschen Pass, sind also der Statistik nach Inländer. Zweitens leben in Neuhausen-Nymphenburg vor allem solche Ausländer, die man in Deutschland gemeinhin nicht als ein Problem wahrnimmt: Japaner, Amerikaner, Franzosen, Spanier, Skandinavier. Wohlhabende, gebildete Ausländer. Dieser Gruppe, die im Einwohnermelderegister »Sonstige« genannt wird, gehören im Bezirk die meisten Ausländer an.

Warum das alles überhaupt wichtig ist? Mitten in der Sarrazin-Hysterie saß ich mit einem Bekannten in einer Kneipe. Dieser Bekannte lebt schon lange in Neuhausen-Nymphenburg, wir hatten uns in seiner Nachbarschaft auf ein Bier getroffen. Ich hatte die letzten vier Jahre in München verbracht und vergeblich versucht, mich in Bayern zu integrieren. Ich war froh, zurück nach Berlin zu ziehen, ich hatte eine schöne Wohnung zu einem noch schöneren Preis in einem schönen Teil von Neukölln gefunden.