Die Passion Jesu im Kirchenlied - Christina Falkenroth - E-Book

Die Passion Jesu im Kirchenlied E-Book

Christina Falkenroth

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Beschreibung

Welcher Trost liegt in der Passion Jesu? Inwiefern hilft das Leiden und Sterben Christi am Kreuz dem, der es meditiert, zum Leben? Der theologische Grund und die soteriologische Bedeutung der Passion kommen in den Liedern des Evangelischen Gesangbuches zur Sprache. In dieser Arbeit werden ausgewählte Passionslieder aus dem 16. und 17. Jahrhundert theologisch und musikalisch auf ihre Aussage hin untersucht; danach wird bezugnehmend auf die in ihnen aufscheinenden Motive eine Theologie der Passion umrissen.Das besondere Potential der Lieder wird sichtbar: Sie eröffnen einen Weg zur gläubigen Aneignung der Passion. Im Singen erweist sich die Begegnung des Menschen mit dem Gekreuzigten als Neubegründung seiner Existenz in Jesus Christus.

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Christina Falkenroth

„Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude …“

Die Passion Jesu im Kirchenlied

Herausgegeben von Hermann Kurzke in Verbindung mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis Gesangbuchforschung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Inhalt

Vorwort1 Einleitung1.1 Der Untersuchungsgegenstand1.2 Die Untersuchung1.3 Begriffsklärungen1.3.1 Kirchenlied1.3.2 Frömmigkeit2 Das 16. Jh. – Passionslieddichtung im Wirkungsfeld Martin Luthers2.1 Grundlegung2.1.1 Die Passionsauffassung Luthers2.1.2 Die Bedeutung von Liedern zur Zeit der Reformation2.1.3 Passionslieder um 15002.2 Christ lag in Todesbanden2.2.1 Einführung2.2.2 Der Liedtext2.2.3 Die musikalische Gestalt2.2.4 Ergebnis2.3 Christus, der uns seligmacht2.3.1 Einführung2.3.2 Der Liedtext2.3.3 Die musikalische Gestalt2.3.4 Ergebnis2.4 O wir armen Sünder2.4.1 Einführung2.4.2 Die musikalische Gestalt2.4.3 Der Liedtext2.4.4 Ergebnis2.5 O Mensch, bewein dein Sünde groß2.5.1 Einführung2.5.2 Die musikalische Gestalt2.5.3 Der Liedtext2.5.4 Ergebnis2.6 O Lamm Gottes2.6.1 Einführung2.6.2 Der Liedtext2.6.3 Die musikalische Gestalt2.6.4 Ergebnis2.7 Wir danken dir, Herr Jesu Christ2.7.1 Einführung2.7.2 Der Liedtext2.7.3 Die musikalische Gestalt2.7.4 Ergebnis2.8 Ergebnis2.8.1 Vielfalt der Passionbetrachtung2.8.2 Zugänge zur Passion2.8.3 Prägungen der Lieder2.8.4 Passionsbetrachtung als Bewegung in zwei Richtungen: Zueignung und Aneignung3 Lieder des 17. Jh. bis zu Löscher3.1 Grundlegung3.1.1 Frömmigkeitspraxis und Passion im 17. Jh.3.1.2 Lieder und ihre Rolle in privater Frömmigkeit und kirchlicher Praxis3.2 O Traurigkeit3.2.1 Einführung3.2.2 Die musikalische Gestalt3.2.3 Der Liedtext3.2.4 Ergebnis3.3 Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen3.3.1 Einführung3.3.2 Der Liedtext3.3.3 Die musikalische Gestalt3.3.4 Ergebnis3.4 O Welt, sieh hier dein Leben3.4.1 Einführung3.4.2 Der Liedtext3.4.3 Die musikalische Gestalt3.4.4 Ergebnis3.5 Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld3.5.1 Einführung3.5.2 Der Liedtext3.5.3 Die musikalische Gestalt3.5.4 Ergebnis3.6 O Haupt voll Blut und Wunden3.6.1 Einführung3.6.2 Der Liedtext3.6.3 Die musikalische Gestalt3.6.4 Ergebnis3.7 Jesu, deine Passion3.7.1 Einführung3.7.2 Der Liedtext3.7.3 Die musikalische Gestalt3.7.4 Ergebnis3.8 Du großer Schmerzensmann3.8.1 Einführung3.8.2 Der Liedtext3.8.3 Die musikalische Gestalt3.8.4 Ergebnis3.9 Ich grüße dich am Kreuzesstamm3.9.1 Einführung3.9.2 Der Liedtext3.9.3 Die musikalische Gestalt3.9.4 Ergebnis3.10 Ergebnis3.10.1 Die Wiederaufnahme der spätmittelalterlichen Passionsmeditation im 17. Jh.3.10.2 Die Umformung der Tradition in den Passionsliedern des 17. Jh.3.10.3 Das Passionslied im 17. Jh.4 Die Theologie der Passionslieder in ihrem systematisch-theologischen Zusammenhang4.1 Deutekategorien zum Tod Jesu4.1.1 Opfer4.1.2 Das stellvertretende Leiden Christi4.1.3 Loskauf und Herrschaftswechsel4.1.4 Die Konzepte als Annäherung4.2 Gründung der Person in Christus4.2.1 Ontologie der Person bei Luther4.2.2 Die Person des Menschen in der Begegnung mit dem Gekreuzigten4.3 Die wiedergewonnene Imago dei4.3.1 Begegnung vor dem Kreuz ohne Scham4.3.2 Jesus Christus als Schlüssel zur Ebenbildlichkeit4.3.3 Imago dei als „Gott entsprechendes“ Sein und als relationaler Begriff4.3.4 Die Inkarnation als Ort der imago4.3.5 Gottebenbildlichkeit als Teilgabe an der Herrlichkeit Gottes4.3.6 Die eschatologische Perspektive als Erkenntnisgrund der imago4.3.7 Imago dei als Selbstdefinition Gottes und als Einführung ins Menschsein4.3.8 Zusammenfassung4.4 Die Kreuzesbetrachtung als Rechtfertigungsgeschehen4.4.1 Die Lehre von der Rechtfertigung als Auslegung des Ereignisses am Kreuz4.4.2 Von der Ontologie zur Relationalität: Der Glaube als Haltung des Empfangens4.4.3 Die Heilsgewißheit als Kennzeichen reformatorischer Rechtfertigungslehre4.4.4 Der Glaube rechtfertigt, weil Christus in ihm gegenwärtig ist4.4.5 Rechtfertigung und Erneuerung4.4.6 Gott ist gerecht, denn er macht gerecht4.4.7 Schluß4.5 Die Überwindung der Sünde4.5.1 Was wird über das Wesen der Sünde gesagt?4.5.2 Die Rede von der Sünde als Rede von Christus4.5.3 Die neue Lebensgestalt des der Sünde entzogenen Menschen4.5.4 Was ist die Sünde?5 Schlußfolgerung: Passionslieder und die Praxis des christlichen Lebens5.1 Der Weg durch die Tiefe als Befreiung zum Leben5.1.1 Der Weg durch die Tiefe5.1.2 Sterben als biographische Erfahrung: Abschied vom Leben5.1.3 Der Tod als theologische Kategorie: die Sünde als Stachel des Todes5.1.4 Der Weg durch die Tiefe als Ereignis5.1.5 Die Begegnung mit dem Gekreuzigten in der Tiefe als Befreiung zum Leben5.1.6 Der Weg durch die Tiefe – bleibende Anfechtung5.2 Die Rede von Schuld und Vergebung als der Kirche aufgetragene Botschaft5.2.1 Hinführung5.2.2 Das Phänomen der Schuld5.2.3 Die Christus-Begegnung als Befreiung von der Last der Schuld5.2.4 Die Begründung der Kirche im Kreuz Christi als Aufgabe, von Schuld und Vergebung zu reden5.3 Zueignung der Passion im Singen5.3.1 Die Wirkung des Singens in Gemeinschaft auf den Einzelnen5.3.2 Singen als Form der aktiven Aneignung5.3.3 Das antwortende Geschöpf5.3.4 Transzendierung5.3.5 Zueignung5.3.6 Das Singen und die Passionslieder5.4 Passionsfrömmigkeit als Leben aus der Zukunft5.4.1 Der Sermon Luthers und die Passionslieder5.4.2 Vita passiva – Das neue Sein als Verheißung5.4.3 Passionsfrömmigkeit als LebensweiseQuellenSekundärliteratur

Vorwort

Diese Arbeit ist 2015 als Dissertation mit dem Titel „‚Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude …‘ (Ps 34,6). Die Passion Jesu Christi in den Liedern der evangelischen Kirche. Untersuchungen zur Theologie der Passion in Liedern des 16. und 17. Jh“ von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel angenommen worden.

 

Allen voran danke ich Herrn Prof. Dr. Martin Ohst und Herrn Prof. Dr. Hellmut Zschoch: Sie haben meine Arbeit betreut und mich durch ihr Interesse an der Fragestellung in meinem Vorhaben bestärkt.

Mein herzlicher Dank gilt auch Dr. Sven Arnold für seine Beratung im Schreibprozeß, Dr. Matthias Lotzmann in musikalischen Fragen, und darüber hinaus meiner Familie und den Wegbegleitern, die durch ihr treues Nachfragen mir stets neue Energie zur Weiterarbeit gegeben haben.

Die Evangelische Kirche im Rheinland, die VELKD, der Kirchenkreis Wuppertal und die Gemeinde Wuppertal-Langerfeld haben die Veröffentlichung großzügig unterstützt. Dafür bedanke ich mich sehr herzlich.

 

Wuppertal, im Januar 2017

1Einleitung

1.1Der Untersuchungsgegenstand

Passionslieder bilden einen wesentlichen Teil des Lebens der Kirche und der Christen in ihr. Sie haben einen Ort im liturgischen Jahr. Sie sind, vornehmlich in der Passionszeit, Teil des gefeierten Gottesdienstes. Sie haben darüberhinaus als Lieder, aber auch in ihrer Textfassung, einen Ort in der persönlichen Frömmigkeit. Sie sind ein Teil der Tradition, aus der die gegenwärtige Kirche hervorgegangen ist.

Ihnen ist darüberhinaus eine starke Präsenz im Leben der evangelischen Kirche zueigen: Sie sind Teil der evangelischen Kirchenmusik, die sie vielfältig vertont und sie so im Bewußtsein der Christen verankert, die sich durch die kirchliche Verkündigung prägen lassen. Diese Prägung sucht sich einen eigenen Weg, über den Weg des gelehrten Glaubens hinaus: auf dem Weg des Hörens und des Singens, der Emotionen, der ästhetischen Wahrnehmung.

 

Die Passion bildet die theologische Mitte der Kirche. Passionslieder blicken darum auf das Zentrum des christlichen und besonders des evangelischen Glaubens: Im Ereignis von Kreuz und Auferstehung nimmt die christliche Kirche ihren Anfang. Die reformatorische Theologie Martin Luthers findet hier ihre Mitte. Christologie, Soteriologie, Gotteslehre, Anthropologie, Hamartiologie, Sakramentstheologie sind durch die Passion Jesu Christi geprägt.

 

Seit dem 4. Jh. hat sich das Passionsgedenken zu einem Teil der rituellen Handlungen der Kirche und Teil der individuellen Vollzüge des eigenen Glaubens entwickelt. In den Berichten der Pilgerin Egeria ist der Weg durch Jerusalem überliefert, unter Gebeten und Gesängen und unter Verlesung des Passionsberichtes nach Matthäus, zu den verschiedenen Stätten der Erinnerung an Christi Leben; der Ritus fand seinen Höhepunkt in der Verehrung des „Wahren Kreuzes“ durch Betrachtung und Kuß.1 Das Verständnis der Passion ist im Laufe der Zeit einem starken Wandel unterworfen gewesen. Nachdem in der Alten Kirche Christus am Kreuz als der triumphierende Weltenherrscher dargestellt worden war, verlagerte sich im Laufe des Mittelalters das Interesse auf sein Leiden, so daß die biblische Passionsgeschichte ausgestaltet wurde und z.B. einzelne Szenen wie das Gebet Jesu in Gethsemane mit Inhalt gefüllt oder das Gespräch zwischen Pilatus und Jesus über die biblische Quelle hinaus breit ausgeführt wurde oder Legenden der Passionsdarstellung hinzugefügt wurden. Bezugnehmend auf die Leidensmystik des Bernhard von Clairvaux (1090–1153) und seinen Weg der Meditation der Wunden Jesu entstand seit dem 14. Jh. an verschiedenen geistlichen Zentren eine Methodik der Betrachtung des Leidens Christi. Dabei meditierte man in der Folge der monastischen Gebetszeiten verschiedene Leidensstationen. In der Reformationszeit wiederum lag der Schwerpunkt auf dem Auferstandenen und dem Dank für sein Leiden; später fand man im Mitleiden den Identifikationspunkt mit ihm. Die Passion hat so im Lauf der Entwicklung der Kirche und des christlichen Glaubens eine Vielfalt an Ausdrucksformen gefunden, in denen Menschen sich und ihre Existenz mit dem Sterben Christi verbinden.

Doch ist das Wort vom Kreuz von Beginn an Stein des Anstoßes; Ärgernis den Juden, den Griechen eine Torheit und in der Gegenwart ruft es Kritik hervor: am Gottesbild, das die Kritiker dahinter vermuten, das einen strafenden und den Tod des Sohnes wollenden und herbeiführenden Gott vorstellt; an dem Paradox, daß Heil aus dem Unheil hervorgehen soll, daß in einem schmerzvollen, gewalttätigen, lebenzerstörenden Ereignis sich der liebende, lebenschaffende Gott offenbaren soll. Innerhalb der Theologie findet eine Debatte statt, die sich mit der in der biblischen Tradition begründeten Deutung des Todes Jesu als Opfer oder als Sühne oder mit dem Anselmschen Modell von dem satisfaktorischen Sterben Jesu auseinandersetzt2. Des Weiteren spielt auch die Schwierigkeit eine Rolle, über die Sünde in einer Weise zu reden, mit der sich Menschen in ihrem Selbstverständnis identifizieren können. Es wird oft eine Deutung des Kreuzes unter Absehung von den überlieferten Kategorien versucht.3

 

Diese Arbeit soll ein Beitrag sein, sich dem Verständnis der Passion Jesu und ihrer heilsstiftenden Bedeutung zu nähern.

Das soll ausgehend von Passionsliedern geschehen. Lieder bilden als gesungener Glaube einen eigenen Zugang zu Passionstheologie und -frömmigkeit. Sie sind ein Teil des Glaubensvollzuges in Gottesdienst oder Andacht oder im individuellen Meditieren. Sie haben doppelte Wirkrichtung: Sie sind einerseits Ausdruck des Glaubens und prägen andererseits den in der Kirche und von den Einzelnen geglaubten Glauben. Sie sind Produkt menschlicher Frömmigkeit und sie gestalten den persönlichen Umgang von Menschen mit der Passion. Sie lehren und verkündigen, sie trösten und üben in den Glauben ein. Sie transportieren ihre Inhalte auf dem Weg der Musik und indem sie von Menschen selber zum Klang gebracht werden. So finden sie anders Eingang in Denken und Empfinden eines Menschen als ein katechetischer oder diskursiver Text.

 

Passionslieder begleiten die Passionsfrömmigkeit von Menschen durch die Zeiten hindurch. Im Wandel der Frömmigkeit von Menschen mit den Zeiten bilden sie doch eine Kontinuität. Sie spiegeln den Umgang mit der Passion zu ihrer Entstehungszeit, denn sie sind Ausdruck des je zu ihrer Zeit Geglaubten4. Sie haben durch die Entwicklung der Kirche und der Theologie hindurch ihre Bedeutung gewahrt. Denn die hier behandelten Passionslieder sind i.d.R. immer Teil des Liedbestandes der gängigen Gesangbücher gewesen, wenn es auch häufig Umdichtungen der Texte, dem Zeitgeschmack entsprechend, gegeben hat.

Sie sind auch heute von Bedeutung. Sie sind als Lieder des EG Teil der gegenwärtigen Liedkultur und darum in der Lage, das Singen, Glauben und Hoffen der gegenwärtigen Christen zu prägen. Aufgrund dieser Kontinuität haben sie eine besondere Beständigkeit in ihrer Präsenz im Leben der Glaubenden. Darum sollen sie hier bei dem Fragen nach dem Paradox der Passion, „Wie kann aus dem Sterben des einen das Leben des anderen hervorgehen?“, nach ihrem Beitrag gefragt werden.

1.2Die Untersuchung

Im Rahmen der Untersuchung soll im Blick auf das Verständnis der Passion und der diesbezüglichen Botschaft der Lieder diesen Fragen nachgegangen werden:

In welchem historischen Kontext ist das Lied entstanden und hat es zuerst gesprochen? Vor welchem theologischen Hintergrund ist es gedichtet, d.h. welche dogmatischen Voraussetzungen prägen es? Welche Aussagen macht es darüber, wer der Gekreuzigte für seinen Betrachter ist? Wer ist der Mensch vor dem Gekreuzigten? Was ist das eigentliche Geschehen am Kreuz und was bedeutet es für den Menschen vor ihm? Wie wird es ihm zugeeignet? Worin besteht demzufolge sein Potential, einen Menschen anzusprechen und seinen Lebensvollzug mit der Botschaft vom Kreuz zu verweben?

 

Die Untersuchung richtet sich also auf die Texte der Passionslieder in ihrem theologischen Zusammenhang, auf die Melodien, die Dichter und Melodisten.

Es liegen bisher einige Arbeiten vor, die eine einzelne Liedkategorie ausführlich in ihren theologischen Zusammenhang stellen. Dazu gehören Untersuchungen zu Abendmahlsliedern, Adventsliedern und Taufliedern1. Lieder zur Passion haben bisher erst in überblicksartigen Aufsätzen Beachtung gefunden2.

Als Ergebnis der im 19. Jh. entstandenen kritisch-systematischen Hymnologie liegen Liedkompendien vor3, in denen Melodien und Texte von Kirchenliedern gesammelt und kurz kommentiert sind. Wo der Kontext beleuchtet wird, liegt der Schwerpunkt auf der biographischen Darstellung der Lieddichter4, weniger auf dem Lied selbst in seiner eigenen Aussage. Darüberhinausgehend veröffentlichte Johannes Kulp im Handbuch zum EKG kurze Analysen von Text und Melodie von Kirchenliedern5. Als entsprechendes Nachfolgewerk zum EG ist die „Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch“ entstanden, in der diese Methode verfeinert und ausführlicher durchgeführt wird.

Erst seit den 50er Jahren sind Einzelstudien zu Kirchenliedern entstanden, in denen der Werdegang von Liedern und ihr theologischer Kontext dargestellt werden. Als Monographie, die den Zusammenhang von Kirchenlied, Frömmigkeit und Theologie beleuchtet, ist seit 1957 das Buch von Ingeborg Röbbelen6 bestimmend gewesen, die allerdings – geprägt von der dialektischen Theologie und ihrem Verständnis von Frömmigkeit – Lieder des Barock theologisch als eher minderwertig beurteilt.

Nachdem sich zunächst die germanistische Forschung erneut auf Lieder des Barock konzentriert hat7, ist innerhalb der Theologie das Interesse an theologischer Liedforschung gewachsen. Hierzu liegen Arbeiten von Elke Axmacher u.a.8 vor, in denen Lieddichtung und Gesangbuch nicht nur biographisch, sondern auch theologisch eingeordnet und analysiert werden. Mit Passionsfrömmigkeit und ihrem Niederschlag in Passionsliedern befaßt sich Anne-Madeleine Plum9. Dazu gibt es einzelne Aufsätze, die sich in dieser Weise auch auf die Theologie der Passionslieder z.B. Paul Gerhardts gerichtet haben10.

 

Als Quelle für die hier untersuchten Passionslieder dient der Stammteil des Evangelischen Gesangbuches, das seit 1996EKD-weit eingeführt ist. Dessen Lieder sind als Teil des gegenwärtigen Singens geeignet, die Frömmigkeit der Gegenwart zu prägen. Wie der Einzelne sein Glaubensleben in Bezug auf die Passion vollzieht, ist bei der Diversität christlicher Lebensentwürfe und -vollzüge schwer zu eruieren. Aber die Lieder des EG haben durch dessen Verbreitung in den Gemeinden der EKD und durch ihre Verwendung im Gottesdienst einen hohen Wirkungsgrad. Deshalb sind sie am ehesten als Träger einer Passionsfrömmigkeit der Gegenwart anzunehmen oder haben das Potential, Träger zu werden.

 

Die untersuchten Lieder stammen aus zwei Zeiträumen:

Das 16. Jh., die Zeit der sich ausbildenden reformatorischen Theologie und der Konstituierung der evangelisch-lutherischen Kirche im Raum der deutschen Länder.

Das 17. Jh., die Zeit des Dreißigjährigen Krieges und der nachfolgenden Jahrzehnte. Das zuletzt entstandene Lied stammt aus dem Jahr 1722; es steht am Ende der Entwicklungslinie, auf der sich die zuvor betrachteten Lieder des 17. Jh. bewegen; es ist, auch im Blick auf seinen Dichter, dem Dresdner Superintendenten Löscher, im Gottesdienst der Kirche beheimatet und in ihm sind orthodoxes Luthertum und innige Jesusfrömmigkeit miteinander verbunden. Zu diesem Zeitpunkt hat aber mit dem Gedankengut des Pietismus und der Aufklärung und der damit verbundenen Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit auch schon eine neue Entwicklung in der Lieddichtung begonnen.

 

In dieser Untersuchung werden zunächst die Passionslieder in der Reihenfolge ihrer Entstehung als in sich vollständige und eine eigene Botschaft tragende Kunstwerke betrachtet, und zwar in zwei Abteilungen, den beiden Zeiträumen des 16. und 17. Jh.

 

Dabei wird die früheste belegte Fassung zugrunde gelegt. I.d.R. dienen als Quelle die Werke von Zahn und von Wackernagel, soweit sie die ursprüngliche Fassung vorliegen hatten. Von der ursprünglichen Fassung abweichende Lesarten in der gegenwärtigen, also der EG-Fassung werden benannt.

 

Es werden zunächst die Zusammenhänge beleuchtet, in denen das Lied jeweils entstanden ist: Dichter, Komponist, Ort und Zeit.

Seine Botschaft wird in Form eines Kommentars zum Text herausgearbeitet.

Die Art und Weise, wie es in Musik gesetzt ist, und die Korrespondenz von Ton und Wort, von musikalischer und theologischer Botschaft, werden untersucht.

Die Botschaft wird in Zusammenhang mit dem gelehrten Glauben und der gelebten Frömmigkeit zur Zeit der Entstehung gebracht.

Daraus wird die Idee erschlossen, die das Lied über die Zeiten hinaus in sich trägt: die Botschaft über den Weg, auf dem dem Glaubenden das am Kreuz erworbene Heil vermittelt wird.

 

Die Einzeluntersuchungen sind eingebettet in einen Rahmen:

Vorangestellt wird Luthers „Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“ von 1519 (WA2, 136–142). Dazu werden zwei andere sermones de passione dargestellt. Dabei wird Luthers Umgang mit der Passion und ihre Einordnung in sein theologisches Denken herausgestellt. Luthers Verständnis von der Passion Christi und vor allem von der Art und Weise der Aneignung durch den Menschen, der sie betrachtet, spiegeln den Neubeginn, den er mit seiner Theologie macht. Es werden anhand der drei Sermones Weg und Inhalt, Absicht und Zielrichtung der Passionsbetrachtung nach Luther dargestellt. Die in der Arbeit untersuchten Passionslieder sind ein Teil der vom Denken und von der Theologie Luthers geprägten reformatorischen Entwicklungen. In der Untersuchung soll deren Aussage ans Licht gestellt werden, doch Luthers inhaltliche Schwerpunkte der Passionsbetrachtung sollen dabei im Hintergrund stehen und einen hermeneutischen Kanon bilden, an dem sich die Fragen an die Lieder ausrichten.

 

Nachdem die Lieder einzeln untersucht worden sind, wird das Liedkorpus in seiner Gesamtheit betrachtet: Wo ist seine Botschaft in der biblischen Theologie vom Kreuz und wo ist sie in der dogmatischen Theologie zu verorten?

 

In der Schlußfolgerung soll mit Blick auf die Gesamtheit der Lieder der Frage nachgegangen werden, was ihre Aussage und Bedeutung für die Existenz des Einzelnen und im Leben der Christlichen Kirche ist.

1.3Begriffsklärungen

1.3.1Kirchenlied

Als Bezeichnung der im Gottesdienst gesungenen Lieder hat sich im Sprachgebrauch der Begriff des Kirchenliedes eingebürgert. Die Literatur spricht von der „Geschichte des Kirchenliedes“.

Der Begriff des Kirchenliedes taucht als Bezeichnung für das im Gottesdienst der Kirche gesungene Lied zuerst bei Herder auf und manifestiert sich in den Anthologien des 19. Jh. und beginnenden 20. Jh.1

Zuvor gab es mannigfaltige Bezeichnungen; es tauchte auch schon im 16. Jh. der Begriff „kirchenlidlin“2 auf, wurde aber neben anderen verwendet, ohne daß eine Begriffshierarchie oder allgemeine Systematik bestanden hätte. So taucht auch der Begriff „Geystliche Lieder“ schon auf dem Deckblatt zum Babstschen Gesangbuch von 1545 auf; dieser Begriff wird in der Vorrede zum Kap. 2 definiert werden.

Dabei postuliert der Begriff scheinbar die Existenz einer Gattung, d.h. einer musikalischen Form mit einheitlichen Stilmerkmalen. Aber Form, Melodik, Harmonik waren im Laufe der Zeit vielen Veränderungen und wechselnden Einflüssen ausgesetzt und es spielen viele unterschiedliche Traditionen in die Entwicklung des Liedes hinein. In diesem Sinne ist es kaum möglich, von einer Gattung zu sprechen, weil Kirchenlieder durch die jahrhundertelange Spanne, über die sich ihre Entstehung erstreckt, formal sehr wenig übereinstimmende Faktoren aufzuweisen haben.

Was von der „Gattung“ Kirchenlied sprechen läßt, ist eine Übereinstimmung in der Funktion, die nach C. Dahlhaus3 musikalische Gattungen bis ins 18. Jh. bestimmt, bevor andere Merkmale gattungsprägend wurden.

Darum ist es sinnvoll, angesichts dessen, daß die in heutigen Gesangbüchern befindlichen Liedern im Gottesdienst gesungen werden, von ihnen als Kirchenliedern zu sprechen, mit dem Wissen im Hintergrund darüber, daß man von deren Entstehung her kaum von einer übereinstimmenden Funktion sprechen kann, da die Unterschiede in Entstehungskontext und erster Bestimmung unterschiedlich sind: Die heute im Gesangbuch versammelten Lieder können für ein Erbauungsbuch, als nicht zum Gesang bestimmtes Gedicht, als Lied für die häusliche Erbauung, als Lied zum Zwecke der Ausbreitung des reformatorischen Gedankengutes, als Lehrmittel für die Schule oder gar wirklich für den liturgischen Gebrauch im Gottesdienst entstanden sein.

1.3.2Frömmigkeit

Der Begriff der „Frömmigkeit“ gehört gegenwärtig nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch, auch gibt es keine selbstverständliche Übereinkunft über seine Definiton1. In dieser Arbeit aber kommt er als ein Aspekt der Untersuchung von Passionsliedern vor als Frage nach der „Passionsfrömmigkeit“, die in ihnen Ausdruck findet.

 

Innerhalb der Kulturwissenschaften versteht man gegenwärtig unter „Frömmigkeit“ eine „spezifische und irreduzible Form kultureller Rezeptivität und Produktivität“, eine „in einer individuellen, doch stets in Wechselbeziehung mit sozialer und kollektiver Praxis sich ausbildende und verändernde Lebensgestalt“.2

Evangelischen Liedern sind zwei Bewegungsrichtungen zueigen: Einerseits prägen sie das christliche Leben an verschiedenen Orten der individuellen und der kollektiven Glaubenspraxis und üben so auf den Glauben und die Glaubensweise eine Wirkung aus. Andererseits erwachsen sie in ihrem Entstehungsprozeß aus der Glaubenshaltung des Dichters und können somit ein Ausdruck einer bestimmten, u.a. durch die jeweilige Gegenwart bedingten Haltung sein. Deshalb haben diese Lieder in ihrer „Rezeptivität und Produktivität“ einen wesentlichen Anteil an der Frömmigkeit ihrer Zeit.

 

Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird der Begriff der „Frömmigkeit“ uneindeutig verwendet. In der Umgangssprache sind oft Vorbehalte mit ihm verbunden, die darunter „ein überständig gewordenes Verhalten (verstehen), das sich auf lebensweltlich unerhebliche, privatistische Innerlichkeit beschränkt oder sich an bloß konventionelle Formen der Religionspraxis hält“ und religiöse Überzeugungen unter Illusionsverdacht stellt3.

In der theologischen Literatur wird der Begriff – ohne eine Entwertung – in verschiedenen Zusammenhängen verwendet, seien es kirchengeschichtliche oder exegetische, seien es praktisch-theologische, soziologische oder religionspsychologische Zusammenhänge4, hier ist festzustellen, daß kein übereinstimmendes Verständnis oder eine allgemeingültige Definition vorliegt. Die Tendenz geht allerdings auch hier dahin, die besonders durch eine etwas einseitige Rezeption von Schleiermacher in seinem Verständnis vom „frommen Selbstbewußtsein“ des Menschen geförderte Eingrenzung der Frömmigkeit auf das Innere des Menschen und die daraus erwachsene psychologische Deutung dominieren zu lassen und dem Begriff seine theologische Relevanz zu entziehen.

 

In dieser Arbeit soll die Frömmigkeit über die funktionale Beschreibung der Kulturwissenschaften hinaus theologisch verstanden werden als die Beschreibung des erfahrenen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch aufgrund des rechtfertigenden Handelns Gottes am Menschen in Christus.

„Frömmigkeit“ ist in seiner theologischen Bestimmung ein ureigen evangelischer Begriff, von Martin Luther aus seinem ursprünglich profanen Zusammenhang in den christlichen übertragen. In seinem profanen Verständnis ist er von ahd „fruma“ (Vorteil, Nutzen) hergeleitet, mhd „vrum“ (nützlich, tüchtig, rechtschaffen) und so bezeichnet „vrumkeit“ eine ehrenhafte, rechtschaffene Lebensweise.

Bezeichnend für Luthers Verständnis ist seine Übersetzung des δίκαιος in Lk 23,47: „Wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch gewesen“5.

Besonders in seiner Freiheitsschrift verwendet er bestimmte, häufig wiederkehrende Formeln synonym, die die inhaltliche Bedeutung des Begriffes „fromm“ deutlich machen: „gerecht und fromm“, „fromm und wahrhaftig“, „fromm und selig“.

Frömmigkeit erwächst nicht aus einer bestimmten Handlungsweise: Kein „eußerlich ding“ macht den Menschen „frey noch frum“6, sondern „das man von hertzen glaubt, das macht eynen gerecht und frum“7.

Nicht gute Werke sind die Quelle der Frömmigkeit, sondern wo die Seele „das wort gottis, von Christo geprediget“ hat, ist sie „frum“ und „frei“8. Das Wort bleibt nicht außerhalb der Seele, sondern schon in den Formulierungen Luthers klingt eine erste Stufe zu einer innigen Verschmelzung der Seele mit dem Geglaubten an; er kann davon sprechen, daß es für die Seele das Evangelium ist, „darynen sie lebe“9. „Das ist nimant dan der glaub des hertzen, der ist das haubt und gantzis weßens der frumkeyt“10

In der Erkenntnis Gottes als „Wahrheit und Frömmigkeit“ liegt der Ursprung der menschlichen Frömmigkeit: „wenn die seele gottis wort festiglich glaubt, ßo helt sie yhn fur warhafftig, frum und gerecht“, dann hält Gott sie auch für „frum und warhafftig durch solchen glauben“.11

 

Die Frömmigkeit des Menschen ist christologisch begründet. Luther sagt über Christus: „seine frumkeyt (ist) unübirwindlich, ewig und almechtig“12. Dabei ist Frömmigkeit hier eine direkte Übersetzung der Gerechtigkeit: „Eiusque iustitia, vita, salus insuperabilis, aeterna, omnipotens est“13. Der Glaube des Christenmenschen ist „sein leben, frumkeyt und seligkeyt“14. Dies beruht auf dem Kreuzesgeschehen, aufgrunddessen das Herz glaubt, „Christus frumkeit sey sein, und sein sund sein nymmer sein, sondern Christi“15. Die enge Verbindung von Kreuzesgeschehen, Glaube und Frömmigkeit schlägt sich in einem forensischen Verständnis auch der Frömmigkeit nieder, die in der häufig wiederkehrenden Formel „Frömmigkeit vor Gott“ sichtbar wird und deren Analogie zur Gerechtigkeit deutlich macht: Der Glaube allein ist die „frumkeyt fur gott“16. Christus ist der Mittler der von Gott geschenkten Frömmigkeit: Gott gibt durch Christus aus Barmherzigkeit „vollen reychtumb aller frumkeyt und selickeyt“17.

 

In der Freiheitsschrift findet sich häufig auch das Gegensatzpaar „fromm oder böse“, das Luther auf die Handlungsebene bezieht: Frömmigkeit findet auch nach seinem Verständnis ihren Ausdruck in guten Werken, die aber nicht die Frömmigkeit konstituieren, sondern Konsequenz aus ihr sind.18 Mit noch weiter gefaßter Bedeutung verwendet Luther „Frömmigkeit“ auch in der Weise, daß sie die gesamte Erscheinungsweise des christlichen Lebensvollzuges benennt.

 

Dieser Aspekt der Frömmigkeit war von Karl Barth als Ansatzpunkt für seine Ablehnung und Entwertung der Frömmigkeit als Sünde genommen worden. Darin erfaßt er aber nicht ihr ganzes Wesen, sondern nur eine Verkehrung der Frömmigkeit durch ihre Verselbständigung und Ablösung von ihrem Geber, die sie als menschliches Verhalten begreifen läßt. Diese Gefahr war schon von Martin Luther gesehen worden, der auch sagen konnte, „menschliche Frömmigkeit“ sei „eitel Gotteslästerung“19.

 

Für ein Verständnis von Frömmigkeit im Sinne des evangelischen Glaubens ist entscheidend, daß Frömmigkeit nicht zuerst als ein menschliches Verhalten oder seine innere Disposition zu begreifen ist, sondern daß Gottes Frömmigkeit, anders: Gottes Gerechtigkeit, am Beginn des Heilsgeschehens am Menschen steht. Christi Frömmigkeit wird dem Menschen mitgeteilt über das Geschehen am Kreuz. Sie macht den, der daran glaubt, „fromm und gerecht“. Der fromme Mensch ist der vor Gott gerechtfertigte Sünder.

 

Gott selber als Urgrund und Geber der Frömmigkeit wird ca. 100 Jahre nach Luther im Lied „O Gott, du frommer Gott“ von Johann Heermann benannt. Auch bei ihm wird deutlich, daß in Gottes Frömmigkeit seine Eigenschaft als „Brunnquell guter Gaben“ begründet liegt. Auch Heermann bestimmt diese „beneficia“ (Melanchthon) als „unverletzte Seel und rein Gewissen“, also in einer Umschreibung des gerechtfertigten Menschen.

 

Auf der etymologischen Grundlage der profanen Bedeutung des Begriffes „fromm“ als das, „was mir nützlich ist“ und ausgehend von der Bedeutung, die durch die Einführung in den theologischen Sprachgebrauch durch Martin Luther der „Frömmigkeit“ innewohnt, soll in dieser Arbeit der Begriff verstanden werden: Die Frömmigkeit des einzelnen Menschen besteht in dem Status, in den er durch Gottes heilsgeschichtliches Handeln versetzt worden ist. Im Kreuz Christi kommt Gottes Frömmigkeit, die in Christus personbildend war und ihm so diese Eigenschaft durch die communicatio idiomatum mitgeteilt hat, auf den Menschen, der im Glauben das Leiden und Sterben Christi pro nobis ergreift und als seine Gerechtigkeit vor Gott annimmt.

Weil diese über das Kreuzesgeschehen dem Glaubenden vermittelt wird, haben alle Äußerungsformen der Frömmigkeit ihren Anfang in der Passionsfrömmigkeit. Im Singen von Passionsliedern bekennt sich der Singende zu diesem Verhältnis von Christus und Glaubendem, in dem sein Handeln allein in der dankbaren Antwort auf das Heilsgeschehen am Kreuz besteht.

 

Das Singen zum Lobe Gottes als Übung der Frömmigkeit wird auch von Melanchthon in seiner Vorrede zu den Symphoniae iucundae in diesen christologischen Kontext gestellt:

„Wie also Christi Worte, Taten oder Wohltaten in Gesang zu feiern nützlich ist, so sollte in besonderer Weise die Musik mit der Geschichte seines Todes verbunden werden. Die Betrachtung über den Tod Christi sollte in der Kirche am meisten gelobt werden: es gibt nämlich nichts Nützlicheres … zum Üben der Frömmigkeit als die Betrachtung jener bewunderungswürdigen Werke. Wir erkennen nämlich in diesem Bild, daß die Barmherzigkeit Gottes unendlich gegen uns ist, dadurch, daß er seinen Sohn für uns zum Sühnopfer machen wollte.“20

 

Der Vorbehalt gegen die Frömmigkeit als auf das Innere des Menschen begrenzte Haltung hat in diesem Verständnis keinen Raum; der hier begründete organische Zusammenhang von Glauben und Lebensvollzug führt zur Definition von Frömmigkeit bei Karl-Heinz Ratschow als „Lebensgestalt des Glaubens aus und vor Gott“21.

2Das 16. Jh. – Passionslieddichtung im Wirkungsfeld Martin Luthers

2.1Grundlegung

2.1.1Die Passionsauffassung Luthers

2.1.1.1„Eyn Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“ von 15191

Darstellung des Sermons

Zunächst grenzt sich Luther ab von einer Art und Weise, das Kreuz zu betrachten, die er für nicht fruchtbar hält: nach dem Schuldigen am Tod Jesu zu suchen oder es als magisches Instrument zur Abwehr von Gefahren zu benutzen oder den Wert des eigenen Betrachtens an seiner Zeitdauer oder an dem Grad der Ausgestaltung der einzelnen Episoden aus dem Bericht der Evangelien und der Tradition zu messen.

Als grundlegende Voraussetzung für eine fruchtbare Betrachtung der Passion gilt ihm das Inbeziehungsetzen des Geschehens am Kreuz durch den Betrachter auf sich selber, i.e. das Wissen, daß dieses um des Betrachters willen geschehen ist. Es hat keinen Nutzen, Gott für Gott zu halten, wenn „er dier nit eyn got ist“1.

Am Beginn der Betrachtung steht das Erschrecken vor dem Leiden Christi. Der Betrachter erkennt sich selber als den, der dieses Leiden durch seine Sünde verursacht hat. Die Schwere des Leidens, das Gott dem geliebten Sohn abverlangt, und die Tatsache, daß es diese „große unmesliche Person“, die „ewige weyßheyt des vatters“2 ist, die selbst das Leiden erträgt, ist Hinweis auf den Ernst der Situation des Sünders vor Gott. Das Erschrecken wird auch durch das Wissen um die viel größere Strafe, die ihn selber in dieser Situation aufgrund seiner Sünde erwarten würde, genährt. Das erste Teilziel der Betrachtung ist erreicht, wenn „der mensch zu seyns selb erkentniß kumme und fur yhm selbs erschrecke und zurschlagenn werde“3. Hier liegt der „nutz“ der Betrachtung: Indem der Betrachter im Gewissen gemartert wird wie Jesus an Leib und Seele, erfährt er dessen Leiden an sich selber und wird ihm darin gleichförmig.

Das Bedenken von Gottes Leiden wandelt den Menschen „weßenlich“, i.e. in seinem Wesen, in seiner existentiellen Beschaffenheit. Es bewirkt den Tod des alten Adam, den Verlust der Zuversicht auf selbst geschaffene und als Heilmittel eigenen Verdienstes ersonnene Wege. Der Mensch erlebt wie Christus am Kreuz das Verlassensein von allem, auch von Gott. Das Werk des Leidens Christi erfüllt sich in dieser Erfahrung: die Wandlung, die es bewirkt, kommt der Neugeburt durch die Taufe nahe4.

 

Hat die Betrachtung des Leidens Christi diesen Nutzen von Selbsterkennntis und Gleichförmig-Werden erfüllt, soll der Mensch die Sünde nicht in seinem Gewissen lassen. Sie würde im Herzen nur „fressen und beißen“ oder den Menschen dazu bringen, Zuversicht aus falschen Mitteln zu gewinnen zu suchen; aus guten Werken, Genugtuungswerken und Ablaß. Sie würde also wieder zu auf eigenem Handeln beruhenden Werken führen, mit denen er sich von ihr befreien wollte. Sie wären stärker als der Mensch und würden „leben ewiglich“.

Der Mensch soll sie aber auf Christus schütten, von dem her ihre Erkenntnis auch gekommen ist. Dies soll geschehen im Vertrauen darauf, daß Christus sie mit seinen Wunden und Leiden trägt und bezahlt. Wenn sie auf ihn geworfen sind, soll sich der Betrachter darauf verlassen, daß sie nun überwunden und tot sind.

Luther führt an dieser Stelle den Begriff der iustitia ein: Nachdem aus dem Leiden Christi die Sündenerkenntnis kam, bewirkt seine Auferstehung unsere Gerechtigkeit.

Luther sieht hier nun die Möglichkeit, daß der Glaube des Betrachters nicht zur Gewißheit ausreicht, daß die Sünde nun überwunden ist. Für diesen Fall rät er zu einer Möglichkeit, sich zu diesem Vertrauen zu „reizen“. Der Mensch soll nicht mehr auf das Leiden sehen, das ja sein Werk nun getan hat, ihn zu erschrecken. Sondern er soll „durch yhn dringen und ansehen seyn fruntlich hertz“5, das voller Liebe gegen ihn ist, aus der heraus er die Sünde auf sich genommen hat. Diese Erkenntnis bewirkt, daß das Herz des Betrachters Jesus gegenüber „süß“ wird. Indem der Betrachter aber nun weitersteigt zu Gottes Herz, erkennt er die Quelle der Liebe Christi: die ewige Liebe Gottes, die den Sohn aus Gehorsam zu seinem Liebeserweis gebracht hat.

Am Ende des Erkenntnisvorganges steht nun die Gotteserkenntnis. Hier tut der Mensch recht daran, wenn er Gott nicht bei seinen Eigenschaften der Gewalt oder Weisheit ergreift, sondern bei seiner Güte und Liebe.

Diesen Erkenntnisvorgang bringt Luther mit der johanneischen Formel „durch Christus zum Vater gezogen“ in Verbindung: Auch dieses Erkennen ist von Gott gewirkt.

An dieser wie an anderen Stellen des Sermons betont Luther die Alleinwirksamkeit Gottes in der Betrachtung des Leidens Christi. Das rechte Betrachten will erbeten sein und ist Gabe Gottes: das Fruchtbar-werden des Betrachtens, die conformatio, der Glaube, der mit „ganzem Wag“ die Sünde auf Christus schüttet. Es besteht auch die Möglichkeit, daß wir nicht erkennen, wenn Gott so an uns handelt. Auch dieses Nicht-Erkennen unterstreicht wiederum das autonome Handeln Gottes in dem Geschehen.

In seinem letzten Gliederungspunkt geht Luther auf die Folgen der Betrachtung des Leidens Christi ein: Das Betrachten selber ist ein mehrfacher Erkenntnisvorgang: Die Selbsterkenntnis und Sündenerkenntnis, das Erkennen der Liebe Christi und des Vaters.

Aus diesem Erkennen folgt, daß nun das Leiden Christi zum Exempel für das ganze Leben wird.

Hier deutet er den Betrachtungsvorgang nach der augustinischen Unterscheidung von sacramentum und exemplum. Die durch das rechte Betrachten des Kreuzes sich vollziehende Neugeburt des Menschen ist von Gott gewirkt, das Leiden ist also „sacramentum“, „das in uns wirkt und wir leiden“. Darauf folgt nun die Bedeutung des Leidens als „exemplum“, „das wir wirken“:

Den Anfechtungen des Lebens wie Leiden, Unterworfenheit unter fremden Willen, Anfechtung durch Hoffart, Rachsucht oder Trübsal, können wir begegnen, indem wir uns vor Augen halten, daß unsere Anfechtungen im Vergleich zu denen, denen Christus standgehalten hat, gering sind, oder wir können aus dem Verhalten Christi für das eigene Verhalten lernen und ihn nachahmen.

Auf diese Weise können wir „Christi Leben in das eigene Leben ziehen“. Implizit wird eine Veränderung im Verständnis des „exemplum“ deutlich: Diese imitatio des Handelns Christi ist nicht selbstgezeugt, sondern sie entspringt der Wandlung, die durch die Erkenntnis der Liebe Gottes sich in uns vollzogen hat: Aus der erkannten Liebe Gottes heraus, die unsere Liebe zu Gott weckt, werden wir zu Sündenfeinden. So ist das Leiden Christi uns zum Exempel geworden. Unser Handeln in seiner Nachfolge ist aber kein Tun aus eigener Kraft, sondern es ist von Gott selbst hervorgerufen.

Die Hauptlinien der Argumentation Luthers

cognitio sui

Die Bewegungsrichtung auf ein Ziel gerichtet, die cognitio sui. Ihr Wert und Sinn ist die Selbsterkenntnis.

Die Betrachtung dient dazu, am Gegenüber sich selbst zu erkennen. Die eigene Sünde vor Gott erkennen, die eigene Verlorenheit ist erkennbar an dem Ausmaß des Zornes Gottes, der sich hier zeigt. Es wird offenbar zum Einen an der Schwere des Leidens Christi. Zum anderen an der Tatsache, daß der geliebte Sohn dies tragen muß. Der Gedanke folgt dem Prinzip der Überhöhung: Wenn schon der geliebte Sohn und dazu noch einer, der ohne Sünde ist, solche Strafe zugemessen bekommt, wieviel mehr müßte ich vor Gott schuldiger Mensch an Strafe entgegennehmen. Das Schicksal Christi dient also als Sündenspiegel.

Dabei geht es, wenn man der Argumentation Luthers folgt, nicht um ein neu erworbenes Wissen „Ich bin ein Sünder“, sondern darum, daß den Betrachter die Erkenntnis trifft, daß „Ich“ es bin, um den es hier geht; der Betrachter stellt einen Bezug zwischen sich und dem betrachteten Geschehen her. Er sieht sich selbst in den Vorgang hineingenommen.

Darin entspricht dieses Erkennen dem vorausgegangenen Wort „… was hilfft dichs, das gott got ist, wan er dier nit eyn got ist?“ Was hilft es dir, dich als Sünder zu wissen, wenn du die Sünde nicht auf dein Gottesverhältnis beziehst?

Cognitio sui bedeutet also strenggenommen: Das Ich erkennt sich in seinem Verhältnis zu Gott und zu dem Leiden Christi. Die Beschaffenheit des Gottesverhältnisses wird am Leiden offenbar. Es handelt sich also um keine absolute Selbsterkenntnis, sondern eine relative. Sie bedeutet den Beginn einer Begegnung mit dem Gekreuzigten.

Der Erkenntnisweg

Die gewonnene Selbsterkenntnis bleibt aber nicht bei sich selber stehen: Nachdem der Betrachter im Leiden des Gekreuzigten sich selbst in seiner Verfassung vor Gott erkannt hat, über sich erschrocken ist und im Gewissen leidet1, soll er von sich weg blicken, wieder hin zum Gekreuzigten, von dem her sein Blick auf sich selber gelenkt worden ist. Der erneute Blick auf Christus eröffnet weitergehendes Erkennen: Der Betrachter sieht das liebende Herz Christi, durch dieses hindurch erkennt er das Herz des Vaters, das voll Liebe ist. Nachdem am Beginn der Zorn Gottes über die Sünde stand, folgt nun die Erkenntnis Gottes als gütigen, liebenden Vater. Die Erkenntnis von Zorn und Liebe, d.h. eine doppelte Gotteserkenntnis vollzieht sich also in der Betrachtung des Gekreuzigten.

Der Zorn Gottes und seine Liebe gehören bei Luther zueinander. Schon in der Ersten Psalmenvorlesung hat er seine Christologie dargelegt, nach der im Kreuz Christi sich Zorn und Liebe als konstitutiv für das Rettungshandeln Gottes am Menschen erweisen. Das Zorngericht am Sohn ist nach seinem Verständnis das opus alienum Gottes, der darin das opus proprium verwirklicht. Durch das Gericht, das er an ihm vollzieht, führt er ihn zum Leben. So ist es sichtbar an Christus, und so gilt es für den Menschen, der sich diesem Gericht unterwirft und Gott in seinem Urteil über ihn recht gibt. Christus zieht den Menschen hinein in sein Leiden, Sterben und Auferstehen.

Es scheint, daß Luther in der Darstellung des Erkenntnisweges von den Hoheliedpredigten Bernhards herkommt. Bernhard versteht die Seitenwunde, die auf das durchbohrte Herz Jesu verweist, als Wunde, in der die Liebe Gottes sichtbar wird: „Patet arcanum cordis perforamina corporis, patet magnum illud pietas sacramentum, patent viscera misericordiae dei nostri“2. Durch nichts konnte die hier offen erkennbare Liebe deutlicher werden als durch die Wunden Christi, betont Bernhard. In dieser Tradition stehend hat Luther aus ihr doch ein eigenes christologisches Konzept entwickelt.

 

conformatio

Nach dem Sermon ist die Selbsterkenntnis des Betrachters des Leidens Christi letztlich der Schlüssel dazu, Christus gleichförmig zu werden.

Der Selbsterkenntnis, die durch Erschrecken vor sich selbst ausgelöst wurde, folgt der Verlust aller Zuversicht auf „creaturen“ und aller Möglichkeiten, sich vor den Folgen der Sünde zu bewahren, am Ende steht die Erfahrung der Gottverlassenheit. Das durch die Betrachtung des Gekreuzigten ausgelöste Leiden im Gewissen ist das Erleiden der Gottverlassenheit, das Christus erlitt. Durch dieses Leiden wird der Mensch christusförmig.

 

Dieser Prozeß des Gleichförmig-werdens ist in der Tradition verankert. Die conformatio, die in der spätmittelalterlichen Passionsbetrachtung zum allgemein verbreiteten Denkschema geworden ist, entspricht dem hier im Sermon beschriebenen Prozeß.

In der Tradition erreicht der Betrachter die conformatio dadurch, daß er sich selber in das Geschehen hineinversetzt, es mitempfindet und in der Nachfolge Christi in seinen Tugenden sich selber ihm gleichförmig macht. Der große Unterschied dazu bei Luther besteht nun darin, daß hier nicht das eigene Handeln zur Erlangung der Gleichförmigkeit führt, sondern sich das Leiden im Gewissen an dem Betrachter ereignet. Luther weist darauf hin, daß es Gott ist, der das rechte Erkennen schenkt, das zum Leiden im Gewissen führt. Es steht nicht im Bereich der Möglichkeiten des Menschen diese conformatio herbeizuführen.

So hatte es Luther schon in der Psalmen-Vorlesung entwickelt: Christus wird in seinem Leiden uns zum Exempel. Aber nicht wir bilden uns diesem Vorbild nach, sondern Gott bildet uns nach dem Bild Christi. Die Beziehung der Gleichförmigkeit liegt allein in Gottes Tat.3

Allein Gottes Handeln

Der Sermon Luthers ist durchwoben von Hinweisen darauf, daß Gott in der fruchtbaren Betrachtung der Passion am Menschen wirkt. Gott wirkt die cognitio sui, Gott erweicht das Herz (Gliederungspunkt 9). Gott schenkt das „Werk des Leidens Christi“, das Absterben des alten Menschen, die wesentliche Wandlung (10), die Neugeburt, die conformatio. Sogar oft ohne daß wir es erkennen (11). Gott schenkt den Glauben (14), mit dem wir unsere Sünden fort aus dem Gewissen, auf Christus schütten. (12)

Es erweist sich, daß Luther die Passionsbetrachtung und ihren Nutzen in ihrer Gesamtheit als Handeln Christi am Menschen versteht: Hierin besteht das grundlegend Neue bei Luther. Nicht mehr der Mensch ist es, der sich auf den Weg der Betrachtung der Passion begibt, um sich dadurch verdienstvoll das meritum seines Leidens zuzueignen, nein, hier ist das Geschehen in der Betrachtung des Leidens Christi allein Handeln Christi am Betrachter.

Abgeschlossenheit der Passion

Luther betont die Abgeschlossenheit des Geschehens: Die Sünden sind auf ihn geworfen und von ihm überwunden und tot. Es sind nun auch an ihm keine Schmerzen mehr. Das Geschehen ist vergangen. Präsent ist die Freiheit von Sünden, die Neugeburt, die Gleichgestaltung nach ihm, wir sind gerecht. Du „… sihest itzt keyne wunden, keyne schmertzen an ihm, das ist keyner Sunde anzeygung“ (13)

Es wird im Verlauf der Untersuchung sich zeigen, inwieweit das Verständnis von dem Leiden und Sterben Christi in seiner Abgeschlossenheit sich weiterträgt.

Sakramentales Geschehen

Leiden und Sterben Christi werden von Luther hier als sakramentales Geschehen verstanden: In seinem Leiden werden die Sünden offenbar und erkannt, mit seinem Sterben nimmt er sie mit in den Tod. Und wir sind ihrer ledig. Darin geschieht die Geburt des neuen Menschen, der Christus nachgebildet ist. Bei der ersten Erwähnung der Neugeburt benennt er noch die Beziehung zur „wesentlichen Wandlung“ des Menschen als eine Vergleichbarkeits-Beziehung (10). Später allerdings, nach der Beschreibung der Gotteserkenntnis, zu der der Betrachter durch das Blicken in Christi Herz gelangt, kann er sagen: „… und ist der mensch alßo warhafftig new ynn got geporen“ (14). Indem wir so durch Christus zum Vater gezogen worden sind, hat eine Neugeburt wie die in der Taufe stattgefunden.

Am Ende spricht er explizit davon, das Leiden Christi sei „sacramentum“, „das in uns wirkt und wir leiden“.

Am Ende des Sermons geht Luther auf die nun ermöglichte Überwindung der Anfechtung ein und bezeichnet sie in Unterscheidung vom sacramentum als Konsequenz des Verständnisses von Christi Leiden als exemplum. Dieses menschliche Handeln ist nun etwas, das „wir wirken“ aus der an uns bewirkten Gottesliebe und daraus folgenden Sündenfeindschaft heraus.

Auch an anderer Stelle geht Luther auf die Überwindung der Anfechtung ein. Dabei versteht er die Tat Christi der Überwindung der Anfechtung am Kreuz als Ermöglichung für unsere Überwindung der Anfechtung. Nur indem Christus überwunden hat und uns in sein Leben hineingezogen hat, können auch wir der Anfechtung begegnen und sie überwinden.1

Es erscheint m.E. als konsequent, nun auch im Blick auf den Schluß des Sermons die dort ausgeführte Nachfolge im Handeln nach dem Vorbild Christi ebenso sakramental zu verstehen, da ja auch dieses menschliche Handeln aus Christi Leiden und Auferstehen hervorgeht und demnach durch Handeln Gottes am Menschen bewirkt ist.

Dogmatische Verankerung

Der Sermon hat einen erbaulichen Charakter, dennoch ist der dogmatische Grund, auf dem er steht, deutlich profiliert.

 

a) Gotteseigenschaftenlehre: Luther nimmt Bezug auf die Lehre von den Eigenschaften Gottes. Er spricht von „Gewalt“, „Weisheit“ und „Liebe“ (14). Er legt also die scholastische Dreiheit von Allweisheit, Allmacht, Allgüte zugrunde. Aber er nimmt eine Bewertung vor, gewichtet sie in ihrer Relevanz für den Menschen. Für ihn sind die relativen Gotteseigenschaften, die auf den Menschen bezogene Eigenschaft der „Güte und Liebe“ von Bedeutung. Luther zieht hier die Konsequenz aus dem, was er zu Beginn sagte: Gott für Gott halten ist irrelevant, wenn „er dier nit eyn got ist“ (3). Er schlußfolgert: Die für den Menschen relevante Eigenschaft ist die Liebe Gottes. Diese erkennt der Mensch in der Betrachtung von Christi Leiden: der Glaube sieht nicht mehr auf das Leiden und die eigenen Sünden, d.h. nicht auf die äußere Häßlichkeit des Leidenden, „foeditas“, die ja Abbild der eigenen Sünden ist (vgl. unten Sermo 2), sondern er erkennt das Herz voller Liebe Christi und des Vaters, d.h. er sieht „species et forma“.

 

b) Trinität: Explizit formuliert Luther trinitarische Grundaussagen: Es ist Gottes Sohn, der selbst leidet; nicht etwa nur der Mensch Jesus, so spricht er die Passion vom doketischen Verdacht frei. Es ist der Sohn, der die ewige Weisheit des Vaters ist. (4) Daß es sich also beim Sohn Gottes um ein durch die Taufe oder gar erst die Auferstehung zum Gottessohn adoptiertes Geschöpf handelt, ist damit nicht denkbar. Sondern es ist der präexistente Gottessohn, dessen Werk die Schöpfung ist. Es ist der Sohn, dem der Vater die Majestätseigenschaften mitgeteilt hat (communicatio idiomatum). Dies ist der erste Hinweis darauf, daß nach Luthers Verständnis am Kreuz Gott selber leidet. An späterer Stelle (10) spricht Luther dann explizit vom Leiden Gottes.

 

c) Es wird erkennbar, daß Luther die Zweinaturenlehre konsequent durchdacht hat: Christus spürte am Kreuz die Gottverlassenheit. „… gleych wie Christus von allen, auch von got verlaßen war“ (10). Luther sieht die Menschheit Christi darin verwirklicht, daß er am Kreuz alle Zuversicht verloren hatte, bis dahin, daß er die Verlassenheit von Gott spürte, die den Menschen in seinem Sterben erwartet. Darin ist er ihm gleich geworden, wie ihm der Mensch umgekehrt durch die Betrachtung des Gekreuzigten in der conformatio auch darin gleich wird.

Diesen Gedanken hat er schon in der ersten Psalmvorlesung entwickelt. Christus zeigt „… die betende und zitternde Angst …, von Gott verworfen zu sein.“1. Aus seinem Beten von Ps 22,2 erkennen wir, daß er die Not der Gottverlassenheit spürt.2 Er erlebt die Not des vor Gott schuldigen Gewissens3. Er ist über den Ausgang des Geschehens im Ungewissen4.

Darin geht er über die Tradition hinaus, nach der Jesus am Kreuz allein körperliche Schmerzen erleidet, aber nicht die Gewissensschmerzen, und die wahrhafte Gottverlassenheit, die der Mensch als Sünder tragen muß. Luther übernimmt nicht die Rücknahme der Menschheit Christi in der Situation des Sterbens, die die Tradition um seiner Sündlosigkeit willen behaupten mußte, sondern betont gerade hier sein Menschsein, um so deutlich werden zu lassen, daß Christus auch von der eigentlichen Not des Menschen angefochten war, von der Not des schuldigen Gewissens. Dies tut er um der soteriologischen Aussage willen, daß gerade in dieser Not Christus an die Stelle des Menschen treten kann.

An dieser Stelle wird deutlich, welche Bedeutung in Luthers Theologie die Betrachtung des Leidens Christi für das Heil des Christen hat; es geht hier nicht allein um den Erwerb der Sündenvergebung in der Zeit, sondern um die grundlegende Wandlung zum Gerechten vor Gott.

Beziehungsgeschehen

Es zeigt sich, wenn man ansieht, in welcher Weise – dem Sermon folgend – der Mensch durch das Betrachten des Leidens Christi vom Sünder zum Gerechten wird, daß die Betrachtung den Charakter eines Beziehungsgeschehen zwischen dem Betrachter und dem leidenden Christus hat, an dessen Ende steht, daß der Mensch wesentlich verändert wird.

Es ist im Kern nicht mehr, wie vordem, eine Methode, nach der der Betrachter die von Christus erworbenen Heilsgüter sich selbst anrechnen lassen kann, um Sündenschuld auszugleichen. Es liegt nicht mehr ein planvolles, methodischen Schritten folgendes Handeln des Betrachtenden vor. Sondern in der Betrachtung nach Luthers Darstellung geschieht die Begegnung von Gott und Mensch. Die neue Situation vor Gott ist nun nicht durch die Abwesenheit von Sünde gekennzeichnet, sondern dadurch, daß der Mensch „wesentlich“ verändert, neu geboren ist. Es ist eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch konstituiert und in dieser besteht das Heil.

Dies geschieht nach dem Sermon in folgender Weise: Der erste Schritt ist, daß der Mensch sich dem aussetzt, was er sieht, das Leiden Christi, und daß er mit Schrecken erkennt, daß er es ist, der dies hervorgerufen hat. Die Folge ist nun, daß er sich diesem Schrecken nicht mehr entziehen kann. Er verliert alle Zuversicht in sich und in geschaffene und durch eigenes Handeln umsetzbare Wege, die Sünde zu bereinigen. Luther führt dazu an: Messen, Fasten, Psalmen beten.

An dieser Stelle hört er auf zu handeln und Gottes Handeln setzt ein: er läßt den Menschen im Gewissen leiden. Er macht den Menschen darin christusförmig. Er schenkt ihm den Glauben, die Sünde auf Christus werfen zu können und sie dadurch vernichtet zu sehen. Er zieht den Menschen in der Betrachtung Christi zu sich und zu der Erkenntnis seiner Liebe. Der Mensch wird so zum Sündenfeind. Er ist ein anderer, er ist neu geboren, er will nicht mehr sündigen.

Das heißt: Der Betrachter geht anders und neu aus der Betrachtung hervor, und das liegt darin begründet, daß er von Gott in seiner Beziehung zu ihm „wesentlich“ verwandelt worden ist.

 

Dies wird auch sichtbar in der zu Beginn von Luther formulierten Voraussetzung: Sinn liegt in der Beschäftigung mit der Passion, wenn man sie auf sich selbst bezieht: Er ermahnt den Leser, der sich anschickt, die Passion Jesu zu bedenken, sie auf sich selbst zu beziehen. Das Für-wahr-halten der Wahrheit Gottes ist irrelevant, wenn „er dier nit eyn got ist“. Ebenso ist das Beziehungsmoment erkennbar an dem Ziel der Betrachtung: Am Ende soll stehen, daß im Betrachter die Gottesliebe geweckt wird. Der neue Mensch ist nun zum Sündenfeind aus Gottesliebe geworden. Mit der Gewichtung der Eigenschaften Gottes, die er vornimmt, wird dies bestätigt: Erkenntnis Gottes bedeutet weniger die Erkenntnis der absoluten Gotteseigenschaften wie Gewalt oder Weisheit, sondern der relativen wie seiner Güte und Liebe.

 

Luther weist also, indem er das Moment der Gottesbeziehung stark macht, darauf hin, daß das Handeln Christi am Kreuz erst in dem Menschen zur Vollendung kommt, auf den es gerichtet ist. Erst indem der Betrachter das Leiden Christi erkennt, sich erkennt, ihn als den Liebenden erkennt, hat es sein Ziel erreicht.

Der Mensch läßt sich so von Gott verändern, ansprechen, etwas über sich selbst sagen. Läßt sich in Frage stellen, läßt Gott, den anderen, etwas über sich sagen und sich von ihm neu formen. Gottes Handeln am Menschen also konstitutiv dafür, daß das Bedenken der Passion kein imputativer Akt ist, sondern eine Beziehungsstiftung.

Paränese

Der Sermon hat als Thema die Zusage der Neugeburt des Menschen in seiner Betrachtung der Passion Christi. Es ist aber damit der Ernst des Gerichtes nicht hinweggenommen: Als paränetisches Moment weist Luther darauf hin, daß man das Leiden Christi an sich „verlorengehen lassen“ kann.

Er weist auf den Unterschied hin zwischen dem, was Christus erleidet und dem, was den Menschen eigentlich erwarten würde, da er im Gegensatz zu Christus Sünder ist. Er läßt als Ermahnung folgen: „Wa Christo eyn nagell seynn haend adder fueß durchmartert, soltestu ewige solch und noch ergere negell erleyden, alßo dan auch geschehn wirt denen, die Christus leyden an yhn laßen vorloren werden“1.

Später folgt eine weitere Ermahnung: Die Betrachtung der Passion und das damit verbundene Erschrecken ist unausweichlich. Wenn wir nicht in diesem Leben über den Gekreuzigten erschrecken und Christi Leiden fühlen, dann spätestens beim Sterben und im Fegfeuer. (6)

Seelsorglicher Umgang mit dem Leser

Der Sermon ist streng durchgegliedert, er führt sachbezogen zu seinem Ziel. Dennoch ist er in der Art eines Zwiegespräches Luthers mit seinem Leser gehalten. Dies wird an dem „Du“ deutlich und der Art, den Leser durch die gesamten Ausführungen hindurch persönlich anzusprechen. Darüber hinaus erweist sich Luther hier als Seelsorger, der um die Schwächen und Ängste der Menschen weiß. Besonders an zwei Stellen tröstet er den Leser, indem er voraussieht, welche Zweifel ihn plagen könnten.

Er weist ihn darauf hin, daß es sein kann, daß man Christus um fruchtbares Bedenken seiner Leiden bittet, aber nicht sofort erhört wird. Dann „sol man nit vorzagen odder ablassen“. Dazu ist es möglich, daß man den Eindruck hat, daß das Bitten nicht erhört wird und darunter leidet. Luther tröstet: „… und mag wol seyn, das er nit weiß, das Christus leyden yn yhm solches wirckt.“ (11) Gerade das Leiden unter dem Nicht-Erhört werden kann bedeuten, daß Christus ihn den Schmerz leiden läßt, der zur conformatio führt.

Auch die Angst des Menschen, nicht genug zu glauben, um, wie angeraten, die Sünden voll Vertrauen auf Christus zu werden, nimmt Luther vorweg und geht von dieser Erfahrung aus, wenn er rät: „Wan du nit magst gleuben, ßo soltu … Gott darumb bitten … Magst dich aber da zu reitzen, nit das leyden Christi mehr an zusehen …“, (indem er auf das liebende Herz Christ blickt). (14)

2.1.1.2Die Beziehung des Sermons zur Tradition

In mancher Hinsicht wird im Sermon Luthers die Tradition hörbar, aus der er kommt und von der sein Denken gespeist ist. So ist mit dem Bedenken der Passion das Ziel verbunden, daß daraus die Gottesliebe erwachsen soll.

In seiner Schrift „De institutione inclusarum“ gibt Aelred von Rielvaux (+ 1167) eine Anweisung, wie durch die Meditation der beneficia Christi die Gottesliebe geweckt werden soll. In zwei Formen zeigt sich die wahre dilectio dei: „affectus mentis“ und „effectus operis“, d.h. im inneren Menschen durch die Meditation und am äußeren Menschen am Handeln erkennbar. Diese zweifache Form der Liebe zu Christus hat sich zum grundlegenden Schema in der Passionsbetrachtung entwickelt und findet sich z.B. auch wieder bei Jordan von Quedlinburg und Ludolf von Sachsen.1

Es geht bei der Betrachtung der Passion auch nach der Tradition darum, daß der Einzelne ein Verhältnis zu Jesu Leiden gewinnen soll2. Diese auf den Einzelnen bezogene Sichtweise ist auch bei Gerhart Zerbolt ausgeführt, wenn er formuliert, daß Christus „… pro te solo crucifixus esset et homo factus“3. Dies bringt Luther als Voraussetzung zu Beginn des Sermons zum Ausdruck, wenn er ausführt, daß das Für-wahr-halten Gottes ohne Bedeutung ist, wenn „er dier nit eyn got ist“.

Auch das von Luther im Sermon als von zentraler Bedeutung benannte Ziel der Betrachtung, daß „der mensch zu seyns selb erkenntniß kumme“4, hat seinen Vorläufer in der zeitgenössischen mönchischen Frömmigkeit5. Dennoch versetzt er dieses Ziel durch seine Anweisung zur Betrachtung des Leidens in einen anderen Rahmen: die Selbsterkenntnis ist nicht mehr etwas, das der Mensch durch sein Handeln zu erlangen hoffen kann, sondern sie ist eine Gottesgabe, die ihm in der Betrachtung nach Gottes Willen von diesem übereignet wird.6

 

In mancher Denkweise und Begrifflichkeit wird die Herkunft von Luthers Denken und sein Stehen in der Tradition deutlich. Doch stellt er seinen Weg der Passionsbetrachtung in eine neue Bewegung.

Sichtbar wird dies an seiner Umformung des Verständnisses von exemplum und sacramentum.

Am Ende des Sermons, im 15. Punkt, führt Luther die Unterscheidung sacramentum – exemplum ein. Das Leiden Christi ist demnach bis dahin unter dem Aspekt des sacramentum zu verstehen: Es weist hin auf Christi Leiden und Sterben und bezeichnet damit das Leiden des Betrachters im Gewissen und sein Absterben in Bezug auf die Sünde. Es bezeichnet, was es bewirkt: Mit Sterben und Auferstehen Christi sind wir in sein Schicksal hineingezogen und dem Anspruch entzogen, den der Tod auf uns aufgrund unserer Sünde hatte. Dieses Geschehen ist allein das Wirken Christi an uns; sein Leiden ist sacramentum. Erst danach kann sein Leiden uns auch zum exemplum werden: wir folgen ihm in unserem Handeln nach, weil wir ihm gleichförmig geworden sind. Nun können wir selber wirken, seinem Exempel folgend, aber allein aus der Gottesliebe heraus, die durch die Erkenntnis seiner Liebe in uns entstanden ist.

 

Mit diesem Verständnis des überlieferten Unterscheidungspaares von sacramentum und exemplum verleiht Luther diesen Begriffen eine andere Bedeutung als sie von der Tradition her hatten.

Die Unterscheidung rührt von Augustin her. Christi Leiden ist dem Menschen als exemplum und sacramentum vor Augen gestellt und darin eine doppelte Handlungsaufforderung an den Menschen.

Er bezeichnet den Kreuzestod Christi als exemplum insofern, daß der äußere Mensch ihm darin in seiner Bereitschaft zum Martyrium folgen soll. Christi Tod ist sacramentum dadurch, daß er den Menschen zur Buße auffordert, durch die sich auch in ihm das Absterben der Seele vollzieht und er so der Macht der Sünde entzogen ist. Augustin hat die beiden Begriffe also jeweils auf den homo interior (Buße) und den homo exterior (Nachfolge) bezogen.7

Indem Luther die Unterscheidung im Sermon aufgegriffen hat, hat er diese Differenzierung des Menschen in den homo interior und exterior aufgehoben, sondern beide auf den ganzen Menschen bezogen. Dazu gewichtet er sie unterschiedlich: der Tod Christi als sacramentum ist eine abgeschlossenene Handlung, die keiner Folgehandlung mehr bedarf, er ist exemplum insofern, daß der innerlich gewandelte und mit der Gottesliebe ausgestattete Mensch als Folge dessen nun nach dem Exempel Christi handelt, ohne daß es ihm eine Leistung abverlangte oder als solche zu begreifen wäre.8

Darin zeigt sich auch ein anderes Verständnis des Lebens Jesu bei Luther: er sieht es nicht mehr – wie die Tradition in Nachfolge Augustins – im ganzen als Leidensgeschichte und disciplina mora, die uns zur Nachahmung aufgegeben ist, sondern es ist zuerst durch seinen Tod uns zum sacramentum geworden, in dessen Folge uns ein Handeln nach den Tugenden erwächst.

Luther bindet die Wirksamkeit des Sterbens Christi als sacramentum und exemplum an die rechte Passionsbetrachtung: Christus wird uns zum sacramentum durch das von Gott geschenkte rechte Bedenken und der darin am Betrachter bewirkten conformatio.

Er wird zum exemplum für das eigene Leben, was ebenso als Wirkung der conformatio anzusehen ist: Gott gestaltet den Menschen im rechten Betrachten zum Exemplum Christi. Gott bewirkt im Menschen, daß er die Tugenden vollzieht. Dem entspricht auch Luthers Gedanke, daß uns Christus zuvor Gabe und Geschenk (= Versöhnung) werden muß, bevor er zum Exempel wird9.

Versöhnungslehre

In der Art und Weise, in der Luther den Zusammenhang von Zorn Gottes, Leiden Christi und Rechtfertigung des Menschen darstellt, ist erkennbar, daß die für die westliche Theologie prägende Versöhnungslehre des Anselm von Canterbury auch sein Denken geformt hat.

Ebenso deutlich wird auch, daß er Schwerpunkte neu setzt, aber indessen überhaupt nicht beabsichtigt, in seiner Anleitung zur Betrachtung des Leidens Christi eine systematisch lückenlose Darstellung eines Versöhnungskonzeptes zu bieten.

Im Vordergrund seines Interesses steht für ihn dagegen statt eines Weges, wie Gott zu versöhnen sei, der Mensch, seine Begegnung mit dem Leidenden und die Weise, auf der ihm das Leiden Christi zunutze wird.

Wesentliche Elemente von Anselms Konzept kommen zur Sprache:

Gott hegt Zorn und „unwanckelbarn“ Ernst über Sünde und Sünder. Er verlangt von seinem Sohn, der eine große, unmeslich person“ („unendlich“ im anselmschen Sprachgebrauch) ist, eine schwere Buße, „um der Sünde meines Volks willen“ (Jes 53). Das Maß, in dem aber der Sünder büßen müßte, wäre unvergleichlich höher als das der Buße Christi. (4) Christus leidet wegen der Sünde des Menschen. (5) Seine Wunden und Leiden sind meine Sünden, die er trägt und bezahlt. (13)

Das für ihn Wesentliche am Verständnis des Sterbens Jesu beschreibt er aber anhand der Formulierung in Röm 4,25, daß er gestorben sei um unserer Sünden willen, und deutet dies in zweierlei Weise: daß sein Sterben um unserer Sündenerkenntnis willen geschehen ist und daß er dadurch die Sünde erwürgt hat. Er überwindet schließlich unsre Sünden in der Auferstehung. Wenn „wir das kecklich gleuben, ßo seynd sie todt und zu nichte worden“. (13)

Den Schwerpunkt legt er in seiner Anleitung demnach nicht bei der Versöhnung Gottes, sondern bei dem Menschen, d.h. bei seinem Glauben, daß die Sünden keine Wirkung mehr haben.

 

Im weiteren legt er nicht die satisfactio oder den Weg der Ermöglichung der göttlichen gnädigen Annahme des Verdienstes Christi dar, sondern entfernt sich von der juristischen Rechnung Anselms. Aus dem folgenden geht hervor, daß nach seinem Denken Christus nicht den Zorn Gottes versöhnt. Der Zorn wird nicht aufgehoben, sondern er wirkt sich aus im Leiden Christi und also in unserem Leiden im Gewissen.

Gnade oder die Gerechtsprechung oder die Beseitigung der Sünden wird nicht aus der juristischen Perspektive plausibel, sondern dadurch, daß Christus die Sünden trägt und überwindet, so daß sie tot und zunichte werden. Das Wesen der Rechtfertigung liegt hier nicht in der satisfactio, sondern in der Vernichtung der Sünde.

Es scheint demnach, daß Luther den Schwerpunkt des Geschehens am Kreuz, von der anselmschen Versöhnungstheorie abweichend, verlagert: Zum Einen auf das menschliche Erkennen: die Erkenntnis seiner selbst und seiner Sünde und ebenso der Liebe Christi und Gottes, zum anderen will er den Trost vermitteln nicht dadurch, daß die juristische Unrechtslage beseitigt ist, sondern dadurch, daß die den Menschen erschreckende und ängstigende Sünde entmachtet und tot ist.

2.1.1.3Die anderen Sermones de passione

Zwei weitere Sermone sind überliefert, in denen Gedanken des Sermo von 1519 einen klaren Vorläufer finden. Das Passionsverständnis Luthers ist schon angelegt in den sermones de passione aus dem Jahr 1518 und vor 15181.

 

Gemäß dem Sermo I gehört zum homo spiritualis, daß er „gaudeat cum gaudentibus et fleat cum flentibus“. (336