Die perfekte Unschuld - Helen Fields - E-Book
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Die perfekte Unschuld E-Book

Helen Fields

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Beschreibung

Zwei Mordfälle in ein und derselben Nacht erschüttern Edinburgh: Zuerst wird inmitten eines Rockfestivals ein junger Besucher erstochen, und dem Täter gelingt es, in der Menge unterzutauchen. Dann wird nur wenige Stunden später die Leiche einer Krankenschwester entdeckt. Es gibt keine verwertbaren forensischen Spuren, doch eine Gemeinsamkeit: Beide Opfer werden von ihren Mitmenschen als "gute Seelen" beschrieben — und beide mussten unter besonders grausamen Umständen sterben. Detective Callanach steht vor dem Beginn einer Mordserie, die ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungTEIL EINSKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24TEIL ZWEIKAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36KAPITEL 37KAPITEL 38KAPITEL 39KAPITEL 40KAPITEL 41KAPITEL 42KAPITEL 43KAPITEL 44KAPITEL 45KAPITEL 46KAPITEL 47KAPITEL 48KAPITEL 49KAPITEL 50KAPITEL 51KAPITEL 52KAPITEL 53KAPITEL 54KAPITEL 55KAPITEL 56KAPITEL 57KAPITEL 58KAPITEL 59KAPITEL 60KAPITEL 61KAPITEL 62KAPITEL 63KAPITEL 64KAPITEL 65KAPITEL 66KAPITEL 67KAPITEL 68KAPITEL 69KAPITEL 70Ein paar Worte zum DarknetDanksagung

Über dieses Buch

Zwei Mordfälle in ein und derselben Nacht erschüttern Edinburgh: Zuerst wird inmitten eines Rockfestivals ein junger Besucher erstochen, und dem Täter gelingt es, in der Menge unterzutauchen. Dann wird nur wenige Stunden später die Leiche einer Krankenschwester entdeckt. Es gibt keine verwertbaren forensischen Spuren, doch eine Gemeinsamkeit: Beide Opfer werden von ihren Mitmenschen als »gute Seelen« beschrieben — und beide mussten unter besonders grausamen Umständen sterben. Detective Callanach steht vor dem Beginn einer Mordserie, die ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt ... »Ohne Zweifel eine der besten Krimiserien, die ich je gelesen habe« Woman‘s Way Magazine

Über die Autorin

Helen Fields studierte Jura an der Universität von East Anglia in Norwich, lernte an der Inns of Court School of Law in London und arbeitete anschließend dreizehn Jahre als Anwältin. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes widmete sie sich neuen Aufgaben und leitet heute mit ihrem Ehemann eine Filmproduktionsfirma. Sie arbeitet als Produzentin und Autorin für Drehbücher und Romane. DIE PERFEKTE GEFÄHRTIN ist ihr Debütroman. Fields lebt mit ihrem Ehemann und drei Kindern in Hampshire.

HELEN FIELDS

DIE PERFEKTEUNSCHULD

Thriller

Aus dem Englischen vonFrauke Meier

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Helen Fields

Titel der englischen Originalausgabe: »Perfect Prey«

Originalverlag: Avon, A division of HarperCollinsPublishers, London

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Alexander Groß, München

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Titelillustration: © Le Do/shutterstock

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6129-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Brian und John – die Väter und Großväter –, die ihre Zeitung im Himmelreich lesen und sich fragen, was all der Lärm zu bedeuten hat. Geliebt von all jenen, die euch nie vergessen werden.

TEILEINS

KAPITEL 1

Es gab schlechtere Orte zum Sterben. Aber nur wenige entsetzlichere Arten. Ein idyllischer Sommertag lieferte die Kulisse – auf der einen Seite die Stadtlandschaft, in der Ferne die Silhouette des vor langer Zeit erloschenen Vulkans Arthur’s Seat. Die Musik war schon zu fühlen, ehe man sie hören konnte, pulsierte in den Knochen und kribbelte auf der Haut. Anfang Juli ging die Sonne spät unter in Edinburgh, und der Himmel kleidete sich in Schattierungen von Rosa, Gold und gedämpftem Orange. Vielleicht war das der Grund, warum niemand etwas merkte, als es geschah. Entweder das, oder es lag an der Mischung aus Drinks, Drogen und dem allgemeinen Hochgefühl. Das Festival war in vollem Gang. Drei Tage Party – feiern, faulenzen, lieben, essen und trinken, während eine Band nach der anderen auftrat und sich die Besucher mit immer weniger Kleidung und minimalistischer Körperpflege wohler und wohler fühlten. Könnte man das Gefühl der Ekstase fotografisch festhalten, wäre dies definitiv die passende Szene dafür. Ein Gefühl gemeinschaftlicher Freude flutete die im Gleichtakt hüpfende Menge, als wären Menschenmassen miteinander verschmolzen, um eine einzige, verzückte Kreatur mit tausend strahlenden Gesichtern hervorzubringen.

Inmitten all dessen und doch flüchtig wie eine Rauchfahne hatte der Mörder leichtfüßig und geschmeidig seine Klinge wie ein Band durch die Luft zu ihrem Ziel geführt. Der Schnitt war sauber. Glatt und tief. Das Ausmaß des Blutverlusts zeigte sich am Boden, und die Wunde klaffte zu weit auf, als dass Hände den Blutfluss hätten stoppen können. Nicht dass genug Zeit gewesen wäre, um das Opfer in einen Krankenwagen zu verfrachten. Nicht dass irgendjemand auch nur auf die Verletzung aufmerksam geworden wäre, ehe der Mann beinahe vollständig ausgeblutet war.

Detective Inspector Luc Callanach stand an der Stelle, an der der junge Mann seinen letzten Atemzug getan hatte. Seine Identität hatte noch nicht festgestellt werden können. In der Stunde, die seit dem Tod des Opfers vergangen war, hatte die Polizei bemerkenswert wenige Fakten zusammengetragen. Es war, so dachte Callanach, schon erstaunlich, dass sie in einer Menge von Tausenden von Leuten nicht einen nützlichen Zeugen hatten auftreiben können.

Der junge Mann hatte ganz einfach das rhythmische Hüpfen eingestellt, war langsam zusammengesackt, nach links und rechts geschwankt, nach vorn und hinten, gegen die Festivalbesucher um ihn herum geprallt und schließlich, die Hände an den Bauch gepresst, kollabiert. Ein paar der Umstehenden waren verärgert gewesen, gestört in ihrem Zuschauervergnügen. Zuerst war er als betrunken eingestuft worden, dann als drogenbenebelt. Erst als eine barfüßige Jugendliche in der Blutlache ausgerutscht war, war der Schrecken hörbar geworden, und dennoch hatte es bei all den Dezibel rundherum eine Ewigkeit gedauert, bis die Botschaft durchgedrungen war. Irgendwann hatten dann die Schreie die Musik überlagert, nachdem der arme Junge herumgerollt worden war, sodass seine Gedärme den Verlauf der Bewegung nachzeichneten wie ein fremdartiges, anhängliches Wesen, das im Glanz all des leuchtend roten Blutes im Sonnenschein funkelte.

Die Uniformierten waren nicht weit entfernt gewesen. Dies war eine riesige Veranstaltung, für die jede erdenkliche Sicherheitsvorkehrung getroffen worden war. Hatte man jedenfalls angenommen. Doch als sich die Polizisten, gefolgt von den Sanitätern, ihren Weg durch das Gedränge bahnten, einen Bereich räumten und den Tatort unter Kontrolle brachten, mussten sie ein logistisches Desaster bewältigen. Seufzend blickte Callanach zum Himmel empor. Auf diesem Tatort war mehr herumgetrampelt worden als in den Toilettenräumen eines Nachtclubs am Silvesterabend. Da war genug DNA im Umlauf, um einen neuen Planeten zu bevölkern. Es war eine forensische Wundertüte.

Die Leiche selbst war bereits auf dem Weg zum Leichenschauhaus, nachdem sie zuvor vor Ort fotografiert worden war, auch wenn das wenig nützen dürfte. Der Tote war zu häufig von Gutmenschen, panischen Zuschauern, Polizisten und Sanitätern bewegt worden, ehe er endlich in einem Bett aus zertrampeltem Gras und aufgewühlter Erde zur Ruhe gekommen war. Die leitende Pathologin, Ailsa Lambert, hatte sich ungewöhnlich schweigsam gezeigt und lediglich Anweisungen erteilt, respektvoll und vorsichtig mit der Leiche umzugehen und sie rasch an einen Ort zu schaffen, an dem sie keinen neugierigen Kameraobjektiven und keinem hysterischen Geschrei mehr ausgeliefert war. Callanach war dort, um den Tatort zu sichern – eine Vorstellung, die alle Grenzen der Ironie sprengte –, ehe er Ailsa in ihr Büro folgen würde.

Der kurze Blick, den Callanach in das Gesicht des Opfers hatte werfen können, sagte alles. Die Augen fest zugekniffen, als wollte es sich zwingen, aus einem Albtraum zu erwachen, der Mund zu einem Ausdruck geöffnet, der irgendwo zwischen einem Keuchen und einem Schrei lag. Hatte der Mann einen Namen gerufen?, überlegte Callanach. Hatte er seinen Angreifer gekannt? Er hatte keine Papiere bei sich gehabt, nur ein bisschen Kleingeld in der Tasche seiner Shorts. Nicht einmal eine Armbanduhr hatte er getragen, und sein Schlüssel hatte an einer Schnur um seinen Hals gehangen. Wie abrupt der Tod ihn auch ereilt hatte, das Entsetzen, ausgelöst durch die Erkenntnis, dass es schnell zu Ende ging, die Ahnung, dass der Zug Hoffnung abgefahren war, während um ihn herum die Menschen hüpften und sangen, musste ihm vorgekommen sein wie ein unendlich grausamer Witz. Und dann, ganz am Ende, hatte er nur noch Schreie gehört und Panik und Schrecken in dem Meer der Augen um ihn herum gesehen. Wie musste das gewesen sein, fragte sich Callanach, hier im strahlenden Sonnenschein allein auf dem harten Boden zu sterben? Das Einzige, was ihm am Ende auf dieser Welt noch geblieben war, konnte nur ein Gefühl entsetzlicher Furcht gewesen sein.

Callanach musterte die kuppelförmige Bühne mit den Verstärkern, den Instrumenten und der Beleuchtungstechnik und betete, dass eine der dort aufgebauten Kameras ein nützliches Detail festgehalten hatte. Jemanden, der es eilig hatte zu verschwinden, der sich anders bewegte als der Rest der Menge. The Meadows, ein weitläufiges Gelände, bestehend aus Parkanlagen und Spielfeldern, befand sich südlich des Stadtzentrums. An einem normalen Tag war dies ein schöner, friedvoller Ort. Mütter kamen mit ihren Kleinkindern her, Spaziergänger führten ihre Hunde aus, und Jogger drehten ihre Runden. Die Klänge von »Summer is A-Coming In« aus dem Film The Wicker Man, in den ihn DI Ava Turner vor einigen Monaten geschleppt hatte, hallten durch Callanachs Hinterkopf. Edward Woodwards Schauspielkunst hatte ihn fasziniert, und die Bilder der Männer und Frauen mit Tiermasken, die sich auf ihr Menschenopfer vorbereiteten, waren ihm noch lange, nachdem der Projektor ausgeschaltet worden war, präsent geblieben. Das war nicht so unendlich weit entfernt von dem Zirkus, in dessen Zentrum dieser junge Mann den Tod gefunden hatte.

»Sir, die Leute, die hinter dem Opfer gestanden haben, wurden ermittelt. Sie können jetzt mit ihnen sprechen«, sagte ein Constable. Callanach folgte ihm zum Rand des Feldes und überließ es den Forensikern, einen provisorischen Unterstand zu errichten, um den Tatort über Nacht zu schützen. Ein Paar lehnte an einem Baum, eingewickelt in eine Decke, die Gesichter tränennass, und die Frau zitterte erkennbar, während der Mann versuchte, sie zu trösten.

»Merel und Niek De Vries«, las der Constable aus seinem Notizbuch vor. »Ein holländisches Paar, das hier Urlaub macht. Sind seit zehn Tagen in Schottland.«

Callanach nickte und trat vor, um allein und in Ruhe mit den beiden zu sprechen. »Ich bin Detective Inspector Callanach von der Police Scotland«, sagte er. »Ich weiß, das war erschreckend, und es tut mir leid, dass Sie so etwas miterleben mussten. Sicher haben Sie schon mehrfach beschrieben, was Sie gesehen haben, und man wird Sie noch einige weitere Male um Ihre Aussage ersuchen. Trotzdem bitte ich Sie, mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht, kurz zu berichten, was passiert ist.«

Der Mann sagte etwas zu seiner Frau, das Callanach nicht verstand, aber sie blickte auf und holte tief Luft.

»Meine Frau spricht nicht gut Englisch«, erklärte Niek De Vries, »aber sie hat mehr gesehen als ich. Ich kann für Sie übersetzen.«

Merel rasselte einige Sätze herunter, akzentuiert mit Schluchzern, ehe Niek wieder das Wort ergriff.

»Sie ist erst auf ihn aufmerksam geworden, als das Mädchen geschrien hat. Dann hat Merel sich gebückt und wollte ihn schütteln und ihm sagen, er solle aufstehen. Er kauerte vorgebeugt auf seinen Knien. Wir dachten, er wäre betrunken oder vielleicht krank. Als Merel sich wieder aufgerichtet hat, waren ihre Hände voller Blut. Sogar dann hat sie, wie sie sagt, gedacht, er hätte sich vielleicht übergeben oder sich die Haut aufgerissen. Erst als alle zurückgewichen sind und wir ihn hingelegt haben, haben wir die Wunde bemerkt. Es sah aus, als wäre er in zwei Teile geschnitten worden.« Niek schlug eine Hand vor die Augen.

»Ist Ihnen jemand aufgefallen, bevor er zusammengebrochen ist, jemand, der in seiner Nähe war, ihn vielleicht berührt oder sich an ihm vorbeigeschoben hat? Hatte es irgendjemand eilig, von dort zu verschwinden? Oder können Sie jemanden von den Leuten, die in Ihrer Nähe waren, detailliert beschreiben?«, erkundigte sich Callanach.

»Alle waren ständig in Bewegung«, antwortete Niek, »und wir haben zur Bühne geschaut, zur Band, wissen Sie? Wir haben hier keine Freunde, also haben wir uns auch nicht wirklich umgesehen. Die Leute sind herumgesprungen, haben gebrüllt und sind in diese oder jene Richtung gelaufen, zur Bar oder zur Toilette. Wir haben nur darauf geachtet, nicht getrennt zu werden. Ich habe den Mann vor uns nicht einmal bemerkt, bevor er zusammengeklappt ist.«

»Hat er irgendetwas gesagt?«, wollte Callanach wissen.

Niek gab die Frage an Merel weiter.

»Sie meint, er wäre bereits bewusstlos oder tot gewesen, als sie ihn angesprochen hat. Außerdem war es viel zu laut. Sie hätte es nicht hören können.«

»Ich verstehe«, sagte Callanach. »Officers werden Sie zum Polizeirevier bringen, damit Sie eine vollständige Aussage machen und unterschreiben können. Danach wird man Sie zu Ihrer Unterkunft bringen.«

»Nicht britisch?«, stammelte Merel und wandte sich zum ersten Mal direkt an Callanach.

»Ich bin Franzose«, entgegnete Callanach. »Na ja, halb französisch, halb schottisch. Es tut mir leid, wenn mein Akzent schwer zu verstehen ist.«

»Le garçon était trop jeune pour mourir.« Der Junge war zu jung zum Sterben, sagte sie und sprach weiter auf Französisch, dennoch kam es Callanach beinahe vor, als würde sie Englisch reden, so schnell übersetzte er in Gedanken von einer Sprache in die andere.

Merel De Vries erinnerte sich an eine weitere Sache. Eine Frau in der Menge hatte die Musik mit ihrem Gelächter überlagert. Es war so laut gewesen, dass sie es sogar hatte hören können, als sie sich niedergekauert hatte, um dem Opfer zu helfen. Was Callanach sonderbar erschien, war Merels Beschreibung des Gelächters. Es war kein fröhliches Lachen gewesen, es hatte bösartig geklungen.

KAPITEL 2

»Der Schnitt wurde mit einer einzigen Waffe ausgeführt, aber dieses Werkzeug muss mit geschickten Händen individuell angefertigt worden sein«, berichtete Ailsa Lambert. »Zwei identische skalpellartige Klingen wurden mit einem Distanzstück miteinander verbunden, sodass sie vier Millimeter Abstand zueinander hatten. Diese Kombination hat dafür gesorgt, dass die Wunde nicht hätte geschlossen oder genäht werden können, selbst wenn er zum Zeitpunkt des Angriffs in einem Krankenhaus gewesen wäre. Die Zwillingsschnitte sind« – sie brach ab und griff zu einem Maßband – »achtundzwanzig Zentimeter lang und haben sich beträchtlich geöffnet, was eine klaffende Wunde nebst einem erheblichen Trauma herbeigeführt hat. Daraufhin haben sich seine Organe bewegt, sind nach vorn und nach unten gerutscht, sodass vieles von dem, was in seiner Bauchhöhle war, herausgeglitten ist, als er stürzte und über den Boden rollte. Einiges davon weist identifizierbare Sohlenabdrücke auf, die von den Personen um ihn herum stammen müssen. Infolge des Blutverlusts hat sein Herz versagt.«

»Verstanden«, sagte Callanach matt. »Die Todesursache steht kaum in Frage. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Der Tox-Screen braucht noch eine Weile. Er hat keine anderen sichtbaren Verletzungen, wirkt oberflächlich betrachtet gesund, und seine Lunge verrät mir, dass er Nichtraucher war, guter Junge.« Sie tätschelte die Hand des Leichnams mit ihrer behandschuhten Hand und lächelte grimmig. »Aber diese Waffe, Luc, diese Waffe wurde nicht zur Selbstverteidigung hergestellt. Und Sie können sie auch nicht einfach so in irgendeinem Haushaltswarenladen kaufen. Jemand hat sie mit großer Hingabe angefertigt. Der Schnitt ist tief und gleichmäßig, und es scheint, als wäre nur wenig Kraft nötig gewesen, um die Klingen tief in seine Bauchhöhle zu treiben. Wer immer sich der Herstellung dieser Waffe rühmen mag, er hat auf Effizienz geachtet und die Mechanik verstanden. Das war keine provisorische Stichwaffe oder eine Zufallswaffe, die sich der Täter in der Hitze des Gefechts hätte greifen können.«

»Also ein geplanter Anschlag?«, hakte Callanach nach und beugte sich über die Leiche, um sich einen eigenen Überblick zu verschaffen.

»Eher eine Art Ritual, wenn Sie mich fragen«, entgegnete sie. »Das hat sich jemand ausgedacht und es in seiner Fantasie geübt und perfektioniert.«

»Wie alt war er?«

»Zwischen achtzehn und zweiundzwanzig, schätze ich. Eins achtzig. Aktiver Lebenswandel, kaum Speicherfett, guter Muskelanteil, aber nicht wie bei diesen Typen, die in der Muckibude wohnen. Schuhgröße zehn. Braunes Haar, haselnussbraune Augen. Keine Abwehrverletzungen. Er hat es nicht kommen sehen.«

»Also hat er in dem Angreifer keine Bedrohung erkannt, als der auf ihn zugekommen ist?«

»Höchstwahrscheinlich nicht. Sie sehen auch nicht besonders gut aus, Luc. Bekommen Sie genug Schlaf?«, fragte Ailsa, während sie ihre Handschuhe abstreifte und sich Notizen machte.

»Ich schlafe gut«, log er.

»Essen Sie auch anständig? Sie sind blass, und die Blutgefäße in Ihren Augen sind geweitet.«

»Ich rufe Sie morgen wegen der Ergebnisse des Tox-Screens an«, wich er einer Antwort aus. »Falls sich vorher irgendetwas ergibt, haben Sie ja meine Handynummer.«

»Grüßen Sie DI Turner von mir, ja? Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Normalerweise treffe ich ihre Mutter regelmäßig in einer Gruppe von Opernfreunden, aber ihr bin ich auch schon eine Weile nicht mehr begegnet«, sagte Ailsa und drückte den Rücken durch. Die klein gewachsene Mittsechzigerin mochte aussehen wie ein Vögelchen, war jedoch nicht zu unterschätzen.

»Ich gebe es weiter«, sagte er, streifte seine eigenen Handschuhe ab und warf sie in den Mülleimer, der draußen vor der Tür stand.

Zurück auf dem Revier erwartete ihn ein grimmiges Willkommenskomitee im Lagezimmer. Callanach konzentrierte sich direkt auf Detective Constable Tripp.

»Wir verfolgen gerade eine Spur, die sich durch einen Telefonanruf ergeben hat, Sir«, sagte Tripp. »Eine junge Frau hat sich gemeldet und gesagt, sie wäre bei dem Festival von ihrem Freund getrennt worden und er sei noch nicht wieder aufgetaucht. Ich habe einen Wagen geschickt, um sie abzuholen.«

»Hat sie uns seinen Namen gegeben?«, fragte Callanach und nahm sich einen Kaffee, ehe er sich an einen Computer setzte.

»Sim Thorburn«, entgegnete Tripp, drückte ein paar Tasten und wartete, bis ein Bild geladen wurde. Wie üblich war er bereits einen Schritt weiter. Binnen Sekunden erschien eine neue Seite eines sozialen Netzwerks, auf der eine Menge Fotos zu sehen waren. Auf jedem lächelte oder lachte der Junge mit unbeschwerter, argloser Miene. Auf dem letzten war er Hand in Hand mit seiner Freundin zu sehen. Zweifellos dieselbe Hand, die Ailsa Lambert kurz zuvor getätschelt hatte.

»Das ist er«, konstatierte Callanach. »Also, was wissen wir?«

»Im Moment all das, was auf seiner Homepage zu finden ist. Er hat sich nicht um den Schutz seiner Privatsphäre gekümmert, also kann das die ganze Welt sehen. Er ist einundzwanzig, Schotte, lebt in Edinburgh.«

»Vorstrafen?«

»Nicht, soweit wir es feststellen konnten.« Hinter Tripp klingelte ein Telefon, und jemand reichte ihm eine Notiz. »Das Mädchen ist hier, Sir. Und DCI Begbie möchte Sie sprechen, sobald Sie Zeit haben.«

»Natürlich will er das«, gab Callanach zurück und erhob sich. »Haben Sie eine Ahnung, wo DI Turner ist, Tripp? Ailsa Lambert hat nach ihr gefragt.«

»Hat dienstfrei«, rief DC Salter vom Korridor herein. »Hat irgendwas darüber gesagt, sie käme morgen vielleicht später. Soll ich ihr eine Nachricht schicken?«

»Nein, danke, Salter«, antwortete Callanach in gleicher Lautstärke. »Das ist nichts, das nicht warten könnte.« Im Gegensatz zu Sim Thorburns Freundin, die vermutlich bereits mit dem Schlimmsten rechnete, aber zugleich unten auf ein Wunder wartete. Sicher redete sie sich ein, es müsse sich um einen Fehler handeln, hoffte vielleicht, dass ihr Freund entgegen allen Beweisen nur ein paar Freunde getroffen hatte und mit ihnen abgezogen war, ohne ihr Bescheid zu geben. Wahrscheinlich ging sie im Geiste jede denkbare harmlose Erklärung für sein Veschwinden durch. Bis sie Callanachs Gesicht sähe, wie er dachte. Die Leute wussten stets in dem Moment Bescheid, in dem sie einen anschauten.

»Es tut mir leid«, sagte er, kaum dass er sie vor sich hatte. Sich vorzustellen hatte keinen Sinn. Sie hätte Callanachs Namen so oder so in ein paar Sekunden wieder vergessen.

»Sie können nicht wissen, ob er es ist«, flüsterte sie. »Sie haben mir ja noch gar keine Fragen gestellt.«

»Wir haben im Internet mehrere Fotos von Ihnen beiden gefunden.« Er zeigte ihr ein Beispiel, das Tripp in weiser Voraussicht ausgedruckt hatte. »Ist das Sim?«

Schluchzend wich sie einen Schritt vor dem Foto zurück, als wäre das Papier eine gefährliche Waffe.

»Haben Sie ihn gesehen?«, fragte sie. Callanach rückte ihr einen Stuhl zurecht, und sie nahm Platz.

»Ja. Ich bin sicher, er ist es.«

»Was … was …« Mehr brachte sie nicht heraus.

»Er hat eine Messerwunde erlitten, die zum Tod geführt hat. Es muss sehr schnell gegangen sein. Es blieb nicht genug Zeit, um ihn in einen Krankenwagen zu schaffen.«

»Eine Messerwunde? Ich dachte an so was wie einen Blinddarmdurchbruch oder ein Blutgerinnsel oder … er wurde erstochen? Das ist er nicht. Niemand würde Sim so etwas antun.«

»Dann hatte er also Ihres Wissens keinen Ärger? Es könnte so etwas Gewöhnliches wie eine Familienfehde dahinterstecken, Geldprobleme oder jemand, der eine alte Rechnung begleichen will.«

»Reden Sie nicht so einen Blödsinn«, blaffte sie ihn an, eine verständliche Reaktion, bedachte man, was sie gerade durchmachte. Was sie jedoch nicht wusste, war, wie sehr die Spur mit jeder Minute, die vorüberzog, erkaltete. »Er hat sich ehrenamtlich im sozialen Bereich engagiert. Er hat kaum etwas verdient und trotzdem jede freie Minute zusätzlich unbezahlte Freiwilligenarbeit geleistet.«

»Können Sie uns mehr darüber erzählen?«, bat Callanach.

»Er hat in Obdachlosenheimen gearbeitet, die städtische Suppenküche geleitet und Spendensammlungen organisiert. Sim war der sanfteste, liebenswürdigste Mensch auf der ganzen Welt. Er hat seinen letzten Penny für andere gegeben. Das war das Einzige, worüber wir uns gestritten haben.«

»Und gestern ist Ihnen nichts Sonderbares aufgefallen? Niemand ist ihm gefolgt?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, und allmählich machte sich der Schock bemerkbar. Callanach wusste, dass er von nun an nichts mehr aus ihr herausbekommen würde. Er überließ es Tripp, die formelle Identifizierung des Leichnams zu organisieren und weitere familiäre Daten zu erheben. Derweil brauchte Callanach eine Spur, und zwar schnell. Die Person, die Sim Thorburn ermordet hatte, hatte die Waffe zweifellos längst irgendwo versteckt und sämtliche belastenden forensischen Beweise vernichtet.

»Salter«, rief Callanach auf dem Weg zum Lagezimmer. »Stellen Sie fest, wer über Bildmaterial von dem Konzert verfügt. Ich will es noch heute Abend haben. Und versuchen Sie, mir den Chief für eine Weile vom Hals zu halten, ja? Ich habe zu tun.«

»Ich auch, Detective Inspector«, sagte Begbie und baute sich in der Tür auf. In letzter Zeit kam er Callanach bei jeder Begegnung etwas massiger vor. Es war nicht gesund, so schnell an Gewicht zuzulegen. Als Callanach zur Police Scotland gestoßen war, war der Chief auch nicht gerade dünn gewesen, aber derzeit schaufelte er sich den Weg in ein frühes Grab frei, ohne dass es einen ersichtlichen Grund dafür gab. »Stimmt etwas nicht, DI Callanach?«, fragte Begbie. Erst da wurde ihm bewusst, dass er die erkennbar unter Spannung stehenden Knöpfe an Begbies Hemd angestarrt hatte.

»Nein, Sir, ich war nur nicht bei der Sache.«

»Das ist, offen gesagt, nicht gerade beruhigend. Welche Spuren haben wir in dem Fall?«

Callanach rang um eine Antwort, suchte nach einer Möglichkeit, die bisher vollständige Abwesenheit von Hinweisen in Worte zu fassen.

»So gut läuft es, ja? Aber irgendwer muss irgendwas gesehen haben. Tausende von potenziellen Zeugen, und wir stecken fest. Verdammt typisch. Die Pressestelle soll eine Konferenz einberufen. Schadet nichts, wenn wir das gleich hinter uns bringen. Wir können es uns nicht leisten, dass die Leute auf der Straße Angst haben. Es wird sich eine vernünftige Erklärung für diesen Vorfall finden. Niemand sucht sich einen vollkommen Fremden aus, um ihn aufzuschlitzen. Beschaffen Sie Antworten, Callanach. Ich erwarte eine Festnahme innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden.«

»Chief …«

»Schon kapiert. Sie mögen keine Pressekonferenzen. Pflichtschuldigst notiert.« Begbie spazierte davon und keuchte unterwegs bei jedem Schritt.

Callanach überlegte, ob er ihm folgen und sich erkundigen sollte, ob es seinem Boss gutging, doch dann erkannte er, was für ein karrierevernichtender Zug das wäre, und er ging zurück zum Lagezimmer. Obwohl er halb verhungert war, wurde ihm schon von dem Gedanken übel, Fish and Chips direkt aus der Zeitung zu essen, die als Einwickelpapier diente. Er machte sich keine Hoffnungen, innerhalb der nächsten zwölf Stunden nach Hause zu kommen, und das Gesündeste, was er auf dem Revier zu finden hoffen konnte, war wahrscheinlich eine alte Packung Crackers mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum, irgendwo ganz hinten im Schrank. Callanach war gerade dabei, seine Gedanken zu sammeln, um die Einsatzbesprechung zu leiten, als jemand ihm eine Tragetüte in die Hand drückte.

»Hör auf, das Essen aller anderen anzustarren, als würden sie Gift in sich reinstopfen. Das ist abstoßend, und es trägt nicht gerade dazu bei, dich von dem Verdacht typisch französischer Vornehmtuerei reinzuwaschen«, schalt ihn DI Ava Turner und legte ihm eine Gabel in die freie Hand. »Krabbensalat. Nicht hausgemacht, also musst du dich auch nicht mit meinen kläglichen Versuchen herumschlagen.«

»Ich dachte, du hättest frei und kämst morgen erst spät wieder her. Hat man dich zum Kantinendienst verdonnert?«

»Du kannst es mir auch jederzeit zurückgeben«, konterte sie, warf einen Blick auf ihr Telefon und runzelte die Stirn.

»Zu spät.« Callanach riss die Packung auf und fiel über den Salat her. »Ailsa Lambert hat nach dir gefragt. Irre ich mich, oder läuft es im Kreis der Edinburgher Elite nicht ganz rund?«, fragte er grinsend.

»Wie erklärt man jemandem auf Französisch, dass er die Klappe halten soll?«, gab sie zurück, ohne von ihrem Telefon aufzublicken. Ava hatte einen großen Teil ihres Berufslebens damit zugebracht, sich von den privilegierten Kreisen zu distanzieren, in die sie hineingeboren worden war. Die Erwartung, sie würde Ärztin werden oder Anwältin oder Aktuarin oder etwas in der Art – zumindest, bis sie einen Hausstand gründete und Enkelkinder für ihre begierigen Eltern produzierte –, hatte die Saat zu einer Rebellion gelegt und sie in die schmuddelige Welt der Polizeiarbeit geführt. Doch selbst bei der Arbeit konnte sie sich der Tatsache nicht entziehen, dass zu den engsten Freunden ihrer Familie einige der ganz hohen Tiere der Police Scotland, Politiker, Firmenchefs und sogar die leitende Pathologin der Stadt zählten.

DC Salter unterbrach sie, reichte Callanach zwei Bogen Papier und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »DCI Begbie hat gesagt, er wisse, dass Sie beschäftigt seien, darum organisiere er die Pressekonferenz für Sie.« Salter gab sich alle Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen, doch Turner machte ihre Anstrengungen mit lautem Gelächter zunichte. »Ich habe ein paar Dinge für Sie ausformuliert, Sir. Die Presseleute werden in etwa einer Stunde auftauchen.«

»Wow. Bist du schon so tief gesunken, dass du den Medienzirkus zu deinem Vorteil nutzen willst? Morgen um diese Zeit werden überall in der Stadt Frauen beim Anblick deines Konterfeis auf den Titelblättern sämtlicher Zeitungen in Ohnmacht fallen. Der Pin-up-Detective der Police Scotland traut sich also wieder raus, ja?«, spottete Ava.

Callanach war nun seit acht Monaten beim Major Investigation Team in Edinburgh, und in all dieser Zeit hatte Ava sich nie eine Gelegenheit entgehen lassen, sich über ihn lustig zu machen. Seine weit zurückliegende Laufbahn als Model machte ihn zu einem besonders leichten Ziel.

»Das war nicht meine Idee«, grummelte Callanach. »Merde!«

»Pass auf, was du sagst«, tadelte ihn Ava.

»Ich denke, du sprichst kein Französisch«, gab Callanach zurück.

»Du verwechselst meine Missachtung dir gegenüber mit mangelndem Sprachverständnis, aber das sind zwei verschiedene Paar Schuhe«, beschied ihm Ava.

»Hast du eigentlich nichts zu tun?«, fragte Callanach kopfschüttelnd und wartete darauf, dass sich ein Grinsen über ihr Gesicht ausbreitete. Ava war die Art Frau, die Männer aus dem Gleichgewicht brachte. Dabei sah sie mit ihren langen, wirren braunen Locken und den grauen Augen, deren Farbe sich je nach Lichteinfall veränderte, ganz unschuldig aus. Aber sie konnte ohne Umschweife zum Punkt kommen. Der direkte Weg schien der einzige zu sein, den sie kannte. Als er von Frankreich hergezogen war, hatte in seinem Kopf Chaos geherrscht. Zu viel war geschehen, um emotional unversehrt wieder herauszukommen. Die letzten paar Monate hingegen waren heilsam gewesen, und dabei hatte Ava eine große Rolle gespielt, vor allem, weil er in ihrer Gegenwart einfach er selbst sein konnte.

»Erde an Callanach«, sagte Ava und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. »Ich wollte dich nur aufziehen. Ist es denn so schlimm? Hast du wirklich nichts, womit du arbeiten könntest?«

»Weniger als nichts«, entgegnete Callanach.

»DI Turner!«, hallte Begbies Stimme durch den Korridor.

»Ich bin nicht im Dienst, Sir«, rief Ava zurück. »Um genau zu sein, bin ich nicht einmal im Gebäude. Das bilden Sie sich nur ein.«

»Zu dumm für Sie, dass ich so ein lebhaftes Vorstellungsvermögen habe. Schaffen Sie ein Team zur Gilmerton Road. Es hat noch einen Mord gegeben.«

KAPITEL 3

Das Haus an der Gilmerton war eine einfache Doppelhaushälfte mit einem schlichten, aber gepflegten Vorgarten und einem Mini in der Auffahrt. Ein hohes Holztor führte zum hinteren Garten. Die Fenster im Obergeschoss waren klein, doch an einer Ecke, vermutlich dort, wo sich die Innentreppe befand, zogen sich lange schmale Scheiben über beide Etagen und gaben den Blick auf die Einfahrt des Nachbarhauses frei. Zwei Uniformierte waren am Tor postiert worden, und der eigentliche Zirkus der Forensik, Pathologie und Fotografie hatte noch gar nicht richtig begonnen. Die Nachbarschaft war friedlich, die Straßen verschlafen.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Ava Turner bei dem Officer, der die Eingangstür bewachte.

»Eine Nachbarin hat erst ein lautes Poltern und dann Schreie gehört und sich telefonisch an die Polizei gewandt. Als wir angeklopft haben, hat niemand reagiert, also sind wir um das Haus gegangen und haben festgestellt, dass die Küchentür offen war. Die Leiche ist im Schlafzimmer, Ma’am. Soll ich Sie begleiten?«

»Nein, bleiben Sie hier. Und sorgen Sie dafür, dass niemand den Garten betritt. Wer ist das Opfer?«

»Mrs Helen Lott, Mitte vierzig, hat allein gelebt, seit ihr Ehemann vor einer Weile gestorben ist. Die Nachbarin hat anscheinend einen recht freundlichen Umgang mit der Verstorbenen gepflegt. Wir haben ihr noch nicht erzählt, was wir entdeckt haben …«

»Gut. Wo zum Henker ist der Rest des Teams?«

»Die sind alle noch auf The Meadows und arbeiten an dem Mord auf dem Festival. Niemand hat mit einem zweiten Mord in derselben Nacht gerechnet«, sagte der Officer und rieb sich die Hände. Sogar im Juli war Schottland nicht der richtige Ort, um in den frühen Morgenstunden draußen herumzustehen.

»Verdammt richtig. Damit ist Edinburghs Mordquote für ein ganzes Jahr erfüllt. Allmächtiger Gott, das wird ein großer Tag für die Medien«, grollte Ava, die bereits dem schmalen Pfad zur Rückseite des Hauses folgte.

Das Schloss an der Hintertür war aufgebrochen. Wenn das ein Einbrecher getan hatte, dann war er bemerkenswert professionell vorgegangen, verglichen mit der üblichen Methode, die sich darauf beschränkte, Fenster einzuwerfen und sich zu schnappen, was immer sich in unmittelbarer Nähe fand. Der Täter hatte einen Haufen Geld für das richtige Werkzeug investiert, und er musste gewusst haben, was er benötigte. Ava zog Handschuhe und Schuhüberzieher aus der Tasche und bahnte sich, vorsichtig darauf bedacht, unterwegs nichts in Unordnung zu bringen, ihren Weg durch die Küche. Das Schloss war geknackt worden, aber es hatte keine Kette und keine weiteren Sicherheitsmaßnahmen gegeben. Ava verwünschte den Umstand, dass die meisten Menschen so wenig in den Schutz des eigenen Lebens investierten.

Im Haus war es dunkel, so wie es auch dunkel gewesen sein musste, als der Einbrecher sich hineingeschlichen hatte. Ava schaltete das Licht nicht ein, sondern stellte sich vor, wie sich der Mörder in dem Gebäude bewegt und zurechtgefunden hatte. Dank des hereinfallenden Lichts einer Straßenlaterne dürfte das für ihn kein allzu großes Problem gewesen sein. Keine der Stufen knarrte. Es war durchaus möglich, dass der Täter sich bis in Helen Lotts Schlafzimmer hatte schleichen können, ohne sie zu wecken. Dunkle Schmierflecken auf dem Teppich und eine glänzende Spur auf dem Geländer lieferten einen ersten Hinweis auf die Szenerie, die sich ihr gleich bieten sollte.

Der Geruch von Erbrochenem war schon auf halber Treppe wahrnehmbar, beginnend mit einer scharfen Note, die allmählich intensiver und fleischiger wurde, je näher sie ihrem Ziel kam. Da war noch etwas anderes, wie Ava feststellte, als sie die Tür zum Schlafzimmer aufstieß. Ein scheußlicher Gestank. Menschliche Fäkalien.

Im Schlafzimmer schaltete sie das Licht an, um sich genauer umzusehen, und wich vor dem Gemetzel am Boden unwillkürlich einen Schritt zurück. Eine hölzerne Kommode blockierte den Blick auf die Leiche. Außerdem lagen überall Kleidungsstücke herum, unter denen lediglich der rechte Fuß und der rechte Arm der Frau hervorlugten. Ava ging auf Zehenspitzen weiter und zupfte die Ecke eines Pullovers vom Gesicht der Toten. Blut war ihr aus Mund, Nase und Ohren gequollen. Das Erbrochene trocknete bereits auf dem Teppich und in den Runzeln und Falten ihrer Haut. Die Augen des Opfers, Augen von einem klaren, außergewöhnlichen Blau, waren aus den Höhlen getreten und starrten über Avas Schulter hinweg, als hielten sie Ausschau nach dem Angreifer, erfüllt von der Furcht, er könnte zurückkommen. Von dem Weiß in den Augen war nur wenig übrig, so blutunterlaufen waren sie, und das Blut bildete ein Muster wie Haarrisse auf einer antiken Vase. Hals und Gesicht waren stark angeschwollen und dunkelviolett verfärbt. Es war, als hätte ein wütendes Kleinkind sie vom Hals aufwärts in allen Farben des Zorns angemalt.

Die Kommode, ein breites, schweres Stück, lag auf ihrem Körper, und in diese Position war sie nicht zufällig geraten. Sorgfältig beäugte Ava den Schaden. Die Rückwand der Kommode, die nun zur Decke zeigte, war zertrümmert, die Seiten eingedrückt. Der Angreifer war von der Matratze auf die Kommode gesprungen und hatte so zu dem mörderischen Druck beigetragen, der dem panischen Opfer, das darunter eingeklemmt war, die Luft aus der Lunge getrieben hatte. Helen Lotts sichtbares Bein war widernatürlich verdreht, und die Nägel ihrer freien Hand waren blutig und abgebrochen. Ava drehte die Hand nach oben zu der Stelle, an der die Fingernägel in Kontakt mit der Kommode gekommen sein mussten. Und tatsächlich waren da passende Schrammen auf der polierten Oberfläche zu sehen. Die arme Frau musste also noch bei Bewusstsein gewesen sein, zumindest ausreichend, um alles zu tun, was sie in diesen letzten, verzweifelten Minuten ihres Lebens hatte tun können, um sich aus ihrer Lage herauszukämpfen. Der Tod musste die einzige Gnade gewesen sein, die ihr vergönnt war, dachte Ava. Mrs Lott dürfte erleichtert gewesen sein, als die Dunkelheit sie schließlich verschlungen hatte.

»Oje«, ertönte eine leise Stimme an der Tür. »Was um alles in der Welt ist hier los? Vorhin erst habe ich zu Luc gesagt, dass ich Sie vermisst habe, aber ich habe mir bestimmt nicht gewünscht, Sie unter diesen Umständen wiederzusehen.«

»Ich muss alles wissen, was Sie mir über den Mörder sagen können. Einzeltäter oder Gang? Gab es eine Waffe? Geben Sie mir einfach genug, damit ich loslegen kann, Ailsa«, bat Ava.

Die Pathologin, von Kopf bis Fuß in einen weißen Overall gekleidet, in dem sie noch kleiner als sonst wirkte, öffnete ihre Tasche und holte ein Thermometer und eine Auswahl an Tupfern hervor.

»Das ist ein problematischer Tatort, kaum Platz zum Arbeiten. Ihre Leute sollen draußen bleiben, bis ich fertig bin. Beschaffen Sie mir eine ordentliche Lampe, und ich brauche unverzüglich den Fotografen hier.«

»In Ordnung«, sagte Ava, als Ailsa sich neben die Leiche kniete.

»Sie ist immer noch recht warm, also kann der Angreifer – oder die, das kann ich nicht feststellen – noch nicht allzu lange fort sein«, berichtete Ailsa, schoss Fotos mit ihrer eigenen kleinen Kamera und richtete eine Lampe auf Helen Lotts Augen und Ohren und ihren Mund. »Der Tod trat innerhalb der letzten fünfundvierzig Minuten ein, mehr kann ich auf Anhieb nicht sagen. Aber ich würde darauf wetten, dass der Täter – wenn es eine Einzelperson war – männlich und sehr groß war. Das hier hat enorme Kraft und gewaltigen Zorn erfordert. Um diese Verletzungen herbeizuführen, hat er neben der Kommode keine weitere Waffe benötigt. Aber wer immer das war, muss voller Blut sein. Der oder die Täter werden sich versteckt halten, bis sie sich gesäubert haben. Dieser Schlag ins Gesicht, sehen Sie die Schwellung und die Verfärbung hier?« Ailsa deutete auf die Seite von Helen Lotts Kopf. »Hat ihr vermutlich den Wangenknochen gebrochen, vielleicht auch noch den Kiefer, und er dürfte sie zu Boden geworfen haben, sodass der Täter die Kommode auf sie kippen konnte. Das Gewicht des Möbelstücks hat die Luft aus ihrer Lunge gepresst, was sie, zusammen mit dem gebrochenen Kiefer, am Schreien gehindert hat. Das mag Zufall oder geplant gewesen sein, das ist nicht feststellbar. Aber das ist ein außergewöhnlicher Tatort. Sehr persönlich. Von Unfällen mit Fahrzeugen oder in Industriebetrieben abgesehen, habe ich noch nie eine Leiche gesehen, die zu Tode gequetscht wurde. Und diese Blutspritzer hier und hier« – Ava folgte Ailsas Blickrichtung von der Kommode über den Teppich zu den Wänden und zum Kleiderschrank – »deuten an, dass sie nicht durch eine einmalige Krafteinwirkung zu Tode gekommen ist.«

»Was bedeutet?«, hakte Ava nach.

»Das bedeutet, fürchte ich, dass wer immer das getan hat wieder und wieder auf die Kommode gesprungen ist und jedes Mal neue Verletzungen und beinahe explosive Blutungen ausgelöst hat. Wenn wir die Kommode von der Leiche herunternehmen, werden wir eine sternförmige Verteilung der Blutspuren vorfinden.«

»Mistkerle«, fluchte Ava, die Hände in die Hüften gestemmt, und ließ den Kopf hängen.

»Ich wette, in Gegenwart Ihrer Mutter würden Sie nicht so sprechen«, bemerkte Ailsa mit einem sanften Lächeln. »So, und nun sollte ich mich mit Mrs Lott befassen.«

Ava stieg die Treppe wieder hinunter, schaltete unterwegs sämtliche Lampen an und erteilte Anweisungen über Funk. Techniker brachten Lampen und Folien herein, noch bevor sie die Küchentür erreicht hatte. Ava ging hinaus auf die Straße und schaute sich um. Dies war ein ruhiges Wohngebiet ohne Überwachungskameras und nicht wohlhabend genug, dass irgendeiner der Bewohner sich eine eigene Überwachungsanlage leisten könnte. Dass das Haus bewohnt war, konnte man kaum übersehen, wenn so spät in der Nacht ein Auto in der Auffahrt stand. Der Einbrecher – falls es sich um einen fehlgeschlagenen Einbruch handelte – hatte mit Bewohnern rechnen und besondere Vorsicht walten lassen müssen.

»Officer«, rief Ava dem Uniformierten zu, mit dem sie gleich nach ihrer Ankunft gesprochen hatte. »Ist Ihnen etwas aufgefallen, das offensichtlich fehlt, oder haben Sie Anzeichen dafür gesehen, dass jemand das Haus durchsucht hat?«

»Die Handtasche samt ihrem Portemonnaie liegt immer noch auf dem Küchentisch, Ma’am. Davon abgesehen wollten wir möglichst wenig verändern.«

Sie kehrte zu ihrem Wagen zurück und rief Begbie an. »Turner hier. Sieht übel aus, Chief. Weibliches Opfer, hat allein gelebt. Wurde mit ihren eigenen Möbeln zu Tode gequetscht.«

»Sie wollen mich doch verdammt noch mal verarschen«, gab Begbie seufzend zurück. Ava konnte beinahe vor sich sehen, wie er sich am Kopf kratzte und mit dem Stift auf dem Schreibtisch trommelte. Er hörte sich erschöpft an. »Sexueller Übergriff?«

»Kann ich noch nicht sagen. Und wir werden es auch nicht erfahren, bis Mrs Lott zur Autopsie reingebracht werden kann. Der Torso und zwei Körperglieder sind weitgehend plattgedrückt worden.«

»Verdächtige?«

»Noch nicht. Die Pathologin ist noch bei der Leiche. Alle anderen waren noch auf The Meadows, also hat es ein bisschen länger gedauert, bis es losgehen konnte. Aber der Angreifer ist mit annähernder Sicherheit männlich. Allerdings bin ich nicht sicher, ob es einer oder mehrere waren. Es ist ein brutaler Mord, der eine Menge Gewalt erfordert hat. Wir haben einen Stiefelabdruck. Ein paar Officers sind bei der Nachbarin und nehmen ihre Aussage auf. Nach dem Vorfall auf The Meadows wird die Presse …«

»Ich weiß, ich weiß«, fiel ihr Begbie ins Wort. »Trotzdem müssen wir es ihnen sagen. Die finden das sowieso bald heraus. Besser, sie hören es von uns.« Ava konnte das schwere Keuchen des Chiefs durch das Telefon hören. Es klang, als müsse er nach jedem Wort erst wieder zu Atem kommen.

»Sir, heute Nacht wird weiter nichts mehr passieren. Vielleicht sollten Sie einfach nach Hause gehen. Callanach und ich sind beide verfügbar und können uns um alles kümmern.«

»Fangen Sie nicht auch noch an, Turner. Würde mir der Sinn nach einer weiteren Frau stehen, die an mir herumnörgelt, dann hätte ich mich schon vor langer Zeit als Bigamist betätigt. Sperren Sie einfach den Tatort ab, und bringen Sie mir irgendwelche verdammten nützlichen Informationen. Ich erwarte mindestens hundert Prozent mehr als das, womit Callanach von The Meadows zurückgekommen ist. Und glauben Sie bloß nicht, dass ich die Messlatte damit besonders hoch angesetzt hätte.«

KAPITEL 4

Callanach saß mit einem Videoeditor mit ausdruckslosem Gesicht zusammen und versuchte, den Stapel Zeitungen zu ignorieren, den irgendeine hilfreiche Person auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte. Was er wirklich tun musste, war, sich das Filmmaterial von vier verschiedenen Kameras anzuschauen, für den Fall, dass eine etwas aufgezeichnet hatte, das vielleicht einer Spur ähnelte. Glücklicherweise deuteten die Timelines darauf hin, dass diese Aufgabe zumindest vorerst nicht allzu ausufernd werden dürfte.

Die ersten beiden Bänder stammten von statischen Kameras ohne Bedienpersonal. Beide deckten den vorderen Teil der Menschenmenge ab, und die Stelle, an der Sim Thorburn gestanden hatte, war nur ein ferner, kaum wahrnehmbarer Fleck. Das restliche Material ließ sich nicht so leicht durchsehen. Ein Kameramann hatte von wechselnden Standorten auf der Bühne sowohl die Band als auch die Menge aufgenommen. Der zweite stand auf einer Hubarbeitsbühne, die ihm eine dynamischere Perspektive ermöglichte. Die Durchsicht des Materials ging quälend langsam vonstatten, aber schließlich tauchte inmitten der Menschenmenge der erfreulicherweise hochgewachsene Niek De Vries auf.

»Hier anhalten«, sagte Callanach und starrte angestrengt auf den Bildschirm. »Dieser Abschnitt, können Sie den vergrößern?«

Der Editor drückte ein paar Tasten, ehe er sich zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte.

»Das ist alles?«, fragte Callanach. »Es ist so verschwommen.«

»Ja, Sie kennen das aus Filmen, wo etwas ganz plötzlich herangezoomt werden kann, und alles ist superscharf, und Sie können den Leuten in die Tasche schauen und lesen, was auf irgendeinem Zettel steht, aber das ist alles Schwachsinn«, sagte der Editor. »Es gibt nur ein Bild, und das besteht aus einer bestimmten Anzahl von Bildpunkten. Sie können Ausschnitte heranzoomen, aber dann werden sie unscharf. Würde ich doch nur jedes Mal, wenn ich das erkläre, ein Pfund bekommen.«

»Dann zoomen Sie wieder etwas zurück und ein Stück nach links«, bat Callanach. »Das ist Sim«, sagte er. »Spielen Sie es von da an ab.«

Als das Bild wieder in Bewegung kam, konnte Callanach beobachten, wie Sim wild herumhüpfte und dabei immer wieder aus dem Aufnahmebereich verschwand. Das Bild war unscharf, aber das war unverkennbar das Opfer. Wie viele der Männer in der Menge zeigte auch er den nackten Oberkörper, nachdem er vermutlich sein T-Shirt in der Hitze, die von der Sonne und der Menge ausging, abgelegt hatte. Sim sang mit und boxte im Takt der Musik mit einem Arm in die Luft. Er sah entspannt und glücklich aus. Hinter ihm, etwas weiter rechts, stand Merel De Vries.

»Er hat absolut keine Ahnung, was ihn erwartet«, murmelte Callanach vor sich hin. Nun bewegte sich die Kamera langsam nach rechts, und Sims Gesicht näherte sich dem Rand des Bildschirms. »Nein«, entfuhr es Callanach. »Jetzt muss es jeden Moment passieren. Frieren Sie das Bild ein oder irgendwas.« Der Editor drückte die Leertaste. Callanach studierte das Standbild, konnte aber nichts Neues entdecken. »Lassen Sie es weiterlaufen«, sagte er. Noch ein Tastendruck, und schon verschwand Sims Gesicht aus dem Bild, doch ehe auch der Rest von ihm fort war, schien es, als pralle er mit jemandem zusammen, der vor ihm vorbeiging. »Anhalten. Genau da. Das ist es.«

Callanachs Gehirn füllte die Leerstellen aus. Jemand schob sich geschickt durch die Menge, holte das Messer aus der Tasche, entfernte die Scheide und zog im Vorbeigehen die rasiermesserscharfen Klingen über Sims nackten Bauch. Dabei hielt er einen Lappen bereit, um die Klingen zu reinigen und keinen der Umstehenden mit Blut zu beflecken. Dann, noch bevor das Opfer am Boden lag, schlüpfte die Person davon. Wahrscheinlich hatte sie sich im Zickzack durch die Menge bewegt. Es wäre zu auffällig gewesen, hätte sie sich auf geradem Weg durch das Gedränge vom Schauplatz des Verbrechens entfernt.

»Spielen Sie das noch einmal ab«, forderte Callanach. Beim zweiten Durchlauf erkannte er deutlich, dass Sim nicht einmal den Kopf gedreht hatte. Es hatte keinerlei Störung für ihn gegeben, keine Konversation, keine Erkenntnis. Hätten nicht ein paar verschwommene Pixel die Bewegung einer dunklen Gestalt von unbestimmbarer Erscheinung verraten, die direkt vor Sims Zusammenbruch vor der unteren Hälfte von dessen Gesicht vorbeigeglitten war, hätte er ebenso gut von einem Geist ermordet worden sein können. »Sie erzählen mir bestimmt, Sie könnten diesen Bildausschnitt nicht verbessern, richtig?« Der Editor zog nur eine Braue hoch. »Ich brauche einen Ausdruck in der bestmöglichen Qualität von allen Einzelbildern, auf denen sein Gesicht und dieser verschwommene Fleck zu sehen sind.«

Tripp kam zur Tür herein und las dabei in einem Dokument. »Forensik, Sir. Ist gerade per E-Mail gekommen. Nichts Neues.«

»Was soll das heißen, nichts Neues?«, fragte Callanach.

»Nur das, was Sie bereits bei der Autopsie erfahren haben. Keine Drogen nachweisbar, minimale Alkoholkonzentration im Blut. Gesund, keine früheren Verletzungen außer einem Beinbruch, der aussieht, als hätte er ihn sich in der Kindheit zugezogen. Er war sauber. Todesursache wie erwartet«, sagte Tripp.

»Haben wir seit der Pressekonferenz irgendwelche neuen Informationen erhalten?«, erkundigte sich Callanach.

Tripp schaute ihn nervös an. »Sie haben es noch nicht gehört, Sir? Dann haben Sie wohl wieder Ihr Handy ausgeschaltet, richtig?« Callanachs Hand schoss in seine Tasche und kehrte mit einem Handy mit schwarzem Display zurück. »Jemand hat eine Seite eingerichtet, um Aufnahmen zu sammeln. Die Leute haben wirklich jeden Fitzel an Videomaterial von ihren Telefonen hochgeladen. Das sind Tausende von Stunden, die wir uns ansehen können. Davon abgesehen gibt es keine neuen Spuren. Aber eine Menge öffentlicher Empörung. Ich glaube, DCI Begbie hat sich in seinem Büro verbarrikadiert. Die Pressestelle versucht, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Da ist irgendein Journalist, der Sie interviewen will.«

»Meinen Sie, das wäre hilfreich?«

»Nicht mein Fachgebiet. Aber ich glaube, irgendeine Zeitung hat Sie als Police Scotlands Antwort auf Brad Pitt bezeichnet, also werden Sie vielleicht nicht …« Tripps Stimme verhallte.

»Das ist dann alles, danke, Tripp. Ist der DCI verfügbar?«

»Nur für Leute, die gute Nachrichten bringen, hat er gesagt«, lautete Tripps Antwort, während er sich zum Gehen wandte.

»Sieht ganz so aus, als würde dieser Tag für uns alle enttäuschend sein«, grollte Callanach.

Bald darauf spazierte er in Begbies Büro, wo der Chief gerade einem Officer in Zivilkleidung, den Callanach noch nie zuvor gesehen hatte, einen Stapel Akten übergab.

Begbie deutete auf einen Stuhl, doch Callanach beschloss, die Einladung zu ignorieren.

»Keine Ahnung, wie lange wir hier sein werden«, fuhr der Zivilbeamte zu sprechen fort und ignorierte Callanachs Gegenwart. »Offenbar sollen wir mit Ihrer regionalen Truppe zusammenarbeiten. Könnte sein, dass wir auch ein paar Ihrer Leute für Befragungen vor Ort benötigen.«

»Ich fürchte, seit gestern ist mein ganzer Haufen im Einsatz«, knurrte Begbie mit geschlossenen Augen. »Es sei denn, Callanach hat eine überraschende Neuigkeit für mich.« Callanach starrte zum Fenster hinaus. »Also schön, Sie bekommen so viel Bürofläche wie nötig, können auf unsere gesamte Ausrüstung zugreifen und nach Herzenslust von unseren Ortskenntnissen profitieren, aber das Personal ist Ihr Problem.«

Der Officer gab einen unverbindlichen Laut von sich, den Begbie schlicht ignorierte, als er den kleinen Wasserkocher einschaltete, den er in seinem Büro bereithielt, vermutlich um die notwendige Gehstrecke zum Teekochen zu minimieren. Callanach nahm die Gelegenheit wahr, den Neuankömmling zu studieren. Der Akzent stammte unverkennbar aus dem Oberklassenenglisch, und die zugehörige Haltung zeigte sich in seinem Tonfall ebenso wie in dem leicht nach oben geneigten Kopf.

»Gut, dann gehe ich jetzt. Wir werden unsere Anforderungen überdenken und das Personalthema an einem anderen Tag erneut aufgreifen, DCI Begbie.« Ohne ein Dankeschön ging er hinaus und achtete dabei nicht einmal darauf, ob die Tür ordnungsgemäß ins Schloss fiel. Callanach übernahm das für ihn.

»Irgendetwas, das ich wissen sollte, Sir?«, fragte Callanach.

»Nicht heute«, grummelte Begbie. »Haben Sie schon einen Verdächtigen?«

»Dunkelhaarig. Klein, schmächtig. Aber das ist mehr geraten und basiert darauf, dass die Menge kaum reagiert hat, als sich der Mörder hindurchgedrängt hat. Könnte ein Mann oder eine Frau gewesen sein. Die Beschreibung, die der Sache meiner Ansicht nach am nächsten käme, würde der Person wohl einen gewissen Grad an Professionalität attestieren.«

»Danke, Detective Inspector, aber achten Sie darauf, diese Worte nicht vor irgendeinem anderen Lebewesen zu wiederholen. DI Turner ist im Moment in ihrem Büro und versucht, die Ermittlungen gegen einen Mann zu organisieren, dem sie, genau wie Sie, bereits eine unangemessene Bezeichnung hat zukommen lassen. Sie mögen es mit einem Profi zu tun haben; Turner hat den Zermalmer. Mit annähernder Sicherheit männlich, schwer, stark, brutal und außerdem ein absoluter Psychopath, wenn der Obduktionsbericht irgendetwas zu besagen hat.«

»Zwei in einer Nacht? Das ist ungewöhnlich für diese Gegend.«

»Ungewöhnlich? Eine Katastrophe monumentalen Ausmaßes ist das. Wissen Sie, wie die Schlagzeilen heute Morgen ausgesehen haben?« Callanach hatte sich immer noch nicht überwunden, die Zeitungen durchzugehen. »Nicht? Nun, dann lassen Sie mich mein Leid halbieren, indem ich es mit Ihnen teile. ›Keine Sicherheit auf den Straßen, keine Sicherheit im eigenen Haus: Edinburgh hat eine ungeheuerliche Nacht erlebt.‹ Nicht sehr eingängig, aber verdammt treffend, meinen Sie nicht?« Begbie ließ sich so schwungvoll auf seinen Stuhl fallen, dass der einen halben Meter zurückrutschte. »Und mein Budget gibt nicht genug Geld her, um für den Rest des Jahres noch irgendwelche Überstunden zu bezahlen! Tun Sie was, Mann. Ich habe zwei Leichen im Leichenschauhaus und wage kaum noch, ans Telefon zu gehen.«

Callanach wartete nicht darauf, dass Begbie noch mehr auf ihm ablud. Nach allem, was er gehört hatte, hatte Ava wohl einen noch schlimmeren Tag als er selbst. Also machte er sich auf den Weg zu ihrem Büro, in der Hoffnung, sie könnten gegenseitig ihr Los bedauern. Dort angekommen, öffnete er die Tür, ohne anzuklopfen, worauf sich vor ihm hastig zwei Leiber voneinander entfernten. Ava tat einen schnellen Schritt zurück und stieß sich die Hüfte an der Ecke ihres Schreibtischs, während der Mann angesichts der Störung weniger verlegen als verärgert dreinblickte. Callanach erkannte in ihm den Zivilisten wieder, der erst vor Kurzem das Büro des Chiefs verlassen hatte.

»Begbie hat uns nicht vorgestellt. Hat anscheinend einen ziemlich harten Tag. Ich bin DCI Edgar«, sagte der Mann.

»Callanach«, entgegnete er und schüttelte dem Detective Chief Inspector die Hand. »Ich habe Sie unterbrochen. Entschuldigen Sie.«

»Nein, hast du nicht. Was gibt’s, Luc?«, fragte Ava und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

»Ich dachte, ich schaue mal, wie es bei dir läuft. Der Chief hat gesagt, du hast einen besonders fiesen Fall erwischt.«

»Das sind doch stets die besten, nicht wahr?«, warf Edgar ein.

Ava ging um ihren Schreibtisch herum und setzte sich. »Joseph kommt von der National Cyber Crime Unit in London. Ein Anschlag steht unmittelbar bevor, und es gibt Hinweise darauf, dass er von Edinburgh aus organisiert wird.«

»Es ist wahrscheinlich das Beste, die Information nicht weiterzuverbreiten, Ava. Soweit ich weiß, hat Callanach eigene Probleme, über die er sich den Kopf zerbrechen muss.«

»Die habe ich«, sagte Callanach. »Also bis dann. War nett, Sie kennenzulernen.« Er schloss Avas Tür, verzog das Gesicht und wischte sich unterwegs die Handfläche seiner rechten Hand an der Hose ab.

KAPITEL 5

»Irgendein Mistkerl hat die Kurzfassung des Autopsieberichts durchsickern lassen!«, wütete Ava, knallte Callanachs Tür zu und warf sich regelrecht auf einen Stuhl. »Was bedeutet, dass entweder jemand in Ailsas Abteilung oder ein Polizist von hier dafür verantwortlich ist. Als wäre das alles nicht so oder so schlimm genug.«

»Hast du geschlafen?«, fragte Callanach.

»Hör dir das an«, sagte Ava, ohne auf seine Frage einzugehen, schlug die mitgebrachte Zeitung auf und fing an zu lesen: »›Helen Lott, eine sechsundvierzigjährige Krankenschwester, die im Bereich der Palliativpflege tätig war, wurde vorsätzlich in ihrem eigenen Schlafzimmer zu Tode gequetscht.‹ Bei all den Monstren, mit denen ich es zu tun hatte, wer würde ausgerechnet eine Krankenschwester ermorden, die sich um todkranke Patienten kümmert? ›Festgestellt wurden mehrfache Brüche des Sternums und der Rippen, eine kollabierte Lunge und schwere Schäden an inneren Organen, die zu inneren Blutungen und zum Ersticken geführt haben. Eine Nachbarin hatte die Polizei alarmiert, als sie spät in der Nacht lauten Krach aus dem Haus der Frau gehört hatte. Der Autopsiebericht legt nahe, dass ihr qualvoller Tod das Ergebnis eines ausgeklügelten Mordplans war, der beinhaltet hat, dem Opfer möglichst viel Schmerz zuzufügen. Mrs Lott wird schmerzlich vermisst, sowohl von ihren Kollegen als auch von den Patienten, die sie alle als Engel bezeichnen, der sein ganzes Leben der Krankenpflege gewidmet hat.‹ Wusstest du, dass es schon Graffiti über den Mord auf diversen Wänden in der Stadt gibt? Nur Gott weiß, wer damit angefangen hat. Und wir wurden gerade darüber informiert, dass besorgte Bürger einen Protestmarsch im Take-Back-the-Night-Stil planen. Als hätte die Polizei nicht genug zu tun. Was zum Teufel ist hier los?«

»Hast du die undichte Stelle gemeldet?«, wollte Callanach wissen.

»Natürlich habe ich. Zwei Officers verhören jeden, der im städtischen Leichenschauhaus Zugang zu den Informationen hatte, und ein Mitarbeiter aus der IT-Abteilung verfolgt gerade die digitale Route zurück, auf der das Dokument von dort zu uns gekommen ist, um sicherzustellen, dass das Leck nicht bei uns ist. Außerdem haben wir bei den üblichen Medienunternehmen angefragt, ob jemand sie kontaktiert und versucht hat, ihnen die Daten zum Kauf anzubieten. Bisher ohne Erfolg. Wie kommt es, dass das Erste, was passiert, immer das Letzte ist, was man braucht?«, schnaubte sie.

»Willst du einen Kaffee?«, erkundigte er sich.

Ava schüttelte den Kopf. »Sorry wegen gestern. Das mit Joe. Das war …« Ihre Stimme verlor sich.

»Geht mich nichts an«, stellte Callanach klar.

»Joe und ich waren auf der Universität befreundet. Er hat mich vor ein paar Wochen angerufen, um mir zu sagen, dass er wahrscheinlich hierher versetzt wird. Du weißt ja, manchmal greift man etwas wieder auf, und es ist, als wäre kaum Zeit vergangen …«

»Vergiss es. Willst du auf dem Heimweg etwas essen gehen? Wenn ich nicht bald eine Dusche bekomme, verklagen mich meine Klamotten wegen hygienischer Misshandlung.«

Ava starrte ihre Hände an.

»Schon gut«, sagte Callanach, während Avas unausgesprochene Pläne zwischen ihnen in der Luft hingen. »Wir sehen uns morgen. Und mach dir keinen Kopf wegen der Zeitungen. Du weißt doch, sie brauchen für jeden Tag einen neuen Aufhänger.«

Das erwies sich als guter Rat, denn auch wenn zwei Morde genug Stoff für eine umfangreiche Berichterstattung lieferten, konzentrierten sich die Schlagzeilen am nächsten Tag auf ein anderes Thema.

Das größte Lagezimmer wurde von einem Aufgebot an gut gekleideten Zivilbeamten eingenommen, samt und sonders frisch gewaschen und herausgeputzt. Ganz offensichtlich waren die nicht die ganze Nacht wach gewesen und hatten sich erfolglos unendlich viele Handyvideos und Fotos angesehen.

»Ist über Nacht irgendwas passiert?«, fragte Callanach Sergeant Lively, als der an ihm vorbeigehen wollte.

»Diese verdammten versnobten Idioten stolzieren herum, als hätten sie hier das Sagen. Sind auf der Jagd nach einem Haufen Nerds, um die sich jeder, der noch ein bisschen Verstand hat, einen Dreck scheren würde. Gegen die wirken sogar Sie wie ein verdammter Einheimischer.«

»Wie ein verdammter Einheimischer, Sir«, ermahnte ihn Callanach, was Lively mit einem boshaften Kichern quittierte.

»Aye, was auch immer.« Lively zog ab und stopfte sich dabei ein Sandwich in den Mund. Callanach und er hatten sich anfangs gar nicht gut verstanden. Lively, ein altgedienter Sergeant, der schon seit Jahrzehnten bei der Truppe war, hätte lieber einen Kandidaten seiner Wahl auf dem Posten des Detective Inspectors gesehen, als Callanach von außen reingeholt worden war. Es war nur logisch anzunehmen, dass Lively der Urheber einer Lästerkampagne war und diverse üble Gerüchte in die Welt gesetzt hatte, um Callanach abzusägen, bevor der seinen ersten Fall für die Police Scotland abgeschlossen hatte. Danach hatten er und der Detective Sergeant den Punkt, an dem sie sich beinahe geprügelt hätten, hinter sich gelassen und übten sich in gegenseitiger Akzeptanz, doch das Geschimpfe hatte nie aufgehört. Zumindest schnitt Callanach gegenüber dem Zustrom der Elite von Scotland Yard offenbar recht vorteilhaft ab.

Callanachs Telefon klingelte, als er gerade sein Büro erreicht hatte. Er warf seine Jacke auf den Schreibtisch und nahm den Anruf entgegen. Es war viel zu heiß, um, wenn man halbwegs bei Verstand war, mehr als Shorts und T-Shirt zu tragen. Hemden und Krawatten waren eine der Kehrseiten der Beförderung.

»Callanach«, meldete er sich.

»DI Callanach, ich habe Ihnen mehrere Nachrichten hinterlassen«, sagte die Person am anderen Ende grußlos. »Hier spricht Lance Proudfoot. Ich bin Redakteur eines Online-Blogs, der sich der Veröffentlichung von Meldungen zum Tagesgeschehen widmet. Ich hatte gehofft, Sie könnten zu dem Festival-Mord Stellung nehmen.«

»Woher haben Sie diese Nummer?«, fragte Callanach.

»Die Telefonzentrale hat mich durchgestellt.«

»Das dürfte der Karriere der Person nicht förderlich sein«, bemerkte Callanach und stellte sich im Geiste das Gespräch vor, das er später mit dem Idioten führen würde, der das Gespräch entgegengenommen hatte. »Kein Kommentar. Sie haben bereits alles, was wir herausgeben können, bei der Pressekonferenz erhalten.«

»Um der jungen Dame in Ihrer Telefonzentrale gegenüber fair zu sein, ich könnte ihr den Eindruck vermittelt haben, dass ich ein Familienangehöriger wäre«, gestand Lance, und Callanach seufzte. »Und Ihre Pressestelle vergisst bisweilen, die Onlinepresse zu den Konferenzen einzuladen, daher der Bedarf an einem gewissen Grad an … Einfallsreichtum zwecks Beschaffung von Informationen.«

»Ich bin nicht überzeugt, dass Sie und ich hinsichtlich der Nutzung des Begriffs Einfallsreichtum anstelle des Worts Lügen einer Meinung sind, Mr Proudfoot. Und nun, fürchte ich, muss ich mich meiner Arbeit widmen«, sagte Callanach.

»Also können Sie auch keinen Kommentar zu dem Hackerskandal von gestern Nacht abgeben? Das Einzige, was ich gehört habe, ist, dass Scotland Yard ein Team erstklassiger Ermittler nach Edinburgh entsandt hat.« Dieser letzte Satz troff nur so vor Sarkasmus. Callanach musste sich schwer zusammenreißen, um ihm nicht spontan zuzustimmen. Stattdessen öffnete er eine Nachrichtenseite auf seinem Handy und ging die Schlagzeilen durch. Eine Gruppe, die sich selbst The Unsung nannte, hatte die Konten diverser Banker und Investoren gehackt, die erst vor Kurzem Boni in einer Höhe erhalten hatten, die geeignet war, einem normalen Menschen die Sprache zu verschlagen, und die Gelder umgeleitet. »Ein herausragendes Beispiel für den Widerstand gegen das Establishment«, fuhr Lance fort.

»Sieht für mich wie gewöhnlicher Diebstahl aus«, gab Callanach zurück.

»Da bin ich anderer Meinung. Die Hacker haben das Geld auf die Konten diverser Wohltätigkeitsorganisationen überwiesen, alles von Kinderhospizen bis hin zu Tierheimen. Sie haben auch nur fünfundzwanzig Prozent von dem jeweiligen Bonus abgezweigt, also waren sie nicht einmal gierig. Sie haben nur klar und deutlich aufgezeigt, wie obszön diese Zahlungen sind, bedenkt man die mangelnde finanzielle Basis gemeinnütziger Organisationen, die sich dem guten Zweck verschrieben haben«, wandte Lance ein.

»Wie auch immer, das ist kein Fall für das Major Investigation Team, fürchte ich, also habe ich auch dazu keinen Kommentar für Sie«, sagte Callanach, der es kaum erwarten konnte, endlich aufzulegen, doch der Journalist am anderen Ende machte es ihm enorm schwer, ihn mit Anstand loszuwerden.

»Ach, dann haben sie also die Kavallerie gerufen. Überrascht mich nicht«, bemerkte Lance, und Callanach versetzte sich im Geiste einen Tritt wegen seiner Indiskretion. »Entzieht man alleinerziehenden Müttern oder Behinderten die Beihilfen, kräht kein Hahn danach, aber wenn man einem Haufen fetter Bonzen ein bisschen Bares klaut, bietet die Regierung alles auf, was ihr zur Verfügung steht.«

»Das ist immer noch eine Straftat. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein moralisches Urteil über die Verbrechen zu fällen, die wir aufklären müssen«, konstatierte Callanach.

»Trotzdem müssen Sie zugeben, dass das ein geschickter Schachzug war. Jetzt müssen die Luschen jeden unautorisierten Geldtransfer zur Anzeige bringen, wodurch auch die Presse Einzelheiten zu den Vorfällen erhält. Dann müssen die sogenannten Opfer jede einzelne Wohltätigkeitsorganisation bitten, ihnen ihr Geld zurückzugeben. Was würden Sie tun, DI Callanach? Sagen wir, Sie bekämen zu einem so oder so schon überzogenen Gehalt auch noch einen Bonus in Höhe von vier Millionen Pfund. Drei Millionen sind immer noch auf Ihrem Konto. Würden Sie sich zum Affen machen und darauf bestehen, dass die örtliche Kriegsveteranenfürsorge Ihnen Ihre Million zurückgibt? Die öffentliche Bloßstellung ist nichts gegen die wenig zugewandten Gefühle, die die Bevölkerung diesen Leuten entgegenbringen wird. Ist schon ein Kunststück, finden Sie nicht?«

Callanach antwortete nicht. Ein Kunststück, allerdings. Jedenfalls erklärte es die Gockelei im Lagezimmer.

»Wie auch immer, ich bin lediglich hinter einem offiziellen Kommentar her«, fuhr Lance fort. »Die Öffentlichkeit will hören, dass ihre Stadt sicher ist. Wollen Sie sich wirklich die Gelegenheit entgehen lassen, sie zu beruhigen?«

»Das ist eine Mordermittlung«, beschied ihm Callanach. »Kein Spiel und auch keine Gelegenheit, um für die Stadt zu werben. Zeigen Sie etwas Respekt.«

»Hören Sie, ich mache das, weil mir die Storys, die ich veröffentliche, wichtig sind. Ich arbeite nicht für ein Printmedium, bei dem meine Texte redigiert würden, bis sie den politischen Interessen des Herausgebers oder der Maximierung der potenziellen Werbeeinnahmen dienlich sind. Ich bin mein eigener Herr, und ich übernehme die Verantwortung für das, was ich schreibe. Tun Sie mir den Gefallen. Nur eine Zeile. Wir sind nicht alle mies, wissen Sie.«