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Das weltberühmte Pergamonmuseum wird von einer grausigen Mordserie erschüttert. In Verdacht gerät ausgerechnet der frisch gebackene Museumspraktikant Hartung Siegward Graf von Quermaten zu Oyting hausen, von allen Hasi genannt. An der Seite seiner attraktiven Chefin findet er sich bald in einem Geflecht aus Verbrechen, Verschwörung und obskuren Ritualen wieder. Und er muss erkennen, dass auch sein eigenes Leben nur noch am seidenen Faden hängt …
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Seitenzahl: 379
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Sue & Wilfried Schwerin von Krosigk
Die Pergamon-Morde
Kriminalroman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ebook im be.bra verlag, 2017
© der Originalausgabe:
berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2017
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin
Umschlag: Ansichtssache, Berlin
ISBN 978-3-8393-6155-9 (epub)
ISBN 978-3-89809-545-7 (print)
www.bebraverlag.de
Als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen versetzt
Die Temperatur schien um einige Grade zu fallen
Ihre Empörung war zu gewaltig, um nicht ins Hyperventilieren zu geraten
Der Prinz hatte sich schon bei der ersten Begegnung in einen Frosch verwandelt
Aus dem Inneren erschien der strubbelige Kopf wie ein Alien nach der Landung
Warum musste sie im letzten Augenblick alles kaputtmachen?
Sie war noch nie jemandem begegnet, der so kümmerliche berufliche Ambitionen hatte
Er fühlte, wie sein Magen rebellierte, und seine Kinderstube war hin
Der Täter musste einige Mühe damit gehabt haben
Sein Gesicht sah aus wie ein missglücktes chirurgisches Experiment
Solche Typen machten immer Ärger
Er konnte einem gewaltig auf den Zeiger gehen mit seinem Gefasel
Loyalität hin oder her, manchmal musste man an sich selbst denken
Er konnte sich überall frei bewegen, fast als sei er unsichtbar
»Wuff«, bellte einer der beiden Männer ihn an
Es sah in jeder Hinsicht nicht gut für die Mordkommission aus
Trotz der Wärme hier unten in den Katakomben fröstelte es sie
Auch jetzt spürte er die Anwesenheit der Toten
Er hatte sich so auf seinen ersten Arbeitstag gefreut, und dann das!
Seine Energie wurde ihr allmählich unheimlich
Es war das übliche Spiel unter Männern
Wenn das die Polizei war, musste er schneller als seine Tante sein
Ihm fiel nichts Hilfreiches ein, was ihn nicht ins Gefängnis bringen würde
Mit dieser Einstellung würde er vor dem Staatsanwalt nicht punkten können
So langsam standen ihr die Mumien bis hier
Vor ihren Augen öffnete sich eine rabenschwarze Internetseite
Nichts von diesem morschen Krempel konnte ihm auch nur das Geringste anhaben
Er bemühte sich, die Leiter hinunterzusteigen, ohne zu zittern
Er warf sein Glas in hohem Bogen in die Spree und zog die beiden Blondinen an sich
Das ging alles viel zu leicht
Über ihm schloss sich der Deckel mit einem satten Schmatzen
Alle brannten mittlerweile vor Neugier
Nur noch zwei Straßenblocks, dann hatte er es geschafft
Kein Wunder, dass die Kommissare ihn so komisch angesehen hatten
Eine Blutspur lief quer über den Gehweg
Schon da hätte er die Zeichen erkennen müssen
Hatte sie etwa Drogen genommen?
Die Tür knallte so heftig zu, dass ein paar Leinwände an der Wand vor Schreck erzitterten
Nach seiner überstürzten Flucht war er kopflos durch die Straßen geirrt
Für diesen Taschenspielertrick brauchte man keine Magie, sondern nur die richtige Technik
Sie fixierte den Fleck, als könnte sie sich so auf magische Weise gegen die Katastrophe wappnen
Es war ihm im Nachhinein überaus gruselig
Weißer Schaum hüllte ihn ein und nahm ihm die Sicht
Sein Triumph hatte nicht lange vorgehalten
Zu so viel geballter Unhöflichkeit würden ihm nicht einmal genügend Verbalinjurien einfallen
Ob es womöglich eine Art posthumer Scherz sein könnte?
Etwas begann in seinem Inneren abzubröckeln
Anstatt seine Begabung zu nutzen, versoff der Kerl sein Talent ohne Sinn und Verstand
Wortlos überließ er zwei Polizisten seinen Drahtesel
Sie hatte nicht die Absicht, sich den Spaß verderben zu lassen
Die Realität war schauriger als jeder Aberglaube
Schließlich konnte man eine Dame schlecht zurückschlagen
Letztlich war alles nur aus Geiz passiert, und dafür konnte er ja nun wirklich nichts
Niemand ahnte etwas von seiner kleinen Nebenbeschäftigung
Er musste heute Abend trotz allem, was passiert war, ein guter Gastgeber sein
Sie zu fesseln wäre viel zu auffällig gewesen
Diese alberne Situation war überhaupt nicht mehr zum Lachen
Seine Beharrlichkeit hatte etwas geradezu Wahnhaftes
Ein Mal in seinem nichtsnutzigen Leben musste er ein Zeichen setzen
Eine unvorhergesehene Störung war eingetreten
Plötzlich wusste er ohne Zweifel, was seine Bestimmung hier war
So schlecht war seine Lage nicht
Sue & Wilfried Schwerin von Krosigk
Diese Geschichte ist frei erfunden.
Das Berliner Pergamonmuseum wurde im Dienste der Fantasie
architektonisch und personell erweitert und die
Autoren freuen sich, hier erzählen zu können, dass alle Bauarbeiten
erfolgreich abgeschlossen worden sind.
Hartung Siegward Graf von Quermaten zu Oytinghausen, von Familie und Freunden kurz Hasi gerufen, kam aus einer Familie, in der es als unfein galt, über Geld zu reden. Wenn man Geld hatte, zeigte man es nicht, hatte man keins, verschwieg man es. Auf diese Weise konnte sich die reiche und die arme Verwandtschaft immer auf Augenhöhe begegnen. Hasi, der zur zweiten Verwandtschaftskategorie gehörte, fand es zudem ausgesprochen undankbar, sich den schönen Tag durch Grübeleien über seinen klammen Dauerzustand trüben zu lassen. So hatte er für den heutigen Anlass selbstverständlich den schönsten Blumenstrauß binden lassen, den der Laden hergab, und zuckte nur unmerklich zusammen, als die Verkäuferin ein paar Zahlen addierte und ihm den Endpreis vorlegte. Der Strauß war flott arrangiert, genauso wie er ihn sich vorgestellt hatte, nicht aufdringlich, nicht artifiziell, sondern wie ein selbst gepflücktes Gebinde duftender Sommerblumen. Nur dass man natürlich keine fünfunddreißig Euro dafür berappen musste, wenn man die Blumen zu Hause im Garten pflückte. Doch die Blumenrabatte seiner Tante zu plündern, hätte nur zu unbequemen Nachfragen geführt und seine mühsame Wohnsituation noch verschlimmert. So blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Notreserve zu opfern, einen Fünfzigeuroschein, den sein Vetter Brezel ihm bei der Anprobe eines seiner ausrangierten Tweedsakkos diskret in die Jackentasche gesteckt hatte und der ihn unter normalen Umständen noch gut ein paar Wochen über Wasser gehalten hätte. Nachdem Hasi der hübschen Verkäuferin fünf Euro Trinkgeld für ihre Freundlichkeit gegeben hatte, verließ er mit den zehn Euro, die ihm jetzt noch zum Leben blieben, das überteuerte Blumengeschäft auf dem Ku’damm, das er in diesem Leben sicher nicht noch einmal betreten würde.
Er war immer noch eine Viertelstunde zu früh und flanierte mit dem Blumenstrauß unter dem Arm ein wenig vor dem Portal des Gründerzeithauses in der Uhlandstraße auf und ab. Der Grund für seine Überpünktlichkeit war, dass er heute nicht riskieren konnte, zu spät zu kommen, und deshalb alle Eventualitäten, wie zum Beispiel starken Gegenwind oder das Abspringen der Fahrradkette an seinem rostigen Drahtesel, mit einkalkuliert hatte.
Um Punkt fünfzehn Uhr drückte er mit angehaltenem Atem endlich auf die Klingel. Als er den kathedralenartigen Hausflur des prächtigen Vorderhauses durchquerte, warf er einen Blick in den hohen Wandspiegel und überprüfte kurz seine Erscheinung. Zurück blickte ein schlaksiger junger Mann in leicht ausgebeultem Tweedsakko, dem eine blonde Haartolle einen Tick widerspenstig in die Stirn fiel und dessen Kinderstube ihm verbot, sich mit Eitelkeiten aufzuhalten. Nur ein aus dem Jackenärmel hängender Faden, der auf die leicht ausgefransten Manschetten seines Oberhemdes hinwies, musste beseitigt werden. Mit einem Ruck zog er an dem Faden, aber das Stück war erstaunlich widerspenstig. Jetzt hätte man gerne eine Schere parat gehabt. Hasi riss noch einmal kräftig. Es gab einen hässlichen Ratsch, und er hatte einen Streifen vom Hemdärmel in der Hand. Er zog beherzt weiter, bis er Stück für Stück auch noch die letzten Fetzen des morschen Ärmels aus dem Sakko gerissen hatte und äußerlich wieder alles tadellos aussah. Schnell knüllte er die Stoffreste zusammen und steckte sie in die Hosentasche, während er sich eine mentale Notiz machte, bei seinem Termin auf keinen Fall die Jacke auszuziehen.
Ein verglastes Tor führte in den Hinterhof, wo die von seiner Kusine Kiki vermittelte Wohnung im Gartenhaus liegen sollte. »Du musst da keine Miete zahlen und nur schön auf alles aufpassen und die Blumen gießen«, hatte sie ihm am Telefon erzählt. Die Wohnungsbesitzerin, Frau Bergmann, stammte aus Kikis weitläufiger Benefizszene, ging für eine Wohltätigkeitsorganisation ein Jahr nach Afrika und suchte nach einer vertrauenswürdigen Person, die sich in dieser Zeit um ihre Wohnung kümmern konnte. »Das wird niemand so spontan einrichten können wie du, Hasilein. Wir haben doch alle was Richtiges zu tun«, hatte Kiki gesagt und ihn schon dazu beglückwünscht, dass sein derzeitiges Martyrium nun bald vorbei sei.
Hasi, dessen Wohnsituation notgedrungen von ständigen Wechseln bestimmt war, hatte seine Erfahrungen mit Berliner »Gartenhäusern«, und während er durch den Grunewald nach Charlottenburg geradelt war, hatte sich in seinem Kopf das Bild eines grauen, düsteren Hinterhofs mit vergitterten Parterrefenstern und dem Ausblick auf überquellende Mülltonnen eingenistet. Aber auch das letzte Loch war besser als sein momentanes Wohnarrangement. Als er jetzt auf den Innenhof trat, traute er seinen Augen kaum. Statt eines schäbigen Hinterhofschuppens stand dort eine stilvoll renovierte Remise mit Rosenranken an einem altmodischen Spalier und einer grün lackierten Haustür, die ihn magisch anzog wie in einem Kindermärchen – natürlich eines, das für den Helden gut ausging. Ein riesiger Ahorn streckte seine Äste über den Hof. Durch die Blätter warf das Sonnenlicht winzige glitzernde Sprenkelchen auf eine kleine Terrasse mit einem Tisch und zwei Gartenstühlen. In dem Moment als er hochsah, setzte sich eine junge Amsel auf einen tiefliegenden Ast und nickte mit dem Kopf, wie um ihn zu begrüßen. Die Haustür ging schon auf, bevor er klingeln konnte, und Frau Bergmann, eine elegante Dame Mitte vierzig, bat ihn herein.
»Entschuldigen Sie die Unordnung. Ich bin schon beim Packen.«
Hasi reichte ihr seinen Strauß. »Ich hoffe, die Blumen stören nicht beim Umzug.«
»Ach was, wir werden schon ein Plätzchen für sie finden«, sagte Frau Bergmann und legte den teuren Strauß einfach auf die Fensterbank.
Überall standen Umzugskisten und Koffer herum, aber die Wohnung war fabelhaft. Ein Wohnzimmer mit gebeizten Fachwerkbalken und einem echten Kamin. Daran angeschlossen eine moderne offene Küche mit Essbereich, und dahinter konnte er durch die offene Tür in eine kleine Schlafstube sehen.
»Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt. Von dem, was Ihre Cousine erzählt hat, hatte ich den Eindruck, Sie wären noch Student.«
»Nicht mehr. Im letzten Jahr habe ich meine Studien … beendet. Und seitdem bin ich auf der Suche nach einer Tätigkeit.«
»Ich würde sagen, in Anbetracht ihrer Jobsuche müssen Sie keine Miete zahlen und übernehmen nur die laufenden Kosten.« Sie lachte. »Ich kann ja schlecht in Afrika den Menschen helfen und hier auf jeden Cent schauen.« Frau Bergmann wies auf einen bequemen Sessel neben dem Kamin. »Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?«
»Danke, sehr gerne.« Hasi ließ sich in den Ledersessel sinken, während er im Kopf die Kosten durchging. Es konnte ja nicht so sehr viel sein. Heizen musste man zurzeit sowieso nicht, Strom und Wasser ließen sich zur Not auch auf das Nötigste beschränken und im Winter zog man sich eben warm an. Es war wirklich ein perfektes Arrangement. Um sein Herzrasen zu beruhigen, sah er aus dem Fenster auf die Terrasse unter der Baumkrone. Die Sonne warf immer noch spielerische Schatten auf die Steinplatten. Die Hauswand dahinter war dicht von Efeu bewachsen und wirkte wie ein senkrechter Wald. Es war kaum zu glauben, dass er sich hier mitten in der Stadt befand. Seine Gedanken mäanderten, denn das grüne Dickicht erinnerte ihn an seine Kindheit, damals, als sein Vater noch lebte. Das war natürlich, bevor sie den Familiensitz verloren hatten, und alles andere im Übrigen auch.
»Herr von Quermaten, hallo, alles in Ordnung?« Er spürte eine Hand, die ihn sanft an der Schulter rüttelte. Offenbar war er mal wieder eingenickt. Hasi litt unter einer seltenen Unpässlichkeit, einer Art Minutenschlaf, der ihn immer dann überfiel, wenn er sich bei einem Thema besonders engagierte. Als hätte er im Gehirn einen strengen Schiedsrichter, der vorsorglich ein Aus-Zeichen machte, bevor es auf dem Spielfeld seiner Gefühle zu wild zuging. So hatte er jetzt wohl vor Begeisterung über seine neuen Aussichten gerade einen längeren Reisebericht über Afrika verpasst. Zum Glück schien Frau Bergmann ihm das nicht weiter übelzunehmen. Sie strahlte ihn an.
»Dass Kiki mir ihren netten Vetter vermittelt hat, ist meine Rettung. Ich danke Ihnen, dass Sie auf alles aufpassen wollen.«
»Bei dieser wunderschönen Wohnung habe nur ich zu danken.«
»Mit Wohngeld und Nebenkosten zahle ich im Schnitt zweihundertfünfzig Euro im Monat. Ich würde sagen, Sie übernehmen das einfach pauschal, damit wir uns nicht mit dem Ausrechnen abplagen müssen. Das ist doch ein faires Angebot, oder?«
Hasi hustete. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen versetzt. »Sehr fair«, krächzte er und mühte sich ein Lächeln ab, als sie ihn etwas sonderbar von der Seite ansah. Frau Bergmann konnte ja nicht wissen, dass sie ihn soeben ohne jede Vorwarnung wie auf einem Schleudersitz aus dem Paradies herauskatapultiert hatte.
»Ist Ihnen heiß? Sie dürfen gerne Ihre Jacke ablegen.«
»Sehr freundlich.« Er begann schon, sein Sakko auszuziehen, als ihm gerade noch rechtzeitig das Gemetzel darunter einfiel. »Danke, geht schon.«
»Dann gebe ich Ihnen jetzt am besten eine Hausführung.«
Benommen folgte er ihr durch die Räume. Sein Kopf schwirrte vor Hitze und Anstrengung. Wie sollte er es nur anstellen, jeden Monat unglaubliche zweihundertfünfzig Euro zusammenzukratzen? Viele Möglichkeiten gab es da nicht. Bei seinem kleinen Qualifikationsdefizit kamen nur privat vermittelte Tätigkeiten zum Gelderwerb infrage. Und Sozialfürsorge zu beantragen, gehörte sich für ihn nicht und hatte im Übrigen auch keinen Stil, wie er hatte feststellen müssen, als er einen Versuch unternommen hatte, beim Job-Center in Zehlendorf wegen staatlicher Unterstützung vorzusprechen. Er hatte die kuriose Erfahrung vorzeitig abgebrochen, seine Wartemarke in den Rinnstein geworfen und sich von dem unangenehmen Ort entfernt, bevor jemand ihn dort womöglich noch angesprochen hätte.
Bei der Verabschiedung an der grün lackierten Tür hatte Hasi sich wieder gefangen und versicherte, zur Schlüsselübergabe in zwei Wochen pünktlich zur Stelle zu sein. Als er auf den Ku’damm trat und sein Fahrrad aufschloss, wurde ihm klar, dass er sich jetzt auf die Schnelle irgendwas einfallen lassen musste, um das Geld aufzutreiben. Hätte er auch nur geahnt, wie sehr er für zweihundertfünfzig Euro würde bluten müssen, so hätte er ausnahmsweise seine Höflichkeit überwunden und auch auf die Gefahr hin, Frau Bergmann in die Bredouille zu bringen, das Haushüten in der Charlottenburger Idylle entschlossen abgesagt.
Es war ein paar Tage nach Hasis aufwühlender Wohnungsbesichtigung, als Dr. Patricia Boulanger die breite Marmortreppe hinunter hastete, die vom Verwaltungstrakt in die Ausstellungsräume des Pergamonmuseums hinabführte. Mit der einen Hand den engen Rock glattzustreichen und dabei gleichzeitig mit der anderen die Aktenmappe fest unter ihre Achsel zu klemmen, war schwierig. So verfehlte sie knapp den gewünschten Gesamteindruck routinierter Souveränität, wie sie feststellen musste, als sie ihre Reflexion in der Fensterscheibe sah. Sie zwang sich, für einen Moment innezuhalten, um eine Strähne ihres streng zusammengebundenen Haares wieder hinter das Ohr zu klemmen.
Trotz ihrer Eile machte Patricia einen kleinen Umweg über die Pergamonhalle, vorbei an den gequälten Gesichtern der Giganten, die auf dem riesigen Fries in ihrem letzten Kampf mit den Göttern zu viel zu tun hatten, um sie zu bemerken. Patricia konnte sich gar nicht oft genug bestätigen, dass sie jetzt tatsächlich an diesen weltberühmten Ort gehörte. Als sie an der Athena-Statue aus dem Parthenon vorbeikam, zog sie ihr Handy heraus, um ein schnelles Selfie für ihre Freunde im Netz zu machen. Das brachte ihr eine Menge Gefällt mir’s, und eine tägliche Portion Bestätigung konnte sie gut gebrauchen, denn bislang hatte sie nur einen befristeten Kuratoren-Vertrag für die Dauer der geplanten Ausstellung bekommen. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben. Schließlich war sie in der Probezeit.
Am Ausgang der Halle stieß sie auf drei Männer, die in den blauen Uniformen der Security und mit ihren ernsten Gesichtern wirkten wie ein Militärtrupp auf Patrouille. Patricia straffte sich, als Wolf Jasik, der Chef der Truppe, Anstalten machte, an ihr vorbeizumarschieren, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Jasik gab sich alle Mühe, eine Mauer des Missmuts um sich herum aufrechtzuhalten, und jedes Mal, wenn sie sich begegneten, tat er so, als hätte er sie vorher noch nie gesehen. Klar, sie kannte dieses Machtspiel. So zwang sie sich zu einem Fotolächeln und zog unauffällig den Jackenärmel herunter, damit er ihre Uhr überdeckte.
»Guten Morgen, Herr Jasik, haben Sie vielleicht die genaue Uhrzeit?« Sie fasste ihn leicht am Ellenbogen, als er stehen blieb, um auf seine wuchtige Taucheruhr zu schauen. Die Berührungsgeste hatte sie sich in den Nachrichten von Staatsoberhäuptern bei offiziellen Anlässen abgeguckt. Eine freundliche kleine Vereinnahmung, die auf joviale Weise demonstrierte, wer hier das Sagen hatte. Es funktionierte auch jetzt, denn der Sicherheitschef zögerte und sie nutzte den Moment.
»Kommen Sie! Wir gehen zusammen nach draußen.«
Jasik sah sich unschlüssig um. Dann knurrte er etwas Unverständliches und schloss sich ihr an.
Patricia stockte der Atem, als der weiße Lastzug mit der Aufschrift Koenig Art Logistics sich im Schneckentempo millimetergenau an den zugemauerten Kolonnaden und den Werkstätten vorbeimanövrierte, wo einst das Ischtar-Tor Ziegelstein für Ziegelstein restauriert worden war, bis er vor dem Hintereingang des Pergamonmuseums mit einem dezenten Ächzen zum Halten kam. Der Wagen wurde entplombt und ein Schwarm von Packern in weißen Overalls und Handschuhen öffnete unter Aufsicht von Jasik und seinen Männern die Ladefläche und begann, die Kisten auszuladen. In ihrer sterilen Kleidung wirkten die Speditionsarbeiter wie Sanitäter bei einem Krankentransport. Und sie war die Oberärztin.
Der Transportleiter kletterte aus dem Führerhaus des Lastzuges und blickte suchend an ihr vorbei.
»Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?«
Der Mann sah auf seinen Transportbrief. »Ich suche einen Dr. Boulanger, den Kurator für die Ausstellung.«
»Das bin ich.«
»Ach so. Ich bin Martin Braun, Leiter des Transports.« Er versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Entschuldigung. Wir sind die Nacht durchgefahren. Sicherheitsvorschriften.« Er reichte ihr den Lieferschein.
Während die Männer die Kisten über die Rampe zum Lastenaufzug trugen, verglich Patricia den Lieferschein mit ihren Unterlagen. Zehn Kisten mit Artefakten von unschätzbarem Wert. Es waren sumerische, babylonische und assyrische Leihgaben aus Paris, die vorerst in den »Katakomben«, wie die Magazine im Bauch des Museums genannt wurden, zwischengelagert werden mussten. Die Ausstellungsräume oben im Erdgeschoss waren bereits eine einzige, chaotische Baustelle. Maler, Handwerker und Beleuchtungstechniker arbeiteten rund um die Uhr daran, in Kulissen aus Sperrholz mit Gips, Ton und Erde eine mesopotamische Umgebung herzustellen, die der Ausstellung »Die Geburt der Götter« eine möglichst authentische Atmosphäre verleihen sollte. Ein absolut genialer Titel, fand Patricia, und das Schönste war, dass sie selbst ihn erfunden hatte. Professor Schrader, der Direktor des Vorderasiatischen Museums, hatte sie in der Kuratorensitzung angestarrt, als hätte sie etwas Obszönes gesagt. Es war nicht üblich, dass jemand in der Probezeit eigene Ideen einbrachte, und dazu war sie mit achtundzwanzig Jahren auch noch die jüngste Kuratorin des ganzen Museums. Sie hatte es schon bereut, so forsch gewesen zu sein, aber dann hatte Schrader den Titelvorschlag kommentarlos angenommen. Und seitdem hatte er umso mehr Wind darum gemacht, als sei alles seine Idee gewesen. Patricia war sich bewusst, dass sie lediglich die Krümel abkriegen würde, die vom Tisch fielen. So lief das nun mal überall für Berufseinsteiger.
Ein schriller Alarm riss sie aus ihren Gedanken. Sie eilte hinein in den Gang, wo die Sicherheitsmänner um Jasik sich bereits mit Waffen im Anschlag an den Lastenaufzug gestellt hatten. Ein metallisches Ächzen kündigte den Aufzug an. Die schweren Türen schoben sich knirschend auf und ein schnauzbärtiger Wachmann dahinter hob erschrocken die Hände wie im Film. Schnell war der Vorfall geklärt. Obwohl der Wachmann den richtigen Knopf gedrückt hatte, war der Aufzug nicht nach unten in die Katakomben, sondern, wie von Geisterhand gelenkt, nach oben gefahren, wo sich die Türen für wenige Sekunden geöffnet und geschlossen hatten, wie er mit nervösem Stottern erklärte.
»Ist ja n-n-nichts passiert, Chef.«
Jasik zuckte mit den Schultern und beließ es bei einer Verwarnung. Erleichtert kehrten alle an ihre Arbeit zurück. Als die letzten Kisten nach unten gebracht wurden, balancierte Patricia auf ihren schmalen Absätzen hinter Jasik die Gittertreppe hinab zu den Lagerräumen.
Die Packer begannen, mit ihren Akkubohrern die Deckelschrauben zu lösen, als Patricia merkte, hier konnte etwas nicht stimmen.
»Herr Braun, wir haben ein Problem.«
Der Transportleiter kam sofort zu ihr.
»Zählen Sie mal die Kisten nach!«
Martin Braun kratzte sich am Kopf. »Ich verstehe das nicht. In Paris hatten wir nur zehn geladen, so steht es auch im Lieferschein.«
»Es sind aber elf. Und soweit ich das sehe, tragen sie alle das Logo von Koenig Art Logistics. Das kann nicht sein.«
»Eine zu viel ist besser als eine zu wenig, oder?« Der Transportleiter versuchte es mit einem schiefen Lächeln.
»Da könnte immerhin eine Bombe drin sein. Ihre Leute sollen sofort die Finger von den Kisten lassen. Ich will wissen, welche davon nicht gelistet ist.«
Jasik trat heran. »Was nicht in Ordnung, Frau Doktor?«
»Wir brauchen eine Sicherheitsüberprüfung, Herr Jasik.«
Er zog die Stirn in Falten. »Machen Sie jetzt meinen Job?«
Der Transportleiter wedelte mit seinen Lieferpapieren und deutete auf eine kleinere Kiste. »Ich hab sie gefunden, Frau – Kuratorin. Aber diese Kiste haben wir nicht transportiert. Bestimmt nicht. Die ist gar nicht aus dem Louvre, würde ich sagen.«
»Aha. Und wie kommt ein klimatisierter hardcase von Ihrer Spedition, dazu noch komplett verschraubt, in unseren Lagerraum? Irgendeine Idee?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich meine ja nur – solange nichts fehlt …«
Sie wandte sich an Jasik. »Können Sie feststellen, was in der Kiste ist, ohne dass uns hier alles um die Ohren fliegt?«
Jasik verschränkte seine muskulösen Arme. »Könnte ich schon. Muss ich aber nicht.«
Patricia bemerkte die Stille im Raum. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass alle sie ansahen. Sie machte zwei Schritte auf die unidentifizierte Kiste zu.
»Dieses Objekt ist nicht registriert, weder bei Herrn Braun, noch bei uns, das ist eine Tatsache, Herr Jasik. Das Logo der Firma sieht echt aus, aber die Farbe des Schriftzugs ist dunkler als auf den anderen Kisten. Könnte Zufall, aber auch eine Fälschung sein.« Mit ihrer Fußspitze schob sie die Kiste ein paar Zentimeter auf Jasik zu. »Ob das ein Sicherheitsrisiko darstellt, müssen Sie beurteilen. Sie tragen dafür die Verantwortung.«
Jasik drehte sich zu einem seiner Männer. »Atze, bring mir mal die Laserkamera! Funktioniert auch als Nacktscanner«, fügte er mit einem Seitenblick auf Patricia hinzu.
Die Wachleute brachten das Gerät in Stellung. Das leichte Knacken des Diodenlasers war zu hören, und sie beugte sich vor. Auf dem Monitor erschienen die verschwommenen Umrisse einer Figur.
Jasik schaute betont gelangweilt hin. »Wenn Frau Doktor jetzt beruhigt ist, können wir vielleicht die Kiste öffnen. Übrigens –« Er wies mit hochgezogener Augenbraue auf ihre Beine.
Patricia schaute an sich herab. Mist. Sie hatte sich an der Kiste eine Laufmasche geholt.
Die Packer lösten die Schrauben, nahmen den Deckel ab und Patricia hob behutsam eine etwa fünfzig Zentimeter hohe Holzfigur aus der Verschalung. Bei der Berührung fühlte sie ein leichtes, angenehmes Kribbeln in den Fingerspitzen und für einen Moment fragte sie sich, ob das Holz etwa elektrisch aufgeladen sein konnte. Die Figur war nicht schwer und ihre grau-schwarze Oberfläche rissig. Sie wirkte alt, ihre Konturen waren durch Verwitterung unscharf geworden, aber sie war unbeschädigt. Wahrscheinlich war sie babylonischen Ursprungs, oder sogar noch älter. Mindestens dreitausend Jahre, schätzte Patricia. Es war eine sitzende Gestalt mit einem Kopf, der sich in zwei Gesichter teilte, die janusartig in entgegengesetzte Richtungen sahen. Ein männliches, bärtiges Gesicht und das einer jungen Frau, deren langer, geflochtener Zopf sich kunstvoll um den Busen, die Taille und schließlich um den unteren Teil der Figur wand und in einem Sockel auslief wie der Schwanz einer Maus.
Die Gespräche im Raum verstummten. Die Temperatur schien um einige Grad zu fallen. Alle schauten auf die Figur, die Patricia vorsichtig auf einem Arbeitstisch abstellte.
Jasik durchbrach die Stille. »Hey, der Typ hat ja Möpse! Ist doch pervers – wohl eine Transe, wa?« Er fuhr mit seinem Finger langsam über die Brüste der seltsamen Figur, dann zog er die Hand zurück und lachte verkrampft.
Patricia beachtete Jasik nicht weiter und starrte gebannt die Statue an. Wie kunstvoll die beiden Gesichter geformt waren! Sie schienen in Bewegung zu sein, gerade so, als ob Mann und Frau im Begriff waren, miteinander zu einem neuen Wesen zu verschmelzen. Etwas Sanftes, aber gleichzeitig kraftvoll Heilendes ging von der Figur aus. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass es eine archaische Gottheit sein musste, einer der ersten bekannten Götter, dessen Name ihr jedoch partout nicht einfiel. Eine überwältigende Freude und Ehrfurcht überschwemmte sie, als seien sie hier in den Katakomben gerade Zeugen einer Zeremonie geworden, die alle Menschen im Raum vereinte.
»Was ist das Ding denn nun, Frau Doktor? Wissen Sie’s oder wissen Sie’s nicht?«, fragte Jasik.
»Es ist ein alter Gott – beziehungsweise eine alte Göttin«, sagte Patricia und strahlte ihn glücklich an.
Ursula Abendroth, die Personalchefin des Pergamonmuseums, lehnte sich in ihren Sessel zurück. Eine Hitzewallung hatte sie gerade zum dritten Mal mit Wucht überrollt und nun fühlte sie, wie die Schweißtröpfchen ihr Dekolleté hinunterkullerten, um dort in die weiche Schurwolle ihres neuen Kostüms einzusickern. Erschöpft fächelte sie sich mit einer Akte Luft ins gerötete Gesicht. Der wunderbare Dr. Prätorius hatte in seinem letzten Vortrag über »Magie im Alltag« empfohlen, auf jede noch so kleine Botschaft zu achten, die der Körper an den Geist richtete. Krankheiten seien nicht zu bekämpfen, sondern wertvolle Lehrmeister, und es galt genau hinzuhören, um ihre Lektionen richtig zu verstehen. Doch die Wechseljahre waren eigentlich gar keine Krankheit, dachte Frau Abendroth vage, und die Veränderungen sagten ihr doch kaum mehr, als dass sie älter wurde. Gleich heute Abend musste sie nachsehen, ob Prätorius in seinem Buch »Die Kraft der Magie« auch etwas darüber geschrieben hatte. Oder besser schon heute Nachmittag, denn in diesem Zustand würde sie nicht mehr lange durchhalten. Geistesabwesend fiel ihr Blick auf das bunte Muster ihres Kostüms. Sie hatte das finnische Designerstück von Marimekko mit seinem auffällig bunten Blumenmuster für mehr Geld erstanden, als sie normalerweise gewillt war, für sich selbst auszugeben. Sie teilte ihr Gehalt und die kleinen und größeren Freuden des Alltags viel lieber mit Hanni und Nanni, die begeistert umhersprangen, wenn sie mit den Essenseinkäufen das Haus betrat. Oft schlug sie sich zunächst in dramatischer Geste mit der Hand gegen die Stirn, kehrte auf dem Absatz um und tat so, als hätte sie sich in der Adresse geirrt. Die beiden Pudel gerieten dabei in rituelle Hysterie, und so verdoppelte sich die Freude für alle drei, wenn sie die Spannung auflöste und ihnen die Einkaufstüten hinhielt, damit sie hineinschnüffeln konnten. Mit vorfreudigen Gedanken an die zwei Lieblinge döste sie ein, bis ihre Sekretärin auf Zehenspitzen hereinkam und ihr einen duftenden Kräutertee auf den Schreibtisch stellte. Frau Abendroth öffnete die Augen und nickte matt.
»Danke, Müllerchen, aber ich sollte besser nach Hause gehen. Mein Kopf ist schon ganz wuschig. Steht denn noch was Wichtiges an für heute?«
»Nur ein Bewerbungsgespräch. Soll ich den Termin verschieben?«
Frau Abendroth nickte und drehte ihren Sessel zum Fenster, als die Sekretärin wieder im Vorzimmer verschwunden war. Der Panoramablick aus der Chefetage hoch oben im Museum tat ihren müden Augen gut. Sie nippte an dem Kräutertee und schaute hinunter auf die vorbeifließende Spree und den Kupfergraben. Ein weißer Lastzug manövrierte sich gerade über die Monbijoubrücke rückwärts zur Straße. Die Lieferung aus dem Louvre war also bereits in die Katakomben verladen worden, registrierte sie zufrieden, doch dann stutzte sie. Ein bulliger Wächter des Sicherheitsdienstes stand vor dem Pergamonmuseum und sah dem Laster hinterher, die Hände in die Hüften gestemmt. Unvermittelt trat er mit Wucht gegen einen Abfalleimer, der daraufhin schief aus seiner Verankerung kippte. Ursula Abendroth stockte der Atem und sie war schlagartig hellwach. Ein klarer Fall von Sachbeschädigung! Sie kniff die Augen zusammen, um den Mann besser zu erkennen, doch leider hatte er ihr den Rücken zugewandt. Der Sicherheitsdienst gehörte nicht in ihren Personalbereich, sonst wäre so eine Entgleisung niemals vorgekommen, dafür hätte sie schon gesorgt. Auch gab es unter ihrer mütterlichen Obhut für niemanden Grund, wütend oder unbeherrscht zu werden. Doch die Männer vom Wachdienst wurden über eine Spezialfirma angeheuert und hatten keine individuellen Anstellungsverträge mit dem Museum. Frau Abendroth beugte sich vor, um den Unhold im Auge zu behalten, als sie ein kleines Fellbündel bemerkte, das eine rote Leine hinter sich herschleifte und auf den Uniformierten zutrippelte. Sie schluckte. Das arme verlassene Hündchen, es war ein süßer Yorkshire Terrier von der Sorte, der man gerne eine Schleife ins Haar band. Er musste sich losgerissen haben, denn sein Herrchen oder Frauchen war nirgendwo zu sehen. Der Hund hob jetzt sein kleines Bein an einer Laterne und setzte zu einer Reviermarkierung an. Sie lächelte gerührt und trank einen Schluck Tee. In diesem Augenblick beugte der Museumswächter sich blitzschnell vor, packte den winzigen Hund und warf ihn in hohem Bogen in die Spree. Ursula Abendroth prustete vor Schreck und sprühte einen Mundvoll Tee gegen die Fensterscheibe. Der Anschlag hatte sich so schnell abgespielt, dass sie dem zappelnden Hündchen nur mit schockgefrorenem Gesicht hinterherstarren konnte, als es die Spree in Richtung Kanzleramt hinabgetrieben wurde. Für einen Moment kam es ihr vor, als hörte sie ein Winseln, bevor der winzige Hundekopf in den schnell fließenden Wassern verschwand. Auf der Uferpromenade wandte sich der Sicherheitsmann mit sichtlicher Zufriedenheit ab und schlenderte davon.
Frau Abendroth fühlte eine neue Hitzewallung aufsteigen. Sie zwang sich, mit zitternden Fingern den Tee von der Fensterscheibe zu wischen, doch ihre Empörung war zu gewaltig, um nicht ins Hyperventilieren zu geraten. Das Signal ihres Körpers musste sie nicht lange deuten. Sie hatte einen Mord bezeugt.
Als sie wieder klar denken konnte, griff sie zum Telefon. Als Tatzeugin war es ihre Aufgabe, den Mörder seiner verdienten Bestrafung zuzuführen. Sie verlangte, Jasik zu sprechen, den Chef des Sicherheitsdienstes. Mit seiner Hilfe würde sich die Identität des Übeltäters schon feststellen lassen. Wie immer reagierte Jasik abweisend, wenn es sich um seine Truppe handelte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Der Mann war ein Wichtigtuer und längst nicht so souverän, wie er sich gerne präsentierte. Mit ein wenig Nachdruck in ihrer Stimme brachte Ursula Abendroth ihn dazu, eine Unterredung zu vereinbaren. Leider nicht sofort, sondern erst kurz vor Feierabend. Natürlich war das ein dummes Machtspiel, aber auf dieses Zugeständnis musste sie sich wohl einlassen. Sie seufzte. Jetzt musste sie also doch noch bis zum Abend ausharren. Das war sie dem armen Tier schuldig.
Sie blickte wieder aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Kupfergrabens fiel ihr nun eine Horde jugendlicher Strauchdiebe auf, die neben einer Baustelle herumlungerten und sich mit Alkoholika den Verstand wegtranken. Es waren die üblichen verwahrlosten Subjekte mit unpraktischen Haartrachten, in denen sich mit Sicherheit Läuse und Schlimmeres tummelten, speckigen schwarzen Lederklamotten und silbernen Ketten, die ohne jeden Zweck an Jacken und Hosen baumelten. Man sollte etwas tun, um die Besucher des Pergamonmuseums vor einem solchen Anblick zu schützen, dachte sie, bis ihr schlagartig klar wurde, dass diese Tagediebe vielleicht wichtige Zeugen waren. Sie kniff die Augen zusammen. Ein Junge mit grünem Haar hatte sich erhoben und fuchtelte zur Belustigung seiner Kumpane mit den Armen herum. An seinen Gesten erkannte Ursula Abendroth, dass er ihnen den schockierenden Tathergang vom Spreeufer vorführte, so als ob es nur ein lustiger Spaß gewesen wäre. Sie stöhnte. Warum war die Welt nur so grob, so wenig mitfühlend, so seelenlos?
Die bestürzte Personalchefin konnte nicht wissen, dass Böbbi, wie der mangelernährte, spirrelige junge Mann mit den grünen Haaren von seiner Gang genannt wurde, sich keineswegs über das Schicksal des armen Hundes amüsierte. Kindheitserinnerungen an seinen eigenen geliebten Hund, der elendig an Krebs zugrunde gegangen war, ließen gerade sein Mitgefühl und seine Empörung heiß auflodern. Aber niemand glaubte ihm. Auch nicht, nachdem er in Aufregung aufgesprungen war und das Drama nachgespielt hatte, um die spöttische Meute davon zu überzeugen, dass sich der Vorfall tatsächlich genau so und nicht anders zugetragen hatte.
Hasi versuchte, sein klappriges Fahrrad dezent an Tante Pudels Wohnzimmerfenster vorbeizuschieben. Erleichtert, dass sie ihn nicht bemerkt zu haben schien, öffnete er die Gartenpforte zur Straße. Gerade als er sich auf den Sattel schwingen wollte, riss seine Tante die Haustür auf.
»Wo willst du denn hin? Ich wollte uns einen Tee machen.«
»Tut mir leid, aber ich habe es eilig.«
»Du und eilig, das ist ja was ganz Neues! Jetzt mach nicht so ein Brimborium, ich habe dich was gefragt.«
Hasi seufzte. »Ich habe eine Verabredung in Mitte.«
»Ein Rendezvous, warum sagst du das nicht gleich?« Sie musterte ihn kritisch. »Nimm bloß den Schlips ab! Die Drecksluft in der Stadt ruiniert dir auf der Fahrt die schöne Seide.«
»Gute Idee, Tante Pudel.« Hasi band die Krawatte ab und steckte sie in die Seitentasche seines Sakkos. »Jetzt muss ich aber wirklich los.«
»Moment noch.« Tante Pudel verschwand im Haus. Während er noch überlegte, ob er ihre Abwesenheit zur Flucht nutzen sollte, war sie schon zurück und drückte ihm eine Schachtel Trüffelpralinen in die Hand.
»Man geht nicht mit leeren Händen zu einer Dame, merk dir das, du Hornochse.«
Er betrachtete die Konfektschachtel und fragte sich, ob irgendwo ein abgelaufenes Verfallsdatum aufgedruckt war. »Das ist wirklich nicht nötig.«
»Papperlapapp. Ich vertrag das süße Zeug sowieso nicht mehr.«
Mit einem Dank schwang er sich auf sein Fahrrad und radelte davon.
Hasi schätzte es sehr, dass Berlin ein so gut ausgebautes Netz an Fahrradwegen besaß. Die Enge öffentlicher Verkehrsmittel, wo man mit völlig unbekannten Personen zusammengepfercht wurde, war ihm eher unangenehm. Fahrradfahren war gesünder und man genoss dabei auch noch einen herrlichen Blick auf die Sehenswürdigkeiten. Von Tante Pudels Häuschen am Schlachtensee radelte er durch den Grunewald nach Charlottenburg, wo eine rote Ampel am Ku’damm ihn erstmalig zum Anhalten zwang. Eine osteuropäisch aussehende Bettlerin mit Kopftuch und Schürze streckte flehend ihre Hand zu ihm hoch. Zwei abgerissene Kinder mit verstrubbelten Haaren sprangen auf und tänzelten lächelnd an Hasis Fahrrad heran. Er zog schnell Tante Pudels Konfektschachtel heraus und gab sie den Kindern.
»Guten Appetit!«, wünschte er und radelte davon, bevor sie ihm die Brieftasche aus der Jackentasche stibitzen konnten. Er bog in die Leibnizstraße und fuhr bis zum Charlottenburger Schloss und von dort am Ufer der Spree entlang bis zum Pergamonmuseum, fast ohne noch einmal anhalten zu müssen. Dann schloss er sein Fahrrad mit einem Stahlbügel an einen Laternenpfahl. Obwohl das Rad schon recht angerostet war, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Fahrraddiebstahl war eine der am besten florierenden Branchen in der Stadt.
»Hallo Sie! Junger Mann!« Eine ältere Dame lief händeringend auf ihn zu. »Haben Sie einen Yorkshire Terrier mit roter Leine gesehen? Meiner kleinen Lupi hat sich losgerissen, das ungezogene Gör!«
»Leider nein.« Er überlegte einen Augenblick. »Aber ich werde in nächster Zeit vielleicht häufiger hier sein, gnädige Frau, und dann kann ich –«
Die Dame hatte sich bereits einer jungen Frau mit Kinderwagen zugewandt. »Hallo Sie! Haben Sie vielleicht einen kleinen Hund gesehen?«
Hasi beugte sich vor, um in der Spiegelung einer leeren Bierflasche, die jemand auf einem Mauervorsprung abgestellt hatte, seine Krawatte umzubinden. Sie war aus italienischer Seide und wie fast alles, was Hasi besaß, ein ausgedientes Accessoire seines Vetters Brezel. Bei schonender Pflege ließ sich gute Qualität durchaus ein oder zwei Jahrzehnte tragen, wie sein tadellos aussehendes Tweedjackett bewies, das für den warmen Frühsommertag höchstens einen Tick zu schwer war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal ein Kleidungsstück käuflich erworben hatte, abgesehen von seinen Boxershorts natürlich. Seine sparsame Haltung war nicht etwa Geiz, er mochte aus Prinzip keine neuen Dinge, und modisch sein zu wollen war letztlich nichts als ein Ausdruck mangelnder ästhetischer Disziplin.
Hasi spürte eine leichte Nervosität in sich aufsteigen, als er die Eingangshalle des Pergamonmuseums betrat. Schneller als erwartet war der Tag gekommen, an dem sich alles zum Guten wenden würde. Mit Sicherheit würde das Salär eines Praktikanten ausreichen, um die Unkosten für die Gartenhauswohnung zu decken. Und für seine bescheidenen persönlichen Bedürfnisse würde er nach wie vor mit den diskreten Zuwendungen und Einladungen seiner weitläufigen Verwandtschaft rechnen können. Er blickte auf seine Uhr. In einer Viertelstunde war er mit der schönen Museumskuratorin verabredet. Nur wo sie sich eigentlich genau treffen wollten, darüber hatte sie kein Wort gesagt. Er hatte sich bis jetzt auch noch keine Gedanken darüber gemacht, ob es in diesem riesigen Museum irgendwo einen Verwaltungstrakt gab, wo Patricia ihn vielleicht in ihrem Büro erwartete. Hoffentlich müsste er dafür nicht eine Eintrittskarte erwerben!
Patricia hatte den Nachmittag damit verbracht, nach irgendeinem Hinweis auf die geheimnisvolle Holzfigur zu suchen, die in der Lieferung aus Paris nicht gelistet war. Nachdem die Transportfirma abgefahren war, hatte sie das Objekt zunächst von allen Seiten fotografiert und es dann in ein Magazin in den Katakomben weggeschlossen. Anschließend hatte sie die Fotografien mit der Datenbank der Museumsbestände abgeglichen. Ihre Vermutung, dass es sich um eine unregistriert zurückgekehrte Leihgabe handelte, hatte sich jedoch nicht bestätigt. Es war ein Versehen, sie verstand nicht, wie so etwas passieren konnte, aber es war klar, dass man im Zweifelsfall sie dafür verantwortlich machen würde. Ausgerechnet in ihrer Probezeit und bei dem ersten großen Projekt, das ihr anvertraut wurde. Zu allem Unglück war Direktor Schrader, bei dem sie sich hatte absichern wollen, heute nicht im Haus, sondern bei einer Besprechung mit dem Kultursenator, wie seine Sekretärin ihr mit einem so vorwurfsvollen Blick mitgeteilt hatte, als hätte sie das doch wissen sollen. Alles hatte sich heute gegen sie verschworen. Sie unterdrückte einen Anflug von Übelkeit. Seit dem Morgen hatte sie noch nichts gegessen. Der Nachmittag war schon bald vorbei und ihr fiel plötzlich ein, dass sie eine Verabredung hatte. Sie war bereits zwanzig Minuten zu spät und eilte im Laufschritt durch die Gänge. Jasik kam ihr entgegen und trat rücksichtsvoll beiseite. Hatte sie sich durch ihr Auftreten am Morgen bei ihm Respekt verschafft? Schnell verwarf sie diesen Gedanken wieder. Es war wohl eher so, dass sie ein Problem am Hals hatte und alle, die es wussten, einen Bogen um sie machten, als könnte man sich bei ihr anstecken.
Trotz ihrer Sorgen musste Patricia lächeln, als sie Hasi neben den Ticketschaltern warten sah. Ein Mann der alten Schule, gar nicht unattraktiv. Aber seitdem sie mehr über ihn wusste, rangierte er leider viel zu weit unten auf ihrer Männerbewertungsskala, um als ernsthafte Verabredung infrage zu kommen. Nach ihren Vorstellungen musste ein Mann über einen ausgeprägten Machtsinn und viriles Selbstbewusstsein verfügen, und dem widersprach schon sein Spitzname. Es war geradezu lächerlich, einen ausgewachsenen Mann mit so einem infantilen Kosenamen anzusprechen. Erst recht, wenn er auch noch ein echter Graf war. Sie hatte Hasi vorgestern bei einer Lesung im Berliner Mittwochssalon kennengelernt. Ein Kurator der islamischen Abteilung hatte sie mitgenommen und ihr den Gastgeber vorgestellt, den Rechtsanwalt Dr. Erich Löw, einen gesellschaftlich angesehenen Förderer der Berliner Kultur. Mit seinem wallenden grauen Haar und einem Jackett mit Paisleymuster lag Löw offensichtlich viel daran, etwas Kreatives und Bohemienhaftes auszustrahlen. Die Lesung hatte dazu gepasst. Begleitet von minimalistischer Klaviermusik hatte eine ganz in Schwarz gekleidete junge Autorin mit bedeutungsvoller Miene Gedichte vorgetragen, die Patricia ziemlich albern vorgekommen waren. Sie hatte es schon bereut, ihre knappe Freizeit zu vergeuden, doch dann war sie am kalten Büfett mit Hasi ins Gespräch gekommen, und das hatte den Abend gerettet.
»Darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten?«, hatte er sie angesprochen und auf ihr Zögern hin flüsternd hinzugefügt, dass er kein einziges der Gedichte verstanden hatte. »Ein bisschen überkandidelt, wenn Sie mich fragen. Aber bitte erzählen Sie es nicht weiter, sonst werde ich nicht mehr eingeladen.«
»Keine Sorge, ich kenne sowieso niemanden hier.«
»Dann habe ich ja Glück gehabt.« Er grinste. »Allerdings habe ich Ihnen das nur verraten, weil Sie bei der Lesung gegähnt haben.«
»Nein, habe ich nicht – jedenfalls habe ich nicht gedacht, dass es so auffällig war.« Sie musste lachen und er lachte mit.
»Keine Sorge. Niemand hat was gemerkt.«
»Bis auf Sie.«
»Dafür müssen Sie nicht befürchten, dass ich jetzt mit Ihnen über moderne Lyrik reden will.«
»Ich schätze, da sind Sie so ziemlich der Einzige hier.« Sie warf einen Blick durch den Raum, wo sich mittlerweile lauter ernste Grüppchen gebildet hatten, die eifrig miteinander diskutierten.
»Das kann ich mir vorstellen. Die ganze Avantgarde, was auch immer das sein soll, hat sich ja heute hier versammelt. Unser Gastgeber hat sogar einen Preis ausgeschrieben. Für das beste Kurzgedicht. Obwohl ich wette, dass sich bei dem Sieger dann keine einzige Zeile reimt. Die besten Chancen hätte wohl ein Gedicht ganz ohne Worte, oder?«
»So eins könnte mir sogar gefallen. Vielleicht sollten Sie sich um den Preis bewerben.«
»Geht leider nicht, dafür bin ich nicht talentiert genug. Aber ich schenke Ihnen gerne die Idee.«
»Sehr großzügig.«
»Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte er. »Hartung Siegward Quermaten, aber sagen Sie bitte einfach Hasi zu mir. Wir können uns auch duzen, das tun sowieso alle hier.«
»Gerne. Ich bin Patricia Boulanger.«
Er sah ganz passabel aus, mit seinem Grübchen im Kinn, den hellblauen Augen und einer ungebändigten hellblonden Haartolle, die ihm über die Stirn fiel. Nur sein ausgebeultes Tweedsakko mit den abgewetzten Lederflicken auf den Ärmeln wirkte deplaziert in dieser Gesellschaft. Sie hatte auf Professor getippt oder auch Gutsbesitzer und mit einem Blick auf seine langgliedrigen, gepflegten Hände festgestellt, dass er keinen Ehering trug. Wie konnte es sein, dass so ein Mann – sie schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre – noch zu haben war? Auf der Gästeliste hatte Patricia entdeckt, dass er untertrieben hatte und in Wirklichkeit ein Graf von und zu war. Den Spitznamen Hasi fand sie etwas albern, aber wahrscheinlich war er immens reich, und so einer hatte es eben nicht nötig, jemandem etwas vorzumachen. Insofern hatte es ihr vor Erstaunen – oder wenn sie ehrlich war, eher vor Enttäuschung – die Sprache verschlagen, als er, nachdem sie über die viele Arbeit geklagt hatte, die sie im Museum ganz ohne Assistenz bewältigen musste, sie unvermittelt gefragt hatte, ob er ihr da nicht vielleicht behilflich sein könnte. Ob sie ihn nicht zum Beispiel für die Katalogisierungsarbeiten einstellen wollte? Zuerst hatte sie gelacht und gedacht, er wolle sie hochnehmen. Es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, dass jemand wie er sich ernsthaft für eine Arbeit interessieren könnte, die normalerweise von studentischen Hilfskräften verrichtet wurde.
»Ich fände es fabelhaft, dir bei deiner neuen Ausstellung helfen zu dürfen«, hatte er geschwärmt und hinzugefügt, er glaube, Dinge aufzulisten sei genau das Richtige für ihn, es sei eine sehr anständige Arbeit, so etwas hätte er auch schon mal gemacht. Und außerdem sei er im Moment etwas klamm.
Darauf hatte sie erst einmal einen taktischen Hustenanfall bekommen und ihn dann, nachdem sie etwas Zeit gewonnen hatte, darauf hingewiesen, dass sie ihm höchstens eine Praktikantenstelle anbieten könnte, die nur sehr schlecht bezahlt werde. Aber er war unerschütterlich geblieben. Auch das sei völlig in Ordnung, er brauche ja nicht viel und befände sich momentan in einer kleinen Zwangslage, die mit familiären Umständen zu tun hätte, mit denen er sie nicht weiter langweilen wollte.
Patricia war verwirrt. Auch jetzt, als sie Hasi in der Eingangshalle des Museums begrüßte, wies seine gepflegte, konservative Erscheinung alle Insignien einer erfolgreichen Existenz auf. Es war wie das Märchen mit dem Froschkönig, nur dass sich in ihrem Fall der wundervolle Prinz schon bei der ersten Begegnung in einen Frosch verwandelt hatte und nicht umgekehrt.
»Mir ist etwas schwummrig«, gestand Hasi nach der Begrüßung. »Vielleicht findet Frau Abendroth mich ja zu alt für die Stellung?«
»Bestimmt nicht. Das Vorstellungsgespräch ist reine Formsache. Außerdem kann man in einem Museum höchstens zu jung sein.«
»Dann hätte man dich doch gar nicht einstellen dürfen. Dieses Grau steht dir übrigens fabelhaft. Sehr schick, finde ich.«
Patricia nickte überrascht. Er war der erste Mensch, der ihr Kostüm bemerkt hatte. Spontan gab sie ihm einen kleinen Kuss auf die Wange.
Hinnerk Pettersen saß mit Tablet auf dem Schoß in einem seiner silbernen Egg-Chairs und warf aus alter Gewohnheit noch einen Blick auf den Nasdaq. Die Kurse waren mal wieder im freien Fall, und er beglückwünschte sich wie jeden Tag, dass ihn das nicht mehr tangieren musste. Dann strich er sich über den kahl rasierten Kopf und lehnte sich zurück. Er war happy mit dem White Cube, seiner Neuköllner Praxis für Body, Soul and Clear Mind. Happy – und nicht etwa stolz. Stolz waren nur eitle Mütter auf ihre Kinder, die sie als ihr kostbares Eigentum betrachteten. Oder Fondsmanager auf ihren Bonus. Stolz gehörte nicht mehr in Hinnerks Gefühlsportfolio, seitdem er im Zuge einer Bankenpleite seinen Job als Investmentbanker verloren und im Silicon Valley einen siebentägigen Kurs zur Quanten-Initiation absolviert hatte. Happiness bedeutete, dass die Mind sich in Harmony mit dem Raum, mit der Zeit und mit der Matrix fühlte.
Von der Karl-Marx-Straße aus wirkte der Raum, der zwischen einem Geschäft für arabische Brautmoden und einer Dönerbude eingeklemmt war und vorher ein weiß gekacheltes Labor für Zahntechnik beherbergt hatte, mit seinem spartanischen Weiß, dem Tresen aus Glas und Stahl und dem hellgrünen, eiförmigen Ufo aus Fiberglas wie ein Laden für futuristisches Design. So kamen auch immer wieder junge, hippe neu Hinzugezogene herein, die enttäuscht feststellten, dass er keine Möbel zu verkaufen hatte. Oft ergab sich auf diese Weise dann doch ein weiterführendes Gespräch, infolgedessen manch ein Irrläufer schon zum nachhaltigen Klienten geworden war. Seinem Überzeugungstalent war es zu verdanken, dass er für das White Cube die obligatorischen Schutzzahlungen an den benachbarten Al Mustafi-Clan in bargeldlose Transaktionen umwandeln konnte. So kam es, dass ein würdiger alter Patriarch mit grauem Bart einmal wöchentlich den Djellab ablegte und in Hinnerks Tank stieg, um seine Gedanken zu sammeln, während zwei muskelbepackte Brüder draußen vor dem Geschäft Wache schoben.