Totenversteher - Sue Schwerin von Krosigk - E-Book

Totenversteher E-Book

Sue Schwerin von Krosigk

4,6

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Alles könnte so einfach sein! Eine üppige Erbschaft hat Hartung Siegward Graf von Quermaten zu Oytinghausen aus seinen finanziellen Nöten befreit. Doch mit dem guten Leben ist es bald vorbei. Hasi, wie der Graf von allen genannt wird, erweist sich nicht nur als leichtes Opfer für einen Investmentbetrüger, sondern gerät auch noch einem skrupellosen Auftragskiller in die Quere. Auf Trab gehalten durch seine verstorbene Tante, die ihm Nachrichten aus dem Jenseits schickt, von einer Nachbarin als Medium für Séancen eingespannt und in ständiger Bedrängnis durch einen gerissenen Kunsthändler, bemerkt Hasi zu spät, dass er in Lebensgefahr schwebt…

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Seitenzahl: 372

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Sue & Wilfried Schwerin von Krosigk

DER TOTENVERSTEHER

Kriminalroman

Die Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit tatsächlichem Geschehen und Örtlichkeiten sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2018

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37

10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-6162-7 (epub)

ISBN 978-3-89809-550-1 (print)

www.bebraverlag.de

Aunts aren’t gentlemen.

P. G. Wodehouse

Aus dem offenen Grab kam ein Stöhnen

Hartung Siegward Graf von Quermaten zu Oytinghausen, seit frühester Kindheit kurz Hasi gerufen, trug einen langstieligen Rosenstrauß unter dem Arm und ging gemessenen Schrittes – nicht eiliger, als es die Friedhofsruhe an diesem lauen Sommernachmittag erlaubte, aber auch nicht so langsam, dass ein zufälliger Beobachter ihm unbotmäßige Neugierde hätte vorwerfen können – an einem frisch ausgehobenen Grab vorbei. Als Spross einer Familie, deren Stammbaum viele Jahrhunderte zurückreichte, war ihm die Etikette im Umgang mit Toten zur zweiten Natur geworden, denn schließlich bestand der weitaus größte Teil seiner Verwandtschaft aus längst Verblichenen. In Gestalt von düsteren Ahnenporträts sahen sie aus ihren prunkvollen goldenen Bilderrahmen auf die noch lebenden Verwalter ihrer Gene und Traditionen und wachten darüber, dass diese ihnen mit der gleichen ernsten Würde gedachten, mit der sie selbst auf ihre Nachkommen herabblickten.

Hasi schaute über eine Rasenfläche mit Kriegsgräbern, die wie große Schokoladentafeln ordentlich aneinandergereiht im Gras lagen, und bog in einen von Kiefern und Birken verdunkelten Seitenpfad ab. Der Waldfriedhof machte seinem Namen alle Ehre, er war weitläufig und unübersichtlich und die einzelnen Grabsteine lagen fast versteckt unter Bäumen und Büschen, sodass er insgesamt den Eindruck eines natürlich gewachsenen Waldes machte. Hasis verstorbene Tante Pudel hatte ihm immer geraten, bei Stress einen Waldspaziergang zu machen, um seine Gedanken zu sortieren und sich zu entspannen. Doch heute sah er weder einen Grund, sich entspannen zu müssen, noch gab es irgendetwas in der Welt, um das er sich Gedanken zu machen hatte. Genüsslich sog er die frische Waldluft ein. Früher war er als arbeits- und mittelloser Verwandter der geduldete Dauergast seiner weitläufigen Familie gewesen – gerne gesehen zwar, aber doch immer wieder weitergereicht wie ein überzähliges Hochzeitsgeschenk. Seitdem Tante Pudel ihn jedoch unerwartet zum Alleinerben eingesetzt hatte, war er gänzlich sorgenfrei. Außer der traurigen Tatsache natürlich, dass die alte Baronin, um ihm das Vermögen überhaupt vermachen zu können, vorher hatte sterben müssen. Heute jährte sich zum ersten Mal der Tag, an dem sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Und daher besuchte er nun ihr Grab, wie immer mit ihren Lieblingsblumen und, wie es sich für diesen Anlass gehörte, im dunklen Anzug. Er mochte sich zwar nur ungern ein Leben nach dem Tod vorstellen, es wären ja auch schrecklich viele Leute, die da auf einen Haufen zusammenkämen, aber man konnte trotzdem nicht sicher sein, ob Tante Pudel ihn nicht vom Jenseits aus kritisch ins Visier nahm, nur um sich davon zu überzeugen, dass er der guten Form Genüge tat. Sie war schon immer einen Tick anstrengend gewesen, was den Dresscode anging. Bis zu ihrem Tod hatte sie ihn mietfrei in ihrem Souterrain wohnen lassen und jetzt gehörte ihr Haus am Fischerhüttenweg ihm allein. Von Finanzen verstand er nichts, aber seinem väterlichen Vetter Brezel war es gelungen, Tante Pudels Vermögen bei einem angesehenen Berliner Investmentfonds so gut anzulegen, dass Hasi bis an sein Lebensende eine monatliche Apanage ausgezahlt bekam.

So in Erinnerungen an seine Tante versunken, schritt Hasi über den federnden Waldboden voran. Nach einer Weile mündete der Pfad in einen breiteren Weg. Direkt gegenüber bemerkte er schon wieder ein frisch ausgehobenes Grab. Wenn die Beerdigungen in diesem Tempo weitergingen, dürften in Berlin bald nicht nur Wohnungen knapp werden, die Toten müssten auch noch mit einer Bankbürgschaft in der Hand Schlange stehen, um hier einen Liegeplatz zu ergattern. Oder war er womöglich im Kreis gegangen, so wie die Verdurstenden in der Wüste es zu tun pflegten, anstatt schnurstracks zur nächsten Getränkeoase zu laufen?

Ein dumpfes Husten ließ ihn aufhorchen.

»Hallo«, rief er nicht allzu laut, »ist hier jemand?«

Aus dem offenen Grab kam ein Stöhnen und eine Hand streckte sich heraus. Ein Mann mit fettigem Haarzopf richtete sich in der Grube auf.

»Ey, Meesta! Willste mir uffn Federball jehn? Dit nennt man Störung der Totenruhe.«

Eine würzige Duftschwade Marihuana wehte Hasi direkt in die Nase.

Er warf einen Blick in das ausgehobene Grab. Ein Spaten stand neben einem Klappstuhl und es lagen einige leere Bierflaschen herum. Das Ensemble macht den Eindruck, als hätte der Mann es sich da unten häuslich eingerichtet.

»Wenn Sie hier arbeiten, dann kennen Sie sich doch bestimmt aus?«, fragte Hasi vorsichtig. In Berlin konnte man nie wissen, ob man gleich umarmt oder angepöbelt würde.

»Willste auch mal schnuppern?« Der Totengräber zeigte auf den Joint in seiner Hand.

»Vielen Dank.« Hasi schüttelte den Kopf. Vor einem feierlichen Grabbesuch gehörte es sich ganz und gar nicht, sich durch Drogenkonsum in beschwingte Stimmung zu bringen.

Der Mann nahm einen Zug und blickte Hasi fordernd an. »Hast mir schon mal irgendwo gesehen, oder?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Hasi, denn mehr als ein mildes Interesse für sein Gegenüber zu zeigen, galt in seiner Familie als unfein.

»Immer mit der Ruhe. Denk erst mal nach.«

Hasi kratzte sich am Kinn. Der Mann duzte ihn wie ein guter Bekannter.

»Kleena Tipp vom Fachmann. Du hast doch ’n Fernseher, oder?«

»Ach so! Sie sind vom Fernsehreparaturdienst!«

»Pillepalle!« Er nahm noch einen Zug. »Noch ’n Tipp: Das Camp.«

Hasi sah ratlos in das erwartungsvolle Gesicht. »Tut mir leid, ich komme gerade nicht darauf.«

»Da red ick mir ’n Zahn locker!« Der Totengräber schlug sich gegen die Stirn. »Mann, die Reality Show!«

»Bedaure.«

Der Mann in der Grube schüttelte gerührt den Kopf. »Fünfzig Tage mit Typen, die alle ’n Sprung in der Glocke hatten. Nicht mal schiffen kann man, ohne dass die Kamera draufhält.«

»Das tut mir leid.« Hasi merkte, dass seine Antwort den armen Kerl nicht zufriedenstellte. »Ich meine, wirklich fabelhaft, wie Sie das überstanden haben.«

Der Mann strahlte wieder. »Dit is amtlich, Meesta! Ick war am Ende der Clou vom Ganzen, alle Scheißkameras auf meine Visage, kann mir keiner mehr nehmen.«

»Freut mich für Sie«, sagte Hasi. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Grabstätte der Familie von Rettwitz finde? Ich fürchte, ich habe ein wenig die Orientierung verloren.«

»Gloobste, ick latsche hier durch die Floristik und kieke uff Leichensteine?«

»Kein Grabstein. Ein Pavillon in weißem Marmor mit schwarzen Tafeln.«

»Hättste ooch gleich sagen können. Den Waldweg zurück und hinter der Säule mit dem goldenen Kopp rechts ab.«

Ein Windstoß trieb die Marihuanaschwaden in Hasis Gesicht, sodass es ihm fast den Atem nahm, bevor er sich mit leichterem Kopf wieder auf den Weg machte. Als der Pavillon zwischen den Baumstämmen hindurchschimmerte, wischte er sich ein unpassendes Lächeln aus dem Gesicht. Die Grabstätte war flankiert von weißen Marmorsäulen und die einheitlichen schwarzen Marmortafeln trugen Namen in goldenen Lettern und Daten, die bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichten. Mit dem Fuß fegte Hasi ein paar Kiefernnadeln von den Stufen. Die Rosen, die er das letzte Mal mitgebracht hatte, waren inzwischen verwelkt, und er stellte den neuen Strauß in die Vase. Tante Pudel hatte Rosen geliebt und jetzt kümmerte er sich um ihre Rosenrabatte vor der Terrasse, goss sie jeden Morgen und deckte sie im Winter mit Tannenzweigen gegen die Kälte ab. Er wohnte nach wie vor im Souterrain. Aus irgendeinem Grund hatte er Hemmungen, Tante Pudels Wohnräume im Obergeschoss zu beziehen. Er beließ es dabei, alles mit dem Federbusch abzustauben und einmal im Monat die Teppiche im Garten auszuklopfen, so wie sie es zu Lebzeiten von ihm erwartet hatte. Aber inzwischen kam es ihm doch etwas mühsam vor, dass er sich in ihrem Haus immer noch bewegte wie auf Zehenspitzen, und manchmal fragte er sich, ob seine Tante selbst nicht wollen würde, dass er sein Erbe endlich in Gebrauch nahm. Er war schließlich jung und sie war tot, das sollte doch zumindest eine Änderung in ihrer Beziehung bewirken.

Hasi gähnte. Das nutzlose Grübeln strengte seinen Kopf an und auch die Rauchschwaden des Totengräbers waren nicht ohne Wirkung geblieben. Er setzte sich auf eine Marmorbank. Die Grabpflege konnte noch warten. Der Himmel war strahlend blau, nur ganz oben sah er die zarten weißen Kondensspuren der Flugzeuge, die den Himmel wie mit Kreidestrichen durchkreuzten. War es nicht wunderbar, nicht arbeiten und nirgendwo anders sein zu müssen als hier und jetzt auf einer kühlen Friedhofsbank? Was für eine herrliche Ruhe. Er lehnte sich gegen eine der Säulen und gähnte noch einmal herzhaft. Während seine Augenlider schon schwer wurden und der Kopf langsam nach vorn sackte, fiel ihm eine schadhafte Stelle am Ärmelaufschlag seines Jacketts auf. Das war noch lange kein Grund, den Kittel zu entsorgen, denn mit Textilkleber und schwarzem Filzstift würde sich die Kalamität leicht beheben lassen, dachte er noch, bevor er langsam wegdriftete.

Plötzlich hörte Hasi ein Geräusch und war sofort hellwach. Aus dem Augenwinkel sah er etwas Verhuschtes, nur eine winzig kleine Bewegung, wie von einem Hasen auf der Wiese oder einem Staubkorn in seinem Auge. Er drehte sich um. Im Schatten eines mit Efeu bewachsenen Kieferstamms stand Tante Pudel, keine zwanzig Meter von ihm entfernt. Es war nicht etwa eine der alten Witwen, die hier die Gräber ihrer Gatten wässerten. Tante Pudel war unverkennbar. Ihre Frisur war wie immer akkurat hochgesteckt, sie trug ihre doppelreihige Perlenkette um den dünnen Hals und einen knielangen Schottenrock im Tartanmuster des MacDarroch-Clans, mit dem die Rettwitz- Familie um einige Ecken verwandt war. Dazu wie zu Lebzeiten ihr Lieblingstwinset aus sandfarbener Kaschmirwolle. Die Erscheinung schaute in seine Richtung, als erwartete sie etwas von ihm. Das war natürlich unmöglich, denn Tante Pudel war ja schließlich tot und lag einen Meter tiefer in ihrem pompösen Marmorgrab, zusammen mit ihrem Ehemann und all den Rettwitzen, die vor ihr gegangen waren. Hasi glaubte zwar nicht an Geister, aber trotzdem wäre es sehr unhöflich gewesen, seine Tante nicht in aller Form zu begrüßen, da sie nun einmal leibhaftig, wenn man das so nennen konnte, vor ihm stand. Also erhob er sich – niemand saß, wenn eine Dame stand – und rückte seine Krawatte zurecht.

Er machte eine kleine Verbeugung und wartete höflich darauf, dass sie ihn begrüßte oder willkommen hieß, aber sie blieb wortlos neben der Kiefer stehen. Lebendig war sie redseliger gewesen.

»Es freut mich, dich zu sehen, Tante Pudel!« Sicher war Hasi sich nicht, wie man einen Geist ansprechen sollte, aber er freute sich wirklich. »Ich wollte gerade dein Grab – ich meine, deine Wohnstätte auf Vordermann bringen. Schau mal, die Rosen aus deinem Garten. Sind sie nicht herrlich dieses Jahr?«

Tante Pudel sagte immer noch nichts, stattdessen nickte sie ihm streng mit ihrem kleinen vogelartigen Kopf zu. Wollte sie ihm auf diese Weise etwas signalisieren? Vielleicht konnten Tote nicht sprechen. Möglicherweise war es ihnen sogar verboten. Woher sollte er schon wissen, wie die Gepflogenheiten unter Gespenstern waren? Vorsorglich brach Hasi der Schweiß aus, so wie es zu Lebzeiten seiner Tante immer gewesen war, wenn er ihr gegenüberstand. Sie war unberechenbar und hatte die Angewohnheit, ihn ständig in den Senkel zu stellen wie einen unartigen Schuljungen.

»Ist alles in Ordnung? Tante Pudel! Möchtest du mir etwas mitteilen? Ich bin ganz Ohr. Oder ein Zeichen vielleicht? Auch sehr gerne. Frau von Rettwitz! Ich bin’s, Hasi. Hartung Siegward, Neffe mütterlicherseits!«

Es konnte ja auch sein, dass sie etwas verwirrt war, wer wäre es nicht an ihrer Stelle? Wenn man schon gestorben ist, erwartet man vielleicht nicht unbedingt, ausgerechnet vor seiner eigenen Grabstätte aufzutauchen. Hasi ging ein paar Schritte auf die Erscheinung zu. Tante Pudel machte eine kleine Handbewegung, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen. Diese Geste, herrisch allein schon in ihrer Sparsamkeit, war ihm von früher sehr vertraut. Sie bedeutete nichts Gutes. Bevor er nachfragen konnte, womit er sie mal wieder brüskiert haben könnte, hatte sie sich abrupt zum Gehen gewandt.

»Warte doch bitte!«, rief er ihr hinterher. »Tante Pudel, bitte – ich muss mit dir sprechen.«

Sie blieb stehen und drehte sich wieder um. Hasi räusperte sich und nahm Haltung an, so wie er es zu ihren Lebzeiten getan hatte, wenn sie ihn zum Rapport bestellte. »Als Erstes möchte ich mich in aller Form für mein Erbe bedanken. Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe, und kann dir nur versprechen, dein schönes Haus immer tipptopp in Schuss zu halten. Ich habe da nur eine Frage, wenn du erlaubst. Ich wohne ja immer noch im Keller und – –«

Doch Tante Pudel drehte sich auf dem Absatz – falls man das bei einem Geist so nennen konnte – um und verschwand hinter einem großen Rhododendron. Als Hasi die Stelle erreichte, war weit und breit niemand mehr zu sehen. Für alle Fälle rief er in das Gebüsch hinein. »Tante Pudel! Es tut mir leid, falls es dir gerade ungelegen kommt, aber ich hätte bei Gelegenheit wirklich gerne gefragt, ob ich vielleicht in deine Zimmer ziehen dürfte. Wenn du noch Privatsphäre benötigst, habe ich natürlich volles Verständnis. Ich würde es nur gerne wissen und mich sehr freuen, wenn du mir – wenn es dir zeitlich passt – ein Zeichen geben könntest!«

Als Antwort schlug ihm nur Schweigen aus dem Busch entgegen, der auch nicht anfing zu brennen und nicht einmal ein kleines Wispern von sich gab, nur ein gleichgültiges Rauschen der Blätter allenfalls wie ein Radio ohne Empfang, und schließlich wandte Hasi sich zum Gehen. Es musste eine Sinnestäuschung gewesen sein, alles andere war undenkbar. Dabei kam er sich ziemlich dumm vor, so kindisch reagiert zu haben. Wie ein Hornochse, hätte Tante Pudel gesagt. Denn er konnte natürlich nur Opfer einer Halluzination geworden sein und Tante Pudels Geist war in Wirklichkeit ein Spiel der Schatten gewesen. Das war die einzige logische Erklärung. Er hatte sie nicht wirklich gesehen, wiederholte er sich wie ein Mantra. Sie war seit einem Jahr tot, und falls es einen Ort für die Toten gab und wo auch immer das dann auch wäre, würde sie es sich dort mit Sicherheit aufs Schärfste verbitten, als Geist albern in der Gegend herumspuken zu müssen. Zu Lebzeiten hatte sie sich oft genug über irgendwelche Spökenkieker mokiert. »Kitsch und Blödsinn obendrauf«, sagte sie immer, wenn irgendjemand von unbeweisbaren Phänomenen faselte, und Hasi war da ganz ihrer Meinung. Das Leben im Diesseits war schon kompliziert genug.

Er beendete seine Arbeit an der Grabstätte und wunderte sich, dass die Sonne schon unterging, als er sich auf den Weg nach Hause machte. Er schien ja Stunden hier verbracht zu haben, und zwischendurch musste es sogar geregnet haben, ohne dass er es bemerkt hatte. Während er ein paar Regentropfen von seinem Jackett fegte, fiel ihm ein alter Ratschlag seiner Tante wieder ein. »Es gibt kein Problem, das sich nicht mit einer kalten Dusche lösen lässt.«

Und schon hatte er das Gefühl, dass sich alles zum Besten fügen würde.

Am Tod war nur der Schmerz zu fürchten

Auf dem Monitor verfolgte der Mann, der sich für seinen nächsten Auftrag Gabriel de Ville nennen würde, wie sein Attachékoffer durch die Handgepäckkontrolle glitt. Schemenhaft zeigte der Bildschirm einen schlichten Kulturbeutel, eine Lesebrille, zwei Bücher und einen Stadtplan, Schreibmaterial sowie einige Broschüren und Zeitschriften. Weder Röntgenstrahlen, Metalldetektoren noch die neu eingesetzten Terahertzwellenscanner hatten jemals etwas Verdächtiges an dem Handgepäck entdeckt, dessen Rahmengestänge sich mit wenigen Griffen in eine Spezialwaffe verwandeln ließ. Es war kurz nach 18 Uhr und Terminal 5 in Heathrow war gedrängelt voll mit Reisenden. Die junge Security-Frau hinter dem Förderband strich sich über die Haare und machte den Eindruck, als sehnte sie ihren Feierabend herbei. Gabriel griff nach seinem Koffer und nickte ihr zu. »New haircut? I like it.«

»Thank you.« Die junge Frau errötete und ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der Mann sprach mit einem leichten französischen Akzent, und mit seinem zerfurchten Gesicht und silbergrauen, kurz geschnittenen Vollbart war er wahrscheinlich Mitte sechzig, dachte sie, während sie ihm noch einen Moment hinterhersah. Im dunkelgrauen Anzug aus teurem Stoff und schwarzem Hemd mit offenem Kragen konnte er Drehbuchautor sein, vielleicht auch Professor für französische Literatur oder Fotograf, der elegante Schwarz-Weiß-Aufnahmen von melancholisch in die Kamera blickenden Frauen machte.

Gabriel hatte unterdessen einen freien Sessel ausgemacht, von wo aus sich die Security gut im Auge behalten ließ. Zwei Uniformierte mit Maschinengewehren patrouillierten davor. Routinemäßig überflog er mit einem schnellen Blick seine Umgebung. Es hielten sich insgesamt fünfzehn Personen in dem Sitzbereich auf, darunter ein Mädchen im Rollstuhl, eine junge Frau mit zwei plärrenden Kleinkindern und zwei alte Männer, einer davon mit Hörgerät. Nicht unproblematisch, aber als Gruppe zur Not groß genug für eine Geiselnahme, um auf Augenhöhe über einen Rückzug verhandeln zu können.

Ein Schmerz zuckte durch Gabriels linke Hüfte. Seine Arthrose machte immer häufiger Probleme. Ein letztes Mal aber würde das verschlissene Gelenk noch durchhalten müssen. Das Honorar des neuen Auftraggebers aus Berlin war zu gut, um den Job abzulehnen. Doch danach musste Schluss sein. Den Millionären der IT-Branche, die gerade mal ihre Zahnspangen abgelegt hatten, fehlte der Respekt vor seiner Erfahrung und seiner handwerklichen Perfektion. Diese Frischlinge, die, noch keine dreißig Jahre alt, schon die Autobiografie ihres Erfolgs schrieben und sein Honorar aus der Portokasse hätten bezahlen können, akzeptierten keinen, der älter war als die eigenen Väter. Ihm blieb als Klientel nur der spießige Mittelstand, kleinkarierte Geschäftsleute, die versuchten, ihn im Preis herunterzuhandeln. Revierkämpfe, Erbschaftsstreitigkeiten und familiäre Zwistigkeiten musste er heutzutage auf seine Weise schlichten. Er hätte genauso gut eine psychologische Praxis eröffnen können, dachte er manchmal, wenn er die Aufträge mit seinen vor Angst und Gier innerlich zerfressenen Auftraggebern besprach. Manche Klienten versuchten, ihm mit weitschweifigen Erklärungen Verständnis für die bedauerliche Unvermeidlichkeit seiner Beauftragung abzuschwatzen, gerade so als ob er ihr Beichtvater sei, und glaubten wohl, seine Absolution müsste im Preis inbegriffen sein. Gerade war er mit dem Zug aus Manchester gekommen, wo er einen Möbelfabrikanten im Auftrag seines Konkurrenten diskret beseitigt hatte. Am Montagmorgen würden die Angestellten die Leiche ihres Chefs hinter seinem Schreibtisch entdecken und von einem Herzinfarkt ausgehen. Das Nervengift in der verborgenen Spitze unter dem roten Carneol seines Siegelringes wäre selbst bei einer Obduktion nur mit großem Aufwand nachzuweisen, und ohne begründeten Verdacht gab es keinen Grund für solche Untersuchungen. Wie immer hatte er seinem Opfer in den letzten Sekunden in die Augen gesehen und beobachtet, wie das Gesicht des Mannes im Augenblick des Ablebens einen glücklichen und auch ein wenig überraschten Ausdruck annahm. Am Tod war nur der Schmerz zu fürchten und Gabriel war stolz darauf, dass er seinen Opfern überflüssiges Leiden ersparen konnte. Für ihn selbst hatte der Tod keinen Schrecken. Es gab Bäume, die mehrere tausend Jahre alt wurden, Pflanzensporen überdauerten ganze Erdzeitalter, Einzeller mussten überhaupt nicht sterben und die Atome waren so alt wie das Universum selbst. Solange sie existierten, konnte nichts zu Ende gehen. Alles befand sich in ständigem Wandel, der Tod war nur der Übergang in einen anderen Zustand. Und dieser versprach etwas Schönes, zumindest wenn er den verklärten Gesichtsausdruck der Sterbenden richtig zu lesen verstand.

Er fühlte sich ganz flau im Magen

Hasi stellte seine dampfende Teetasse auf den Gartentisch. Hier auf der Veranda hatte Tante Pudel gerne am Nachmittag mit einer Tasse Darjeeling und einem Marmeladentoast gesessen und seine Gartenarbeit dirigiert. Durch die Terrassenfenster sah er seine Cousine Kiki im Wohnzimmer herumrumoren. Heute Morgen hatte sie bei ihm Sturm geklingelt.

»Guten Morgen, Häschen. Ich bringe was zum Futtern.« Damit hatte sie ihm einen Geschenkkorb voller Spezialitäten in die Arme gedrückt.

»Aber – –«

»Keine Widerrede. Wir haben das Ding für irgendein dämliches Jubiläum gekriegt, aber Johannes frisst das Zeug nicht.«

»Danke, Kikilein, dann musst du aber mit mir frühstücken. Sieht ja bombig aus. Hast du Lust, eine dieser Teesorten mit mir zu testen?« Er war sich ziemlich sicher, dass sie den Korb in Wirklichkeit für ein horrendes Geld gekauft hatte, um ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen, weil sie keine Zeit gehabt hatte, ihn an Tante Pudels Todestag zum Friedhof zu begleiten.

Beim Tee fragte Kiki ihn dann auch gleich, ob ihr Grab gut gepflegt werde.

»Alles tipptopp. Ich habe sie übrigens gestern gesehen.«

»Wen hast du gesehen?«

»Tante Pudel. Sie stand da plötzlich hinter ihrem Grab herum.«

»Ach nee, und wie geht es ihr so?«

»Schwer zu sagen. Glaubst du, Geister können sprechen?«

»Warum nicht? Wenn sie schon mal da sind.«

»Sie hat aber kein Wort gesagt. Das passt doch gar nicht zu ihr, oder?«

»Stimmt. Was wollte sie denn?«

»Ich weiß nicht. Sie hat mich nur angesehen. Ziemlich streng. Ich glaube, sie war sauer. Und als ich näherkam, verschwand sie hinter einem Busch.«

»Vielleicht wollte sie dich erschrecken.« Kiki prustete los. »Huhhuh – hat sie auch ein weißes Bettlaken angehabt?«

»Das ist nicht lustig. Sie trug das Übliche, wie zu Lebzeiten.«

Kiki musterte ihn schweigend.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß selber, dass es keine Geister gibt. Aber ich habe sie trotzdem gesehen, genauso deutlich und lebendig wie dich jetzt hier.«

»Das ist schlimmer, als ich dachte.«

»Du denkst, ich bin verrückt.«

»Natürlich nicht. Wenn Tante Pudel vor deinen Augen auf dem Friedhof oder sonst wo herumgeistert, dann ist das eine Projektion deiner Wunschvorstellungen – oder auch deiner Ängste, wie man’s nimmt. In jedem Fall bist du total unfrei.«

»Überhaupt nicht. Ich habe mich noch nie so frei gefühlt. Ich kann machen, was ich will.«

»Ach ja? Und warum wohnst du dann immer noch im Souterrain wie ein Untermieter? Das ist dein Haus und kein Schrein für Tante Pudel.«

»Ja, schon.« Hasi strich sich die Haartolle aus der Stirn. Ihm wurde plötzlich heiß und er fühlte, wie er zu schwitzen anfing. »Man muss doch nichts überstürzen. Ich will erst noch ein bisschen umräumen, bevor ich – –«

»Gute Idee«, unterbrach Kiki. »Der erste Schritt zur Befreiung ist die Veränderung. Und dabei brauchst du dringend meine Hilfe.«

»Danke, Kiki, ich komme schon zurecht.«

»Tante Pudel lebt nicht mehr hier, und in deinem Kopf muss jetzt Frühjahrsputz gemacht werden.« Kiki krempelte die Ärmel hoch. »Es geht nicht an, dass du immer noch in dieser muffigen Kellerhöhle haust wie ein Neandertaler. Du bist schließlich kein armer Studienabbrecher mehr, sondern ein vermögender Privatier. Großer Unterschied!«

»Ich weiß, aber – –«

»Kein aber! Setz dich auf die Terrasse, trink einen Tee, genieß die Sonne und lass mich mal machen. Es wird nicht wehtun. Na ja, vielleicht ein bisschen. Besser, du schaust nicht hin und lässt dich überraschen.«

Und so saß er jetzt hier draußen mit seiner Tasse Tee und fühlte sich ganz flau im Magen. Es war nicht in Ordnung, wie sie die Tische und Stühle ohne viel Federlesen herumrückte, den großen Wandteppich abhängte und die Porzellanfigurinen von der Wellington-Kommode nahm. Tante Pudels exotische Sammlung von Kuriosa stammte aus einer Zeit, als das Wort Mitbringsel noch Bedeutung hatte, weil man nicht jedes Souvenir genauso gut bei Ebay kaufen konnte. Als Diplomat hatte ihr Mann von überall in der Welt kleine, nutzlos schöne Kostbarkeiten mitgebracht und sie hatte zu jedem Artefakt eine Anekdote parat gehabt. Nun wanderten die Dinge alle in einen Wäschekorb.

Die Terrassentür ging auf und Kiki trat heraus.

»Kein Wunder, dass du hier nicht einziehen willst! Man könnte ja denken, Tante Pudel würde jeden Moment hereinplatzen. Es riecht sogar noch nach ihrem Altweiberparfüm. Das Schlafzimmer mache ich dir komplett neu, du willst ja wohl nicht in Tante Pudels Bett schlafen, das wäre glatter Inzest. Also: Arsen und Spitzenhäubchen wandern in die Tonne, stattdessen alles minimalistisch, elegant, lichtgrau und klare Linien. Simplified ist die neue Extravaganz.« Sie stockte und musterte ihn. »Was ist los, Hasi? Hast du noch einen Geist gesehen? Du siehst so bleich aus.«

»Entschuldige, Kiki, es geht schon wieder.« Er hob schnell seine Tasse an den Mund. »Ist das nicht ein bisschen viel Veränderung?«

»Aber das ist doch gerade der Trick. Du musst hier deine persönliche Note einbringen. So befreit man sich! Erst dann fühlst du dich wohl und brauchst dich nicht mehr vor einem Gespenst auf dem Friedhof zu rechtfertigen.« Sie hakte sich bei ihm unter. »Komm rein, ich zeige dir, was ich mir noch so gedacht habe.«

Er ließ sich von ihr ins Wohnzimmer führen und betrachtete bekümmert, was sie angerichtet hatte.

»Gefällt es dir?«

»Sehr schön. Anders. Schön anders, meine ich.« Er quälte sich ein Lächeln ab.

»Ich denke, diese alten Schinken können auch weg.« Kiki wies auf Tante Pudels Sammlung alter Landschaftsmalereien, die in Petersburger Hängung über alle Wände verteilt waren. »Die sind doch schrecklich gruselig.«

»Stimmt. Nur ein Bild möchte ich gerne behalten.«

»Bist du jetzt etwa unter die Kunstkenner gegangen?«

»So schlimm ist es nicht. Aber es war Tante Pudels Lieblingsbild und ich hänge irgendwie daran.«

Kiki folgte ihm zu einer kleinen ungerahmten Komposition in Gelb und Rosa, die in der hinteren Ecke des Raumes hing. Zwei Rechtecke waren in dicker Farbe grob auf einen orangefarbenen Hintergrund gemalt und durch einen dunkelroten Balken in der Mitte getrennt.

»Du meine Güte, das ist ja scheußlich. Und schlampig gemalt ist es auch.«

»Ich denke, sie hat es selbst gebastelt. Sie hat mir mal von ihrer Zeit in New York erzählt, weißt du, als ihr Mann dort Konsul war. In den fünfziger Jahren. Ich glaube, sie hatte da mal einen Malkurs besucht.«

»Toll! Hätte ich gar nicht von ihr gedacht.« Kiki lachte. »Ich frage mich, ob das Bild nur misslungen ist oder ob sie absichtlich versucht hat, abstrakte Kunst nachzumachen.«

»Jedenfalls gefiel ihr das Resultat offenbar. Es hängt hier schon, seit ich mich erinnern kann.«

»Du solltest es wenigstens rahmen lassen. Ich kenne da jemanden.« Kikis Handy klingelte in ihrer Handtasche. Sie schaute auf das Display. »Oh, ich muss los. Therapiesitzung.«

Hasi brachte sie zur Haustür und wartete, bis sie abgefahren war. Dann machte er sich an die Arbeit, um alles wieder umzuräumen. Es brauchte zwei gute Stunden, bis die Wohnung wieder so aussah, dass Tante Pudel ihre Freude daran gehabt hätte.

Er hatte die Sache in den Sand gesetzt

Baron Ludwig von Ettal, in Familienkreisen Brezel genannt, beendete mit einem zackigen Schnaufen seine Morgengymnastik. Er schaffte immer noch dreißig Liegestütze ohne Pause, zwar nicht mehr einhändig abwechselnd, wie er es in seiner aktiven Dienstzeit den Kadetten beim Morgenappell demonstriert hatte, aber er konnte durchaus mit seiner Kondition zufrieden sein, fand er, als er einen passenden Anzug für den heutigen Einsatz auswählte und seine Gesamterscheinung im Spiegel überprüfte. Dass er etwas zugelegt hatte, war ein Begleitumstand seiner neuen Aufgaben im Trockendock. Als ehemaliger Korvettenkapitän war er jetzt für das Verteidigungsministerium zweiter Mann im Protokoll. Hier in der neuen Verwendung hatte er die vielen Empfänge außerhalb der üblichen Dienstzeiten schätzen gelernt. Er genoss den maritimen Smalltalk mit seinen ausländischen Gästen, dessen Themen so viel unterhaltsamer waren als die militärischen Lagebesprechungen. Vor allem aber waren die köstlichen Appetithäppchen einem frugalen Abendbrot in seiner Junggesellenbude allemal vorzuziehen. Ein dezenter Rettungsring um die Hüfte deutete sich unter dem weißen Hemd an, aber sein Kinn war mit Mitte fünfzig noch kantig und sein blondes Haar, das er wöchentlich auf militärische Einsatzlänge stutzen ließ, noch voll und ohne eine Spur von Grau.

Bevor er sich wegdrehte, fiel ihm an der unteren Naht der rechten Außentasche des dunkelgrauen Anzugs eine kleine glänzende Stelle auf, wo der Stoff dünn geworden war. Ein typischer Fall von Materialermüdung. Das Jackett war reif für die Ausmusterung, was bedeutete, es war noch hervorragend als Geschenk für seinen jungen Vetter geeignet. Hasi war sein Sorgenkind, wie der Sohn, den er nie hatte, und für den Brezel sich nach dem tragischen Freitod des Vaters als männliches Rollenvorbild angeboten hatte. Durch eine komplizierte Generationenverschiebung war Brezel eine halbe Generation älter als sein Cousin Hasi, und so fühlte er sich verpflichtet, seine schützende Hand über den Schlacks zu halten, vor allem nachdem der Junge Vollwaise geworden war. Brezel half mit seiner militärischen Erfahrung aus, wo er nur konnte, denn mit drei älteren Schwestern als Ratgeberinnen hatte Hasi einen schweren Stand. Brezel selbst war der einzige Junggeselle und Kinderlose unter den Ettals, die in der Regel jung heirateten und in schneller Folge selten weniger als sechs Sprösslinge pro Einheit hervorbrachten. Was ihn betraf, so hatte sich das Unterfangen, eine brauchbare Frau an Land zu ziehen, mit den vielen Fallstricken und undurchsichtigen Regeln des richtigen Werbens zu wenig mit seinen militärischen Einsätzen vereinbaren lassen. Und nun, wo sein Dienstplan ihm endlich mehr Luft ließ, verstand er die Damenwelt noch weniger als damals. Es war einfacher, ohne Verzicht auf liebgewonnene Gewohnheiten gelegentlich den Dienst eines exklusiven Escort Service in Anspruch zu nehmen mit seinem Katalog an schönen und unkomplizierten jungen Frauen, die nicht mit ihm älter wurden, sondern ewig achtundzwanzig blieben.

Während er sich die Krawatte band, bedauerte er, dass sich in diesen Tagen zu selten die Gelegenheit ergab, Uniform zu tragen. Bei Staatsbesuchen merkte er immer wieder, dass sich die Galauniform nicht nur besser trug als Zivil, er fühlte sich in militärischem Zwirn auch insgesamt wohler in seiner Haut. Gerade heute hätte ihm die militärische Kluft gute Dienste leisten können, um die vor ihm liegende Aufgabe mit Würde und Anstand zu bewältigen. Aber leider ziemte es sich nicht, in dieser sensiblen Angelegenheit offiziell aufzutreten. Niemand sollte ihm vorwerfen können, sich hinter seiner Uniform versteckt zu haben. Den ersten Schritt hatte er getan: sich einzugestehen, dass er es verbockt hatte. Nun ging es darum, Meldung zu machen. Er hatte die Sache in den Sand gesetzt, da half kein Schönreden. Brezel warf einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel schimmerte bläulich wie blank geputzte Kanonenrohre zwischen den Bäumen der Thielallee. Zumindest schien es ein kapitaler Tag zu werden. Als Letztes nahm er seinen Siegelring von der Garderobenablage im Flur und streifte ihn über, bevor er mit beherztem Schritt die Wohnung verließ.

Hatte es sich schon bis ins Jenseits herumgesprochen?

»So kann man nicht spielen!«, brüllte Kris mit rot angelaufenem Gesicht und rammte den Krokettschläger in den Rasen.

»Warum denn nicht? Ich dachte, wir hätten die Tore jetzt richtig aufgebaut.« Hasi unterdrückte ein Stöhnen. Dieser Junge war für sein Alter – er war gerade erst zehn – ganz schön rechthaberisch.

»Die Spielfläche hat zu viele Hubbel. Der Rasen muss gemäht werden!«

In dem Moment tauchte auf der anderen Seite der Hecke ein älterer Herr mit einer großen Gartenschere in der Hand auf. »Quermaten! Sagen Sie dem Kind, hier wird nicht rumgeschrien!«

»Wir spielen Krocket. Das ist ein Gartenspiel, Herr Krasko. Wenn es Ihnen zu laut ist, kann ich Ihnen gerne ein Päckchen Ohrstöpsel geben. Meine Tante hat darauf geschworen.«

Der pensionierte Lehrer war Tante Pudels Erzfeind gewesen. Ständig hatte er sich über ihre verwilderte Rosenhecke beschwert. »Und im Übrigen, die Rosen meiner Tante werden nicht angerührt«, rief Hasi dem grummelnden Nachbarn hinterher.

Dann wandte er sich wieder an Kris. »Wollen wir jetzt zusammen den Rasen mähen?«

»Geil. Hast du einen Mähtrecker? Darf ich?«

»Kannst du gerne. Es gibt aber keinen Trecker, nur einen Rasenmäher.«

»Benziner oder elektrisch?«

»Original Handbetrieb!«

»Ach so«, sagte Kris und zog eine Schnute.

»Ich wette, so ein – echtes analoges Gerät kennst du gar nicht. Möchtest du ihn nicht mal ausprobieren?«

»Nö, lass mal. Kriege ich noch ein Glas Schokomilch?«

Hasi strich sich die Tolle aus der Stirn. Die Sprunghaftigkeit seines jungen Gastes war wirklich mühsam. Und die Worte »bitte« oder »danke« schienen in seinem Wortschatz nicht zu existieren.

»Klar, Kris. Ich mache dir so ein Schokoladen-Smusi.« Zu Hause bekam der arme Junge am Nachmittag nur dickflüssiges Zeug aus Grünkohl und Apfel, das aussah, als wäre es drei Mal wiedergekäut worden. Kein Wunder, dass er so bedürftig war.

»Aber auch Kekse!« Kris folgte Hasi ins Haus und blieb abrupt im Wohnzimmer stehen, um sein Smartphone aus der Hosentasche zu ziehen.

»Warte mal, ich muss dir was zeigen!«

Hasi wappnete sich schon in Gedanken gegen einen neuen Schülerwitz. Man verstand sie nur in den seltensten Fällen, aber eins hatten sie alle gemeinsam, sie brachten ihn immer ein wenig in Verlegenheit.

»Hier!« Kris stieß das Handy blitzschnell wenige Zentimeter vor Hasis Gesicht. »Achtung, jetzt!«

Vor Hasis Augen erschien eine pralle Schönheit, die das Glas des Bildschirms von innen zu putzen schien. Ihre voluminösen nackten Brüste quetschten sich dabei gewissenhaft von oben nach unten an der Scheibe entlang wie ein professioneller Fensterputzer, während ein realistisches Quietschen aus dem Lautsprecher den Vorgang akustisch untermalte.

Kris schaute ihn mit großen Augen an. »Geilomat, oder?«

»Nun ja, ich weiß nicht recht. Als Fensterputzerin scheint mir die Dame keine besondere Leuchte zu sein. Fingerabdrücke sind doch eher außen auf dem Display, oder?« Hasi versuchte das Thema auf unverfänglichere Gleise zu bringen. »Sag mal, warum nennt dich deine Mutter eigentlich Krishnadevi? Ich dachte, Kris kommt von Christian.«

»Nee, Krishnadevi ist schon richtig. Ich muss so heißen, weil ich doch ein indischer Sex-Gott bin. Wenn ich erwachsen bin, dann kann ich ganz viele Frauen ficken.« Kris rollte dramatisch mit den Augen. »Shitkack! Ich würde lieber bei meinem Vater wohnen, der nennt mich wenigstens nur Kris.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber der alte Sack hat keine Zeit. Der findet mich blöd.«

»Der findet dich bestimmt nicht blöd, das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Doch, mein Vater will mich nicht, weil ich ein Gott bin.«

»Wer sagt denn so einen Quatsch?«, fragte Hasi bestürzt, weil der sonst so robuste Junge mit den Tränen kämpfte.

»Meine Mutter. Sie denkt, ich höre das nicht, was sie mit meinem Vater redet. Sie geht nämlich zum Telefonieren immer in den Keller. Da ist aber ein Schrank im Flur unter der Treppe. Wenn man da reinklettert, kriegt man alles mit.«

Es klingelte an der Haustür. »Das wird deine Mutter sein«, sagte Hasi. Er nahm sich vor, Meike diskret vorzuschlagen, ihre Telefonstube im Keller doch lieber schalldicht zu machen. Doch es war gar nicht Meike, sondern Vetter Brezel, der in dunklem Anzug mit besorgter Miene vor ihm stand.

»Brezel, was ist passiert? Ist jemand gestorben?«

»Was? Tot? Wieso?«

»Ich mein ja nur.«

»Nein, nein, keine Sorge, nichts dergleichen.« Brezel lächelte gequält. »Darf ich reinkommen?« Er stand bereits im Hausflur.

Kris stellte sich neben Hasi. »Wer ist das?«

»Mein Cousin«, sagte Hasi und schaute Brezel unschlüssig an. Der Vetter kam sonst nie unangekündigt vorbei. »Ich wollte gerade für Kris eine Schokomilch machen. Möchtest du auch eine?

»Nicht jetzt. Können wir reden?«

Brezel benahm sich wirklich höchst ungewöhnlich. Kris zupfte Hasi am Ärmel. »Ich kann mir die Schoki auch selber machen.«

»Gute Idee, Kris. Aber iss nicht zu viele Kekse.«

Hasi folgte Brezel, der an ihm vorbei ins Wohnzimmer marschierte, wo er in der Sitzecke gegenüber dem großen Sprossenfenster Platz nahm und es schaffte, noch im Sitzen so zu wirken, als ob er stünde.

»Darf ich dir denn einen Tee anbieten? Oder vielleicht ein Glas Wasser?«

»Bitte setz dich, Hasi. Ich habe eine Mitteilung zu machen.«

»Ja natürlich, gerne.« Hasi setzte sich auf Tante Pudels Lieblingssessel. Er bemerkte einen Schweißtropfen auf Brezels Stirn, dabei war es hier im Zimmer angenehm kühl. Der Cousin hustete trocken und trommelte mit den Fingern einen Marsch auf die Sofakante. Dann holte er tief Luft und ließ seine Hände auf die Oberschenkel knallen, so laut wie der Startschuss bei einem Rennen.

»Folgendes: Dieser Berlin-Investmentfonds, in dem ich Tante Pudels – also dein – Geld angelegt habe, ist insolvent«, spulte er so schnell herunter, dass Hasi kaum mitkam.

»Würdest du das bitte noch einmal wiederholen, ich habe das nicht ganz – –«

»Ähem. Der Vermögensverwalter, dem ich dein Geld anvertraut habe, ist bankrott.«

Hasi hob die Hand. »Bankrott. Entschuldige, wie meinst du das?«

»Pleite. Immerhin, nicht nur wir – die ganze Berliner Gesellschaft ist auf diesen feinen Herrn hereingefallen. Bertram Schmidt-Rodenkamp hatte einen exzellenten Ruf, beste Empfehlungen, erstklassige Anlagen, sicher, kompetent, seriös. Sogar sehr, sehr seriös, sonst hätte ich dein Geld niemals bei ihm angelegt. Jahrelang hat keiner Verdacht geschöpft, weil dieser Psychopath die Zinsen offenbar immer mit dem Geld der neuen Anleger auszahlen konnte. Du hast ja schließlich auch einen guten monatlichen Zinssatz bekommen, kannst dich also nicht beklagen! Auch wenn es nur drei Monate waren. Aber jetzt brauchten immer mehr Anleger ihr Geld zurück, und dann bricht so ein Schneeballsystem sofort zusammen. Unglaublich. Einfach unglaublich.«

Brezel schwieg abrupt und schaute aus dem Fenster, als ob zwischen den Kiefern im Garten plötzlich ein blaues Wildschwein erschienen wäre und seine ganze Aufmerksamkeit verlangte.

Hasi beobachtete seinen Cousin schweigend. Ihm fiel dazu nichts ein, aber was hätte es auch zu sagen gegeben? Obwohl Brezel sich offenbar sehr zusammennahm, meinte Hasi zu erkennen, wie er eine Träne wegblinkte. Und sein markantes Kinn zitterte verdächtig. Hasi sah diskret zur Seite, um den Korvettenkapitän, der so viel Wert auf soldatische Haltung legte, nicht in Verlegenheit zu bringen. Nach einer Weile räusperte er sich, um die angespannte Stille zu unterbrechen. »Besteht denn noch eine Chance, dass die Anleger, also ich zum Beispiel, ihr Geld zurückbekommen? Oder einen Teil davon, wenigstens?«

Brezel erklärte ihm nun wortreich, dass selbstverständlich jede rechtliche Möglichkeit ausgeschöpft werde, aber nach allem, was er wisse, sei der Mann nicht nur pleite, sondern auch noch hoch verschuldet. »Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche fassen«, schloss er und nickte gewichtig, als wäre ihm diese Einsicht gerade gekommen.

»Na ja. Da kann man nichts machen«, sagte Hasi leise. Vielleicht war es der Fluch der Quermatens. Es war ja schon immer so gewesen. Alle zwei Jahrhunderte hatte seine Familie ihre Besitztümer verloren, sodass die nächste Generation wieder von vorne anfangen musste. Eigentlich ein ganz dynamischer Prozess, dachte Hasi, während sich betretenes Schweigen im Raum ausbreitete. Oder war es nur eine endlose Sisyphusarbeit? So wie er sich als Kind am Strand bei Ebbe jeden Tag aufs Neue eine Sandburg gebaut hatte, die dann von der Flut zerstört wurde. Vielleicht lag es in seinen Genen. Eine sich ewig hinziehende Zeit saßen sie da, ohne etwas zu sagen, und blickten aus dem Fenster in den Garten.

»Seid ihr jetzt endlich fertig mit reden?«, unterbrach Kris ihr Schweigen und kam mit mehreren Keksen in das Zimmer.

»Üb doch schon mal ein bisschen deine Schlagtechnik auf dem Rasen«, sagte Hasi. »Ich komme dann gleich.«

Brezel schaute auf seine wuchtige Taucheruhr und erhob sich. »So, jetzt bist du auf dem Laufenden. Gut. Ich muss dann weiter.«

»Ich danke dir jedenfalls für deine Mühe«, sagte Hasi.

Brezel legte ihm bekümmert die Hand auf die Schulter. »Alter Junge, es tut mir alles so leid.«

»Wenigstens habe ich ja noch das Haus. Ich könnte ja die Souterrainwohnung vermieten, dann hätte ich immerhin ein kleines Auskommen, was meinst du?«

Brezel war schon fast rückwärts aus der Haustür getreten und stoppte abrupt. »Ach so, der Grundbesitz. Den mussten wir doch beim Kauf deiner Anteile als Sicherheit einbringen. Eigentlich nur eine Formsache, aber wie ich schon sagte, der Mistkerl hat sich hoch verschuldet. Und die Banken haben ihr Geld natürlich mit den Hypotheken ihrer Kunden abgesichert.« Er schaute konzentriert auf einen Punkt auf dem Fußabtreter. »Dumme Sache.«

»Das verstehe ich nicht. Was meinst du mit als Sicherheit einbringen?«

»Das Haus geht in die Konkursmasse. Und wird wohl geschätzt, zwangsversteigert und pipapo. Schätze, du wirst in den nächsten Tagen Post bekommen.«

»Von wem?« Hasi strich sich die Haartolle aus der blassen Stirn.

»Vom Gerichtsvollzieher, natürlich. Der Mann wird sich doch ein Bild machen wollen!«

»Es tut mir leid, aber mir schwirrt ein wenig der Kopf.«

»Völlig normal. Hat mich auch umgehauen. Schließlich hat man mir felsenfest garantiert, dass die Anlage bombensicher ist. Und hochprofitabel dazu.« Brezel ballte die Fäuste. »Dieser Gauner! Das wird noch ein Nachspiel haben. Glaub mir, da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.«

»Aber was mache ich denn jetzt, wenn die mir das Haus wegnehmen? Wo sollen denn Tante Pudels Sachen hin?«

Brezel schien bei der Frage wieder aufzuleben. »Ich werde dir den Umzug organisieren, mach dir keine Sorgen! Die Möbel und den ganzen Krempel stellen wir vorläufig in meinem Keller unter.«

»Danke. Sehr nett von dir.«

Brezel schlug feierlich die Hacken zusammen.

»Ich verspreche dir, ich tue mein Bestes.«

Hasi schaute ihm hinterher, als er sich in sein Auto schwang und noch einmal winkte, bevor er die Fahrertür mit einem Knall schloss.

Als der Vetter losgefahren war, ging er langsam ins Haus zurück. Im Wohnzimmer bemerkte er, dass Tante Pudels Lieblingsbild schief hing, und rückte es gerade, bevor er sich auf das Sofa sinken ließ. Die alten Möbel, die dreiarmigen Silberleuchter, die Perserteppiche und die schöne Wellington-Kommode mit den chinesischen Porzellanfigurinen – Tante Pudel musste ja im Grab rotieren. In nur einem Jahr hatte er es geschafft, ihr gesamtes Hab und Gut, das sie ihm anvertraut hatte, zu verlieren. Ob sie ihn wohl deshalb auf dem Friedhof aufgesucht hatte? Hatte es sich schon bis ins Jenseits herumgesprochen, dass er ihr ganzes Vermögen in den Sand gesetzt hatte?

Etwas Nasses rann über seine Wange, und als er nach einem Taschentuch in seiner Hosentasche kramte, schossen ihm die Tränen erst richtig in die Augen. Plötzlich meinte er, Tante Pudels Stimme zu hören, klar und deutlich, als ob sie in ihrem Lesesessel neben dem Bücherregal sitzen würde. »Contenance bewahren, du Hornochse! Mit Herumjammern ist niemandem geholfen.«

Durch seinen Tränenschleier hindurch musste er unwillkürlich lächeln. Wie oft hatte er das von ihr gehört?

Kris erschien Krocketschläger schwingend in der Terrassentür. »Hasi, kommst du mal? Dein doofer Nachbar sagt schon wieder, ich dürfte in deinem Garten nicht üben, weil das zu viel Krach macht!«

Hasi wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Auf unserem eigenen Rasen nicht Krocket spielen? Das wäre ja noch schöner!« Er schniefte noch einmal und stand auf. Tante Pudels hässliches kleines Bild hing schon wieder schief und er rückte es noch einmal gerade, bevor er auf die Terrasse trat, um sich dem Kinderfeind Krasko zu stellen.

Der Mann war ein skrupelloser Schuft

Brezel hatte das elektrische Verdeck seines Saab Cabrios geöffnet und ließ sich eine frische Brise durch die verschwitzten Haare wehen. Das satte Röhren des Motors beruhigte ihn etwas, während er am Ufer des Landwehrkanals entlangglitt. Für einen Zivilisten hatte Hasi vorbildlich Haltung gezeigt. Kein Gejammer, keine Vorwürfe. Respekt. Obwohl ein ordentlicher Anschiss ihm persönlich lieber gewesen wäre. Ein Anschiss mit großem A, und damit wäre die Angelegenheit erledigt gewesen. Aber so? Brezel haute mit der Faust auf das Lenkrad und traf die erschrockene Hupe. Wie ein Echo trötete es keck zurück. Von der benachbarten Fahrspur grinste ihn eine junge Frau mit verfilzten Haaren in roten und grünen Strähnen aus einem mit bunten Schnörkeln und Spiralen bemalten VW-Bus an. Das Mädchen war hübsch, trotz ihrer seltsamen Haartracht.

»Love and Peace!«, rief sie.

Brezel grüßte mit einem knappen Nicken zurück, woraufhin sie ein gefaltetes Flugblatt von oben auf seinen Beifahrersitz warf. Bevor er die Chance hatte, sich das unerwartete Werbegeschenk anzusehen, war das Hippiemädchen schon an ihm vorbeigefahren.

Am gegenüberliegenden Ufer tauchte jetzt die Fassade des Bendlerblocks auf und er bog nach links über die Kanalbrücke ab. Der neoklassizistische Bau hatte immerhin maritime Tradition, was Brezel seine neue Verwendung als Bürohengst ein wenig leichter verschmerzen ließ. Der Schlagbaum an der Einfahrt ging hoch, als er seinen Dienstausweis zeigte. Er schnappte sich seine Aktentasche und das Flugblatt und schwang sich aus dem Saab. Das bunte Druckerzeugnis entpuppte sich als Einladung zu einer gewaltfreien Protestaktion gegen Kapitalismus und Spekulanten. Er überflog den Text, der die kriminellen Praktiken anprangerte, mit denen Investoren die Stadt ruinierten und Menschen mit normalen Einkommen aus ihren Wohnungen trieben. Gewaltfreier Protest? Über so viel Naivität konnte man nur lachen! Gegen gewissenlose Psychopathen vom Typ Schmidt-Rodenkamp nützte das gar nichts.

Der Lift brachte ihn vier Stockwerke tief in einen alten Bunker, der erst bei Sanierungsarbeiten nach der Wende, als das Verteidigungsministerium hier einen zweiten Dienstsitz bezog, wiederentdeckt worden war. Unten in den Fluren roch es nach Staub und Putzmitteln und im Hintergrund lieferten die Pumpen, die dafür sorgten, dass der Landwehrkanal und das tückische Grundwasser nicht einsickerten, den tiefen Grundton des Bunkers. Nicht viele hielten das dumpfe Wummern auf die Dauer aus und Brezel hatte deswegen freiwillig auf ein Sekretariat verzichtet. Ihn selbst störte dieser vibrierende Basso continuo nicht im Geringsten. Es klang wie die beiden Dieselmotoren einer Korvette, wenn sie mit voller Kraft den Ozean durchpflügte, und erinnerte ihn an Gischt und offenes Meer. Gerne dachte Brezel an die Zeiten als Geschwaderkommandeur am Horn von Afrika zurück, wo er mit seiner Korvette Rostock