Die Piraten von Darksea - Catherine Doyle - E-Book

Die Piraten von Darksea E-Book

Catherine Doyle

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Beschreibung

Tief im Herzen des atlantischen Ozeans, dort wo der Vollmond die Wellen silbern färbt und Delfine über den Horizont springen, liegt das magische Königreich Darksea, regiert von dem Piraten König Captain O'Malley. Diese Geschichte hat Chris seinem kleinen Bruder Max immer erzählt und davon geträumt, eines Tages mit den Piraten in See zu stechen. Aber jetzt ist Chris krank und als plötzlich ein sprechender Papagei mit einer Botschaft von Captain O'Malley kommt. Im Gegenzug für seine Hilfe, bietet er Max die wohl einzige Chance, seinen Bruder zu retten: Magie! Aber Darksea ist in Gefahr, denn seit einiger Zeit treibt ein Ungeheuer sein Unwesen und droht alles zu verschlingen. Wird Max es schaffen, Darksea und seine Familie zu retten?

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Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Catherine Doyle

Die Piraten von Darksea

Für Bea

Inhalt

Prolog Das Königreich des Sternenstaubs

Kapitel 1 Die Flaschenpost

Zwei Jahre später

Kapitel 2 Der Überraschungspapagei

Kapitel 3 Das Mitternachts-Piratenschiff

Kapitel 4 Käpt’n O’Malley

Kapitel 5 Die Mitternachtswelle

Kapitel 6 Darksea

Kapitel 7 Die angenagte Insel

Kapitel 8 Die wehklagende Meerjungfrau

Kapitel 9 Die Fundkammer

Kapitel 10 Der Hai, der aus dem Himmel fiel

Kapitel 11 Christophers Münze

Kapitel 12 Teufelsmaul

Kapitel 13 Die Walrossträne

Kapitel 14 Die Krummschatz

Kapitel 15 Das Angebot des Kartenmachers

Kapitel 16 Der furchterregende Redfin

Kapitel 17 Das Geheimnis des Sonnensteins

Kapitel 18 Die Insel aus Feuer und Sternenstaub

Kapitel 19 Das Rätsel im Berg

Kapitel 20 Redfins Geheimnis

Kapitel 21 Der blinde Passagier

Kapitel 22 Der Mutball

Kapitel 23 Das zitternde Schiff

Kapitel 24 Das Duell der Käpt’ns

Kapitel 25 Die Unterwasserrettung

Kapitel 26 Sternenstaubball

Kapitel 27 Der fehlende Brief

Kapitel 28 Ein Dieb in der Nacht

Kapitel 29 Die letzte Welle

EPILOG Zwei Jahre später

Danksagung

PrologDas Königreich des Sternenstaubs

Tief im Herzen des Atlantischen Ozeans, wo der Vollmond die Wellen silbern färbt und Delfine durch die Gischt springen, liegt jenseits des Horizonts ein verborgenes Königreich namens Darksea. Es wird von einem Piratenkönig beherrscht.

Darksea ist übersät mit Inseln, zwischen denen stolze Schiffe umhersegeln. Jede Nacht fällt Sternenstaub aus dem Himmel und sammelt sich auf dem Wasser. In der Morgendämmerung wirft die Sonnendiebin, das Schiff von König Thorne O’Malley, ihr gewaltiges Netz aus und holt den magischen Staub ein, um ihn in riesigen Truhen zu den Inseln zu liefern. Dort nutzt man ihn, um Häuser zu bauen und die Felder zu bestellen, Krankheiten zu heilen, und hin und wieder auch, um ein bisschen Unfug zu treiben.

Der Piratenkönig ist kein Plünderer – er ist ein Beschützer. Nur ein kleines Glas voll Sternenstaub behält er für sich. Denn Thorne O’Malleys Mut ist größer als jede Magie. Dank seiner Tapferkeit ist er zur lebenden Legende geworden. In seinem Königreich ist er so beliebt, dass selbst die Schildkröten aufeinanderklettern, um ihm nachzusehen, wenn er vorbeisegelt. Meerfrauen singen ihm in ihren Algenwäldern Lieder, und die Kinder von Darksea erzählen einander Geschichten über seine legendären Piratenschlachten und spielen sie an den Stränden nach.

Manchmal findet eine dieser Geschichten ihren Weg über den Horizont in unsere Welt. Kaum jemand sieht mehr in ihnen als ein Märchen, das müden Kindern vor dem Einschlafen erzählt wird. Aber hin und wieder trifft eine solche Geschichte auf die Ohren eines Kindes, das beschließt, nicht nur an Darksea zu glauben, sondern sogar danach zu suchen.

Wenn das geschieht, werden die Wellen des Atlantiks etwas höher, der Mitternachtsmond scheint ein wenig heller – und dann verhilft der Piratenkönig von Darksea einigen wenigen Glückspilzen zum aufregendsten Abenteuer ihres Lebens.

Kapitel 1Die Flaschenpost

In einer kalten, stürmischen Nacht Mitte September tappte Christopher Reed auf Zehenspitzen die Treppe nach unten und stahl sich so still und leise wie ein Juwelendieb zur Haustür von Bellflower Lane 7 hinaus.

Unten angekommen holte er seinen Schulranzen aus einem Hortensienbusch und überprüfte, ob noch alles darin war, was er für sein Abenteuer eingepackt hatte – ein Paar frische Socken, eine Unterhose, sein Lieblings-Kapuzenpulli, Notizbuch und Stift, eine Wasserflasche und eine Packung Müsliriegel.

Alles war an Ort und Stelle. Zufrieden setzte er den Rucksack auf und lief los. Das Gartentor schwang hinter ihm in den Angeln.

Es war schon kurz vor Mitternacht.

Er musste sich beeilen.

Aber er war noch nicht mal bis zur dritten Straßenlaterne in der Bellflower Lane gekommen, als hinter ihm eine vertraute Stimme rief: »WARTE AUF MICH!«

Christopher verzog das Gesicht und sah sich um. Sein kleiner Bruder Max kam in seinem knallgrünen Schlafanzug hinter ihm hergerannt. In seiner Panik hatte er die klobigen rosafarbenen Crocs ihrer Mum angezogen, in denen seine Schritte so laut durch die Nacht hallten wie Hufgeklapper.

»Pssst!«, zischte Christopher. »Sonst bemerkt mich noch jemand!«

Max keuchte im Rennen: »Ich. Komme. Auch mit!«

»Du weißt doch gar nicht, wo ich hinwill.«

Max kam ruckelnd zum Halt. Seine normalerweise bleichen Wangen waren knallrot angelaufen, und sein sandbraunes Haar stand in alle Richtungen ab. »Das kannst du mir ja auf dem Weg erzählen.«

Stirnrunzelnd betrachtete Christopher seinen kleinen Bruder. Max war zwei Jahre jünger als er, aber doppelt so stur. Sich mit ihm herumzustreiten, brachte nichts. Und sowieso hatten sie dafür auch gar keine Zeit.

Christopher seufzte. »Na gut. Aber du musst ganz leise sein, bis wir unten am Meer sind.«

Max’ große, blaue Augen wurden noch eine Spur größer. »Was ist denn los am Meer?«

Christopher musterte ihn eindringlich. »Die Piraten kommen.«

»Piraten?«, wiederholte Max aufgeregt und viel zu laut.

»Psssst!«

Max verzog reumütig das Gesicht. »Tut mir leid.«

Christopher lief schneller, sodass ihm sein kleiner Bruder hinterherhasten musste. »Ein Piratenkönig sogar«, vertraute er Max an. »Und sein Schiff heißt Sonnendiebin.«

Max blies die Backen auf. Er sah aus, als würde er gleich platzen vor Aufregung. Seine schnellen Schritte passten zu dem wilden Pochen in Christophers Brust. Heute Nacht würde der Piratenkönig kommen, das spürte er ganz tief in sich drin. Der Vollmond war so hell wie noch nie, und das Meer rauschte so laut, als würde es nach ihm rufen.

»Sein Name lautet Käpt’n Thorne O’Malley«, fuhr Christopher fort. »Und er lebt weit weg von hier.«

»So weit weg wie Frankreich?«

»Weiter als Frankreich«, antwortete Christopher. »An einem Ort namens Darksea. Er liegt auf der anderen Seite des Horizonts.«

Max gab ein leises Ooooh! von sich.

Christopher nickte. Darksea war so weit weg, dass er es sich kaum vorstellen konnte. Aber er war sofort Feuer und Flamme gewesen, als er vor ein paar Wochen davon gelesen hatte. »Darksea ist voller magischer Inseln. Und weil Thorne O’Malley der König ist, hat er die Aufgabe, diese Inseln zu beschützen. Er hat schon gegen Seeungeheuer und Wasserdrachen und riesige Stachelaale gekämpft. Einmal hat er sogar einen Kraken getötet und zum Abendbrot gegessen!«

Max gab ein zweites, etwas lauteres Ooooh! von sich. Dann fragte er: »Was ist ein Krake?«

»Keine Ahnung. Klingt aber unheimlich.«

»Und lecker!«

»Thorne O’Malley ist echt mutig. Und großzügig ist er auch. Er teilt die Magie von Darksea nämlich mit allen, die dort leben.«

»So wie Nan am Sonntag ihre Kekse mit uns teilt?«

»Genau.« Christophers Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Und manchmal, ganz selten, wenn der Vollmond tief über der Galway-Bucht hängt und das Meer bei Mitternacht mitspielt, überquert Käpt’n Thorne O’Malley mit seiner Crew auf der Sonnendiebin den Horizont und segelt in unsere Welt. Wenn wir ganz genau hinsehen, entdecken wir ihn heute Nacht vielleicht. Und wenn wir Glück haben, Maxie – richtig großes Glück! –, dann sieht er uns vielleicht auch.«

»Und was dann?«, flüsterte Max.

Christopher holte tief Luft. In seinem Bauch kribbelte es vor Aufregung. »Und dann erleben wir ein echtes Piratenabenteuer.«

Plötzlich blieb Max stehen. »Moment mal«, sagte er misstrauisch. »Wolltest du etwa einfach ohne mich abhauen?«

Christopher knabberte verlegen an seiner Unterlippe herum. Leise Schuldgefühle nagten an ihm. »Ich dachte, vielleicht ist das noch zu unheimlich für dich.«

Max funkelte ihn wütend an.

»Aber vor Ms.Hannity von nebenan hast du doch auch Angst!«, rechtfertigte sich Christopher.

»Die hat ja auch keine Zähne mehr und riecht nach Käse!«

»Und letzte Woche hast du gekreischt, weil ein Schmetterling in dein Zimmer geflogen ist!«

»Weil er mich erschreckt hat!«

Christopher zögerte. »Das Piratenleben ist voller Schrecken, Max.«

Max verschränkte die Arme. »Wenn du dabei bist, hab ich aber keine Angst.«

Christopher lächelte. Bestimmt machte ein Piratenabenteuer mit seinem kleinen Bruder noch viel mehr Spaß. Solange sie zusammenhielten, konnte ihnen eigentlich nichts passieren.

»Na, dann los, gehen wir.« Sie rannten den Hügel hinab, vorbei an einer Reihe dunkler, schmaler Häuser, dem Hundepark und der großen, rosafarbenen Villa mit den knorrigen Bäumen drum herum. Dann endlich lag die Seepromenade vor ihnen.

Es war Ebbe, und die Uferlinie schimmerte unter dem Silbermond.

»Wer zuerst da ist!«, rief Christopher, aber Max war in seinen viel zu großen Crocs längst losgerannt. Christopher jagte ihm hinterher und setzte über eine angespülte Qualle und einen dösenden Krebs hinweg. Er überholte seinen kleinen Bruder mit Leichtigkeit. Der warf ihm eine Handvoll Muscheln hinterher, denen Christopher aber ohne Probleme ausweichen konnte.

Im Gegenzug feuerte er eine Handvoll Seegras auf Max ab, woraufhin sie beide so heftig lachen mussten, dass sie stehen blieben, weil sie keine Luft mehr bekamen.

Als sie unten an der Wasserkante angelangt waren, wo die Wellen an ihren Schuhen leckten, klaubte sich Max den Seegrasklops aus den Haaren und blickte hinaus aufs Meer. »Wo ist er?«

»Wart’s ab«, erwiderte Christopher. »Er kommt schon noch. Ich weiß es einfach.«

Wenn er nur fest genug daran glaubte, war sein Wunsch schließlich schon halb erfüllt.

Also warteten die Reed-Brüder. Und warteten. Und warteten. Irgendwann wurden sie müde und setzten sich in den Sand. Nach einer Weile sackte Max’ Kopf schwer auf Christophers Schultern. Mitternacht war längst vorbei, und der große Zeiger auf Christophers Uhr näherte sich der Eins. Als seine Beine taub wurden vor Kälte und er die Augen kaum noch offen halten konnte, beschloss er, dass es an der Zeit für Plan B war. Er holte sein Notizbuch hervor. Dann schrieb er mit seinem schnarchenden Bruder an der Schulter im Licht des Mondes einen Brief.

Lieber Käpt’n O’Malley,

mein Name ist Christopher Reed, und ich bin fast 13 Jahre alt. Ich habe noch nie einen echten Piraten kennengelernt. Aber vor zwei Wochen habe ich ein Buch über Sie in einem Second-Hand-Shop gefunden, wo Mum unseren Spuksessel verkauft hat (aber das ist eine andere Geschichte). Das Buch war ganz staubig, aber ich habe es sauber gewischt und die losen Seiten wieder festgeklebt.

Mein Lehrer sagt, dass es Sie gar nicht wirklich gibt. Er behauptet, dass all Ihre Abenteuer Märchen sind und magische Schiffe wie die Sonnendiebin in Wahrheit nicht existieren. Aber er findet auch Briefmarkensammlungen spannend und schriftliche Division nützlich. Deswegen weiβ ich gar nicht, ob seine Meinung so viel zählt.

Aber da ist noch etwas. Ich glaube, als ich noch klein war, habe ich Sie mal gesehen. Nan und ich waren abends am Strand, um Müll aufzusammeln (sie ist der totale Gutmensch). Ich hatte im Leben noch nicht so wenig Spaβ – und mir sind schon die Mandeln rausgenommen worden. Jedenfalls kam irgendwann der Mond raus. Er war so groβ, dass er alles silbern gefärbt hat. Und als ich aufs Meer rausgeschaut habe, war da ein Piratenschiff! Nan hat zwar die Augen zusammengekniffen, aber sie konnte auf die Entfernung nichts erkennen, und als sie die Brille endlich in ihrer Strickjackentasche gefunden hatte, war das Schiff längst weg.

Aber ich weiβ, was ich gesehen habe.

Nächsten Monat ist mein 13. Geburtstag, und ich wünsche mir nichts so sehr wie ein echtes Abenteuer in Darksea. Ich kann sehr gut schwimmen, bin bereit, eine Zeitlang Gemüse zu essen, und übe schon länger Seemannsknoten an meinen Schnürsenkeln. Ich glaube, dass es Sie wirklich gibt.

Bitte kommen Sie mich holen.

Hochachtungsvoll

Ihr Christopher Reed

Bellflower Lane 7 (ein Haus, kein Schiff)

PS: Ich würde gern meinen Bruder Max mitbringen. Er ist zwei Jahre jünger als ich, aber schlau für sein Alter und so klein, dass er notfalls in einem Fass schlafen kann.

Christopher las den Brief noch einmal und suchte nach Rechtschreibfehlern. Das Ergebnis war zufriedenstellend, also rollte er das Papier zusammen und steckte es in seine leere Wasserflasche. Dann schraubte er den Deckel wieder zu.

Als er aufstand, wurde sein Bruder wach.

Stirnrunzelnd musterte Max das Meer. »Er ist nicht gekommen?«

»Diesmal nicht«, antwortete Christopher. Aber er würde die Hoffnung nicht aufgeben. »Dann eben nächstes Mal.«

Mit der Wasserflasche in der Hand kletterte Christopher auf die Felsen im Wasser. »Okay, Maxie. Wünsch dir was.«

Max schloss die Augen und blies die Backen auf.

Christopher holte tief Luft, dann schleuderte er die Flaschenpost weit hinaus in die Tiefen des Atlantiks.

Die Wellen rauschten heran und zogen sie mit sich, als wüssten sie genau, was zu tun war.

Zwei Jahre später

Kapitel 2Der Überraschungspapagei

Es war 23 Uhr 02. Max Reed saß in seinem Zimmer in der Bellflower Lane und zählte das Geld in seiner Walross-Spardose, als plötzlich der Mond verschwand. Gerade hatte er noch hell und rund wie eine Münze am Himmel gehangen, da glitt er auf einmal vom Firmament wie ein Regentropfen von der Fensterscheibe.

Max stellte das Walross weg und krabbelte zu dem Fenster über seinem Bett, um nach draußen zu sehen. Am nächsten Tag war Schule, und eigentlich hätte er längst schlafen sollen. Aber die Sorge um seinen Bruder hielt ihn wach. Mal wieder. Und jetzt auch noch das – ein verschwindender Mond! Er reckte den Hals und kniff die Augen zusammen. Der silberne Bogen, den der Mond bei seinem plötzlichen Niedergang über den Himmel gezogen hatte, zeichnete sich noch schwach ab und verschwand hinter den Hausdächern in der Ferne.

»Komisch«, murmelte Max und hockte sich wieder hin.

Das merkwürdige Prickeln in seinem Nacken ignorierte er. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf sein Walross und schüttelte es an einem Stoßzahn, bis die letzte Münze herausfiel. Dann strich er die Geldscheine glatt und legte sie auf die Fensterbank. Die Münzen kamen in ordentlichen kleinen Stapeln daneben. Die Spardose enthielt seine gesamten Ersparnisse, auch das Geld, das er von Nan zu Weihnachten bekommen hatte, und seinen Lohn dafür, dass er Ms.Hannitys Rasen gemäht hatte.

Zusammengerechnet hatte die Spardose 53 Euro 27, eine verbogene Büroklammer und drei Gummibänder enthalten.

Max öffnete sein Tagebuch und trug stirnrunzelnd den Betrag ein. Wenn er sich nicht verrechnet hatte, war das genug, um Christopher das neue Spider-Man-Spiel zu kaufen. Das würde ihn sicher aufmuntern. Aber es reichte hinten und vorn nicht, um das Wunder zu ermöglichen, das sein Bruder eigentlich benötigte.

Das sagte jedenfalls ihre Mum.

Vor ein paar Stunden war sie von ihrem Besuch bei Christopher im Krankenhaus zurückgekommen und so mit ihrem Telefonat mit Dad beschäftigt gewesen, dass sie Max gar nicht bemerkt hatte, der vor dem offenen Kühlschrank stand und nach dem Ketchup suchte.

Die Bilder sehen nicht gut aus, John. Die Behandlung schlägt nicht an.

Max war mit der Ketchupflasche in der Hand erstarrt. Die Kälte aus dem Kühlschrank drang ihm bis in die Knochen. Wenn Christophers Bilder schlecht waren, färbte sich die Welt jedes Mal grau. Und heute war sie dunkler als je zuvor.

Dr. Fischer sagt, wir brauchen eine neue Behandlungsmethode. Wir müssen in eine andere Richtung denken.

Oh, Schatz … Ich fürchte, was wir brauchen, ist ein Wunder.

Danach war seine Mum in der Abstellkammer verschwunden, um zu weinen, und Max hatte sich die Finger in die Ohren gesteckt und gesummt, bis sein Herz nicht mehr so laut pochte.

Als er jetzt das traurige Häuflein Münzen auf seiner Fensterbank betrachtete, überkam ihn dieselbe Panik wie vorhin. Was nutzte schon das neue Spider-Man-Spiel, wenn Christopher nicht nach Hause kommen konnte, um es zu spielen? Hoffnungslos dachte er an seinen Bruder, der allein mit seiner blauen Wollmütze auf dem Kopf im Krankenhaus lag, und kam sich unendlich nutzlos vor.

Draußen flackerte eine Straßenlaterne. Dann zerriss ein lautes Kreischen die Nacht, und ein knallroter Papagei segelte am Fenster vorbei. Max riss es auf und steckte den Kopf nach draußen. Der Vogel schwebte kurz vor der Haustür, dann setzte er sich auf Christophers Fensterbank, plusterte seine Federn auf und klackte mit dem Schnabel gegen die Scheibe.

Das Licht in Christophers Zimmer war ausgeschaltet. Niemand war da, um das Fenster zu öffnen.

Der Vogel klopfte noch mal. Schon ein bisschen ungeduldiger, fand Max.

Es war natürlich nicht der erste Papagei, den er sah. Vor zwei Jahren hatte er sogar schon mal einen auf dem Arm gehabt. Das war an Christophers 13.Geburtstag gewesen, den sie im Zoo verbracht hatten. Ehe es angefangen hatte, dass er ständig müde war und ihm so schnell schwindelig wurde. Max hatte sich hinter seinem Himbeer-Vanille-Eis schlappgelacht, während sein Bruder auf einem Bein balancierend mit je einem Kakadu links und rechts auf der Schulter und einem Papagei auf dem Kopf für ein Geburtstagsfoto posiert hatte.

Der Papagei, der gerade auf Christophers Fensterbank saß, sah genauso aus wie der im Zoo. Er hatte herrliches rotes Gefieder mit blauen und gelben Flecken. Mit erhobenem Schnabel schaute er erwartungsvoll durch die Scheibe.

»AHOI-HOI!«, krächzte er.

Max zuckte zusammen. »Hey!«, zischte er. »Nicht so laut! Du weckst noch Mum und Dad auf!«

Der Vogel klackte erneut gegen die Scheibe. »AHOI-HOI!«

»Dadrinnen ist niemand!« Max kam sich zwar ein bisschen albern dabei vor, mit dem Papagei zu reden, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. »Mein Bruder ist nicht zu Hause. Und wir haben eine Katze«, fügte er drohend hinzu. »Wenn du nicht schnell weiterfliegst, kommt Bowie nach draußen und frisst dich.«

Der Vogel hörte auf zu krächzen und richtete seinen starren Blick auf Max.

Max’Wangen begannen zu prickeln. Jetzt, wo ihn der Vogel ansah, konnte er erkennen, dass er ein schwarzes Knopfauge hatte, und das andere funkelte wie ein winziger Glitzerstern. Es war also definitiv nicht derselbe wie im Zoo.

Der Papagei flog los, und die Straßenlaterne flackerte erneut. Diesmal landete er auf Max’ Fensterbrett.

»Kss, kss!«, scheuchte Max ihn weg. »Du darfst hier nicht rein.«

Es war ja so schon alles schlimm genug. Da brauchten Mum und Dad nicht auch noch einen kreischenden Papagei im Haus, der alles vollkackte. Aber der Vogel blieb auf dem Sims sitzen und starrte Max aus seinem funkelnden Diamantenauge an. Max war so durcheinander, dass er die kleine Schriftrolle am Bein des Vogels erst bemerkte, als dieser den Fuß hob und sie ihm vor die Nase hielt.

»Was ist das denn?«, murmelte Max und löste das Röllchen.

Der Pergamentstreifen hatte abgerundete Ecken und war mit einer dunkelroten Haarsträhne zusammengebunden. Er erinnerte Max an das Papier, das sie im Kunstunterricht mit einem alten Teebeutel gefärbt hatten, damit es alt aussah. Wobei das Pergament hier nicht nach alten Teeblättern roch, sondern nach Meer. Die Schrift darauf war so krakelig, dass er die Augen zusammenkneifen musste, um sie lesen zu können.

Lieber Christopher, bitte entschuldige die späte Antwort. Aber bestimmt würdest du mir zustimmen, dass eine verspätete Einladung besser ist als gar keine.

Ich schreibe dir, um dich darüber zu informieren, dass auf der Sonnendiebin ein Posten als Schiffsjunge freigeworden ist. Ich suche nach jemandem, der klug und mutig ist und den nötigen Schneid hat, um mir bei einer streng geheimen Aufgabe zu helfen.

Falls du glaubst, dass du der Richtige dafür bist, dann komm heute Nacht im Vollmond zur Bucht. Mein Papagei Kräcker zeigt dir den Weg. Den Rest erledigt die Magie.

Erwartungsvoll

Käpt’n O’Malley

PS: Das Wort eines Piraten ist Gold wert. Ich werde dich reichlich entlohnen.

Max las den Brief ganze drei Mal. Dann kniff er sich, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Stammte dieser Brief wirklich von Käpt’n Thorne O’Malley? Dem Piraten, wegen dessen Legende Christopher und Max unzählige Male um Mitternacht unten in der Bucht gesessen und auf den dunklen Horizont gestarrt hatten, bis ihnen die Augen brannten? Der Pirat, den Christopher als kleiner Junge angeblich gesehen hatte? Der aber nie zurückgekommen war, egal, wie sehr sie es sich wünschten?

Max’ Blick blieb an dem einen schicksalhaften Satz hängen. Den Rest erledigt die Magie. Wenn es den Piratenkönig wirklich gab, dann war auch Darksea echt. Ein Ort voller Magie und Abenteuer. Max schaute zu seinem Walross, das auf die Seite gekippt war. All sein Geld und all seine verzweifelten Hoffnungen konnten Christopher nicht mehr helfen. Aber Magie …

War Magie nicht der wichtigste Bestandteil von Wundern?

Vielleicht sogar der einzige?

Wenn dieser Brief und der glitzeräugige Vogel, der ihn gebracht hatte, von einem magischen Ort stammten, dann waren vielleicht auch Wunder möglich.

»BEREIT ZUM SEGELHISSEN?«, krächzte Kräcker.

»Pssst! Und nein, natürlich nicht.« Max rollte den Pergamentstreifen wieder zusammen und legte ihn zurück auf die Fensterbank. »Ich kann doch nicht einfach hier weg. Außerdem ist der Brief nicht für mich, sondern für meinen Bruder Christopher.«

Kräcker plusterte die Federn auf. »WER’S FINDET, DARF’S BEHALTEN!«

Max starrte den Papagei an. Hatte ihn der Vogel etwa verstanden? »Redest du mit mir?«

Der Papagei legte den Kopf schief, als ob er fragen wollte: Mit wem denn sonst?

Die Straßenlaterne flackerte wieder. Kräcker hüpfte nach drinnen und stieß dabei gegen die Münzen, die daraufhin klimpernd durch die Gegend kullerten. Ehe Max reagieren konnte, schnappte sich der Vogel mit dem Schnabel die Geldscheine und flog mit seiner Beute nach draußen.

»Hey!« Max versuchte, ihn mit der Pergamentrolle zu erwischen. »Das ist mein Geld!«

»WER’S FINDET, DARF’S BEHALTEN!«, kreischte Kräcker und landete auf der Straßenlaterne.

Max zerrte sich seinen Kapuzenpulli über den Schlafanzug und das erstbeste Paar Schuhe, das er finden konnte, über die Füße. Zufällig handelte es sich um seine verdreckten Fußballschuhe. Für Socken blieb ihm keine Zeit. Er rannte nach unten, vorbei an dem schmutzigen Geschirr in der Spüle, am Küchentisch, auf dem sich die Rechnungen stapelten, und an dem Berg an alten Zeitungen neben der Haustür.

Er war schon halb auf der Straße, als er merkte, dass er immer noch die kleine Schriftrolle in der Hand hielt. Wütend drohte er dem Vogel damit. »Komm hier runter!«, fauchte er.

»WER’S FINDET, DARF’S BEHALTEN!« Kräcker flog in einem Wirbel aus Regenbogenfedern davon, sodass Max keine andere Wahl blieb, als ihm hinterherzujagen.

Wegen der Fußballschuhe humpelte er zwar ein bisschen, aber langsamer zu laufen, traute er sich nicht. »Stopp, du gemeiner Dieb!«

Der Papagei glitt hoch über die Dächer der Bellflower Lane. Aber Max kannte die gewundenen Straßen hier wie die Sommersprossen auf seiner Nase. Er brauchte nur ein paar Minuten bis zum Wasser und der Promenade, die sich einmal um die Bucht wand, als wollte sie ein Stückchen vom Atlantik umarmen.

Der Papagei flog in Richtung des alten Sprungturms, der wie eine gelbe Faust aus dem Wasser ragte. Im Sommer hatten Christopher und Max immer Arschbomben von ganz oben gemacht und darüber gestritten, wer den größten Platscher machte. Einmal hatte Max den Abstand falsch eingeschätzt und sich an den Felsen den Fuß verletzt. Sein Knöchel war dreifach gebrochen gewesen. Er hatte geheult wie ein Schlossgespenst und war auf einer Bahre abtransportiert worden. Christopher war im Krankenwagen mitgefahren und hatte so witzig mit der Sirene mitgeheult, dass Max am Ende lachen musste, bis er sich fast übergab.

Als Max den Turm erreichte, schüttelte er die Erinnerungen ab. Kräcker saß auf einem Ruderboot, das unter dem Turm auf den Wellen schaukelte, und hielt weiter Max’ Ersparnisse im Schnabel.

»Ich komm jetzt runter, nicht bewegen!« Vorsichtig rutschte Max die glitschigen Felsen hinab. Der Wind war kühl, und er schauderte in seiner Schlafanzughose. Aber mit seinen Stollenschuhen konnte er unten im Sand viel leichter rennen.

Der Papagei wedelte mit dem Geld hin und her wie ein Matador, der einen Stier anlockte.

Max marschierte über den Strand auf ihn zu. Doch als er den Sprungturm umrundet hatte, legte er eine Vollbremsung ein.

Der Mond war so groß wie nie.

Und davor zeichnete sich ein merkwürdiger Schatten ab.

»Das gibt’s nicht.«

Max konnte einen langen Schiffsrumpf, drei hohe Masten und riesige Segel ausmachen, die sich in der Brise blähten. Ganz oben auf dem Schiff wehte eine Flagge. Im Mondlicht glomm der Umriss einer goldenen Sonne auf. »Ist das … Das sieht ja aus wie … Aber das kann doch nicht …« Max hielt die kleine Schriftrolle fest umklammert. Seine Kehle war auf einmal wie ausgedörrt. »Das sieht aber ziemlich verdächtig nach Piratenschiff aus.«

»Weil es eins ist«, sagte der Papagei.

Max schnappte nach Luft. »Moment. Du kannst reden? Ich meine, richtig reden?«

»Du wirst es nicht glauben, aber Jenga kann ich auch.«

Max klappte die Kinnlade herunter.

»Ich weiß, ich weiß«, fuhr der Vogel eine Spur herablassend fort. »Ziemlich beeindruckend, was?«

»Nein, eigentlich eher … na ja, unmöglich! Das mit dem Reden und Verstehen, meine ich.«

»Du wirst dich dran gewöhnen.« Kräcker ließ die Geldscheine ins Boot fallen. »Aber reden wir über wichtigere Themen. Käpt’n O’Malley wartet. Bist du bereit, die Segel zu setzen?«

Unschlüssig blieb Max an der Wasserkante stehen. Die Sonnendiebin schaukelte in der Bucht, als würde sie auf ihn warten. Die Pergamentrolle war schon ganz warm, weil er sie so fest hielt. Was auch immer das alles sollte – der Papagei, das Schiff, die Aussicht, echte Magie zu erleben –, es konnte sich unmöglich um einen Zufall handeln. Endlich erfüllte sich Christophers Wunsch.

Nur dass Christopher nicht hier war.

Max knabberte sich auf der Lippe herum und wartete ab, dass sich der nötige Mut in ihm regte. Wäre sein Bruder jetzt hier gewesen, hätten sie sich einfach ins Abenteuer gestürzt und vermutlich längst in dem kleinen Boot gesessen. Wie immer hätte Christopher den Weg vorgegeben, und Max wäre hinterhergerannt. Max wusste nicht, wie man Anführer war. Und er wollte auch gar keiner sein.

»Stimmt es, was in dem Brief steht?«, fragte er unsicher. »Gibt es in Darksea wirklich Magie?«

Das Sternenauge des Papageis funkelte auf. »Was glaubst du denn, wie wir hergekommen sind?«

Max leckte sich über die Lippen. »Und wenn ich mitkomme … und bei der Aufgabe helfe … dann bekomme ich eine Belohnung?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, es rauszufinden.«

Das reichte Max, um seine Entscheidung zu treffen.

»Na gut.« Mit klopfendem Herzen schob er die Schriftrolle in seine Hosentasche und bestieg das kleine Boot.

Kapitel 3Das Mitternachts-Piratenschiff

Max saß auf der Mittelbank des Ruderboots und betrachtete das Meerwasser, das ihm um die Füße schwappte. »Und jetzt? Ich habe keine Ruder dabei.«

»Bist du immer so ungeduldig?«, fragte Kräcker, der auf dem Bug hockte und auf den Ozean hinausblickte. Sein Schnabel schimmerte perlweiß wie ein Nachtlicht. »Warte kurz. Die Flut erledigt das.«

Max sah sich um. Das Wasser war kalt und schwarz und nahezu unbewegt. Wenn sie auf die Flut warteten, würden sie morgen früh noch hier sitzen. Er war schon kurz davor, seine Entscheidung zu bereuen, als Kräcker einen hohen Pfiff von sich gab.

»AAAAHHHHH!« Das Boot machte einen Satz, und der Bug schnellte nach oben, dem Mond entgegen. Max musste die Unterschenkel unter die Bank klemmen und sich mit beiden Händen an den Seiten festhalten, um nicht nach hinten wegzukippen. Das Wasser schäumte, als sie aufs offene Meer hinausgezogen wurden, und salzige Tropfen flogen ihm in den Mund. Die Küste hinter ihnen war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Max musste an das kleine Haus in der Bellflower Lane denken, in dem seine Eltern gerade tief und fest schliefen. Vielleicht hätte er ihnen einen Zettel hinlegen sollen. Aber es war zu spät. Andererseits konnte er ihnen schlecht erklären, wohin er unterwegs war. Der Einzige, der ihm glauben würde, war Christopher, und der lag im Krankenhaus.

Max schrie erneut auf, als das Boot eine Riesenwelle erklomm und auf der anderen Seite herunterkrachte. Gischt spritzte ihm um die Ohren.

Aus dem Augenwinkel sah er eine silberne Finne aufblitzen. Er fuhr herum. Auf der anderen Seite des Bootes befand sich noch eine. Ein grauer Halbmond sprang von einer Welle in die nächste.

»Sind das etwa Haie?« Max sprang auf und versuchte, auf dem wackligen Boot nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Als Kräcker nur ein abfälliges Schnauben von sich gab, erkannte Max seinen Fehler. Delfine! Sie waren überall, tanzten durch die Wellen, und ihre Finnen schimmerten dabei im Mondlicht. Einer schwamm zum Bug. Er hatte ein Stück Seil im Maul, an dem er das Boot zur Sonnendiebin zog. Max’ Magen kribbelte im Rhythmus der Wellen. »Das ist ja unglaublich!«

Kräcker sah sich zu ihm um. »Und das ist nur der Anfang, Max.«

»Moment. Woher kennst du meinen Namen?«

Ehe der Papagei antworten konnte, ging ein erneuter Ruck durch das Boot. Max stolperte rückwärts. Meerwasser durchtränkte seinen Schlafanzug und seine Haare.

Dann fiel plötzlich ein riesiger Schatten auf sie. Max setzte sich kerzengerade auf.

Über ihm ragte die Sonnendiebin in die Nacht.

Sie war gigantisch. Jedes einzelne ihrer flatternden Segel war so groß wie sein ganzes Haus. Das Ruderboot knarzte, als es von den Wellen gegen das Piratenschiff gedrängt wurde. Die Delfine glitten lautlos zurück in die Tiefe, während vor Max’ Nase eine Strickleiter herabgelassen wurde.

Er schaute kurz nach oben, aber es spähten keine Gesichter von der Reling hinab. Nur fernes Gebrüll war von Deck zu hören. Nervös fummelte er an den Kapuzenschnüren seines Pullis herum. Die Angst blubberte in ihm hoch wie Luftblasen im Wasser.

Kräcker hob ab wie ein bunter Federblitz. »Wer zuerst oben ist!«

Max rief sich noch einmal in Erinnerung, wieso er das hier alles machte. Wegen der Magie. Wieso er jetzt nicht aufgeben durfte. Weil Christopher ein Wunder braucht. Er packte die Strickleiter und machte sich an den Aufstieg.

Die Aufregung, die er empfand, als er endlich sein Bein über die Reling schwang und aufs Deck sprang, versiegte sofort wieder. Er sah sich um. Niemand auf dem Piratenschiff schien seine Ankunft bemerkt zu haben. Überall herrschte Chaos, die Crewmitglieder rannten auf Deck herum und brüllten Anweisungen, andere zogen mit zusammengebissenen Zähnen die Segel straff. Piraten schwangen sich an den Netzen hoch, die von den Masten hingen, und eine Frau mit silbergrauem Haar und dunkelbrauner Haut beobachtete oben im Mastkorb durch ein langes Fernrohr den Mond.

Max stand verlegen in der Gegend herum.

Da kam eine blasse junge Frau mit schwingenden blonden Zöpfen auf ihn zu. »Was stehst du da rum und glotzt, Junge?« Sie drückte ihm einen Wischmopp in die Hand. »Los, Deck schrubben! Hier muss alles blitzen, wenn Käpt’n O’Malley raufkommt!«

»Aber ich …«, fing Max an. Doch da war die Frau längst auf und davon.

Max sah sich nach Kräcker um, aber der nervige Vogel war nirgendwo in Sicht. »Hallo?«, rief er. »Kann mir bitte jemand …«

»Hey, Leichtmatrose«, dröhnte eine neue Stimme. Sie gehörte einem stämmigen Mann mit Bart und knallroten Wangen. »Ab unter Deck! Ashir hat die verdammte Suppe verschüttet, als ich ihm gesagt hab, dass er …« Der Mann verstummte und musterte scharf Max’ grünen Kapuzenpulli, die schlabbrige Schlafanzughose und die nur halb zugeschnürten Fußballschuhe an seinen Füßen, die eine Sandspur auf den Planken hinterlassen hatten. Er runzelte die Stirn, wobei sein Bart zuckte. »Christopher?«, fragte er misstrauisch.

Max räusperte sich. »Ähm, also nicht ganz …«

»Heiliger Donneraal!«, brüllte der Mann. »EIN BLINDER PASSAGIER!«

Totenstille senkte sich über das Deck.

Max drückte sich den Mopp an die Brust. Sämtliche Besatzungsmitglieder der Sonnendiebin starrten ihn an.

»Es gibt keinen Grund, das halbe Schiff zusammenzuschreien, Meddles!«, rief die silberhaarige Frau vom Ausguck herunter. »Na, kleine Kaulquappe, wo kommst du her?«

»Ich hab das schon im Griff, Yana«, bölkte der Mann namens Meddles. Er riss Max den Mopp aus der Hand und drängte ihn mit gefährlich funkelnden Augen zum Schiffsrand. »Mach den Mund auf, Junge. Und sei gewarnt. Hier auf der Sonnendiebin steht Lügen unter Strafe!«

Mit zitternden Händen holte Max das Pergament aus seiner Tasche. »Mein Name ist Max. Ich bin für Christopher hier.«

Meddles riss ihm den Brief aus der Hand. »Soso. Dann bist du also ein blinder Passagier und ein Dieb.«

Murmeln breitete sich auf dem Deck aus. Das Schiff schien zu schrumpfen, als sich die Besatzung zusammendrängte, um das Spektakel zu beobachten.

Max schnappte sich die kleine Schriftrolle wieder. Sein Herz klopfte entsetzlich, aber er versuchte, mutig und verwegen zu wirken. Wie jemand, der seinen Platz auf diesem Schiff verdient hatte. »Ich habe den Brief nicht gestohlen. Bitte bringen Sie mich jetzt zu Käpt’n O’Malley, damit ich alles erklären kann.«

Meddles lachte auf. »Käpt’n O’Malley schert sich nicht um kleine Lügenmäuler wie dich. Ich bin der Steuermann hier an Bord der Sonnendiebin, und es ist meine Aufgabe, blinde Passagiere auf direktem Weg in die Tiefen des Meeres zu schicken.« Er packte Max an der Kapuze und hob ihn so hoch, dass seine Füße über dem Boden baumelten. »Zeit für die Planke, Junge.«

»Aber ich bin zum Helfen da! Fragen Sie den Papagei!«, rief Max. Doch es war zwecklos. Er kämpfte und zappelte, trat brüllend um sich und beschimpfte den Vogel, der einfach davongeflogen war. Trotzdem schleppte Meddles ihn ungerührt zur Reling, wo eine wacklige Holzplanke übers Meer ragte.

»Jetzt mach schon, Meddles!«, rief jemand. »Es ist gleich Mitternacht.«

»Die Mitternachtswelle kommt!«, schrie eine andere Stimme. »Käpt’n O’Malley müsste jede Sekunde hier sein!«

Niemand an Bord der Sonnendiebin schien vom Käpt’n in der Nähe des blinden Passagiers erwischt werden zu wollen.

Mit zitternden Knien schob sich Max auf der schmalen Planke nach vorn. Das letzte Mal, als er aus dieser Höhe ins Wasser gesprungen war, hatte er sich das Bein gebrochen. Und diesmal würde niemand da sein, um ihn zu retten. Es wusste ja auch gar keiner, dass er hier war!

»Kann ich nicht einfach wieder die Strickleiter runterklettern?«, bettelte er.

Meddles scheuchte ihn weiter. »Weniger reden, schneller gehen.«

»Drück im Fallen die Füße zusammen!«, rief Yana. »Und am besten, du schaust nicht nach unten.«

Aber Max konnte nicht anders. Unter ihm schäumte gierig das Wasser und schien nur darauf zu warten, ihn zu verschlingen.

Meddles wollte ihn gerade voranschubsen, da erfüllte ein lauter Chor aus Gackern und Glucken die Luft, und eine Hühnerschar stob über das Deck.

»Zum Donneraal noch mal!«, dröhnte Meddles. »Wer hat die verfluchten Vögel rausgelassen?«

»Das ist doch jetzt egal!«, rief ein anderer Pirat und stürzte sich auf einen flüchtigen Hahn. »Wir sind drauf und dran, unser Abendessen für nächste Woche zu verlieren!«

Meddles machte sich an die Verfolgung von drei Hühnern, was seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte. »Was steht ihr denn da rum?«, brüllte er die übrigen Crewmitglieder durch eine Federwolke an. »Schnappt sie euch!«

Schlagartig geriet Bewegung in die Besatzung. Alle jagten nun die panischen Hühner über das Schiff, während Max allein und vergessen auf der Planke stand.

Erleichtert seufzte er auf, dann ging er auf Hände und Knie und setzte sich rittlings auf die Planke, damit er nicht herunterfiel. Jetzt musste er nur rückwärts rutschen und vorsichtig von der Planke steigen, damit er nicht im letzten Moment hinunterfiel in die schwarze See.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte eine Stimme, die er bisher noch nicht gehört hatte.

Über dem dunklen Abgrund tauchte eine ausgestreckte Hand vor ihm auf. Sie gehörte einem Mädchen in seinem Alter mit brauner Haut und braunen Augen. Sie grinste ihm fröhlich zu. Ihr langes schwarzes Haar war unter einem roten Bandana-Tuch versteckt, und sie hatte sich die Ärmel ihres gelben Hemds hochgekrempelt. »Ich bin ziemlich gut im Ablenken.«

Max blinzelte. »Das mit den Hühnern warst du?«

Das Mädchen zwinkerte. »Und das war noch gar nichts im Vergleich zu dem, was ich mit Schießpulver alles hinbekomme.«

Max schaute zu den Kanonen und beschloss, dass er es lieber nicht wissen wollte. Er ergriff die Hand des Mädchens und ließ sich das restliche Stück zurück über die schmale Planke helfen.

»Danke«, brummte er, während er sich aufrichtete. »Ich bin Max.«

»Ruby«, erwiderte das Mädchen. »Die beste Leichtmatrosin auf der Sonnendiebin.«

»Was ist denn eine Leichtmatrosin?«

»Na, ein Schiffsmädchen, das weiß, wie man einen Mopp benutzt«, antwortete sie fröhlich. »Ich arbeite mich hoch, und eines Tages werde ich Käpt’n.«

Apropos. Es liefen kaum noch Hühner frei herum. Max blieben vielleicht noch ein, zwei Minuten, um seine Lage zu erklären. »Kannst du mich zu Käpt’n O’Malley bringen?«

Ruby runzelte die Stirn. »Ich darf nicht in die Nähe der Kapitänskajüte.«

»Aber …«

»Pssssst!« Ruby hob einen Finger an die Lippen.