Zwillingskrone - Catherine Doyle - E-Book
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Zwillingskrone E-Book

Catherine Doyle

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Beschreibung

Zwei Zwillingsschwestern, ein dunkles Geheimnis und eine mitreißende Enemies-to-Lovers-Geschichte

Vor achtzehn Jahren wurde das Königspaar von Eana brutal von einer Hexe ermordet – nur Minuten nach der Geburt der Prinzessin, Rose. Der Vorfall hat den Krieg gegen alle magisch Begabten im Königreich neu entfacht. Nun steht Rose Valhart nicht nur kurz vor ihrer Krönung, sondern auch kurz vor ihrer Hochzeit. Ihr Leben könnte nicht perfekter sein – bis zu der Nacht, in der sie von Hexen entführt wird und erfahren muss, dass alles, was sie über die Geschichte ihres Königreichs zu wissen glaubte, eine Lüge ist.

Die Hexe Wren Greenrock ist Roses Zwillingsschwester, und sie hat sich ihr ganzes Leben lang auf den Tag vorbereitet, an dem sie den Platz ihrer Schwester im Palast einnimmt, um sich zur Königin krönen zu lassen. Sie will den Krieg gegen die Hexen, die zu Unrecht verfolgt werden, beenden – doch um das zu erreichen, muss sie alle um sie herum täuschen, Roses Verlobten ebenso wie den obersten Minister, der ein hinterhältiges Spiel treibt …

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Seitenzahl: 644

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Das Buch

Vor achtzehn Jahren wurde das Königspaar von Eana von einer Hexe ermordet – nur Minuten nach der Geburt der Prinzessin, Rose. Der Vorfall hat den Krieg gegen alle magisch Begabten im Königreich neu entfacht. Nun steht Rose Valhart nicht nur kurz vor ihrer Krönung, sondern auch kurz vor ihrer Hochzeit. Ihr Leben ist einfach perfekt – bis zu der Nacht, in der sie von Hexen entführt wird und erfahren muss, dass alles, was sie über die Geschichte ihres Königreichs zu wissen glaubte, eine Lüge ist.

Die Hexe Wren Greenrock ist Roses Zwillingsschwester, und sie hat sich ihr ganzes Leben lang auf den Tag vorbereitet, an dem sie den Platz ihrer Schwester im Palast einnimmt, um sich zur Königin krönen zu lassen. Sie will den Krieg gegen die Hexen beenden – doch um das zu erreichen, muss sie alle um sie herum täuschen, Roses Verlobten ebenso wie den obersten Minister, der ein hinterhältiges Spiel treibt …

Die Autorinnen

Catherine Doyle wurde 1990 im Westen Irlands geboren. Sie hat Psychologie und Englisch studiert. Als Kind war sie eine nervende kleine Besserwisserin und hatte eine überbordende Fantasie. Sie ist froh, dass sie durch ihr Schreiben all ihre Ideen in Geschichten verwandeln kann.

Katherine Webber wurde 1987 in Südkalifornien geboren und wuchs in Hong Kong, Hawaii und Atlanta auf. Sie studierte Komparatistik und Chinesische Literatur und arbeitete unter anderem als Übersetzerin, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Reisen, Bücher und gutes Essen sind ihre Lieblingsbeschäftigungen, denen sie in London nachgeht, wo sie mit ihrer Familie lebt.

Katherine Webber

Catherine Doyle

Roman

Aus dem Englischen von

Ute Brammertz

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: TWINCROWNS

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 09/2022

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2022 Catherine Doyle and Katherine Webber

Copyright © 2022 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Leo Hartas

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München,

unter Verwendung einer Illustration von Kim Hoang

und Bildern von iStockphoto

(Jules_Kitano, alex_skp, dutourdumonde, higyou)

Satz: KCFG–Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29011-5V002

www.heyne.de

Für Jane,

die in jeder Hinsicht beste Schwester

Flieg in Sicherheit, Wren, du kleines Vögelchen.

Rose, wachse stark und treu.

1

Wren

Das goldene Haupttor des Anadawn-Palastes glitzerte in der untergehenden Sonne, jede Spitze so scharf wie ein Dolch. Der Anblick erfüllte Wren Greenrock mit einem mulmigen Gefühl. Selbst aus dieser Entfernung war das Tor höher als in ihrer Vorstellung, und die schweren Ketten klirrten leise im Wind.

Am Rand des Waldes, der das Palastgelände umgab, sank sie in die Hocke. Es war noch zu hell, um den Schutz der Bäume zu verlassen, und erst bei Einbruch der Dunkelheit durfte sie sich näher heranwagen. Unter Wrens Fuß knackte ein Ast, und sie zuckte zusammen.

»Vorsicht«, zischte eine Stimme hinter ihr. Shen Lo tauchte an ihrer Seite auf, ganz in Schwarz gekleidet und mit teilweise verhülltem Gesicht, seine Bewegungen so flink und geräuschlos wie die einer Natter.

»Den Blick auf die Füße gerichtet, Greenrock. Vergiss nicht, was ich dir beigebracht habe.«

»Wie soll ich denn mit dem Blick auf meinen Füßen die ganzen furchterregenden Palastwachen zählen, die uns bei Sichtkontakt töten werden?«

Shens dunkle Augen huschten hin und her, den Bewegungen der Wachen folgend. Im unteren Hof allein befanden sich zwölf, und sechs weitere bewachten das Haupttor. Alle trugen makellose grüne Uniformen mit Schwertern an den Hüften. »Ich könnte sie ohne Weiteres erledigen.«

Wren stieß einen Atemzug aus. »Da wir auf dem Weg hinein keinen Verdacht erregen wollen, wäre es mir ganz recht, wenn wir nicht unbedingt achtzehn Leichen hinterlassen.«

»Dann also ein Ablenkungsmanöver? Wir könnten einen Elch fangen und ihn im Hof freilassen.«

Wren warf ihm einen Seitenblick zu. »Warum habe ich dich gleich noch mal mitgenommen?«

»Weil es dir deine Großmutter befohlen hat«, erwiderte Shen selbstgefällig. »Und du es ohne mich niemals durch die Wüste geschafft hättest.«

Geistesabwesend wischte sich Wren den Sand von der Tunika. Selbst wenn ihre eigentliche Aufgabe noch vor ihr lag, war sie doch froh, zumindest die mörderische Wüstensonne hinter sich gelassen zu haben. Sie sog die frische Luft tief in die Lunge und versuchte, das nervöse Rumoren in ihrer Magengrube zu beruhigen.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Großmutter Banba, wie sie stark und unbeugsam an der Westküste von Eana stand und mit ihren kräftigen Händen Wrens Schultern drückte.

»Wenn du das steinerne Herz des Anadawn-Palastes aufbrichst und deinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron einnimmst, werden alle Winde von Eana deinen Namen singen. Möge der Mut der Hexen dich begleiten, mein kleines Vögelchen.«

Wrens Blick wanderte zum höchsten Fenster des Ostturms von Anadawn, und sie versuchte, einen Bruchteil jenes Muts heraufzubeschwören. Doch da war nur ihr Herz, das wie ein Kolibri in ihrer Brust flatterte.

»Sieht es schon wie dein Zuhause aus?«, fragte Shen.

Grimmig schüttelte sie den Kopf. »Es sieht wie eine Festung aus.«

»Nun, Herausforderungen haben dich doch schon immer gereizt.«

»Allmählich beschleicht mich der Verdacht, dass ich dieser Herausforderung nicht ganz gewachsen bin«, antwortete Wren voller Unbehagen. Doch sie wussten beide, dass der Plan befolgt werden musste – schließlich hatte Banba ihn ausgeheckt.

Shen sank zu Boden und lehnte sich an einen Baum. »Bei Einbruch der Dunkelheit gehen wir nach Süden zum Fluss und bahnen uns durchs Schilf einen Weg nach oben. Dort ist das Mauerwerk älter, man sollte einfacher Halt finden. Hineinschlüpfen können wir dann zwischen zwei Patrouillengängen.«

Wrens Hand ertastete den Kordelzugbeutel an ihrer Taille. Am Morgen ihres Aufbruchs aus Ortha hatte sie ihn von ihrer Großmutter bekommen, die ihn wie einen Talisman in Wrens Hand gedrückt hatte. »Behalte deine Magie stets griffbereit, aber außer Sicht. Wenn man in Anadawn der Hexerei verdächtigt wird, kommt erst die Hinrichtung und dann das Verhör.«

»Ich kann die Wachen verzaubern«, sagte Wren zuversichtlich. »Meine Schlafzauber wirken mittlerweile in Windeseile.«

»Ich weiß«, sagte Shen. »Vergiss nicht, an wem du geübt hast.«

Wren streckte die Beine aus und lehnte sich an Shens Schulter. Während die letzten Sonnenstrahlen in korallenroten Pinselstrichen am Himmel verliefen, lauschten die beiden über dem Trillern des Vogelgezwitschers auf die fernen Klänge des Palastlebens und beobachteten herumwuselnde Dienstboten und die Wachen, die mit steifem Rücken auf ihrem Posten standen.

Wrens Blick blieb an einer Marmorstatue hängen, die mitten aus einem schönen Rosengarten hervorragte. Ihre Lippen kräuselten sich. Es war der berühmte Protektor von Eana, ein besessener, von Ehrgeiz zerfressener Mann, der vor eintausend Jahren nur mit einer Absicht an diesen Ufern eingefallen war: das restlose Ausrotten von Magie. Nach einem brutalen Krieg mit nur wenigen Überlebenden war es dem Protektor gelungen, Ortha Starcrest, die letzte Hexenkönigin von Eana, zu entthronen und das Königreich unrechtmäßig an sich zu reißen. Und obwohl der Protektor es nicht geschafft hatte, die gesamte Hexenbevölkerung zu ermorden – denn wie lässt sich das schlagende Herz eines Königreichs herausschneiden? –, verehrte man ihn bis zum heutigen Tag. Und sein Hass auf die Hexen lebte ebenfalls fort.

Shen folgte ihrem Blick. »Was wirst du mit dieser grässlichen Statue anstellen, wenn du erst einmal Königin bist?«, fragte er grinsend. »Sie in tausend Stücke schlagen? Stattdessen eine Statue von mir aufstellen?«

»Ich werde sie einschmelzen«, sagte Wren. »Und dann werde ich sie an denjenigen verfüttern, der diesen Schandfleck in Auftrag gegeben hat. Löffel für Löffel.«

In dem Moment erspähte sie eine Gestalt, die zwischen den Rosen spazieren ging. Es war ein Mädchen, ungefähr in Wrens Alter. Ihr dunkles Haar war in losen Wellen frisiert, die ihr bis auf die Taille fielen, und sie trug ein erlesenes rosarotes Kleid mit einem weiten Rock. Das Kinn hatte sie anmutig zum Himmel gereckt, als sei sie in Gedanken versunken.

Unwillkürlich stand Wren auf.

Shen zog am Saum ihres Umhanges. »Runter mit dir.«

Sie deutete auf die fernen Spaliere. »Dort! Siehst du das Mädchen im Garten?«

Shen kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Was ist mit ihr?«

»Das ist sie. Das ist meine Schwester.« In ihrem Herzen verspürte Wren ein seltsames Ziehen, wie ein Faden, der sich spannte. Eine unerträgliche Sekunde lang wäre sie am liebsten auf jenes goldene Palasttor zugestürzt. »Das ist Rose.«

Langsam erhob sich Shen. »Prinzessin Rose lustwandelt in ihrem Rosengarten.« Er stieß ein leises, glucksendes Lachen aus. »Wenn das mal kein Zeichen ist … Nun, das und dann noch, dass sie dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist.«

Wren hatte aufgehört zu blinzeln, so angestrengt starrte sie jetzt zu der Gestalt. Zwar war sie in dem Wissen aufgewachsen, dass sie am anderen Ende der Welt eine Zwillingsschwester besaß, doch sie nun hier leibhaftig vor sich zu sehen, verschlug ihr zum ersten Mal im Leben die Sprache.

Shen drehte sich zu ihr um. »Sag bloß nicht, dass du es dir anders überlegt hast?«

Vor Wrens geistigem Auge verhärtete sich das Gesicht ihrer Großmutter. »Lass dein Herz im Wald zurück, wenn du Anadawn erreichst. Ein einziger schwacher Moment bedeutet unseren Ruin.«

Den Blick immer noch auf Rose gerichtet, spannte Wren die Kiefermuskeln an. »Auf keinen Fall.«

2

Rose

Prinzessin Rose Valhart war es gewohnt, dass Augenpaare auf sie gerichtet waren.

Die Palastwachen in ihren Uniformen, an denen die goldenen Knöpfe im Sonnenschein aufblitzten, befanden sich stets in unmittelbarer Nähe. Die Dienstboten beobachteten sie mit dem gleichen Eifer und erahnten ihre Wünsche häufig schon, bevor Rose sie in Worte fassen konnte. Und dann war da Chapman, der Haushofmeister, der immer wie eine Motte um sie herumflatterte. Er wusste zu jeder Stunde des Tages, wo Rose sich aufhielt, und sorgte dafür, dass sie sich trotz ihres ausgeprägten Hangs zu Trödelei und Tagträumen nie verspätete.

Ihre Untertanen beobachteten Rose ebenfalls. Bei ihren seltenen Besuchen der Hauptstadt Eshlinn säumten die Menschen die Straßen, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Schließlich war Rose ihre geliebte Prinzessin, so schön wie die Blume, nach der sie benannt war, und so lieblich und rein wie deren Duft.

Jedenfalls mutmaßte Rose, dass ihre Untertanen so von ihr dachten. Es war ihr nicht gestattet, mit dem Volk zu sprechen, sie durfte nur aus der Ferne ihren Augenaufschlag zeigen und graziös winken. Doch das würde sich ändern, sobald sie zur Königin gekrönt wurde. Sie war fest entschlossen, die entlegenen Regionen ihres Königreiches zu besuchen und die dort lebenden Menschen zu treffen, mit ihnen zu sprechen und sie kennenzulernen … sich von ihnen kennenlernen zu lassen.

Manchmal hätte Rose schwören können, dass sogar die Starcrestvögel sie aufmerksam beobachteten. Allerdings war ihre Einbildungskraft schon immer leicht mit ihr durchgegangen. Chapman gab Roses bester Freundin Celeste die Schuld daran. Die beiden Mädchen erzählten einander gern unterhaltsame Geschichten, eine haarsträubender als die andere, bis sie sich vor Lachen kugelten. Manchmal schrieben sie ihre geheimsten Sehnsüchte auf ein Stück Pergament und verbrannten es bei Kerzenschein, um dann die Asche ihrer Träume hinaus in den Nachthimmel zu schleudern.

Rose wünschte sich jedes Mal Liebe, während Celeste sich nach Abenteuern sehnte. Manchmal fragte Rose sich, ob sie womöglich beides haben könnte, doch ein Leben voller Abenteuer geziemte sich nicht für eine Königin. Sie würde sich mit ihren aufregenden Tagträumen und der wilden Schönheit ihrer Gärten begnügen müssen. Lächelnd griff sie nach einer rosaroten Rose aus ihrem Beet und schnitt sie ordentlich am Stängel ab. Dann streckte sie die Hand nach der nächsten Blüte aus … und erstarrte.

Auf einmal hatte sie das zutiefst beunruhigende Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Von einem Unbekannten. Ihr Kinn fuhr in die Höhe, und sie spähte an den Wachen vor dem goldenen Tor vorbei zu dem dahinter liegenden schattendunklen Wald, wo die untergehende Sonne die Baumkronen feuerrot aufleuchten ließ.

In ihrer Brust regte sich ein schmerzhaftes Stechen, und sie drückte die Hand auf die Stelle. Hatte sie am Nachmittag zu viel Zuckergebäck genossen? Vielleicht waren es aber auch nur ihre Nerven. Die unmittelbar bevorstehende Krönung war schließlich keine Kleinigkeit.

»Rose!« Sie erschrak, als in dem stillen Garten eine vertraute Stimme erklang. »Was macht Ihr mutterseelenallein hier draußen?«

Von keinem Menschen in Roses Leben wurde sie so aufmerksam beobachtet wie vom Königsodem. Willem Rathborne – der Mann, der ihr nur wenige Minuten nach ihrer Geburt das Leben gerettet hatte – war seit beinahe achtzehn Jahren ihr Vormund, und etliche seiner grauen Haare hatte er ihr zu verdanken. In diesem Moment kam er mit einer finsteren Miene, die ihn schrecklich alt aussehen ließ, auf sie zu.

Instinktiv machte Rose einen tiefen Knicks, bei dem sich ihr rosa Kleid hinter ihr bauschte. »Ich habe nur frische Blumen für mein Schlafgemach gepflückt.«

Willems Seufzen drang als Pfeifen aus seiner Nase. »Das ist die Aufgabe eines Bediensteten. Ihr solltet nicht hier draußen im Dunkeln sein.«

Rose lachte fröhlich, um ihn zu beruhigen. »Der Sonnenuntergang hat gerade erst eingesetzt, und es ist schließlich nicht so, als würde ich mich in den Straßen von Eshlinn herumtreiben. In meinen Gärten werde ich ja wohl in Sicherheit sein.«

Obwohl Willem fast so etwas wie ein Vater für sie war, hatte immer eine gewisse Distanz zwischen ihnen geherrscht. Rose sehnte sich ihr ganzes Leben lang nach seiner Anerkennung, und nun wollte sie ihm mehr denn je beweisen, dass sie bereit war, zur Regentin aufzusteigen, und man das Königreich, die Zukunft, getrost in ihre Hände legen konnte.

Sie griff nach der nächsten Blume. »Ihr macht Euch zu viele Sorgen, lieber Willem.«

Der Königsodem musterte sie streng. »Wie oft soll ich Euch denn noch ermahnen, mit Euren Gedanken nicht woanders zu sein, Rose? Ihr müsst ständig auf der Hut sein. Überall lauert …«

»Gefahr, und man darf niemandem trauen«, beendete Rose mit einem Seufzen den Satz für ihn. Noch nie hatte Willem ein wichtigeres Thema als ihre Sicherheit gekannt, doch nun, so kurz vor ihrer Krönung, war seine Wachsamkeit geradezu in Verfolgungswahn umgeschlagen.

Seine tiefe Besorgnis rührte nur daher, dass sie ihm am Herzen lag. Als sie sich das ins Gedächtnis rief, legte sie zärtlich eine Hand auf seinen Arm. »Willem, Ihr wisst doch, dass Anadawn unter den Augen des Großen Protektors kein Unheil ereilen kann.«

Schließlich standen sie im Schatten seiner Statue, und der marmorne Blick von Roses noblem Ahnherrn wachte schweigend über den Palast und damit auch über sie. Insgeheim hatte Rose die Skulptur immer ein wenig überwältigend gefunden. Sie nahm ihren Gärten Licht, und die Rosen in ihrem Schatten wuchsen nie so hoch wie die anderen, doch missen wollte Rose die Statue dennoch auf keinen Fall. Sie erinnerte Rose daran, dass sie gesegnet war, dass …

»Kommt mit, und zwar sofort.« Willem umklammerte ihr Handgelenk. »Ich werde Blumen auf Euer Gemach schicken lassen.«

Niedergeschlagen folgte Rose ihm – fort von der berauschenden Abendluft und jeglichen Gedanken an Romantik und Abenteuer – in die um sich greifenden Schatten des Palastes.

Wenn ich erst einmal Königin bin, wird alles besser, versprach sie sich auf der endlos im Kreis verlaufenden Treppe in ihrem Turm. Ich werde die ganze Nacht lang tanzen, wenn mir der Sinn danach steht, und niemand wird mir Vorschriften machen.

Als sie die Tür zu ihrem Schlafgemach aufschob, schenkte sie dem Wächter im Treppenhaus ein Lächeln. Erst das Blut auf dem Türknauf verriet ihr, dass sie sich an den Rosendornen die Finger verletzt hatte.

3

Wren

Der Himmel über dem weißen Palast war sternenlos, und Wren war unbehaglich zumute. Mitternacht war längst vorbei. Gegen den beißend kalten Wind zog sie den Umhang fester um sich. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei.«

»Was du nicht sagst«, erklang Shens Flüstern aus der Dunkelheit. »Wir brechen gleich in den Palast ein.«

Wren warf ihrem Freund einen vernichtenden Blick zu. »Ich meine ganz allgemein, Shen.«

»Das hier ist der einfache Teil«, ermahnte er sie. Sie hatten bereits die Südmauer erklommen und zwei Palastwachen auf Patrouille in den Schlaf gezaubert. Jetzt lag nur noch der Ostturm vor ihnen. Er ragte wie ein vorstehender Zahn in die Finsternis empor. »Einfach eine Hand nach der anderen. Ein Fuß nach dem anderen.«

»Die Schwerkraft mag dir vielleicht nichts anhaben, Shen Lo, aber wir Übrigen müssen uns ihren Regeln unterwerfen.«

Shens Grinsen blitzte im Mondschein auf. »Nun mach schon. Ich werde direkt hinter dir sein.«

»Wirst du mich etwa auffangen, wenn ich abstürze?«

»Nein, aber ich werde dir auf deinem Weg in die Tiefe nachwinken.«

»Durch und durch ein Gentleman.« Wren drückte die Handflächen gegen das Steingemäuer. Zwischen den einzelnen Platten befanden sich leichte Furchen, gerade so tief, dass sie ihre schwieligen Finger in die Ritzen stecken und sich nach oben ziehen konnte. Den Körper presste sie eng an den Turm, und ihr Umhang wehte hinter ihr, sodass die Schnalle gegen ihre Kehle drückte.

»Nimm jetzt all deine Konzentration zusammen, kleine Wren«, hallte die Stimme ihrer Großmutter in ihrem Kopf wider. »Sobald das Palasttor hinter dir liegt, darf dir nicht der geringste Fehler unterlaufen.«

Wrens Atem bildete dichte Wölkchen in der Luft, und der Beutel mit dem Kordelzug schlug sanft gegen ihre Hüfte, so als wollte er sich ihr in Erinnerung rufen. Schon bald rannen Schweißtropfen über ihr Gesicht und sammelten sich unter ihrem Hemdkragen. Ihre Finger begannen wehzutun, und ihre Beinmuskulatur schrie auf, während sie wie ein Käfer den Turm hinaufkletterte. Eine Hand nach der anderen, ein Fuß nach dem anderen.

Hinter ihr bewegte sich Shen wie ein Schatten durch die Dunkelheit.

Das Turmfenster schob sich langsam in ihr Blickfeld. Es spähte wie ein Glasauge über den Silberzungenfluss. Das Fenster war entriegelt und stand ein paar Zentimeter offen, um eine kühle Brise hereinzulassen – und in dieser Nacht obendrein die beiden Einbrecher.

Wren reckte sich nach dem Fenstergriff. Mit einem wehklagenden Knarren schwang das Fenster auf, als sie sich auf den schmalen Sims stemmte. Als sie geräuschlos ins Zimmer glitt, unterdrückte sie das Verlangen, Shen über die Schulter hinweg anzugrinsen. Zum Teufel mit der Schwerkraft!

An ihr vorbei fiel der Mondschein in den Raum und brach sich in perlweißen Splittern auf dem Bett.

Wren zog den Dolch aus ihrem Stiefel und behielt eine Hand an ihrem Beutel, falls die Palastwache hereinkommen sollte. Bestimmt war sie im Treppenhaus vor dem Zimmer postiert. Als es weiter ruhig blieb, entspannte sie sich. Das Schlafgemach war prächtiger, als sie erwartet hatte. Mit Fransen besetzte Gobelins hingen an elfenbeinweißen Wänden, und wie Gespenster ragten vergoldete Kleiderschränke aus dem Dunkel. Der Teppich verschluckte Wrens Schritte, während sie sich in dem Zimmer umsah.

Als sie ihr eigenes geisterhaftes Abbild in einem Spiegel erblickte, erschrak sie schier zu Tode. Ihr Zopf hatte sich gelöst, und einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht, das von dem hartnäckigen Schmutz und Sand der letzten beiden Tage verdreckt war. Sie sah aus, als hätte man sie rückwärts durch die Wüste geschleift und zu guter Letzt noch in einen Morast getaucht.

Ein frischer Rosenstrauß verströmte einen ekelhaft süßlichen Geruch im Raum. Wren rümpfte die Nase. Igitt. Der zuckersüße Duft war so ganz anders als das wilde Heidekraut in Ortha und die vertraute, vom Tang gewürzte Ozeanbrise. Daran würde sie sich erst noch gewöhnen müssen.

Im nächsten Augenblick lockte das Rascheln von Seide Wren zu dem Himmelbett in der Zimmermitte. Der Baldachin bewegte sich wie Nebel in der Brise, und dahinter lag die Kronprinzessin von Eana.

Prinzessin Rose Valhart war schön wie ein Gemälde und so ruhig und sanft wie eine schlummernde Katze.

»Der Gedanke an Gefahr liegt Rose fern«, erklang die Stimme von Wrens Großmutter in ihrem Kopf. »Sie wird auf keinen Fall mit euch rechnen.«

Wren musterte die schlafende Prinzessin, ohne auf das wilde Hämmern in ihrer Brust zu achten. Das Ziehen zu ihr hin war jetzt sogar noch stärker, wie eine Faust, die sich fest um ihr Herz schloss. »Hallo, Schwesterherz«, flüsterte sie. »Endlich begegnen wir uns.«

Rose lächelte im Schlaf. Wie ein Heiligenschein umrahmte das kastanienbraune Haar ihr Gesicht. Im Mondschein leuchtete ihre blasse Haut, und die apfelförmigen Wangen waren frei von Sommersprossen. Obwohl ihre Gesichter einander glichen, war klar, dass Rose nie die sengende Wüstensonne gesehen oder den eisig peitschenden Meereswind erlebt hatte.

Glückspilz.

Ein Schatten fiel über das Bett.

»Du stehst im Licht, Shen«, flüsterte Wren.

»Ich wollte dich nicht stören.« Shen kauerte auf dem Fenstersims. »Für den Fall, dass du lieber, du weißt schon«, er räusperte sich, »dass deine Gefühle dich überwältigen.«

Wren reagierte gereizt. »Ich bin keineswegs von meinen Gefühlen überwältigt.«

»Beruhige dich, ich werde es deiner Großmutter nicht verraten.« Er schwang die Beine ins Zimmer und glitt geräuschlos zu Boden. »Vor mir musst du dich nicht verstellen.«

Strähnen seines schwarzen Haars hatten sich beim Klettern aus dem Lederband gelöst und hingen ihm nun in die Stirn. Abgesehen davon sah er makellos aus.

Wren musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Bist du auch nur ins Schwitzen geraten?«

»Selbstverständlich nicht.«

Sie hielt die Stimme gesenkt. »Nun denn. Was meinst du?«

»Sie gibt im Schlaf definitiv ein hübscheres Bild ab als du. Du sabberst schrecklich.«

Wren versetzte ihm einen Schlag gegen den Arm.

Er verbiss sich ein Lächeln. »Du hast mehr Sommersprossen, und ihre Haare sind dunkler als deine.«

Mit einer Hand fuhr Wren über ihren Zopf und runzelte die Stirn.

»Ich wette, sie ist viel netter als du.«

»Ich schmeiße dich gleich hochkant aus dem Fenster, Shen.«

Mit einem Seufzen drehte Rose sich im Schlaf. Ihre Augenlider flatterten. Da Wren ihrer Schwester nun so nah war, regte sich auf einmal das Verlangen in ihr, ihr in die Augen zu sehen. Würde Rose sie erkennen? Würde sie aufschreien? Würde sie …

»Wren!«, zischte Shen. »Zaubere endlich!«

Rose murmelte im Schlaf. »Celeste?«

Panik ergriff Wren. Sie nahm rasch etwas Ortha-Sand aus ihrem Beutel und öffnete die Handfläche. Zauberkraft sammelte sich in ihren Fingern. Die Worte sprudelten schnell und frei aus ihr hervor. »Von Erde zu Staub, wie das Schiff im dunklen Hafen, bitte lass die Prinzessin weiterschlafen!«

Rose schlug die Augen auf.

Unter Herzklopfen blies Wren den Sand von ihrer Handfläche. Wie Glühwürmchen mit goldenen Flügeln schwebte er in der Luft, bevor er sich in Nichts auflöste und das Aufkeuchen der Prinzessin mit sich fortnahm. Ihre Lider schlossen sich wieder, und sie sackte bewusstlos aufs Kissen zurück.

Wren zog die Kordel an ihrem Beutel fester. Ihre Finger zitterten, und sie bohrte sie in die Handfläche. Jener Moment des Zauderns war im Grunde töricht gewesen, schließlich hatte Wren genau gewusst, was sie im Ostturm erwartete. Ihr war nie verheimlicht worden, dass sie eine Zwillingsschwester hatte. Vielmehr war sie herangezogen worden, damit sie eines Tages deren Leben stahl, doch bei Roses Anblick, so nah und warm und lebendig, war sie auf einmal … nun ja, von ihren Gefühlenüberwältigt worden.

»Hast du ihre Augen gesehen?«, flüsterte sie.

»So grün wie Smaragde.« Shens Blick glitzerte auffällig hell im Mondschein. Er beobachtete sie auf seine ganz eigene Art, so als läse er die Regungen ihrer Seele. »Alles in Ordnung?«

»Alles gut.« Wren setzte ein schmales Lächeln auf. »Wir müssen uns beeilen. Gib mir das Seil.« Sie entrollte es. »Ich binde es für dich fest.«

»Prima.« Shen zog den Vorhang am Bett noch ein Stück zurück. »Dann werde ich mal deine Schwester entführen.«

Wren band das Seil um den nächsten Bettpfosten und warf danach das andere Ende aus dem Fenster. Als sie sich wieder umdrehte, stand Shen bereits mitten im Zimmer und hatte sich die Prinzessin über die Schulter geworfen. Überaus verstohlen kletterte er wieder nach draußen auf den Fenstersims. Das Seil spannte sich, als er sich an dem weißen Turm hinunterließ. Roses dunkle Haarpracht ergoss sich wie Seetang über seinen Rücken.

»Warte!«, zischte Wren. Sie öffnete ihren Umhang und warf ihn aus dem Fenster. »Dieses Nachthemd wird ihr in der Wüste nicht viel nutzen.«

Shen fing den Umhang an der Schnalle auf, ohne auch nur ins Straucheln zu geraten. »Und ich dachte, du wärst die böse Zwillingsschwester.«

Wren streckte ihm die Zunge heraus. »Hoffentlich macht sie dir die Hölle heiß.«

»Viel Glück, Wren. Ich sehe dich dann auf dem Thron.« Mit einem Zwinkern ließ sich Shen in die Dunkelheit fallen, zurück blieb nur das Echo seiner Worte.

Da wurde Wren schlagartig aktiv, holte das Seil ein und versteckte es unter einem Stapel Leinenwäsche im Nachttisch. Sie schlüpfte aus ihrer Klettermontur, rollte ihre verdreckte Hose und das weite Hemd zusammen und stopfte sie unters Bett. Ihren Dolch schob sie unters Kopfkissen.

In einer Schublade fand sie ein blaues Nachthemd und zog es rasch an. Sie genoss das Gefühl geschmeidiger Seide auf der Haut. Das Hemd war um die Taille ein wenig groß, und die Träger hingen lose an ihren schmalen Schultern, aber es war sauber und angenehm weich – ein echter Luxus.

Wren musste grinsen. Beim nächsten Vollmond würde sie keinen Mangel an Luxus mehr leiden. Sie musste es nur ohne aufzufliegen bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag schaffen – dem Tag von Roses langersehnter Krönung. Und dann würde sie die Königin sein, die Alleinherrscherin des Inselstaats Eana, und es stünde ihr frei, den Staatsapparat zu zerstören und ganz nach ihrem Gutdünken von Grund auf neu zu errichten.

Genau so, wie das Land früher einmal gewesen war.

Als Herrscherin wäre Wren endlich in der Lage, sich am Königsodem zu rächen, dem Mann, dessen fieberhafte Hingabe an den Protektor vor achtzehn Jahren zur Ermordung ihrer eigenen Eltern geführt hatte. Schon beim bloßen Anblick Willem Rathbornes vorhin im Rosengarten hatte es Wren in den Fingern gejuckt, doch sie hatte gelernt, sich in Geduld zu üben. Erst würde sie sich die Krone holen und dann Rache nehmen.

Sie ließ sich an Roses Frisiertisch nieder und ging eine endlose Reihe aus Glasfläschchen mit parfümierten Ölen und Tiegeln mit stechend riechenden Cremes durch. So viele Parfums für eine Prinzessin! Vor dem Spiegel entflocht Wren ihren Zopf. In der Dunkelheit leuchteten ihre Augen wie Smaragde. Ihre Lippen waren spröde, ihre Haut dank der Reise durch die Wüste von Sommersprossen übersät, und die Haare bildeten ein zerzaustes Vogelnest auf ihrem Kopf.

»Hmm«, murmelte sie. »Eine Prinzessin sieht aber anders aus.«

Sie holte eine Prise Sand aus dem Beutel, schloss die Augen und beschwor in Gedanken ein Bild von Rose herauf. Dann hob sie den Arm und sprach ihren Zauberspruch in die Stille des Zimmers hinein: »Von Erde zu Staub, voller Grazie und gar nicht wild, bitte mach aus mir das schwesterliche Ebenbild.«

Der Sand verschwand, noch ehe er auf ihren Kopf fiel. Wren genoss die federleichte Berührung ihrer Magie, das sanfte Kribbeln unter der Haut. Sie beobachtete, wie ihre Wangen erglänzten und ihre sonnengebräunte Haut die Sommersprossen gegen einen leichten Roséton eintauschte. Ihr Haar wurde dichter, ihre Locken nahmen einen dunkleren Farbton an und wurden üppig lang, bis sie auf ihre Taille hinabreichten.

Sie grinste ihr Spiegelbild an. »Hallo, Prinzessin.«

Wren drehte ihre Hände um und entschied, ihre rauen Schwielen zu behalten. Sie waren eine Erinnerung an die windgepeitschten Klippen von Ortha und die Hexen, die dort an dem Gebirgsgrat hausten und auf eine neue Welt warteten.

Die Welt, die Wrens Großmutter ihnen versprochen hatte. Als hätten die Gedanken an Banba ihn heraufbeschworen, fegte ein Windstoß ins Zimmer und warf einen Parfumflakon um. Wren stieß einen Schrei aus.

Auf der Stelle klopfte es laut an der Tür, und die barsche Stimme einer Palastwache erklang. »Alles in Ordnung da drinnen, Prinzessin Rose?«

Wren fluchte leise. »Alles bestens, danke schön!«, rief sie und betete darum, dass sich ihre Stimme wie die ihrer Schwester anhörte. »Dieser lästige Wind! Ich wollte bloß ein wenig frische Luft hereinlassen.«

Eilig schlug sie das Fenster zu, den Blick unverwandt auf den Türknauf auf der anderen Zimmerseite gerichtet, doch es wurde still. Langsam machte sich Erleichterung in Wren breit, und sie sackte gegen die Scheibe. »Ich kann das«, ermahnte sie sich. »Hierzu bin ich geboren.«

Ihr ganzes Leben lang hatte Wren sich auf den Rollentausch vorbereitet. Unter der wachsamen Anleitung ihrer Großmutter hatte sie ihre magischen Fähigkeiten an den Stränden von Ortha vervollkommnet, bis sie mit flinker Zunge Zaubersprüche abschießen konnte wie Pfeile. Viele lange Stunden hatte sie sich mit Shen im Anschleichen und in Selbstverteidigung geübt und erprobt, wann man angreifen und wann sich still verhalten sollte. Thea, Banbas Ehefrau, hatte Wren in königlicher Hofetikette unterwiesen. Wren war zwar keine Prinzessin, doch sie hatte gelernt, sich wie eine zu benehmen. Sie wusste jetzt, wie sie ihre Zunge im Zaum hielt und keine unflätigen Ausdrücke von sich gab, wie sie sittsam lächelte und fröhlich herumsprang, als trübte nicht die geringste Sorge ihr Gemüt.

Wie schwierig konnte es schon sein, ein Mädchen zu mimen, das nicht die leiseste Ahnung vom Leben außerhalb dieser Palastmauern hatte?

Wren warf sich auf das Himmelbett und landete mit dem Gesicht nach unten, wie ein Seestern. Sie wühlte sich zwischen die Kissen und kuschelte sich in die Wärme, die noch von ihrer Schwester stammte. Vielleicht hätte sie sich daran gestört, wenn ihr der Kopf nicht von dem erfolgreichen Tausch schwirren würde. Sie hoffte, dass Shen es ohne Zwischenfälle aus dem Palast geschafft hatte und dass ihn der Geist von Ortha Starcrest sicher nach Hause zu dem Zufluchtsort an den Klippen leiten würde, den die Hexen ihr zu Ehren benannt hatten.

Wren drehte sich auf die Seite und schob die Hand unter das Kopfkissen. Der Dolch fühlte sich kühl an, ein Trost an diesem fremden Ort, und mit der Waffe in greifbarer Nähe schlief sie rasch ein. Sie entglitt in die Dunkelheit und ließ alle Gedanken an ihr Zuhause fahren.

Am Morgen würde sie Rose Valhart sein, Thronfolgerin von Eana.

Lieblich und rein und gefährlich.

4

Rose

Bisher war der Klang des Ruhelosen Sandes noch nie an Roses Ohren gedrungen. Sie hatte die Hauptstadt Eshlinn bislang noch kein einziges Mal verlassen. Wenn sie sich einmal vor die goldenen Palasttore von Anadawn wagte, geschah dies immer in Begleitung einer Anstandsdame, dicht gefolgt von einer ganzen Horde Palastwachen.

Doch die Prinzessin träumte häufig von Orten in Eana, die sie niemals besucht hatte. »Ich bin Eana. Eana ist ich«, flüsterte sie stets vor dem Zubettgehen, und ihre Gedanken galten den entlegenen Landstrichen in ihrem Königreich. Nachts malte sie sich aus, wie sie an den weißen Sandstränden der Gabelbeinbucht entlangwanderte, durch die üppig grünen Ebenen der Errinwildnis galoppierte oder die belebten Märkte im Süden mit ihren Ständen voller köstlich gewürzter Fleischwaren und bunter Gewürzvielfalt erkundete. Rose hatte früher schon einmal von der sanft wogenden Wüste Ganyeve und der wie eine Goldmünze darüber erstrahlenden Sonne geträumt, doch das legendäre Summen des Sandes war noch nie so deutlich zu hören gewesen.

In diesem Traum klang es so, als würde der Sand lockend nach ihr rufen und sie zu wecken versuchen.

In der Erwartung, die weißen Wände ihres Schlafgemachs zu erblicken, öffnete sie die Augen. Stattdessen sah sie eine bernsteinfarbene Sonne, die über der Wüste Ganyeve aufging, und in ihren Ohren dröhnte das Lied des Sandes.

Gleichzeitig fielen ihr auch andere Dinge auf. Ihre Lippen waren trocken, die Kehle ausgedörrt. In ihrem Mund war Sand, und an ihrem Gesicht klebten ebenfalls Sandkörner. Sie blinzelte hektisch. Offensichtlich träumte sie noch. Wie sonst ließe sich erklären, dass sie mitten in der Wüste aufwachte, halb zusammengesackt auf einem Pferd …?

Auf einem Pferd?

Im Gleichklang mit den Hufschlägen des Pferds pulsierte Panik durch Rose.

Da bemerkte sie noch etwas anderes, und sie versteifte sich vor Schreck.

Rose war nicht allein.

Sie lehnte an einer muskulösen Brust, die sich in einem sanften Rhythmus hob und senkte. Locker lag ein Arm um ihre Taille und hielt sie aufrecht. Sie musste all ihre Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht sofort zur Wehr zu setzen. Stattdessen holte sie tief Luft und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu verlangsamen.

Ruhe bewahren. Wenn sie jetzt nicht im Vollbesitz ihrer Sinne blieb, wäre es um sie geschehen. Kaum merklich bewegte sie die Finger. Gut, ihre Hände waren nicht gefesselt. Sie warf einen Blick in ihren Schoß, aber dort war auch kein Seil zu sehen. Ihr Häscher hatte sie offensichtlich unterschätzt. Nun, er würde sich noch ganz schön wundern. Ihr Blick huschte hektisch umher, und ihre Gedanken überschlugen sich. Das Pferd lief in schnellem Galopp, aber der Sand würde weich sein, und das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Am besten unternahm sie jetzt gleich etwas, bevor die in ihr aufsteigende Angst voll und ganz Besitz von ihr ergriffen hatte.

Finde deinen Mut. Führe ihn wie eine Waffe.

Mit einem lauten Aufschrei rammte Rose den Ellbogen gewaltsam nach unten und sprang vom Pferd.

Erst beim Aufprall auf dem Sand wurde ihr bewusst, dass sie ihre Flucht nicht weiter als bis zu ihrem blitzartigen Abstieg geplant hatte. Außerdem – und das stellte sich nun als noch schwerwiegender heraus – hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Wüstensand so brennend heiß war. Oder dass sie barfuß war. Und in ihr Nachthemd gekleidet.

»Bei den leuchtenden Sternen!«, fluchte sie und hüpfte von einem Bein auf das andere.

»Das war ja richtig beeindruckend«, erklang eine Stimme über ihr.

Rose wirbelte zu ihrem Entführer herum. Er sah imposant aus, wie er so ganz in Schwarz gekleidet auf dem prächtigen Pferd saß. Sein Gesicht umgab wie ein Strahlenkranz der Schein der aufgehenden Sonne, und obwohl Rose seine Gesichtszüge nicht erkennen konnte, war ganz klar, dass es sich um irgendeinen Banditen handelte.

Ruhe bewahren, ermahnte sie sich, während ihr Herzschlag in ihren Ohren donnerte. Wenn Rose sich früher ihre eigene Entführung ausgemalt hatte, hatte sie in ihrer Fantasie jedes Mal eines ihrer hinreißendsten Kleider getragen, nicht ihr zweitliebstes Nachthemd und irgendeinen fremden Umhang, der aus grobem Stoff war und schrecklich stank. Und ganz so viel Sand hatte es in ihrer Vorstellung auch nicht gegeben.

Trotzdem musste sie in dieser Situation die Oberhand gewinnen, und zwar schnell. Sie war die Prinzessin und stand unter dem Schutz des großen und edlen Protektors; ihr würde kein Leid geschehen. Das sagte sich Rose, während sie die Schultern zurückrollte, obwohl in ihrer Brust immer noch Angst pochte. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid, aber ich verlange, dass Ihr mich umgehend zu meinem Palast zurückbringt.«

Der Bandit starrte sie nur an. Das Pferd wieherte verhalten. Eine Schweißperle tropfte von Roses Nase, und sie verzog das Gesicht. Eigentlich sollten Prinzessinnen nicht schwitzen. Allerdings hüpften Prinzessinnen auch nicht oft von einem Bein aufs andere, so wie sie es gerade tat, als könnte sie nicht anders, als irgendeinen peinlichen Bauerntanz aufzuführen.

»Auf der Stelle! Bringt mich auf der Stelle zurück!« Als sie mit dem Fuß auf dem heißen Sand aufstampfte, zuckte sie zusammen. »Das ist ein Befehl!«

»Herrje«, murmelte der Bandit. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung glitt er von seinem Pferd und trat einen Schritt auf sie zu.

»Halt! Halt, sage ich!« Rose hob eine Handvoll Sand auf, um ihn damit zu bewerfen.

Seufzend strich sich der Bandit das Haar nach hinten. Zum ersten Mal sah Rose sein Gesicht in aller Deutlichkeit. Er hatte dunkle Augen und hohe Wangenknochen und eine Kieferpartie, die wie aus Stein gemeißelt aussah. Seine Haut hatte einen goldbraunen Ton, und die langen Haare waren schwarz und wurden ihm von einem Lederriemen aus dem Gesicht gehalten. Aus der Nähe erkannte sie, dass er jünger war, als sie anfangs angenommen hatte: ungefähr in ihrem Alter.

Schlagartig wuchs ihre Zuversicht. Mit diesem Burschen würde sie schon fertigwerden.

Sie warf mit dem Sand nach ihm. »Ich gebe Euch eine letzte Chance. Auf die Knie, und erweist mir den nötigen Respekt. Dann gebt mir Euer Pferd, damit ich nach Hause zurückkehren kann, und dort werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Euer Strafmaß zu mildern.«

Der Bandit starrte sie weiter an. Diese Dreistigkeit! Doch sie begrüßte den Zorn, der in ihr aufstieg. Besser zornig, als verängstigt. Sie würde keinen Gedanken daran verschwenden, was sie tun sollte, falls er ihr nicht gehorchte. Sie räusperte sich. »Und außerdem werdet Ihr mir sagen müssen, in welche Richtung ich muss.«

Der Bandit wagte es, in Gelächter auszubrechen. Rose wurde noch erboster. Sie war Prinzessin Rose Valhart, und in einem Mond würde man sie zur Königin von Eana krönen. Eine Zielscheibe des Spotts war sie ganz gewiss nicht.

Und dennoch lachte der Bandit immer weiter.

Sie funkelte ihn zornig an. »Ihr müsst von einem Todeswunsch beseelt sein.«

»Prinzessin«, sagte er nachsichtig. »Wenn Ihr Euch dann besser fühlt, kann ich mich gern hinknien. Aber mein Pferd bekommt Ihr nicht. Sturm ist wie ich: ein wildes Wüstenkind.« Bei seinem Grinsen wurde ein Grübchen in seiner rechten Wange sichtbar. »Ihr wärt rettungslos überfordert.«

Eine Röte, die nichts mit der Hitze der Wüste zu tun hatte, stieg in Roses Wangen. »Wie könnt Ihr es wagen! Ich bin eine ausgezeichnete Reiterin, Ihr werdet schon sehen!«

»Nun, das Absteigen habt Ihr schon mal bestens hinbekommen.«

Rose spielte mit dem Gedanken, ihn noch einmal mit Sand zu bewerfen, überlegte es sich dann aber doch anders. Es schien nicht viel zu bewirken, was schade war, denn andere Waffen standen ihr unglücklicherweise nicht zur Verfügung. »Ich schwöre beim Großen Protektor, dass Eure Bestrafung mit jeder Minute, die Ihr verstreichen lasst, schlimmer wird.« Sie warf ihr Haar zurück und sprach lauter, um das Beben in ihrer Stimme zu kaschieren. »Und ich verlange zu erfahren, wer Ihr seid.«

Der Bandit strich sich übers Kinn, und Rose sah ihm an, dass er nur so tat, als ließe er sich ihren Befehl durch den Kopf gehen. »Euch zum Palast zurückzubringen, würde mein Vorhaben, Euch von dort fortzuschaffen, völlig zunichtemachen. Deshalb biete ich Euch einen Kompromiss an: meinen Namen.« Er verbeugte sich mit Schwung und so tief, dass seine Stirn beinahe den Sand berührte. »Ich heiße Shen Lo.«

Rose blickte auf ihn hinunter. »Warum habt Ihr mich entführt, Shen Lo? Seid Ihr auf Gold aus? Ich kann Euch Gold geben.« Sie wusste, dass sie mehr wert war als jeder andere Mensch im Land, viel mehr – schließlich war sie Eanas Zukunft. Deshalb wurde sie so scharf beschützt und stand stets unter den wachsamen Blicken ihrer Garde. Allerdings offenkundig nicht wachsam genug, überlegte sie säuerlich. Jetzt befand sie sich völlig auf sich gestellt in der Wüste und wurde lediglich vom Protektor geschützt.

Wenn sie sich ihre Freiheit erkaufen musste, dann würde sie es an Ort und Stelle tun, bevor sie noch weiter in die glühenden Weiten der Wüste Ganyeve vordrangen.

»Nun, Entführer?«, fragte sie den Banditen, der sich Shen Lo nannte. »Nennt Euren Preis!«

Mit einem Seufzen richtete er sich auf. »Ich will Euer Geld nicht, Prinzessin, und die Bezeichnung Entführer sagt mir leider gar nicht zu. Ich bin eigentlich eher ein Komplize. Shen der Mittelsmann, sozusagen. Ich bin bloß dafür zuständig, Euch von A nach B zu bringen.«

Rose musste gegen die in ihr aufsteigende Panik ankämpfen, als sie erkannte, dass sie sich ihre Heimkehr nicht erkaufen konnte und dass sich ihre Freiheit nicht durch einen Tauschhandel erreichen lassen würde. Lass dir deine Angst nicht anmerken. »Und wo bitte schön befindet sich Punkt B?«

»Das sage ich Euch, wenn wir dort sind«, lautete die wenig hilfreiche Antwort.

»Für wen arbeitet Ihr?«, wollte Rose wissen.

»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und müssen vor dem Mittag so weit wie möglich kommen«, fuhr er fort, als hätte er sie gar nicht gehört. »Wir dürfen nicht im Freien sein, wenn die Sonne in der Wüste hoch am Horizont steht. Dann ist es selbst mir zu heiß.« Er runzelte die Stirn und bedachte sie mit einem prüfenden Blick. »Und Ihr verwelkt jetzt schon.«

»Ich verwelke keineswegs«, krächzte Rose.

»Wie dem auch sei, wir müssen bis mittags die Goldenen Höhlen erreicht haben.«

»Wenn Ihr mich nicht zurückbringt, wird der Königsodem mich finden«, drohte sie. »Ich verfüge über ein ganzes Heer, das nur dazu da ist, für meine Sicherheit zu sorgen.«

»Nun, sonderlich gründlich erledigen sie ihre Aufgabe nicht gerade«, erwiderte Shen spitz. »Also ehrlich, ich hatte mir da eine größere Herausforderung erhofft.«

»Wenn sie mich finden – und sie werden mich finden –, werden sie Euch auf der Stelle töten«, sprach Rose nun weiter, als hätte sie ihn nicht gehört. »Es wäre viel besser für Euch, wenn Ihr mich selbst zurückbringt, denn dann wird der Königsodem vielleicht Gnade walten lassen.«

Shen spuckte auf den Boden. »Diese Drecksratte kann ihre Gnade stecken lassen. Für ihn wird es jedenfalls keine geben.«

Rose keuchte auf. »Schluss mit dieser unflätigen Ausdrucksweise! Wir sprechen hier von Eurem Königsodem! Wenn er Euch hören könnte, würde er Euch die Zunge herausschneiden. Und da er außerdem so etwas wie ein Vater für mich ist, würde er zuallererst Euren Kopf abschlagen, weil Ihr es gewagt habt, mich zu entführen.«

»Auf mich wirkt er eher wie ein Geiselnehmer. Kontrolliert er nicht alles, was Ihr tut?« Shen schnaubte verächtlich. »Ihr solltet Euch bei mir bedanken, weil ich Euch aus diesem Turm herausgeholt habe, Prinzessin.«

Roses Angst verglühte in ihrem auflodernden Zorn. »Ihr wisst nicht, wovon Ihr da redet, Bandit.« Eine Schweißperle glitt an ihrer Schläfe hinunter. In dieser schrecklichen Hitze fiel es ihr zunehmend schwer, die Fassung nicht zu verlieren. »Und Ihr habt offensichtlich keine Ahnung von dem Leid, das Ihr Euch einhandelt, wenn Ihr mich nicht unverzüglich zum Palast zurückbringt.«

Shens Augen funkelten. »Es überrascht mich, dass Ihr das Wort überhaupt kennt: Leid.« Einen Moment lang starrten die beiden sich wutentbrannt an. Dann stieß er ein Seufzen aus. »So amüsant es auch sein mag, mich mit Euch herumzustreiten, die Sache mit der Mittagssonne war doch ernst gemeint. Sturm ist schnell, aber so schnell nun auch wieder nicht. Also hoch aufs Pferd mit Euch!«

Rose wich einen Schritt vor ihm zurück. »Nein.«

Er hob den Kopf gen Himmel. »Sie wird die ganze Zeit schlafen, haben sie mir versichert. Wie praktisch, dass nun keiner da ist, um sich um die Prinzessin zu kümmern, wenn sie einen ganzen Tag zu früh aufwacht.« Er wandte sich wieder zu Rose. »Bringt mich nicht dazu, Euch zu jagen. Das wird uns beiden keine Freude bereiten.«

»Meine Wachen kommen mich holen«, sagte sie, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Ich gehe keinen Schritt weiter.«

»Niemand kommt Euch holen. Das garantiere ich Euch.«

Die Gewissheit in seinen dunklen Augen traf Rose wie ein Schlag. Zum ersten Mal seit ihrem Erwachen auf dem Pferd schlängelte sich echte Angst in ihr Herz. »Ihr lügt.«

Shen kam auf sie zu. »Zurück aufs Pferd, Prinzessin.«

»Seht nur!« Sie deutete über seine Schulter. »Da kommt schon der Hauptmann meiner Leibgarde.« Sie winkte.

Shen sah zurück und fluchte, als dort nichts war. »Nicht zu glauben, dass ich darauf hereingefallen bin.«

Sofort drehte er sich wieder um, doch Rose hetzte bereits im Nachthemd die Düne hinunter. Selbstverständlich hatte sie keinen Plan, aber ihre Leibgarde musste längst im Anmarsch sein. Sie konnten schließlich nicht allzu weit in die Wüste vorgedrungen sein. Und was der Bandit auch sagen mochte, der Palast würde sie sehr wohl holen kommen; wenn es sein musste, würden ihre Soldaten Eana Zentimeter für Zentimeter mit Spürhunden absuchen. Nun galt es bloß, den Banditen bis zu ihrem Eintreffen abzulenken.

»Rose! Stehen bleiben!« Unter dem verwirrten Blick seines Pferds oben auf der Düne jagte Shen zu Fuß hinter ihr her.

Rose lief immer weiter. Bei jedem Schritt sanken ihre Füße ein. Sie kam in Schwung – und zwar deutlich mehr als beabsichtigt –, und als der Sand auf einmal steil abfiel, verlor sie das Gleichgewicht.

Mit dem Gesicht nach unten landete sie im Sand.

Ihr entwich ein sehr undamenhaftes Ächzen.

»Aufstehen!«, rief Shen. »Schnell!«

So würdevoll wie möglich hob Rose den Kopf und spuckte einen Sandklumpen aus.

»Aufstehen!« Shen schrie immer hektischer, während er die Düne herunterraste.

Rose achtete nicht auf ihn. Von einem dahergelaufenen Banditen, Entführer und Wüstenräuber würde sie sich ganz bestimmt keine Befehle erteilen lassen. Sie würde sich in dem Tempo bewegen, das ihr beliebte. So langsam und anmutig wie möglich stand sie auf, doch ihre Beine waren voller Sand und zitterten. Sie zitterten sogar sehr stark.

Bei dem Versuch, sich zu beruhigen, wurde ihr mit aufsteigendem Entsetzen klar, dass nicht ihre Knie das Problem waren: Die Düne selbst bebte.

Auf einmal hatte sie einen Kloß im Hals. »Der Sand bewegt sich!«

»Das ist nicht der Sand! Es ist ein Blutkäfer!«

Die Düne begann, sich in einem Strudel um Rose zu drehen, und sie stieß einen gellenden Schrei aus. Scharfe, pechschwarze Scheren bohrten sich durch den Sand, warfen ihn in alle Richtungen, und dann tauchte der Rest des Geschöpfs als bebende dunkle Masse auf. Der Käfer war riesengroß, besaß einen harten Lederpanzer und ein Dutzend spindeldürrer Beine, die unter seinen schrecklichen glänzenden Scheren beinahe lächerlich winzig aussahen.

Rose wich taumelnd zurück.

Hinter ihr bewegte sich der Bandit wie ein Schatten – schneller, als sie es je bei einem Menschen gesehen hatte. Er flog durch die Luft, riss einen Dolch aus dem Stiefel und hielt ihn gen Himmel, während er über sie hinwegsprang und direkt vor dem Insekt landete. »Ich habe Euch doch gesagt, dass Ihr aufstehen sollt!«, rief er über die Schulter. »Blutkäfer können den Herzschlag spüren. Sie wittern den Schweiß und …«

Der Käfer griff an. Shen wich der Schere mit einem Rückwärtssalto aus. Rose keuchte auf, als er im nächsten Moment auf dem Kopf des Untiers landete und seinen Dolch mit einer zielsicheren, schwungvollen Bewegung in die fleischige Stelle zwischen den Augen rammte. Das Kreischen des Käfers zerriss die Wüstenluft, und Rose hielt sich die Ohren zu, während der Käfer wütend mit den Extremitäten um sich schlug und Shen mit den Scherenwerkzeugen angriff.

»Vorsicht!«, rief sie, aber es war zu spät – eine Schere fuhr quer über Shens Bein. Zwar zuckte der Bandit zusammen, und aus der Wunde quoll Blut, das sofort den Stoff seiner Hose durchtränkte, doch er hielt den Dolch fest und bohrte ihn tiefer in den Schädel des Käfers, bis das widerliche Untier endlich in einem leblosen Haufen auf dem Sand zusammensackte.

Rose befiel ein starkes Schwindelgefühl, und im ersten Moment glaubte sie, ohnmächtig zu werden. »Er ist tot«, hauchte sie. »Ihr habt ihn umgebracht.«

Shen glitt von dem Käfer herunter. Während des Kampfes war seine Goldkette aus dem Hemd gerutscht, und Rose bemerkte den Ring, der daran hing, bevor er sie hastig wieder in den Ausschnitt steckte. Eine Weile stand er schwer atmend da, dann wischte er den Dolch an seinem Hemd ab und steckte ihn zurück in den Stiefel. Er blickte zu Rose hoch. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht es g...gut.« Allerdings gelang es ihr diesmal nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie hatte Blutkäfer für Fabelwesen aus Märchenbüchern gehalten, nicht für Furcht einflößende reale Geschöpfe, die ihr den Tod bringen konnten. Welche anderen Gräuel versteckten sich sonst noch dort draußen in der Wüste? »Und Ihr … geht es bei Euch?«

»Alles in Ordnung«, sagte er kurz angebunden.

Ihr Blick fiel auf die klaffende Wunde an seinem Bein.

»Es geht schon«, sagte er mit Nachdruck. »Wir müssen weg von hier. Vielleicht kommen noch andere Blutkäfer – und Tiere, die gern Blutkäfer fressen, werden dieses tote Exemplar hier wittern.« Er spannte die Kieferpartie an. »Und glaubt mir, Prinzessin, wir wollen gegen nichts ankämpfen, das Blutkäfer frisst.«

Rose schluckte. »Dieses Ding hätte mich getötet.«

»Ohne Weiteres.«

»Ihr habt mir das Leben gerettet.«

Shen lachte heiser. »Rechnet mir das bloß nicht allzu hoch an. Ich würde mir viel Ärger einhandeln, wenn ich Euch von einem Blutkäfer töten ließe. Oder von irgendetwas anderem.« Er hob die Finger an die Lippen und pfiff so laut, dass Rose zusammenzuckte.

Sturm galoppierte die Düne hinunter.

»Hört mal, Prinzessin, selbst wenn der Palast Euch jemanden hinterherschicken würde, ist kein Pferd aus Eshlinn so schnell wie Sturm. Sie werden uns niemals einholen, denn falls es Euch nicht aufgefallen sein sollte: Wir befinden uns mitten in der Wüste.«

Rose ließ den Blick umherschweifen und versuchte, etwas am Horizont auszumachen. »Das ist unmöglich. Niemand durchquert die Wüste.«

Die Wüste Ganyeve lag wie eine eingerollte Schlange im Herzen der Insel Eana und war so gefährlich und Tod bringend wie der Biss einer Kobra. Die andere Seite erreichte man – jedenfalls unversehrt und in einem Stück – nur auf der staubigen Kerrcalstraße, die am äußeren Rand der Wüste verlief, die kleinen Wüstenstädte miteinander verband und bis zu den Fischerdörfern an der Küste führte. Keinem Eanäer, der noch bei Trost war, würde auch nur im Traum einfallen, mitten durch die Wüste zu reisen, denn das war der sicherste Weg in den Wahnsinn, oder den Tod – oft beides.

Und dennoch … so weit ihr Blick reichte, war da nichts und niemand. Wo war der mächtige Glockenturm von Gallanth, dem Sonnenaufgangsdorf im Osten? Oder die Stadt Dearg mit ihren berühmten roten Mauern? Von hier waren noch nicht einmal die Schatten des Mishnickgebirges zu erkennen. All die Orte, die sie zwar nie mit eigenen Augen gesehen, die sie sich jedoch beim Studium der Landkarten ihres Reiches eingeprägt hatte: Orte, die ihr gehörten und die sie eines Tages besuchen würde, das hatte sie sich geschworen. Wenn sie erst einmal Königin war.

Doch hier gab es nur Himmel und Sand.

Und Shen Lo.

Er grinste. »Ich wurde in dieser Wüste geboren und bin schon viele Male hindurchgeritten, Prinzessin. Ich kenne sie wie meine Westentasche.«

Rose musterte den Banditen mit neuen Augen. Ihr war immer beigebracht worden, eine Wüstendurchquerung sei unmöglich, doch hier stand nun dieser unausstehliche Bursche – kaum älter als sie – und behauptete, ihm sei es gelungen. Mehrmals. Und noch unmöglicher: dass er jetzt gerade die Wüste durchquerte, mit ihr.

Ihre Überraschung wich Argwohn. »Was habt Ihr mit mir vor, Shen Lo?«

Shen sah ihr in die Augen und starrte sie mit einer Unverfrorenheit an, zu der sich noch nie jemand erdreistet hatte. »Nichts.«

Rose runzelte die Stirn. »Ich begreife nicht …«

»Begreift Folgendes«, sagte er. »Ich verspreche Euch, dass Euch kein Leid geschehen wird. Könnt Ihr versuchen, mir zu vertrauen?«

Sie schluckte schwer und verfluchte insgeheim ihre immer noch zitternden Glieder. Wenn sie jetzt nicht mit ihm ging, würde sie in dieser Wüste sterben. Sie musste am Leben bleiben, bis sich ihr eine Fluchtmöglichkeit bot. »Na schön. Aber nur vorläufig.«

»Vorläufig reicht schon.« Shen kniete im Sand und bot ihr sein Bein zum Aufsteigen an.

Sie stolzierte an ihm vorbei. »Ach, bitte. Aufsteigen kann ich schon allein.« Mit diesen Worten sprang sie auf den Rücken des Pferds. Sie landete gekonnt, beugte sich vor und kraulte Sturm zwischen den Ohren.

Shen sprang hinter ihr auf. »Ist es nicht einfacher, wenn wir uns vertragen?«

Sein Atem kitzelte in Roses Nacken. Ihr Rückgrat versteifte sich, und in dem Augenblick schwor sie sich das eine: Sie würde diese Entführung überleben, und wenn sie wieder zu ihrem Thron zurückkehrte, wenn sie wieder die Macht innehatte, würde sie diesen Mann bezahlen lassen.

Shen schlang einen Arm um ihre Taille. »Festhalten, Prinzessin«, sagte er, und sie ritten weiter über den Ruhelosen Sand.

5

Wren

Weit nach Sonnenaufgang wurde Wren von lautem Klopfen geweckt. Kerzengerade fuhr sie im Bett hoch und wischte sich einen Spuckefaden vom Kinn. Unter normalen Umständen wäre längst das Schreien der Möwen im Morgengrauen durch ihre knarzenden Wände zu hören, und die Kinder von Ortha hätten bei ihr angeklopft, um mit ihr zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Doch der Himmel über Anadawn war stumm, und irgendwie hatte sie tatsächlich verschlafen. Verrotteter Karpfen!

Sonnenschein durchflutete das Zimmer wie warmer Sirup. Wren sprang aus dem Bett und warf einen raschen Blick in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass ihr Zauber noch anhielt. Da eilte eine Frau mit rundem Gesicht und grauem Kraushaar vornübergebeugt ins Zimmer. Sie hielt eine gewaltige Kupferkanne in den Armen. »Guten Morgen, Prinzessin Rose«, sagte sie, und ihre blauen Augen funkelten. »Es sieht Euch gar nicht ähnlich, so lang zu schlafen. Muss ja ein schöner Traum gewesen sein?«

Zeit für ihren Auftritt.

Wren warf die Haare zurück und räusperte sich. »Ach, einfach wunderschön«, jauchzte sie. »Ich habe geträumt, ich wäre auf einem wilden Rappen über den Ruhelosen Sand galoppiert!«

Die alte Frau sah sie blinzelnd an, und das Herz in Wrens Brust schlug langsamer. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während ihr Schicksal auf Messers Schneide stand, und dann warf die alte Dienstbotin den Kopf in den Nacken und brach in lautes, heiseres Gelächter aus.

»Du meine Güte! Klingt nach einem Albtraum. Die Sonne dort würde mich bei lebendigem Leibe backen!« Unter glucksendem Lachen eilte sie durchs Zimmer und verschwand durch einen schmalen Torbogen in eine angrenzende Badekammer. »Euer Bad ist gleich fertig, meine Liebe.«

Triumphierend kicherte Wren, ganz die sorglose Prinzessin. »Wie wunderbar! Danke …« Sie erstarrte mitten im Satz. Ihr Name. Wie lautete noch mal ihr vermaledeiter Name? Wren hatte ihn abgespeichert, aber ihr Verstand war immer noch benommen vom Schlaf. Denk nach! Im Vorfeld hatte sie alles auswendig gelernt – die Namen und Beschreibungen von Roses innerem Kreis, die Menschen, die sie täuschen musste, um es bis zu ihrer Krönung zu schaffen – und hatte sie ihrer Großmutter jeden Abend fünfmal aufgezählt. Celeste? Nein. Cam? Das ist der Koch. Oh! Sie heißt … »AGNES!«

Agnes’ Kopf tauchte im Torbogen auf. »Was ist los, Prinzessin? Wieder eine Flussspinne?« Fieberhaft suchte sie mit den Blicken den Boden ab. »Eine Waldschabe? Ich werde nach Emory rufen.«

Wren räusperte sich. »Ich … ach, nein. Nein, alles in Ordnung. Ich wollte mich bloß bedanken.«

Und ich bin ganz bestimmt nicht auf einen Mann angewiesen, der mich vor einem harmlosen Kriechtier rettet.

Agnes’ Miene besagte etwas anderes, und sie seufzte erleichtert auf, ehe sie sich wieder daranmachte, Wrens Bad einzulassen. Wren nutzte den Augenblick, um ihren Dolch zu verstauen, der unter dem Kopfkissen hervorlugte.

Vor ihrem geistigen Auge blickte Wrens Großmutter sie zornig an. Eine unachtsame Hexe ist eine tote Hexe.

Als kleines Mädchen in Ortha war Wren jeden Tag mit einer anderen jungen Hexe namens Lia schwimmen gegangen. Auch Lia war eine Zauberin. Sie liebte das Meer so sehr, dass Wren sie an den meisten Tagen zum Mittagessen zurück an den Strand schleifen musste. Doch eines Morgens, als Wren noch schlief, ritzte Lia sich mithilfe eines Zauberspruchs Kiemen in den Hals und verwandelte sich in eine Meerjungfrau. Sie drang bis weit in die Tiefen des Ozeans vor und schwelgte so in ihrer Freude, wie ein Fisch zu schwimmen, dass sie vergaß, an die Oberfläche zurückzukehren und den Zauber zu erneuern. Als ihr aufgedunsener Leichnam schließlich an den Strand gespült wurde, ließ Banba ihn dort als Mahnmal für die anderen jungen Hexen drei Tage lang in der Sonne rösten.

Eine unachtsame Hexe ist eine tote Hexe.

Das würde Wren niemals vergessen.

»Euer Bad schäumt vor sich hin, Prinzessin!« Agnes warf ihr vom Türrahmen aus ein Grinsen zu. »Ich hole Euer Frühstück, während Ihr badet. Irgendwelche besonderen Wünsche heute Morgen?«

»Ach … bloß das Übliche!«

Wren wartete ab, bis Agnes fort war. Dann riss sie sich das Nachthemd vom Leib und ließ sich mit einem wohligen Stöhnen in die Wanne sinken. Das Wasser war weich und seifig und wunderbar warm – etwas völlig anderes als das salzige Brennen des Ozeans. Wenn das hier nötig war, um jeden Morgen Prinzessin Rose zu sein, dann hatte Wren kein Problem damit. Nachdem sie jede Seifenblase zum Platzen gebracht und im Wasser gelegen hatte, bis ihre Finger runzlig wurden, zog sie ein Seidengewand über und fand bei der Rückkehr in ihr Schlafgemach ein regelrechtes Festmahl vor. Sie lachte in sich hinein.

Das hier war Roses übliches Frühstück?

Ihre Schwester hatte definitiv Geschmack.

Von Appetit ganz zu schweigen.

Es gab verzierte Schüsseln mit Blaubeeren und Himbeeren, Weintrauben, noch an der Rebe, und Granatäpfel, die so intensiv schmeckten, dass Wren eine Handvoll nach der anderen verspeiste. Als Nächstes ein Teller mit dicken Roggenbrotscheiben, warm und mit Butter bestrichen, dazu frische Marmelade und Honig zum Beträufeln. Es gab frisch gepressten Orangensaft und einen winzigen Becher schwarzen Kaffee, der so stark war, dass Wren ihn durch ihren Blutkreislauf schießen spürte.

Nach dem Frühstück hatte Wren das Gefühl, gleich platzen zu müssen, und riss das Fenster auf, um die Morgenbrise hereinzulassen. Es war spät im Frühling, und in der Hauptstadt Eshlinn, wo sich der weiße Palast Anadawn befand, standen die Blumen in voller Blütenpracht. Die Bäume außerhalb der Palastmauern wiegten sich träge in der Morgensonne. Draußen im Palasthof breitete auf einer smaragdgrünen Flagge ein goldener Falke im Flug die Flügel aus. Das Wappen von Eana kräuselte sich stolz.

Vor vielen Hundert Jahren, lange vor Wrens Geburt und noch ehe das Königreich den Hexen geraubt worden war, war eine Frau auf dem Falken geritten. Doch das Wappen war, wie so vieles in Eana, vom Protektor verändert worden. Nun wurde er in diesen Gefilden immer noch als der Erste in einer langen Reihe sterblicher Valhart-Herrscher verehrt, und neuerdings wurde seine Mission, das Land von Hexen zu befreien, von dem hinterhältigen Königsodem Willem Rathborne, Roses Vormund und Mentor, wiederbelebt. Ein Mann, dessen Tage gezählt waren.

Doch zunächst hatte Wren größere Sorgen.

Sie saß an dem Frisiertisch, um ihren Zauber zu erneuern. Mithilfe einer Prise Sand aus Ortha und ein paar sorgfältig gewählter Worte würde sie den Rest des Tages wie Rose aussehen. Von den fünf Zweigen der Hexenkunst benötigten lediglich Zauberinnen Erde im Tausch für ihre Zauber. Es war eine schwierige Kunst, und so griff Wren auf Reime zurück, um ihre Zauber in die richtigen Bahnen zu lenken. Mit genug Übung würde sie eines Tages allerdings keine Wörter mehr benötigen, sondern nur die Kraft ihrer Gedanken.

Heilerinnen wie Thea setzten ihre eigene Energie für ihre Kunst ein. Krieger wie Shen kamen leichtfüßig auf die Welt und bezogen ihre Kraft von der Sonne. Gewitterhexen wie Banba webten ihre Stürme aus einem Strang Wind und schufen aus einem einzigen Blitzfunken ganze Infernos, und Seherinnen wandten sich für ihre Visionen zum Nachthimmel – ein offener Raum, wo die Starcrestvögel zwischen den Sternen Muster der Zukunft beschrieben –, auch wenn diese Kunst so selten vorkam, dass Wren noch nie einer Seherin begegnet war.

Wren war eine begabte Zauberin, aber einen Großteil ihrer Kindheit hatte sie sich danach gesehnt, eine Gewitterhexe wie Banba zu sein. Mit der Zeit hatte sie gelernt, in ihrer Kunst das Bestmögliche zu erreichen und nicht nur zu akzeptieren, wer sie war, sondern auch, woher sie kam.

Schließlich war Wrens Mutter eine Zauberin gewesen. Wren war mit den Geschichten über Lillith Greenrock aufgewachsen, einer einfachen Palastgärtnerin, die eines Tages im Rosengarten des Königs gewesen war, und schon bald darauf in seinem Herzen. Und obwohl ihre Mutter an diesem kalten und feindseligen Ort den Tod gefunden hatte, weil sie eine Hexe war, war Wren froh, dass sie selbst die gleiche Gabe in sich trug – dass sie überhaupt Magie besaß.

Prinzessin Rose hingegen war keine Hexe, sondern hatte von Lillith lediglich die grünen Augen und ihre Sanftmut geerbt. Jedenfalls hatte Wren sich ihre Schwester immer so vorgestellt. Wie sollte sie auch anders sein, wo sie doch völlig verweichlicht in ihrem kostbaren Turm aufgewachsen war? Mit Dienstboten, die ihr Bäder einließen, und Lakaien, die Spinnen für sie entsorgten! Wren hingegen war alles andere als sanftmütig: Sie war ein Unwetter, das Banba zusammengebraut hatte, und wenn sie erst einmal die Krone von Eana auf dem Haupt trug, würde sie jegliche Erinnerung an den schrecklichen Protektor und all seine Anhänger austreiben.

Da es schon spät wurde, durchquerte Wren das Zimmer und riss den Kleiderschrank ihrer Schwester auf. Wenn man an den Wisperwindklippen hauste, waren Kleider unzweckmäßig und schlimmstenfalls sogar lebensgefährlich, aber nun, mit der ungestümen Freude eines Kindes, das in einer Verkleidungskiste wühlte, durchstöberte sie die erlesensten Gewänder von ganz Eana.

Sie entschied sich für ein Kleid aus kornblumenblauer Seide, dessen Mieder kunstvoll mit weißen Blüten bestickt war – und praktischerweise kehrte genau in diesem Moment Agnes zurück. Die alte Frau plapperte vor sich hin, während sie ihr beim Ankleiden half, und es wunderte Wren, dass ihre Schwester einen derart freundlichen Umgang mit ihrer Dienerin gepflegt hatte. Allerdings gelang es ihr nicht, sich auf ein einziges Wort der Unterhaltung zu konzentrieren. Nur auf das verzweifelte Keuchen ihres eigenen Atems, als die Bänder ihre Taille immer enger einschnürten. Setzte sich ihre Schwester jeden Tag aufs Neue dieser Tortur aus? Wenn Wren erst Königin war, würde sie den leidgeprüften Adelsfrauen von Eana unbedingt ein einfaches Wunder offenbaren müssen: die Hose.