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Nach ihrem Sieg gegen Willem Rathbone regieren die Zwillingsschwestern Rose und Wren gemeinsam über Eana. Doch nicht jeder im Königreich ist glücklich darüber, dass nun Hexen an der Macht sind. Diplomatin Rose versucht, auf einer Rundreise die Herzen ihrer Untertanen zu gewinnen. Doch dann taucht plötzlich ein Botschafter aus einem lange verloren geglaubten Wüstenkönigreich auf und bittet Rose um Hilfe. Was sie in der Wüste findet, stellt ihre Loyalität auf eine harte Probe.
Die rebellische Hexe Wren macht sich auf die Suche nach ihrer Großmutter Banba. Die Spur führt ins Nachbarreich Gevra. König Alarik ist bereit, Banba im Tausch gegen einen so mächtigen wie tödlichen Zauberspruch freizulassen. Wren willigt ein – mit ungeahnten Folgen für ganz Eana.
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Dreizehn Tage ist es her, seit die Zwillingsschwestern Rose und Wren den Thron bestiegen haben. Seitdem herrschen die Prinzessin und die Hexe gemeinsam über Eana – doch die ersten Krisen lassen nicht lange auf sich warten. Zu lange vergiftete Willem Rathbone die Gedanken der Menschen mit seinen Vorurteilen gegenüber Hexen, sodass das Volk nicht gerade begeistert ist, nun zwei davon auf dem Thron zu sehen. Außerdem wurde Banba, die Großmutter von Rose und Wren und Anführerin der Hexen, von einem Soldaten aus dem Nachbarreich Gevra entführt. Während Rose zu einer Reise durch Eana aufbricht, um die Menschen auf ihre Seite zu ziehen, begibt sich Wren nach Gevra, um Banba zu befreien. Bald schon stehen die Zwillingsschwestern vor den schwersten Entscheidungen ihres Lebens – und müssen ungeheuren Mut beweisen, wenn sie sich und ihr Königreich retten wollen …
Catherine Doyle wurde 1990 im Westen Irlands geboren. Sie hat Psychologie und Englisch studiert. Als Kind war sie eine nervende kleine Besserwisserin und hatte eine überbordende Fantasie. Sie ist froh, dass sie durch das Schreiben all ihre Ideen in Geschichten verwandeln kann.
Katherine Webber wurde 1987 in Südkalifornien geboren und wuchs in Hongkong, Hawaii und Atlanta auf. Sie studierte Komparatistik und Chinesische Literatur und arbeitete unter anderem als Übersetzerin, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Neben dem Reisen gehören Bücher und gutes Essen zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, denen sie in London nachgeht, wo sie mit ihrer Familie lebt.
KATHERINE WEBBER
CATHERINE DOYLE
Roman
Aus dem Englischen von
Ute und Beate Brammertz
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
CURSED CROWN
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Deutsche Erstausgabe 01/2024
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2023 by Catherine Doyle and Katherine Webber
Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Kim Hoang, Guter Punkt, München,
unter Verwendung einer Illustration von Kim Hoang und Bildern
von iStockphoto (Jules_Kitano, alex_skp, dutourdumonde, higyou)
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-29012-2V001
Für Prinzessin Claire,
eine königlich gute Agentin
und eine noch bessere Freundin
Brecht das Eis, um den Fluch freizusetzen.
Tötet einen Zwilling, um den anderen zu retten.
Wren
Wren Greenrocks Krone saß viel zu eng. Der Reif drückte an ihren Schläfen und presste sich in ihren Schädel. Sie versuchte, das Gesicht nicht vor Schmerz zu verziehen, während sie auf dem Balkon des Anadawn-Palasts neben ihrer Zwillingsschwester stand und den Blick über das Königreich schweifen ließ, um das sie so hart gekämpft hatten. Wren konnte immer noch nicht recht glauben, dass es ihr gehörte. Oder zumindest zur Hälfte. Rose und sie wollten es sich teilen.
Dennoch waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Den ganzen Morgen über hatte sie diesem Moment voll Sorge entgegengefiebert und sich innerlich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Angesichts der Ereignisse der vergangenen Tage mit dem bedauerlichen Tod von Roses Verlobtem, Prinz Ansel von Gevra, an ihrem Hochzeitstag, rasch gefolgt von dem willkommenen Ableben Willem Rathbornes, dem verräterischen Königsodem, hatte Wren keine große Besucherschar erwartet, zumindest keine frohlockende. Doch ein jubelndes Menschenmeer hatte sich direkt vor dem goldenen Tor versammelt. Feiernde aus der nahe gelegenen Stadt Eshlinn und auch von weiter weg waren herbeigeströmt, um den Zwillingen bei ihrer Krönung zu huldigen. Die Menschenmenge war so riesig, dass sie sich bis zum Wald drängte. Tausende grinsende Gesichter spähten zu dem weißen Palast hinauf, ihre Beifallsrufe erhoben sich in der Sommerbrise. Sie waren gekommen, um Wren und Rose zu feiern, die neuen Zwillingsköniginnen von Eana.
Die Zwillinge standen ihrerseits in ihren prächtigsten Gewändern und mit nagelneuen Kronen auf dem Balkon und aalten sich in der Verehrung ihres Volks wie in warmem Sonnenschein. Gemeinsam strahlten sie wie ein Leuchtfeuer – das Versprechen einer neuen Ära, in der Hexen und das nicht magische Volk von Eana Seite an Seite in Harmonie leben und sämtlicher uralter Aberglaube und jegliches schwelende Misstrauen endlich begraben sein würden. Es war ein Tag der Verheißung und grenzenlosen Möglichkeiten. Oder zumindest wäre er das gewesen, hätte Wrens Kopf nicht wie eine Trommel gehämmert.
»Schau nicht so finster«, zischte Rose aus dem Mundwinkel. »Sie werden noch glauben, du seist unglücklich.«
Wren blickte ihre Schwester von der Seite an. Roses Lächeln war breit und strahlend. Seit fast einer Stunde war es um keine Spur blasser geworden. Genauso lang winkte sie jetzt auch schon, die Hand hoch über dem Kopf, damit jeder Mann, jede Frau und jedes Kind es von dort unten sehen konnte und sich willkommen fühlte. Geschätzt. Rose war in dieser Hinsicht ein Naturtalent. Sie war dafür geboren.
Noch nie im Leben war sich Wren so sehr wie eine blutige Anfängerin vorgekommen. Anfangs war ihr das Lächeln leichtgefallen, denn ihre Überraschung angesichts des Jubels beim Öffnen der Balkontüren hatte eine Woge der Erleichterung in ihr ausgelöst. Doch jetzt ging ihr allmählich die Energie aus. Sie hatte so lange gelächelt und gewinkt, dass ihr Arm ganz müde war. Sie war müde. Das war kein Wunder, denn immerhin war sie bei den Hexen auf den windumtosten Stränden von Ortha im Westen aufgewachsen, weit weg vom Pomp und Zeremoniell des Anadawn-Palasts und all der Geduld und Etikette, die von einer Prinzessin erwartet wurden. »Wie lang müssen wir hier draußen noch stehen?«, maulte sie. »Das ganze Winken macht mich hungrig. Außerdem tut mein Kopf weh.«
Rose packte Wrens freie Hand. Sie drückte zu, und eine warme Woge schoss Wrens Arm hinauf. Heilende Magie. Einen Herzschlag später waren Wrens Kopfschmerzen verschwunden.
»Na also.« Rose atmete tief aus, während sie ihre Schwester losließ. »Und jetzt keine Klagen mehr.«
Wren setzte wieder ein Lächeln auf und winkte weiter. Ihrem Kopf ging es besser, aber ihre Brust war immer noch wie zugeschnürt. Trotz ihrer heilenden Magie konnte Rose den Kummer nicht beheben, der ihrer Schwester auf dem Herzen lag. Er erblühte in Wrens Innerem wie eine dunkle Blume und erinnerte sie an Banba. Gerade einmal ein Tag war vergangen, seit ihre furchtlose Großmutter mit den stählernen Augen von König Alarik und seinen skrupellosen gevranischen Soldaten aus der brennenden Gruft des Protektors verschleppt worden war. Ehe Wren ihr zu Hilfe eilen konnte, hatte man sie auf ein Schiff gebracht. Ihre letzten Momente quälten Wren jetzt in jeder wachen Sekunde, und die Ungerechtigkeit der Ereignisse wand sich wie eine Schlange in ihren Eingeweiden.
Genau wie ihre Großmutter es immer gewollt hatte, war Wren Königin geworden, aber nun war Banba nicht hier, um es zu bezeugen. Sie war nicht hier, um sie zu unterstützen. Stattdessen war sie eine Gefangene von König Alarik, dem jungen, wilden König des Nordkontinents, der eine dunkle Faszination für Hexen hegte. Doch Wren war fest entschlossen, Banba zu Hilfe zu eilen. Sie hatte sich – und auch Rose – geschworen, einen Weg zu finden, um ihre Großmutter aus dem eisigen Schlund von Gevra zu befreien.
Und zwar sobald sie endlich nicht mehr lächeln und winken musste.
Wren entging nicht, dass Roses Blick nach unten in den Innenhof glitt, wo Shen Lo am Rand des Springbrunnens lehnte, der den Zugang zum inneren Palast markierte. Einen Arm hatte er quer über die Stirn gelegt, um seine Augen vor der Sonne zu beschatten, der andere hing im kristallklaren Wasser.
Das Grinsen in seinem Gesicht verriet Wren, dass er nicht schlief. Sie musste seine Augen nicht sehen, um zu wissen, dass er den Anblick von Rose genoss, die in ihrem natürlichen Lebensraum erstrahlte – und den von Wren, die wie ein Fisch an Land zappelte.
»Wren, sieh nur!«, quietschte Rose und packte erneut die Hand ihrer Schwester. »Sie werfen Blumen über die Tore!«
Wren blickte gerade noch rechtzeitig hoch, um eine leuchtend rote Rose zu erspähen, die im Innenhof landete. Und dann noch eine und noch eine. Ein ganzer Blumenstrauß lag nun auf den Steinen verstreut – rosa und gelb und rot und violett –, und immer mehr segelten über die Mauern. »Rosen«, kicherte Wren. »Sie lieben dich wirklich sehr.«
»Sie werden auch dich lieben«, sagte Rose und warf der Menschenmenge Kusshände zu. Beifallsrufe erhoben sich. Rose vollführte eine elegante Drehung, dann eine zweite. »Sobald sie dich richtig kennengelernt haben.«
»Solange sie nicht anfangen, tote Wren-Vögel über die Mauern zu schleudern.«
»Ach, sei kein solcher Griesgram!«
Wren beeilte sich, der Menschenmenge übertrieben Kusshände zuzuwerfen. Ein weiteres Jauchzen und Schreien ertönte. Unten im Innenhof lachte Shen, und seine Zähne blitzten im Licht der Nachmittagssonne auf.
»Das ist alles wirklich zu einfach«, sagte Wren und warf den Zuschauern weitere Kusshände zu. »Vielleicht sollte ich ein Rad schlagen.«
Rose packte ihre Schwester am Ellbogen. »Wage es ja nicht!«
Wren brach in Gelächter aus.
Genau in dem Augenblick stürzte die Menschenmenge vor und brachte die Torflügel zum Ächzen. Arme streckten sich durch die goldenen Gitter und suchten nach mehr Platz, als eine einzelne vergammelte Tomate über die Mauer segelte. Das Gemüse flog wie in Zeitlupe und wurde immer größer, während es auf sie zutrudelte. Glücklicherweise verlor die Tomate kurz vor der Balkonbrüstung an Schwung und landete mit einem lauten Platschen im Innenhof.
Ein abgehackter Schrei erscholl über dem Jubel. »WEGMITDENHEXEN!«
Unten im Innenhof schoss Shen in die Höhe.
Roses Lächeln schwand.
Wren hörte mit dem Winken auf. »Ich schätze, wir sind fertig für heute.«
»Achte nicht darauf«, sagte Rose, die rasch die Fassung wiedergewann. »Es ist nur eine Tomate.«
»Zwei«, erwiderte Wren, während eine weitere vergammelte Frucht über das Tor flog, und beobachtete, wie Shen durch den Innenhof flitzte, um den Aufwiegler in der Menschenmenge ausfindig zu machen beziehungsweise zu erkennen, ob es mehr als einer war. Der Pulk an Zuschauern drängte immer noch weiter vor, als würde etwas – oder jemand – sie schubsen.
Als die zweite Tomate im Springbrunnen landete, trat Rose vom Balkon zurück. »Na schön«, sagte sie und warf den Zuschauern theatralisch einen letzten Handkuss zu. Weiterer Jubel schwoll an und übertönte den nächsten Schrei, aber Wren hätte schwören können, dass sie das Wort »Hexe« in der Brise vernahm. Die Zwillinge verließen den Balkon, wobei sie demonstrativ ein fröhliches Lachen aufsetzten, bis sie in der Sicherheit des Thronsaals angelangt waren und die Balkontüren hinter ihnen laut ins Schloss fielen.
Wie auf ein Kommando hin stellten sie das Lachen ein.
»Nun, das war beunruhigend«, sagte Wren.
Rose rümpfte die Nase. »Was für eine Vergeudung von bestimmt noch genießbaren Lebensmitteln.«
»Ich wusste doch, dass der ganze Jubel zu schön war, um wahr zu sein.« Wren fuhr sich mit den Händen durchs Haar und setzte ihre Krone ab. Na also. Viel besser. »Eana will nicht von Hexen regiert werden, Rose. Noch nicht einmal von einer, die sie kennen.«
Rose wischte die Bedenken ihrer Schwester beiseite. »Ach, ich bitte dich! Dieser kleine Protest hätte nicht mal für eine Schüssel Tomatensuppe gereicht. Es gibt keinen Grund, gleich so dramatisch zu reagieren.«
Doch Wren konnte nichts dagegen tun. Ohne Banba an ihrer Seite erschien ihr alles verzerrt und falsch. Da war ein Loch in ihrem Magen, und diese vier schlichten Worte – WEGMITDENHEXEN – machten die Sache nur schlimmer.
»Ich will nur realistisch sein.« Während Wren zum Thron marschierte, hallten ihre Schritte laut wider. Der Raum, dessen Decke leuchtendes Blattgold zierte, war der größte Saal im gesamten Palast. An den Wänden hingen vergoldete Ölgemälde, und smaragdgrüne Wandbehänge verliehen der riesigen Halle einen Hauch Wärme. Vor wenigen Stunden war der Thronsaal mit Gesandten und Adligen aus allen Winkeln des Landes – sowie den Ortha-Hexen – bis zum Bersten gefüllt gewesen, doch jetzt war er abgesehen von den Zwillingen und den Wachen, die für ihren Schutz sorgten, menschenleer.
Wren sank auf den mit Samt verkleideten Thron und kniff sich, um ihre wild tosenden Gedanken zu beruhigen, in den Nasenrücken. Willem Rathborne mochte tot sein, doch er hatte ihnen ein Vermächtnis aus Schwierigkeiten hinterlassen. Der böse Königsodem hatte achtzehn Jahre lang den gleichen Hass wie der längst verstorbene Protektor des Königreichs gepredigt und das Land mit seinen vergifteten Worten gegen die Hexen aufgebracht. Um das alles ungeschehen zu machen, mussten Wren und Rose mehr tun, als ein paar Stunden von einem Balkon herabzuwinken. Und bis ihnen das gelungen war, mussten sämtliche Hexen, die erst vor wenigen Tagen aus Ortha angereist waren, in Anadawn bleiben, wo sie vor all jenen im Königreich beschützt werden konnten, die ihnen immer noch Böses wollten.
Wren massierte den neuen Schmerz in ihren Schläfen. Wäre ihre Großmutter hier, wüsste sie genau, was zu tun sei. Banba würde die Hände auf Wrens Schultern legen und ihr mit ein paar wenigen, ausgesuchten Worten Mut zusprechen, so wie nur sie es vermochte.
»Du denkst gerade an Banba, nicht wahr?« Unvermittelt stand Rose vor Wren und hatte den gleichen besorgten Ausdruck im Gesicht. »Kein Wunder, dass du so angespannt bist. Ich habe dir doch schon gesagt, wir holen sie zurück.«
»Wann?«, fragte Wren ungeduldig. »Wie?«
»Ich werde einen taktisch klugen Brief an König Alarik schreiben. Als Monarchin an einen anderen Monarchen«, erwiderte Rose mit so viel Selbstsicherheit, dass Wren zu hoffen wagte, es könnte klappen. »Es würde mich nicht wundern, wenn die Emotionen nach dem Tod des armen Ansel immer noch hochkochen.« Bei der Erwähnung des Prinzen zuckte Rose zusammen, was zweifellos der Erinnerung geschuldet war, wie verzweifelt – wenn auch erfolglos – sie versucht hatte, ihn zu retten. »Möglicherweise wirken ein bisschen Diplomatie … und eine wohlformulierte Entschuldigung Wunder. Mal sehen, ob er wegen Banbas Freilassung nicht doch mit sich verhandeln lässt. Sobald sich die Menschenmenge zerstreut hat, werde ich augenblicklich zu den Stallungen gehen.«
»Ich komme mit.«
»Es wäre mir lieber, wenn du die Diplomatie mir überlässt.« Rose tätschelte ihrer Schwester die Hand. »Eine Königin magst du nun sein, aber es wird eine Weile dauern, bis du lernst, was es heißt, sich auch königlich zu benehmen.«
Wren funkelte ihre Schwester böse an. »Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?«
»Das heißt, dass ich den Dolch sehen kann, der aus deinem Mieder hervorlugt, und ich weiß, dass du einen weiteren um deinen Knöchel geschnallt trägst«, sagte Rose gutmütig. »Und bei dieser heiklen Verhandlung, meine liebste Schwester, wird die Feder viel mächtiger sein als das Schwert.«
»Na schön. Aber wenn du dich täuschst und Banba etwas zustoßen sollte, werde ich ein großes, schimmerndes Schwert durch das eiskalte Herz von Alarik Felsing rammen.«
»Oh, Wren, ich täusche mich nie.« Rose hob ihre Röcke an, rauschte davon und warf ihrer Schwester über die Schulter ein einnehmendes Lächeln zu.
Rose
Eine knappe Stunde, nachdem Rose ihren Brief an König Alarik verfasst hatte, schritt sie hocherhobenen Hauptes durch die Palastgänge. Lächelnd nickte sie vorbeikommenden Dienerinnen und Soldaten zu und tat so, als verliefe alles perfekt nach Plan – als hätte ihre Herrschaft nicht einfach grauenvoll begonnen.
Im Thronsaal hatte sie für Wren, deren Reizbarkeit stets auf Messers Schneide stand und sich jederzeit in einem Wutausbruch entladen konnte, eine tapfere Miene aufgesetzt. Doch im Lauf des Tages spürte Rose die kalte Zunge der Angst, die an ihren Zehen leckte, und sie wusste, wenn sie ihr klein beigäbe, würde sie mit Haut und Haaren von ihr verschlungen werden.
Weshalb sie der Angst einfach einen Tritt versetzte, so wie sie es schon immer getan hatte.
Da sich die Menschenmenge nun zerstreut hatte, brauchte Rose frische Luft und einen Moment, um sich wieder zu sammeln. Allmählich war es, als kämen die Steinmauern von Anadawn immer näher und als würde sie auf ewig dort gefangen sein, wenn sie nicht sofort aus dem Palast verschwand.
Hastig stemmte sie sich gegen die Tür, die hinaus in den Innenhof führte, doch sie ließ sich keinen Zentimeter bewegen. Rose biss sich auf die Zunge, um nicht frustriert aufzuschreien. Als sie mit der Schulter dagegendrückte, verzog sie schmerzgepeinigt das Gesicht. Nach einem letzten kräftigen Schubs öffnete sich die Tür ächzend. Und dann war sie endlich im Freien, an der frischen Nachmittagsluft.
Rose schlenderte in ihren Garten, sogleich besänftigt von der vertrauten Süße ihrer Rosen. Die Blumen standen jetzt in voller Pracht, ein wahres Blütenmeer, als versuchte jede von ihnen, die nächste auszustechen. Schließlich blieb sie vor einem leuchtend gelben Rosenbusch stehen, schloss die Augen und atmete seinen herrlichen Duft ein.
»Die Blumen haben Glück«, sagte eine Stimme unmittelbar hinter ihr. »Ich wünschte, du würdest mich so anlächeln.«
Rose jaulte erschrocken auf, verlor das Gleichgewicht und wäre um ein Haar in die Dornen gefallen.
Starke Hände packten sie an der Taille. »Vorsicht, Majestät.«
Einen köstlichen Moment lang gestattete Rose sich das Vergnügen, sich an Shen Lo zu schmiegen, den Kopf an seine harten Brustmuskeln zu lehnen und an ihm wie eben an ihren Rosen zu riechen. Dann kam sie jäh wieder zur Vernunft und trat rasch von ihm weg.
»Du darfst dich nicht so an Menschen heranschleichen«, schalt sie ihn.
»Und du darfst die Augen nicht schließen, wenn du ganz allein hier draußen bist«, erwiderte Shen. »Gewiss habe ich dich etwas Besseres gelehrt, Majestät.«
»Vielleicht brauche ich mehr Unterricht«, sagte Rose augenzwinkernd. »Und außerdem ist es mein Rosengarten. Ich bin hier so sicher wie nur irgend möglich.«
»Nun, jetzt schon.« Shen schob die Hände in die Hosentaschen, wo Rose mindestens drei versteckte Dolche vermutete, und warf ihr ein verwegenes Lächeln zu, bei dem sie ganz weiche Knie bekam. Es war unmöglich, zu vergessen, dass sie sich genau an diesem Ort zum ersten Mal geküsst hatten.
Und am nächsten Tag, mitten während der Schlacht in der Gruft des Protektors, hatte Shen sie noch einmal geküsst, auch wenn sie seitdem kein Wort mehr darüber verloren hatten. Sie hatten um diesen Morgen eine Mauer errichtet und beide pflichtgemäß so getan, als hätte Rose nicht fast Prinz Ansel geheiratet und als wäre der Dolch, den Willem Rathborne auf Wren geschleudert hatte, nicht im Herzen des Prinzen gelandet, der infolgedessen in Roses Armen verblutet war. Manchmal fragte Rose sich verwundert, ob sie sich diesen dreisten Kuss nur eingebildet hatte. Seit jenem Augenblick hatte sie sich auf jeden Fall schon etliche weitere in epischer Breite ausgemalt.
Shens Lächeln verblasste. »Alles in Ordnung? Das Geschrei in der Menschenmenge heute Morgen …«
»Alles gut«, sagte Rose, doch die Lüge stieß ihr sauer auf. Sie wandte sich von der Versuchung ab und spazierte tiefer in den Garten. Es war besser, nach den Rosen zu sehen als in Shens Augen. Immerhin war sie ins Freie gekommen, um sich zu sammeln, und nicht, um in seinen Armen zu zerfließen. Er schloss zu ihr auf. »Was tust du überhaupt noch hier draußen?«, fragte sie.
»Ich hatte mir überlegt, dir einen Blumenstrauß zu pflücken. Bringt es Pech, einer Königin am Tag ihrer Krönung Blumen aus ihrem eigenen Garten zu schenken?«
»Ja.« Kichernd blickte Rose zu ihm hoch. »Warum beschleicht mich das Gefühl, dass das nicht die ganze Wahrheit ist?«
»Na schön, vielleicht bin ich am Festungswall entlangspaziert. Und habe mir dabei jedes Gesicht in der Menschenmenge eingeprägt, um zu wissen, wer dort draußen war und dich mit vergammelten Früchten beworfen hat. Ich bin gern darüber im Bilde, wer meine Feinde sind.«
»Shen, wirklich, es waren nur eine oder zwei Tomaten.«
»Genau so fängt es an«, sagte er düster. »Widerspruch ist gefährlich. Der Demonstrant von heute könnte der Rebell von morgen sein.«
»Wir stehen erst ganz am Anfang.« Roses Beschwichtigung galt ebenso sehr ihr selbst wie Shen. »Wren und ich werden die Menschen für uns gewinnen.«
Shen stieß einen Seufzer aus. Dann hob er eine ihrer Locken mit dem Finger an und schob sie ihr hinters Ohr. »Darin bist du ein Naturtalent«, murmelte er.
Rose grinste. »Ich weiß.«
»Aber ich mache mir einfach …«
»Sorgen?«
Er zwinkerte ihr zu. »Ich bin es nicht gewohnt, mir Sorgen zu machen, Rose. Das passt nicht zu mir.«
»Zu mir auch nicht.« Sie nahm seine Hand. »Können wir nicht einfach kurz über unsere Sorgen hinwegsehen und den heutigen Tag genießen?«
»Mehr will ich gar nicht.« Sanft zog Shen sie zu sich. Er war ihr jetzt so nah, dass sie jede Schattierung von Braun in seinen dunklen Augen ausmachte, und auch die Sommersprosse auf seiner Stirn, die ihr bisher nie aufgefallen war. »Das hier genießen.«
Rose biss sich auf die Lippe. Unvermittelt überkam sie ein Anflug von Leichtsinn. »Es ist mitten am Tag«, sagte sie etwas atemlos. »Wenn die Leute uns zusammen sehen …«
»Dann werden sie glauben, dass wir … uns mögen.« Er neigte den Kopf. »Wäre das denn so schlimm, Rose?«
»Ja«, flüsterte sie, doch sie konnte sich kaum noch an den Grund erinnern. Jeder vernünftige Gedanke war aus ihrem Kopf verflogen, bis sie nichts weiter als Begierde verspürte, die zwischen ihnen pulsierte, dann Shens Arme um ihre Taille, seinen Atem warm auf ihrer Wange, seine Lippen, die fast ihre berührten …
Da schlug die Glocke im Uhrenturm, und Rose fuhr erschrocken auf. Die Welt kehrte tosend zurück und mit ihr der Berg ihrer Pflichten. Um Himmels willen, sie war jetzt eine Königin, keine liebestrunkene, in der Wüste verschollene Prinzessin. Außerdem hatte sie Wren ein Versprechen gegeben. »Ich fürchte, ich muss zu den Stallungen. Es kann nicht warten.«
Shens Schultern sackten nach unten. »Dann gehe ich wieder auf Patrouille.«
»Es gibt Hunderte Soldaten in Anadawn«, rief Rose ihm ins Gedächtnis. »Du darfst ab und zu mal eine Pause machen.«
Er ballte die Faust. »Nicht bis jede Tomate in diesem Land aufgespürt und zerstört wurde.«
Sie brachen in Gelächter aus, und Rose hakte sich bei ihm unter, während er sie zu den Stallungen eskortierte, wobei beide so taten, als lägen die Nöte und Sorgen der Vergangenheit weit hinter ihnen, und die Zukunft gehörte ihnen allein.
Lieber König Alarik,
ich möchte Euch mein tiefstes Beileid wegen des bedauerlichen Todes Eures Bruders, Prinz Ansel, aussprechen, der meiner Schwester und mir und unserem Land ein lieber Freund gewesen ist. Wie Euch bereits aufgefallen sein dürfte, wurde unsere Großmutter Banba – gewiss versehentlich – in der Hitze des Gefechts von einem Eurer Soldaten verschleppt, und sie wird hier in Anadawn schmerzlich vermisst. Vielleicht können wir die Bedingungen ihrer sofortigen Rückkehr besprechen? Trotz allem, was zwischen unseren großen Reichen geschehen ist, bin ich der festen Überzeugung, dass es eine Welt gibt, in der Eana und Gevra abermals Verbündete sein können. Ich hoffe sehr, dass Ihr diese Meinung teilt.
Mit größter Hochachtung,
Ihre Majestät, Königin Rose Valhart von Eana
Wren
Dreizehn Tage nach der Krönung der Zwillinge, als Rosen und vergammelte Früchte über das goldene Palasttor geschleudert worden waren, fand sich Wren im Thronsaal wieder – kein bisschen weniger fein gekleidet, in einem sich bauschenden violetten, mit goldenem Zwirn durchwirkten Kleid und ihrer Krone, die sich immer noch in ihre Kopfhaut bohrte.
»Du fläzt auf dem Thron«, beschwerte sich Rose, die den ganzen Vormittag über stocksteif dagesessen hatte und dennoch die Gelassenheit einer Königin auf einem Ölgemälde besaß.
»Ich versuche nur, unbemerkt ein Nickerchen zu machen«, erwiderte Wren, ohne auch nur zu versuchen, ein Gähnen zu unterdrücken. Vergangene Nacht hatte sie wieder von Banba geträumt. Ihr Schlaf war unruhig gewesen, jeder ihrer Gedanken eine Qual voller Bilder ihrer Großmutter, die gebrechlich und leidend ganz allein in Gevra ausharrte. Damals in Ortha hatte Banba Wren über viele Jahre hinweg beigebracht, im Angesicht der Gefahr mutig, klug und einfallsreich zu sein, doch sie hatte Wren nicht gezeigt, wie sie in einer Welt ohne ihre Großmutter an ihrer Seite zurechtkommen sollte. Diese Angst konnte Wren nicht besiegen, ja, sie wurde sogar im Schlaf von ihr gequält.
Rose zwickte ihre Schwester in die Hand, was diese jäh aufschrecken ließ.
»Aua! Tu keiner Königin weh«, fauchte Wren.
»Dann fang gefälligst an, dich wie eine zu benehmen«, sagte Rose. »Der heutige Tag ist wichtig.«
Im Lauf der vergangenen zwei Wochen hatte Wren gelernt, dass das für jeden Tag im Leben einer Königin galt. Insbesondere als Königin einer neuen Welt, die Hexen willkommen hieß und sie nicht nur als gleichberechtigt anerkannte, sondern als wesentlichen Bestandteil des florierenden Wohlstands eines Königreichs. Es gab viel zu tun, und Eanas uralten Wandteppich von den Fäden aus hexenfeindlichen Ansichten zu entwirren, die ihn unter der Herrschaft des Großen Protektors entstellt hatten, war keine leichte Aufgabe. Der Königsodem Willem Rathborne hatte, obschon tot, einen langen Schatten über Anadawn geworfen. Es galt Hunderte von Gesetzen abzuschaffen, Abkommen zu schließen, Gebiete erneut zu verhandeln, neue Verordnungen zu verabschieden, Erlasse herauszugeben und Gouverneure zu ernennen.
Nicht zu vergessen, Gouverneure abzusetzen.
Eana war wieder eine Heimat für Hexen. Nein. Eana gehörte den Hexen, und dennoch suchten die meisten von ihnen immer noch im Anadawn-Palast Zuflucht. Es war Wrens und Roses heilige Pflicht, dem Königreich zu seiner früheren Pracht zu verhelfen, ohne das Blutvergießen und die Konflikte, die es einmal zerstört hatten – damit ihresgleichen sich auch jenseits des goldenen Palasttors sicher bewegen und in jedem Teil des Landes leben konnten, in dem sie sesshaft werden wollten. Es war viel Arbeit. Schwere Arbeit.
Und dann gab es den heutigen Tag.
Als Teil einer monatlichen Tradition, die vor vielen Jahrhunderten von König Thormund Valhart eingeführt worden war und auf der Chapman, ihr emsig herumwuselnder Haushofmeister, unter allen Umständen beharrte, hielten die Zwillingsköniginnen ihre allererste Reichsaudienz ab. Ein ganzer, einzig und allein der Aufgabe gewidmeter Tag, höchstpersönlich Gäste aus allen Regionen Eanas (in den meisten Fällen mit ihren Beschwerden) zu empfangen.
Bisher hatten die neu gekrönten Königinnen den Vorsitz über einen langwierigen Grundstücksstreit zwischen rivalisierenden Bauern in der Errinwildnis geführt, eine Lieferung von sechshundert Fässern Getreide für die anwachsende Stadt Nordbach bewilligt und nicht weniger als vierzehn neue Gouverneure ernannt, die den verschiedenen eanäischen Provinzen vorstehen sollten. Ebenfalls hatten sie förmliche Banketteinladungen von fast jeder Adelsfamilie im ganzen Reich erhalten und sogar einen Gesandten aus dem Nachbarland Caro willkommen geheißen, dessen Königin Eliziana ihnen ihre allerbesten Wünsche zusammen mit drei Kisten Sommerwein und einem wunderschönen Olivenbaum sandte, der nun stolz auf dem Balkon des Thronsaals stand.
Doch ungeachtet dieser gern gesehenen Geschenke, schlug ihnen von dem einzigen Menschen königlichen Geblüts, von dem Wren wirklich hören wollte, nur empörendes Stillschweigen entgegen. Trotz Roses diplomatischen Briefes an Alarik – und den weiteren drei Schreiben, die ihm gefolgt waren – hatte der gevranische König noch immer nicht geantwortet. Möglicherweise, so fürchtete Wren, war Banba längst tot. Allein bei dem Gedanken wäre sie am liebsten den ganzen Weg nach Gevra gelaufen und hätte den brutalen König mit bloßen Händen in Stücke gerissen.
»Es ist gleich Mittag«, sagte Rose aufmunternd. »Ich habe Cam gebeten, wieder seinen köstlichen Rindfleischeintopf zuzubereiten. Es ist deine Leibspeise.«
Wren zupfte an ihren Nägeln. »Solange es Wein gibt.«
Ein jauchzendes Kreischen war aus dem Innenhof zu hören, und das vertraute Trillern von Rowenas Gelächter drang durch das geöffnete Fenster. Im Lauf der vergangenen zwei Wochen hatten es sich die Hexen von Ortha im Anadawn-Palast gemütlich gemacht – sehr zum Leidwesen der Dienerschaft und etlicher Wachen. Aus den Augenwinkeln sah Wren nun die Gewittermagie ihrer Freundin, denn Roses Lieblingsballkleid schwebte wie ein Geist quer über den Balkon.
Wren entschlüpfte ein Lachen, was ihr einen tadelnden Blick ihrer Schwester einbrachte.
»Zum hundertsten Mal, Wren, kannst du Rowena bitte sagen, dass sie aufhören muss, Anadawn wie ihren persönlichen Spielplatz zu behandeln? Und was hat sie in meinem Kleiderschrank zu suchen? Sie dürfte nicht mal mein Zimmer betreten!«
Thea, Banbas Ehefrau, die der Reichsaudienz in ihrer neuen Rolle als Königinnenodem beiwohnte, seufzte schwer. »Ich habe Rowena und Bryony vor Stunden zum Apfelpflücken in den Obstgarten geschickt. Ich habe gehofft, wenn sie einen Weg fänden, ihre Magie hier nützlich einzusetzen, könnte es dazu beitragen, dass sie sich besser in die Palastwelt einfügen.«
Als der Wind auffrischte, fing das Geisterkleid an, Räder zu schlagen. »Ich glaube nicht, dass es ihnen darum geht, sich einzufügen«, sagte Wren, die am liebsten selbst im Freien gewesen wäre, um Räder zu schlagen. »Wie viele Menschen müssen wir noch vor dem Mittagessen empfangen?«
Rose blickte zu Chapman.
Der sorgfältig gestutzte Schnurrbart des Haushofmeisters zuckte, während er auf seine scheinbar nicht enden wollende Schriftrolle spähte. »Nur zwölf. Augenblick, nein. Dreizehn. Die Familie Morwell hat sich in allerletzter Sekunde für eine Audienz angemeldet. Sie wollen einen Streit mit ihrem Hufschmied klären. Sie bezichtigen ihn des Diebstahls von Hufeisen.«
Wren schloss die Augen. »Rose. Ich verliere jeglichen Lebenswillen.«
»Dann versucht, ihn wiederzugewinnen«, mahnte Chapman spitz. »Die Morwells sind seit langer Zeit Verbündete des Throns und eine Familie mit beträchtlichem Einfluss hier in Eshlinn.«
»Archer Morwell«, entfuhr es Wren, die sich urplötzlich an den Namen erinnerte. Ihre Augen flogen auf. »Ich bin sicher, Celeste kennt einen der Söhne. Ausgesprochen gut, wenn ich mich nicht täusche. Allem Anschein nach besitzt er sehr beeindruckende Schultern.«
»Wren!«, zischte Rose. »Solch ein Gerede geziemt sich einfach nicht im Thronsaal!«
»Oh, beruhig dich! Niemanden kümmert’s!« Wren wedelte mit der Hand, um auf die zehn gelangweilt aussehenden Soldaten im Saal zu zeigen. Hauptmann Davers, der grimmig dreinblickende Hauptmann der Garde, stand in Habachtstellung neben der Tür und hatte ein wachsames Auge auf das Geschehen. Ansonsten war da nur Thea, die sich wacker Mühe gab, nicht über die Erwähnung der Liebelei von Roses bester Freundin zu kichern.
Chapman räusperte sich betreten. »Nun denn.« Er warf einen Blick auf seine Schriftrolle. »Hauptmann Davers, schickt bitte den Gesandten aus Gallanth herein.« Einen Augenblick später schwang die Flügeltür zum Thronsaal auf, und ein Jüngling mit ungekämmten schwarzen Haaren und einem dürftigen Ziegenbart wurde hereingeführt.
Er verneigte sich aus der Hüfte. »Eure Majestäten«, sagte er und wischte seine Hände an der Hose ab. »Ich … äh … nun … zuerst einmal meine Gratulation zu … äh … nun ja, dass es zwei von Euch gibt, schätze ich, und … äh … also … wir in der Stadt von Gallanth fühlen uns zutiefst geehrt …«
»Bitte kommt auf den Punkt«, rief Wren.
Rose versetzte ihr einen Klaps auf die Hand.
»Tut mir leid«, sagte Wren rasch. »Ich wollte nur sagen, Ihr könnt die höflichen Floskeln bleiben lassen.«
Rose bedachte den nervösen Boten mit einem Engelslächeln. »Obwohl wir die Glückwünsche ungemein zu schätzen wissen. Vielen Dank, Sir.«
»Was gibt es in Gallanth?«, hakte Wren nach und sah vor ihrem geistigen Auge die Stadt im Westen der Wüste mit ihrem mächtigen Glockenturm, der sich vor einem herrlichen Sonnenuntergang hoch über ihre Sandsteinmauern emporragte.
»Es geht nicht um Gallanth.« Der Junge strich sich die Haare aus den Augen. »Es ist die Wüste. Sie bewegt sich.«
»Die Wüste ist immer in Bewegung«, erwiderte Wren. »Deshalb heißt sie ja auch der Ruhelose Sand.«
»Bloß ist sie nicht nur ruhelos«, fuhr der Junge fort. »Sondern eher … ähm … wütend?«
Die Zwillinge wechselten einen Blick. »Wütend?«, riefen sie im Chor.
»Es ist der Sand … er hat angefangen, über unsere Mauern zu schwappen«, antwortete der Jüngling. »Ab und an kommt er wie eine Welle und flutet unsere Stadt. Er hat die Hälfte der Kerrcalstraße unter sich begraben.«
»Du meine Güte!« Rose presste sich eine Hand auf die Brust. »Ist jemand verletzt worden?«
»Wir haben Kamele verloren. Das beste Maultier meines Vaters wurde weggeschwemmt. Und der Sand hat die Hütten, die sich ganz am Rand befinden, verschluckt.«
Wren spähte zu Thea, deren Gesichtszüge ungewöhnlich grimmig waren. »Seltsam«, murmelte die Heilerin. »Die Wüste hatte schon immer ihren eigenen Rhythmus, aber die Kerrcalstraße hat sie noch nie blockiert. Ebenso wenig, wie sie jemals bis zu den Grenzstädten vorgedrungen ist.«
»Wir müssen jemanden schicken, der dort Ermittlungen anstellt«, erklärte Rose.
Chapman runzelte die Stirn. »Die Wüste Ganyeve liegt außerhalb von Anadawns Einflussbereich. Dort kann niemand lange überleben.«
»Niemand ist übertrieben«, entgegnete Rose, und Wren wusste, dass ihre Schwester an Shen dachte, der ganz in der Nähe war. Höchstwahrscheinlich trank er gerade mit Cam und Celeste in der Küche Wein oder unterrichtete vielleicht Tilda, die jüngste Kriegerhexe, draußen im Innenhof. Auf jeden Fall mussten sie ihm so bald wie möglich von dieser Angelegenheit erzählen. Immerhin war Shen ein Kind der Wüste. Er kannte die Strömungen des Sands besser als jeder andere. Wenn etwas in Ganyeve nicht in Ordnung war, würde er davon erfahren wollen.
»Und in der Zwischenzeit«, fuhr Rose fort, »werden wir so viele Soldaten, wie wir im Moment entbehren können, mit Euch nach Gallanth schicken. Ihr müsst die Stadtmauer verstärken und neue Unterkünfte errichten, und zwar möglichst weit weg von der Wüstengrenze.« Sie nickte Hauptmann Davers zu. »Kümmert Euch darum, dass die Wachen auch einen Abstecher nach Dearg machen. Immerhin ist die Stadt ein Teil der Handelsroute durch die Wüste, und wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, ist ihre Mauer niedriger. Die Gefahr ist dort sogar noch größer.«
Davers nickte einmal kurz. »Ich kümmere mich darum, Königin Rose.«
»Weise wie eh und je«, erklärte Chapman anerkennend.
Nicht zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sich Wren kläglich überfordert. Sie war ihrer Schwester dankbar, die nicht nur eine geborene Herrscherin, sondern auch noch auf ihr Amt vorbereitet worden war – und sich ihm mit ihrem Leben verschrieben hatte. Wren hatte sich Banba verschrieben. Im Grunde hatte sich ihre Großmutter die vergangenen achtzehn Jahre auf dieses Königinnenreich vorbereitet. Wrens eigene Pläne hatten nur bis zum Tag ihrer Krönung gereicht. Sie hatte immer angenommen, Banba werde in diesem Moment und all den anderen, die folgen würden, bei ihr sein, und sie werde ihre lenkende Hand stets schwer auf ihrer Schulter spüren. Damals in Ortha hatten sie sich fast jeden Morgen, wenn sie an den Klippen entlangspazierten und sich um ihr Gemüse kümmerten, darüber unterhalten. Und manchmal auch spät abends, wenn die Feuer am Strand heruntergebrannt waren und es ihr vorgekommen war, als würden ihre Zukunftsträume im Rauch tanzen.
Wir werden die neue Welt gemeinsam regieren, kleines Vögelchen, hatte Banba ihr stets versprochen. Wir werden unser Volk endlich nach Hause führen, und die mächtige Hexe Eana wird vom Himmel auf uns herablächeln.
Je länger Wren ohne ihre Großmutter ausharren musste, desto schlimmer plagten sie ihre Schuldgefühle. Sie nagten am Rand ihres Herzens und ließen in der Stille der Nacht ihr Raunen vernehmen. Wenn König Alarik Rose nicht bald antwortete, würde sie die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen müssen: das Schwert sprechen lassen anstelle der Feder.
Schließlich würde Banba das Gleiche für sie tun.
Es gibt keine Waffe, die scharf genug wäre, um uns voneinander zu trennen, kleines Vögelchen. Keine Welt, die grausam genug wäre, um uns unser Schicksal zu verwehren.
Der Jüngling aus Gallanth verschwand so schnell, wie ein weiterer Bote auftauchte. Und danach noch einer und noch einer und noch einer. Und dann, endlich, trat Stille ein.
»Ach«, seufzte Rose und lächelte die prunkvoll verzierte Standuhr an. »Es ist wohl Zeit fürs Mittagessen.«
»Wie wäre es mit einem Arbeitsessen?«, fragte Chapman, der zu Wrens blankem Entsetzen ein weiteres Pergament entrollte. »Ich halte es für vernünftig, die Pläne für die anstehende königliche Rundreise zu besprechen.«
»Kann das nicht warten?«, erwiderte Wren, bereits auf halbem Weg zur Tür.
Rose errötete über ihren eigenen knurrenden Magen. »Ich fürchte, ich bin viel zu ausgehungert, um im Moment auch nur an die königliche Rundreise zu denken, Chapman.«
Chapman öffnete den Mund zum Protest, als die Tür aufflog und ein mitgenommen aussehender Soldat hereinstürmte. Er stürzte direkt auf Hauptmann Davers zu, und die beiden unterhielten sich in leisem, eindringlichem Ton, bis Rose die Männer unterbrach und darauf bestand, dass sie den gesamten Raum und insbesondere die Königinnen miteinbezogen.
»Es gibt eine Protestkundgebung in Eshlinn«, erklärte der Soldat. »Sie haben die Mühle in Brand gesteckt.« Er blickte zu Davers. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass der Protest von Barron organisiert worden ist. Er soll just gestern im Heulenden Wolf etwas in der Hinsicht von sich gegeben haben.«
Rose runzelte die Stirn. »Was für ein Protest?«
Der Soldat schluckte schwer. »Ein Aufstand gegen die Krone.«
»Ihr meint einen Aufstand gegen die Hexen«, erwiderte Wren.
Der Blick des Soldaten huschte zwischen den beiden Königinnen hin und her. Dann zu Thea. Wren hatte das Gefühl, dass ihm nicht wohl in seiner Haut war, allerdings nicht wegen des Protests in Eshlinn, sondern wegen seiner Gegenwart hier, inmitten von Hexen, vor denen man ihn sein ganzes Leben gewarnt hatte.
Feigling, dachte sie grimmig.
»Nun«, mischte sich Hauptmann Davers in das Gespräch ein. »Heutzutage ist das doch ein- und dasselbe, oder nicht? Es ist nicht verwunderlich, dass es Menschen in Eshlinn und im Grunde in ganz Eana gibt, die sich die alten Sitten zurückwünschen.«
»Ihr meint Sitten, laut denen schutzlose Hexen gehasst und verletzt wurden?«, fragte Wren.
Mit gerecktem Kinn hielt Hauptmann Davers dem Trotz in ihren Augen stand. »Hexerei ist eine ebenso mächtige Waffe wie jede andere. Das ist schlicht die Wahrheit.«
»Eine nicht sonderlich hilfreiche«, sagte Wren und entschied in diesem Moment, dass sie ihn mindestens so wenig mochte wie er sie.
»Das reicht«, zischte Rose ungeduldig. »Wer ist dieser Barron, und was genau will er?«
»Es handelt sich um Sir Edgar Barron«, erklärte Chapman mit einem noch größeren Stirnrunzeln. »Vielleicht erinnert Ihr Euch, er ist vor ein paar Jahren vom Königsodem zum Gouverneur von Eshlinn ernannt worden. Fürwahr, vor dieser Beförderung war er von Hauptmann Davers in der königlichen Garde ausgebildet worden. Es war seine Aufgabe, ein wachsames Auge auf jegliches Anzeichen von … nun ja, Hexerei … zu haben. Lasst es mich so ausdrücken: Er widmete sich seiner Arbeit von ganzem Herzen.«
»Und dann haben wir ihn entlassen«, sagte Wren und rief sich den Namen unter vielen anderen ins Gedächtnis, die am Tag nach ihrer Krönung das gleiche Schicksal ereilt hatte. »Nur wenige Tage, nachdem wir Barrons Wohltäter Rathborne getötet haben.«
Hauptmann Davers versteifte sich. »Auf den Punkt gebracht.«
Rose verschränkte die Arme. »Warum können diese Männer niemals leise abtreten? Ich meine, ganz ehrlich, einfach Kerzenzieher oder Tischler werden. Es gibt viele ehrenwerte Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne dabei unschuldige Menschen umzubringen.«
Wren wollte schon auf die Ironie hinweisen, so etwas laut im Beisein von Hauptmann Davers zu sagen, der früher einen Krieg gegen die Hexen befürwortet hatte, sie wurde jedoch von einem lauten Bumm! draußen aufgeschreckt.
»Oh, diese ungezogene Rowena!« Thea stemmte sich stöhnend auf die Beine. »Ich kümmere mich um sie.«
Die alte Hexe war kaum einen Schritt gegangen, als ein gellender Schrei ertönte. Wren sprang gerade rechtzeitig von ihrem Thron auf, um einen brennenden Pfeil zu sehen, der über das Tor schoss. Er landete im Innenhof und spuckte beißende Rauchschwaden aus. Die Königin hastete zum Fenster.
»Was ist los?«, fragte Rose mit schriller Stimme, als zwei weitere Feuerpfeile über die Mauer zischten. Da bemerkte Wren, dass sich eine wütende Menschenmenge direkt hinter dem Tor versammelt hatte.
»Um Himmels willen!«, rief Thea. »Ich würde das mehr als eine Protestkundgebung nennen.«
»Hauptmann Davers!«, schrie Rose. »Warum um alles in der Welt steht Ihr immer noch hier herum? Nehmt die Missetäter gefangen, bevor einer dieser Pfeile jemanden in meinem Innenhof trifft!«
»Sofort, Königin Rose.« Der Hauptmann machte auf dem Absatz kehrt und blaffte den Soldaten Befehle zu, während er im Laufschritt den Thronsaal verließ.
Hektisch suchte Wren mit den Augen den Innenhof ab. Die Hexen hatten sich in die Sicherheit des Palasts zurückgezogen, doch dann erblickte sie Shen, der in Richtung Tumult rannte anstatt weg davon. Im nächsten Moment hatte er die Außenmauer bereits erklommen und schlich am Festungswall entlang. Er hatte den Kopf eingezogen, den Blick fest auf den Mob unten gerichtet. Jetzt war Gebrüll zu hören, und jeden weiteren Pfeil begleitete wutschnaubendes, kehliges Rufen.
Der nächste brennende Pfeil segelte über das Tor, höher und heller als der letzte. Die Luft wurde dunstig grau, während Davers und seine Soldaten mit gezückten Schwertern aus dem Palast stürmten.
Augenblicklich löste sich die Menschenmenge auf, allerdings erst, nachdem noch ein weiterer Pfeil abgeschossen worden war. Dieser schoss quer über den Innenhof und traf das Balkonfenster. Wren stieß einen wütenden Schrei aus, als er in einem Funkenschauer explodierte und den Olivenbaum in Brand setzte. Rauch strömte durch das geöffnete Fenster herein, und sie musste husten.
»Zurück!« Thea zog Wren von der Fensterscheibe weg und schickte ihr rasch eine Woge heilender Magie, um den Krampf in ihrer Lunge zu lösen. »Behalt deine fünf Sinne beisammen, Wren!«
Wren atmete durch die Nase aus und versuchte, ihren Zorn zu zügeln.
»CHAPMAN!«, erscholl Roses Stimme auf ihrem Weg durch den Thronsaal. »Dieser Edgar Barron. Ist er Euch bekannt?«
Chapman riss den Blick vom Fenster los, seine Augen waren vor Entsetzen riesengroß. »Ja, ja, natürlich«, erwiderte er atemlos. »Selbstverständlich kenne ich ihn.«
»Gut. Ich will, dass Ihr ihn zu uns bringt«, befahl sie. »Auf der Stelle!«
Rose
Rose saß im Anadawn-Palast am Salonfenster und rief sich in Erinnerung, dass sie die Königin war. Dass ihr Volk sie liebte. Dass sie eine fähige Herrscherin war. Dass alles gut werden würde. Besser als gut. Alles würde wundervoll werden. Sie hatte eine Vision für die Zukunft ihres Königreichs, einer Welt, in der Hexen und nicht magische Menschen Seite an Seite in Harmonie lebten, und sie war nicht gewillt, sich von einem Mann wie Edgar Barron – oder sonstirgendeinem Mann – dazwischenfunken zu lassen.
Aber eine Königin darf keine verschwitzten Handflächen haben, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf.
Oder ein rasendes Herz.
Oder einen völlig verkrampften Magen.
Pling! Ein Fis unterbrach ihre Nervosität. Sie warf einen Blick über die Schulter.
Wren glitt mit den Fingern die Klaviertasten rauf und runter und erzeugte eine unbeholfene Melodie. »Dieses dumme Ding ist verstimmt.«
»Verstimmt bist höchstens du«, erwiderte Rose. »Vielleicht solltest du Unterricht nehmen.«
Shen, der neben der Tür stand und sich mit aller Macht abmühte, wie eine offizielle Palastwache auszusehen, prustete los. Eine schwarze Haarlocke hatte sich aus seinem Lederband gelöst, und da war eine frische Schürfwunde auf seiner Wange, die er sich vor drei Tagen zugezogen hatte, als er die Angreifer vor dem Palast verjagt hatte, aber abgesehen davon sah er völlig in Ordnung aus. Mehr als in Ordnung. Er sah auf verlockende und unerträgliche Weise umwerfend aus. »Hättest du jemals versucht, Wren irgendetwas beibringen zu wollen, dann wüsstest du, dass Anweisungen nicht so ihr Ding sind. Und Rhythmusgefühl auch nicht.«
Wren streckte ihm die Zunge heraus. »Du bist gefeuert.«
»Ich arbeite nicht für dich.« Shen musste gespürt haben, dass Rose ihn anstarrte, denn er suchte ihren Blick und sah ihr tief in die Augen, woraufhin ihr Puls vor Hitze zu rasen begann. Hastig senkte sie das Kinn und spielte am Saum ihres Ärmels herum, während Shen seinen Wachposten verließ und den Raum durchquerte. Als er sich zu ihr ans Fensterbrett lehnte und die Wärme seines Körpers das Zittern in ihren Knochen beruhigte, machte ihr Herz einen Satz. Sein Lächeln war unbeschwert, doch seine Augen waren düster vor Sorge. »Ich bin bloß hier, damit nichts aus dem Ruder läuft.«
Rose kämpfte den Drang nieder, seine Hand zu ergreifen. Es wäre nicht schicklich, hier im Salon, wo die Wachen sie von ihren Posten beobachteten und Bedienstete herumschwirrten, um den Tisch zum Tee zu decken. Deshalb drehte sie sich von ihm weg, als würde sie sich von der Sonne selbst abwenden, und blickte stattdessen in den Garten.
Es war ein Spiel, das Rose, wie sie nun erkannte, immer öfter spielte. Wie spät konnte sie aufbleiben, um sich mit Shen in der Bibliothek Worte zuzuraunen und zwischen den Bücherstapeln zu küssen? Wie oft durfte sie es sich erlauben, ihn im Korridor zu streifen und sich an der flüchtigen Hitze seiner Haut auf ihrer zu berauschen? Was war zwischen ihnen gestattet, nun, da sie Königin war, er jedoch immer noch die Kriegerhexe? Jedes Mal, wenn ihr Blick zu lang an seinem Lächeln verharrte oder sie sich im geschmolzenen Karamell seiner Augen verlor, überkam sie das Gefühl, als müsste sie unbedingt auf Abstand zu ihm gehen. Immerhin hatte sie ein Königreich, das es zu erneuern galt. Einen Palast, über den sie herrschte. Eine Großmutter, die sie retten musste. Und dennoch drängte sich jeder dieser nachhallenden Küsse in ihr Bewusstsein vor und ließ sie häufig benommen zurück.
»Ich bin auch noch da«, meldete sich Wren zu Wort. »Hört bitte auf, euch so lüstern anzugeifern.«
»Wir berühren uns nicht einmal«, erwiderte Rose geziert.
»Ich kann nichts dagegen tun«, sagte Shen zeitgleich, und sein Lächeln scheuchte einen Schwarm Schmetterlinge in ihr auf.
»Igitt.« Wren hämmerte wieder auf das Klavier ein.
Es klopfte an der Tür, und dann tauchte Chapman auf. »Barron ist eingetroffen.«
Wren schob sich vom Klavier weg. »Schickt die verräterische Ratte rein!«
»Bitte zügle deine Zunge«, sagte Rose und erhob sich von ihrem Platz am Fenster. Auf dem Weg zum Sofa gestattete sie ihrer Hand, über Shens zu streicheln, und die sanfte Berührung sorgte für eine kurze, willkommene Ablenkung.
Shen ließ das Handgelenk rotieren, während er auf seinen Posten neben der Tür zurückkehrte, und Rose erhaschte einen Blick auf etwas Silbernes, als einer seiner Dolche in seine Hand glitt. Sie musste unwillkürlich lächeln. In einem Palast, in dem es von Soldaten nur so wimmelte, fühlte sie sich trotzdem in einem Zimmer mit Shen Lo am sichersten. Immerhin war er eine erfahrene Kriegerhexe, der geschickteste Kämpfer, dem sie jemals begegnet war, und tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er alles täte, um Wren und sie zu beschützen. Auch wenn Rose heutzutage durchaus fähig war, selbst auf sich aufzupassen, war es, nun ja, schön, Shen bei sich zu wissen.
Rose nahm auf dem Sofa Platz und strich ihre Röcke glatt. Wren drückte sich gegen die Armlehne, als wäre sie allzeit bereit, blitzschnell aufzuspringen.
»Barron wird gründlich durchsucht«, fühlte Rose sich bemüßigt, ihrer Zwillingsschwester ins Gedächtnis zu rufen. »Er würde nicht mal im Traum daran denken, hier etwas zu unternehmen.«
»Oh, wirklich?«, fragte Wren sarkastisch. »Dann habe ich mir die brennenden Pfeile wohl nur eingebildet, die vor drei Tagen direkt auf unseren Palast abgeschossen worden sind.«
»Das sollte wahrscheinlich nur unsere Aufmerksamkeit erregen«, erwiderte Rose.
»Sag das dem Olivenbäumchen.«
Kurz darauf kam Chapman mit Edgar Barron und Hauptmann Davers zurück. Der einst vielgepriesene Gouverneur von Eshlinn stolzierte mit unerhörter Gelassenheit ins Zimmer, und seine Gegenwart füllte den Raum wie eine Gewitterwolke. Er war größer, als Rose erwartet hatte, rank und schlank mit schmalen Schultern und frisch frisierten Haaren, blasser Haut und dunkelblauen Augen, die zwischen den Zwillingen hin und her huschten.
»Majestäten«, sagte er mit einem unverkennbar spöttischen Unterton in der Stimme. »Ihr habt mit den Fingern geschnippt, und hier bin ich.« Er warf ihnen ein Lächeln zu, das viel zu viele kleine, quadratische Zähne zeigte. »Die reinste Zauberei, nicht wahr?«
Natürlich war es nicht ganz so einfach gewesen, Barron in den Palast zu zitieren. Hauptmann Davers und seine Soldaten hatten zwei Tage gebraucht, um ihn aufzustöbern, und dann noch einen halben, um ihn zu überreden, sich mit den neuen Königinnen zusammenzusetzen. Man hatte ihm zusichern müssen, dass er nicht wegen seiner Rolle beim Angriff auf den Palast verhaftet werden würde – wobei ihm allerdings sowieso nichts nachgewiesen werden konnte.
Rose zeigte auf den Sessel ihr gegenüber. »Bitte, nehmt Platz!«
Im Hinsetzen breitete Barron das Ende seines langen Gehrocks fächerförmig auf dem Polster aus. Widerstrebend bewunderte Rose die hervorragende Schneiderkunst seines Anzugs und das steife weiße Hemd, das er darunter trug. Barron war überraschend elegant. Offensichtlich war er kein solcher Grobian, wie Rose vermutet hatte. Er war kultiviert, gut gekleidet und sprach mit ruhiger, leiser Stimme, was ihn selbstverständlich nur noch gefährlicher machte.
Er blickte zwischen ihnen hin und her. »Wer von Euch ist die Heilerhexe?«
»Warum?«, wollte Wren wissen. »Plant Ihr einen Angriff?«
Barron schürzte die Lippen. »Ich habe gehört, sie sei die Vernünftigere der beiden.«
Roses Blick huschte zu Hauptmann Davers, der ausdruckslos am Fenster stand. Shen war zum Klavier geschlichen und gab sich nicht einmal Mühe, sein Interesse für ihr Gespräch zu überspielen.
»Wir werden heute vollkommen vernünftig sein, solange Ihr es auch seid«, erwiderte Rose. Sie deutete auf eine Kanne Pfefferminztee und den Teller mit Macarons, die Cam an diesem Vormittag gebacken hatte. »Dürfen wir Euch eine Tasse Tee anbieten? Vielleicht ein Macaron?«
»Lieber nicht.«
»Feigling«, murmelte Wren.
Rose durchbohrte sie mit einem warnenden Blick, der auch Barron nicht entging. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die langen Beine. Seine Lederstiefel waren makellos, ihre Goldschnallen glitzerten im Schein der Nachmittagssonne. Hier saß ein Mann, der sich nicht gern die Hände schmutzig machte, dachte Rose. Kein Wunder, dass sie ihn vor drei Tagen nicht an den Toren gesehen hatten.
»Sir Barron«, begann sie so höflich wie irgend möglich. »Der jüngste Tumult in Eshlinn beunruhigt meine Schwester und mich durchaus. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr hinter dieser Unzufriedenheit steckt.«
»Ich fürchte, Ihr missversteht meine Absichten.« Barron nahm sich geschwind ein Macaron vom Tisch und drehte die beiden Hälften gegeneinander. »Viele Jahre lang oblag mir die Friedenssicherung. Es war meine heilige Pflicht, in Eshlinn nach jeglicher … ungebührlicher Umtriebigkeit Ausschau zu halten.«
»Ihr meint Hexerei«, sagte Wren.
»Und jetzt, nun ja … was könnte ungebührlicher sein als die gegenwärtigen Verhältnisse?«, fuhr er fort und löste die beiden Macaronhälften mit den Fingern voneinander. »Der Königsodem höchstpersönlich wurde ermordet, unser prosperierendes Königreich steht vor einer Zerreißprobe, sein Thron ist zwischen zwei Hexen aufgeteilt.«
»Eana gedeiht immer noch prächtig«, sagte Wren. »Trotz Eurer Versuche, es zu spalten.«
»Eana leidet.« Barron zermalmte eine Hälfte des Macarons zwischen den Fingern, woraufhin hellgrüne Krümel herabrieselten und den Teppich beschmutzten. »Die Gesetze unseres Großen Protektors wurden für nichtig erklärt, sein Land an die Hexen und ihre schmutzigen Sitten überschrieben. Sagt mir, Majestäten, wie kann ein Königreich das respektieren, was es fürchtet?«
»Von uns hat niemand etwas zu befürchten«, sagte Rose, die mühsam um ihre Beherrschung kämpfte.
Barron zerbröselte die andere Hälfte des Macarons. »Das habt nicht Ihr zu entscheiden.«
»Hört auf, unsere Macarons zu verschwenden«, fauchte Wren. »Oder ich sorge dafür, dass Ihr den Teppich sauber leckt.«
Barron klopfte sich die Hände ab, dann wischte er sie an einem blütenreinen Samtkissen ab. »Ich bin sicher, Ihr habt mich nicht ohne Grund herbestellt.«
Sein Ton ließ Empörung in Rose aufsteigen. »Meine Schwester und ich wünschen, dass Ihr Eure hasserfüllten Lügen nicht mehr überall verbreitet und aufhört, unser eigenes Volk gegen uns aufzubringen. Wir verlangen eine faire Chance, dieses Königreich zu regieren, so wie es unser Geburtsrecht ist.«
»Zu welchem Preis?«, entgegnete Barron.
»Eurer sofortigen Verhaftung«, erklärte Wren.
Barron besaß die Frechheit, verächtlich zu schnauben. »Hauptmann Davers hat mir versichert, ich könne den Palast als freier Mann verlassen.«
»Das war, bevor wir wussten, wie sehr Ihr einen auf die Palme bringt«, sagte Wren. »Dies ist unsere erste und einzige Warnung, Barron. Keine weiteren Proteste. Keine brennenden Pfeile mehr. Keine heimlichen Treffen in der Stadt. Wir beobachten Euch!«
Barrons Augen funkelten vor Erheiterung. Rose musste sich in den Handrücken zwicken, um keine Teetasse nach ihm zu schleudern. »Gewiss seid Ihr Euch beide bewusst, dass zwei Hexenköniginnen niemals den vollen Rückhalt dieses Königreichs besitzen werden. Nicht bis Ihr beweisen könnt, dass Ihr Euch selbst nicht für etwas Besseres haltet. Nicht bis Ihr einem von uns die Ehre erweist, neben Euch Platz zu nehmen.«
Rose runzelte die Stirn. »Was genau soll das heißen?«
Barron setzte sein viel zu breites Lächeln auf, in dem nicht die geringste Spur von Wärme lag. »Es heißt, dass Ihr den Thron neben Euch an jemanden hättet geben sollen, den Euer Volk kennt. Jemanden, dem die Menschen vertrauen.«
»Lasst mich raten«, fuhr Wren dazwischen. »Jemanden wie Euch.«
Barrons Augen waren immer noch auf Rose gerichtet. Sie hasste es, wie sein Blick sich in sie bohrte und sie ihn wie Nadelstiche an ihrem Schlüsselbein spürte. »Ihr habt noch keinen Ehemann, Königin Rose.«
Irgendwo in der Nähe des Klaviers ertönte ein unterdrücktes Fluchen.
Entsetzen und Ekel stiegen in Rose auf. »Ihr könnt nicht Euch meinen«, sagte sie erschrocken. »Ihr seid doppelt so alt wie ich.«
»Und noch schlimmer, Ihr seid ein arroganter Widerling ohne jeglichen Charme«, ergänzte Wren mit ebenso großer Abscheu. »Warum sollte Rose genau den Mann heiraten, der auf unsere Vernichtung aus ist?«
»Damit besagte Vernichtung Euch nicht ereilt«, erwiderte Barron schlicht.
»Das hört sich schrecklich nach einer Drohung an«, warnte Shen, der unvermittelt neben Rose stand. »Ich würde Euch raten, das zurückzunehmen. Sofort!«
Hauptmann Davers trat zwischen die beiden Männer. »Abtreten, Shen Lo«, sagte er knapp. »Dies ist der Anadawn-Palast, nicht der gesetzlose Strand von Ortha.«
»Da kann Barron von Glück reden«, erwiderte Wren. »Andernfalls wäre er schon längst zu Fischfutter verarbeitet worden.«
»Nun, das war ein äußerst erhellender Nachmittag«, sagte Barron und erhob sich. »Warum lasse ich Euch nicht eine Woche Zeit, um über meinen Vorschlag nachzudenken?«
»Oder«, zischte Shen durch zusammengebissene Zähne, »warum stopfe ich ihn Euch nicht einfach in den …«
»Das reicht!« Rose klatschte in die Hände und sorgte, während sie ebenfalls auf die Beine sprang, zumindest für den Anschein von Ordnung. »Hauptmann Davers wird Euch nach draußen geleiten, Sir Barron. Von nun an werden unsere Soldaten Euch im Auge behalten. Von Euch als treu ergebenem Untertan dieses Königreichs erwarte ich, dass Ihr Euch unsere Warnung zu Herzen nehmt und Euch von jeglichem Ärger fernhaltet.« Sie reckte das Kinn und begegnete seinem Blick. »Ihr seid Euch gewiss der vollen Schlagkraft unserer Armee bewusst. Meiner Schwester und mir wäre es ein Graus, wenn Ihr sie am eigenen Leib erfahren müsstet.«
»Und nur für den Fall, dass es nicht vollkommen klar ist, jetzt drohen wir Euch ganz unverhohlen«, fügte Wren hinzu.
Barron besaß die Dreistigkeit, laut zu lachen. »Drohungen sind wie Pfeile, Majestäten. Jeder kann sie abfeuern. Aber mit genug Planung und Kraft können sie sich einen Weg durch jedes mächtige Königreich bahnen und selbst das Herz seines Throns durchbohren.«
Blitzschnell drückte Shen ein Messer an Barrons Kehle. »Das lasse ich nicht auf sich beruhen.«
»Schluss!«, befahl Rose rasch. Das Letzte, was sie jetzt brauchten, war Barrons Blut an ihren Händen. Sie mussten gute Miene zum bösen Spiel machen – oder zumindest so tun –, um zu bekommen, was sie wollten. »Sir Barron ist ein kluger Mann. Ich bin sicher, er hat die Tragweite unserer Worte verstanden.«
Ganz langsam und äußerst widerwillig ließ Shen Barron los.
Barron deutete ein Nicken an, bevor er hastig auf dem Absatz kehrtmachte und aus dem Zimmer stolzierte. Hauptmann Davers und seine Soldaten eskortierten ihn nach draußen und zogen die Tür hinter sich zu.
»Gut«, sagte Wren. »Du hast ihm einen Schrecken eingejagt.«
Shen funkelte immer noch die geschlossene Tür an. »Ich hätte ihm die Zunge rausschneiden sollen.«
»Wegen dieser erbärmlichen Drohungen?«, entgegnete Rose, während sie ihre verschwitzten Handflächen an ihrem Kleid abwischte. »Die fürchte ich nicht.«
Shen drehte sich zu ihr zurück. »Nein, sondern dafür, dass er dich heiraten will.«
»Oh.« Roses Wangen flammten rot auf. »Wirklich, was für ein lächerlicher Vorschlag. Warum sind die abscheulichsten Männer immer die ehrgeizigsten?«
»Nun, es ist nicht die schlechteste Idee, die mir jemals zu Ohren gekommen ist«, warf Chapman ein, den Rose fast vollständig vergessen hatte.
Bei seiner Andeutung lief es ihr nun eiskalt den Rücken hinunter. »Das kann nicht Euer Ernst sein.«
Shen wurde ganz still. Rose konnte die Wut, die wellenartig von ihm ausströmte, fast körperlich spüren.
Wren drehte sich zu Chapman um. »Ich habe dieses Jahr schon einmal eine Hochzeit von Rose platzen lassen, Chapman. Glaubt ja nicht, ich würde es kein zweites Mal tun!«
»Natürlich meine ich nicht Barron selbst«, erwiderte Chapman leise. »Ich will damit nur sagen, die Idee einer strategisch klugen königlichen Hochzeit ist vielleicht gar nicht so übel.«
»Weil es beim letzten Mal so gut geklappt hat«, stellte Wren nüchtern fest.
Chapman wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte er die unschöne Erinnerung an das gevranische Hochzeitsdebakel und den verfrühten Tod des armen Prinzen Ansel vertreiben. »Eine arrangierte Ehe ist der schnellste Weg für eine Allianz. Wenn einige Bewohner ihr Vertrauen Eanas nur widerstrebend zwei Hexen schenken, so bin ich sicher, dass ein hochwohlgeborener, allseits respektierter Gatte durchaus helfen könnte, dieses Misstrauen ein wenig abzumildern.« Er ignorierte Wrens entsetzten Gesichtsausdruck und fuhr ungerührt fort: »Natürlich müsste es jemand sein, der in ganz Eana bekannt ist. Mit einem makellosen Ruf.« Bedeutungsvoll spähte er zu Shen. »Oder zumindest irgendeinem Ruf. Und natürlich dürfte es unter keinen Umständen eine Hexe sein.«
»Jetzt wollt Ihr mich ärgern«, murmelte Shen.
Rose rang die Hände. Die Vorstellung einer weiteren arrangierten Ehe schlug ihr auf den Magen, aber Barrons Abschiedsworte hatten sie stärker verunsichert, als sie sich äußerlich anmerken ließ. Der Protest war der Funke einer Bewegung, die sich, wenn sie keinen Weg fänden, ihm Einhalt zu gebieten, zu etwas wahrlich Schrecklichem wandeln und auswachsen könnte.
Nervös schritt sie auf und ab, und ihr Verstand schwirrte vor Möglichkeiten, während Wren und Shen sich mit Chapman wegen der Eignung des jüngsten Prinzen von Caro als Heiratskandidat in den Haaren lagen.
Da hatte Rose auf einmal eine Idee. »Oh, ich weiß es!«, platzte es aus ihr heraus. »Was ist mit Geschenken? Wir könnten jedem Haushalt in Eana Präsente von der Krone schicken!«
Ja, das würde funktionieren. Jeder liebte Geschenke.
»Es ist der ideale Weg, ihnen zu versichern, dass sie allesamt geschätzte Untertanen sind, die in unserem neuen und verbesserten Königreich gern gesehen werden.«
Wren verzog das Gesicht. »Du willst das gesamte Königreich bestechen, damit sie uns mögen?«
Rose zermarterte sich bereits den Kopf. »Wie wäre es mit einem kunstvoll arrangierten Obstkorb? Oh! Oder ein Schal! Immerhin kommt der Winter schneller, als uns lieb ist.«
»Ich bin verwirrt«, sagte Shen. »Willst du sie etwa umwerben?«
»In gewisser Weise«, antwortete Rose abwehrend. »Du darfst nicht vergessen, dass eine Königin in erster Linie mit ihrem Land verheiratet ist. Ergibt es dann nicht Sinn, das Reich zu umwerben?«
Shen dachte einen Moment über ihre Worte nach. »Solange du nicht den Prinzen von Caro umwirbst.«
»Wir müssen unseren Untertanen einfach nur zeigen, dass wir sie schätzen.« Während Rose redete, nahm ihr Plan sogar noch ausgefeiltere Formen an. »Und wir werden die königliche Rundreise vorziehen! Außerdem würde ich sie gern ausdehnen. Wir werden unseren Einfluss in den südlichen Städten geltend machen, bevor Barron es tut.« Trotz der säuerlichen Miene ihrer Schwester klang sie mittlerweile regelrecht begeistert. »Denk doch mal darüber nach, Wren. Wir können unserem Volk die Hand reichen. Ihnen zeigen, wer wir wirklich sind. Du bist Zauberin – vielleicht könntest du Schmetterlinge herbeirufen, oder … oder Vögel! Und ich kann mithilfe meiner Heilermagie sämtlichen Stadtbewohnern helfen, die in Not sind!« Rose ging im Kopf sämtliche andere Zweige der Hexerei durch. Obwohl die Zurschaustellung der Macht einer Gewitterhexe ein echtes Spektakel wäre, bezweifelte Rose stark, dass sich Rowena zu benehmen wüsste. Aber vielleicht könnten sie den Leuten auf irgendeine Weise Shens Kriegertalent vorführen. Das wäre tatsächlich ein Schauspiel ohnegleichen.
Roses Gedanken glitten zu ihrer besten Freundin. Celeste haderte immer noch damit, dass sie womöglich eine Seherin war, obwohl beide Mädchen zusammen hier in Anadawn aufgewachsen waren, ohne etwas von ihrem Hexendasein zu ahnen. Rose ahnte, dass es ungerecht wäre, ihre Freundin in dieser Hinsicht zu etwas zu drängen oder aber Celeste wie eine Trophäe überall in Eshlinn herumzuzeigen und Prophezeiungen anzubieten, wo auch immer Starcrestvögel sich versammelten. Und überhaupt, waren Seherinnen nicht gerade deswegen etwas ganz Besonderes, weil sie so rar und schwer greifbar waren?
»Wenn sie mit eigenen Augen sehen, was wir mit unserer Magie erreichen können, wird ihnen klar werden, dass sie uns den Thron anvertrauen können … und ihre Zukunft!«, fuhr sie atemlos fort. »Wir können uns ihre Bedürfnisse, ihre Ängste anhören, und außerdem können wir ihnen von Angesicht zu Angesicht versprechen, dass wir Eana für alle zu einem besseren Land machen werden.«
Wren verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wenn sie uns mit Pfeilen beschießen?«
»Wren hat recht«, schaltete Shen sich ein. »Im Moment ist es für eine königliche Rundreise zu gefährlich. Ihr müsst erst etwas Gras über die Dinge wachsen lassen.«
»Unsinn. Wenn wir nichts tun, wird die Feindseligkeit uns gegenüber nur weiter anwachsen«, sagte Rose mit fester Stimme. »Eine Anführerin muss führen. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Barron die öffentliche Meinung für sich gewinnt.« Sie blickte zwischen Wren und Shen hin und her. »Nun, solange keiner von euch einen konstruktiven Vorschlag beisteuern kann, würde ich sagen, dass ihr besser mir die Planung überlasst …«
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Wren. Rose wusste, worum es sich handelte, bevor ihre Schwester es laut aussprach. Sie erkannte es an der lodernden Entschlossenheit in ihrem Blick. »Wir unternehmen stattdessen eine Reise nach Gevra, um Banba zu befreien. Sie wird genau wissen, wie wir mit Barron und seiner kleinen Rebellion umgehen müssen.«