Die postoptimistische Gesellschaft - Jörg Phil Friedrich - E-Book

Die postoptimistische Gesellschaft E-Book

Jörg Phil Friedrich

0,0

Beschreibung

Mit Klimakrise und Pandemie, spätestens aber mit dem Ukrainekrieg, ist der Fortschrittsoptimismus gänzlich aus der Gesellschaft verschwunden. An seine Stelle sind tiefe Zweifel daran getreten, dass die offene, freie Gesellschaft, die sich auf aufgeklärte Wissenschaft und demokratische politische Institutionen stützt, den Herausforderungen kommender Krisen gewachsen ist. Eine friedliche Zukunft ohne Angst und Not ist für viele kaum noch vorstellbar. Jörg Phil Friedrich zeigt, dass es dennoch Grund zur Zuversicht gibt. Diesen verortet er in der menschlichen Vernunft, die Intuition mit Erfahrung verbindet, Gewissen und Mitgefühl aktiviert und die Einsichten der Wissenschaften integriert. Das Leben in der postoptimistischen Gesellschaft ist nicht von Entsagung und Verzicht bestimmt, wenn wir neu bestimmen, was ein gutes Leben ausmacht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 268

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Phil Friedrich

Die postoptimistische Gesellschaft

Warum es keinen Grund für Optimismus gibt – und was dennoch Hoffnung auf ein gutes Leben macht

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Umschlagmotiv: Sven Bock / GettyImages

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara

ISBN Print: 978-3-451-39433-1

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82983-3

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82985-7

Inhalt

Vorbemerkung

Einführung

Kapitel 1: Der Aufbau der wissenschaftlich-technischen Wirklichkeit – Lebensraum der optimistischen Gesellschaft

Die Wirklichkeit technisch kontrollieren

Naturwissenschaft und Technik – Fundament des Optimismus

Die Basis des Optimismus und seine Grenzen

Kapitel 2: Follow the Science?

Labor mit Nebenwirkungen – Beispiel Waldsterben

Grenzen des Primats der Wissenschaft

Selten prinzipiell Neues im Labor

Das Beispiel der Pandemie: Wenn jeder direkt betroffen ist

Ende des Optimismus

Kapitel 3: Die Rationalität der Verschwörungstheorie

Was ist eine Verschwörungstheorie?

Verschwörungsdenken und Wissenschaft – eine Verwandtschaft

Sozialtechnologen und Verschwörer

Das Ende der Verschwörungstheorie?

Kapitel 4: Auf dem Weg in die Expertokratie?

Grundgesetz und Führungspersonen in der Krise

Die Machtpyramide und die Realität der Gewaltenteilung

Dialektik der politischen Macht

Wenn die Krise keine Ausnahme mehr ist

Vertrauensvorschuss für die Expertise

Gefahren für die Expertokratie

Spricht etwas gegen die Expertokratie?

Kapitel 5: Politik und Wissenschaft in der postoptimistischen Welt

Fragwürdige Prioritäten der optimistischen Welt

Der Schritt auf die Schwelle am Ausgang der optimistischen Welt

Zur Wirksamkeit der Wissenschaften in der Krise

Transdisziplinarität – Forschung in der postoptimistischen Gesellschaft

Kapitel 6: Die Rationalität der emotionalen Entscheidung

Emotionale Wissenschaft

Rationalität ohne Wissenschaft

Rationalität als Verlässlichkeit

Die Rationalität des Akzeptierens

Die Priorität des sozialen Friedens

Kapitel 7: Freiheit, Gewissen und Mitgefühl

Vorgetäuschte Freiheit

Die Erfahrung des Gewissens

Gewissen als Bedingung der Freiheit

Freiheit braucht zweifache Reflexion

Pflicht und Freiheit

Kapitel 8: Verzicht oder Genuss?

Verzicht als moralische Norm

Bedingungen für wahren Genuss

Fazit: Die Dialektik der Zuversicht

Anhang

Literatur

Anmerkungen

Über den Autor

Vorbemerkung

Dieses Buch entsteht in einer sehr bewegten Zeit, manches, was beim Schreiben der ersten Sätze aktueller Hintergrund war, scheint beim Abschluss des Manuskripts schon kaum erinnerbare Vergangenheit zu sein. Wenn es erscheint, werden uns vermutlich schon wieder neue krisenhafte Herausforderungen umtreiben, die jetzt noch kaum erkennbar sind. Dennoch, von dieser Zuversicht ist die Arbeit getragen, werden die großen Herausforderungen, mit denen wir umzugehen lernen müssen, noch die gleichen sein.

Ich danke dem Verlag Herder, insbesondere Dr. Patrick Oelze, für die Unterstützung meines Vorhabens und vor allem meiner Lektorin Sara Weydner für die kritischen und konstruktiven Hinweise zur ersten Fassung des Manuskripts.

Einführung

„Unsere Kinder und Enkel werden es einmal besser haben.“ Dieser Satz wurde in den vergangenen Jahrhunderten bis weit hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sicherlich Tausende Male so oder ähnlich ausgesprochen. Er ist der Leitsatz einer optimistischen Welt. Heute, auf dem Weg in die Mitte des 21. Jahrhunderts, wird dieser Satz kaum jemandem leicht über die Lippen kommen. Der Optimismus, der aus ihm sprach, ist aufgebraucht.

Dennoch mag der Titel dieses Buchs sofort Widerspruch provozieren. Wenn man von einer postoptimistischen Gesellschaft spricht, dann behauptet man doch zugleich, dass es eine Zeit gegeben habe, in der Optimismus die vorherrschende Grundstimmung gewesen sei. Aber wann soll das gewesen sein? Am Ende der 1980er oder am Anfang der 1990er Jahre vielleicht, als die Menschen in den sogenannten sozialistischen Ländern in Ost- und Mitteleuropa die Diktaturen der kommunistischen Parteien abschüttelten und sich auf den Weg in Richtung Demokratie xe "Demokratie" und Freiheit machten? Sogleich kann man einwenden, dass sich Westeuropa und insbesondere die Bundesrepublik zu dieser Zeit in einer schweren Wirtschaftskrise befanden, die nur kurzzeitig durch Investitionen in den Aufbau Ost überdeckt werden konnte. Zudem war das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts vom schmerzhaften Zerfall der Sowjetunion und vor allem Jugoslawiens geprägt, beides verbunden mit blutigen militärischen Auseinandersetzungen wie dem ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996, den verschiedenen Kriegen in den Ländern, die aus dem zerfallenen Jugoslawien entstanden waren, darunter vor allem der Kosovokrieg, in den die NATO 1999 aktiv eingriff.

Liegt die Zeit des Optimismus womöglich noch weiter zurück, lag sie vielleicht in den 1950er bis 1970er Jahren, als in der Bundesrepublik das Wirtschaftswachstum gefeiert wurde und auch in anderen Ländern des Westens ein wirtschaftlicher Aufschwung zu erleben war? Man kann dieser Verortung einer optimistischen Stimmung sogleich die militärische Konfrontation zwischen den großen Militärblöcken, den Vietnamkrieg, die Kubakrise, aber auch ökonomische Krisen, spätestens in den 1970er Jahren die Ölkrise und die Berichte an den Club of Rome, die von den Grenzen des Wachstums sprachen, das Waldsterben und die atomare Bedrohung entgegenhalten.

Und dennoch: Blickt man aus heutiger Perspektive auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, hat man den Eindruck, damals hätte es viele Gründe gegeben, einigermaßen optimistisch in die Welt zu blicken.

Genauer gesagt: Man könnte meinen, dass wir in der damaligen Zeit zumindest geglaubt haben sollten, dass wir optimistisch sein können. Denn wenn wir uns heute vergegenwärtigen, was wir vor rund einem halben Jahrhundert über die Welt gewusst haben, wenn wir uns etwa in die Situation Ende der 1960er Jahre zurückversetzen, dann kann man durchaus sagen: Damals sah die Welt wenigstens auf den ersten Blick ganz vielversprechend aus. Die Wissenschaften stürmten von einem Erfolg zum nächsten, die Menschen flogen zum ersten Mal in den Weltraum, gar zum Mond, Technik machte das Alltagsleben immer einfacher und angenehmer, die Medizin machte gewaltige Fortschritte, die das gesunde Leben verlängerten. Europa befand sich, trotz der militärischen Konfrontation, in der längsten Friedensperiode seit Menschengedenken. Im Vergleich der Systeme zeigte sich, dass das demokratische, freiheitliche System in Hinblick auf Wohlstand, Wissenschaft, Technik und Medizin den autoritären, diktatorischen Systemen überlegen war. Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Ost- und Mitteleuropa Ende der 1980er schien ein sicheres Zeichen dafür, dass die Attraktivität der freiheitlichen Demokratien schließlich auch dafür sorgen würde, dass es sich letztlich überall auf der Erde durchsetzen würde.

So war auch die populäre Kunst, soweit sie sich mit der Zukunft beschäftigte, von Optimismus geprägt. In den erfolgreichsten Filmen wurde ein Bild kommender Zeiten entworfen, in dem sich eine vereinte, friedliche, demokratisch verfasste Menschheit auf der Basis einer perfekt funktionierenden Technik in einer sauberen, oft geradezu sterilen Umwelt insbesondere der weiteren Erforschung des Weltraums und weit entfernter Planetensysteme widmet – auf der Erde waren in diesen Zukunftsentwürfen alle Probleme längst gelöst. Man denke etwa an die Filme der Star-Trek-Reihe. Vielleicht wird beim Blick auf solche Kunstgenres, in denen Utopien über das Leben in zukünftigen Zeiten formuliert werden, am besten deutlich, wie optimistisch wir in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewesen sind – und wie wenig von diesem Optimismus geblieben ist. Für die Science-Fiction-Literatur Mitte des 20. Jahrhunderts konstatierte Andrew M. Butler, dass sie an die Möglichkeiten des Fortschritts glaubte, bei dem jede Erfindung dazu beitrug, die Menschheit zu befreien, und daran, dass, auch wenn technische Probleme auftauchten, eine neue Technologie diese sogleich lösen konnte.[1] Gefahren drohten der Menschheit in den epischen Werken dieser Jahrzehnte von außen, durch Aliens oder Meteoriten. Der technologische Fortschritt machte es aber immer möglich, diese Herausforderungen zu bestehen. Heutige Werke, die in die Zukunft schauen, sind Katastrophenepen, sie beschreiben eine von Krisen geschüttelte, existenziellen Gefahren ausgesetzte Gesellschaft, verroht, kriminell, die Zivilisation zerfallen und nur noch aus Geschichten der Alten bekannt. Cloud Atlas ist das wohl gelungenste Beispiel für ein Werk, das die Geschichte vom Fortschritt zum Besseren prinzipiell fragwürdig macht. Von einer wunderbar und reibungslos funktionierenden Technik ist nichts zu sehen, stattdessen begegnet uns etwa in Finch ein genialer Tüftler, der aus den Resten unserer Computer und Automaten Werkzeuge bastelt, mit denen er in einer unwirtlichen, dystopischen Umgebung halbwegs überleben kann. Von demokratischen Strukturen, freier Kultur und großer Wissenschaft fehlt in diesen Werken jede Spur.

Natürlich kann man mit einer gewissen Ironie sofort darauf hinweisen, dass der Optimismus, der vergangene Zeiten geprägt hat, schon damals fehl am Platze gewesen sei, dass er auf Illusionen über die tatsächliche Lage basierte. Man kann zu den bereits erwähnten Krisen und Verwerfungen, die all diese Jahrzehnte begleitet haben, hinzufügen, dass die Probleme, die uns heute eher düster und ängstlich, jedenfalls ohne großen Optimismus in die Zukunft schauen lassen, schon in diesen Jahrzehnten vorhanden waren, dass sie dort sogar ihre Wurzeln haben. Der menschengemachte Klimawandel wird bekanntlich durch den Ausstoß von Treibhausgasen verursacht, die vor allem durch die Verbrennung fossiler Energieträger entstehen, und damit durch jene Technik, die uns seit der Industrialisierung Bequemlichkeit und Freiheit gebracht hat. Die Globalisierung mit ihren weltweiten Verkehrs- und Warenströmen, die heute neben ihrem Beitrag zur Klimakatastrophe auch zur schnellen Verbreitung von Krankheiten und zur Abhängigkeit von aggressiven und autoritären Diktaturen beiträgt, hat ihre Wurzeln ebenfalls im optimistischen Fortschrittsdenken vergangener Jahrzehnte. Somit kann man sagen, dass es genau genommen auch schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen Grund zum Optimismus gab und dass eine besonders weitsichtige, besonders realistisch denkende und urteilende Person schon damals eher sorgenvoll in die Zukunft geschaut haben dürfte. Und diese Stimmen hat es durchaus auch gegeben, man denke an Adornos kritische Reflexionen über den Fortschritt.[2]

Wie Bruno Latour, der Kritik an der Postmoderne entgegnet hat, „Wir sind nie modern gewesen“,[3] könnte man also dem Gedanken, wir würden uns in einer postoptimistischen Gesellschaft befinden, entgegnen: „Wir sind nie optimistisch gewesen.“ Aber das ist eine Beurteilung aus heutiger Perspektive, aus dem Rückblick, in dem wir die Ursachen gegenwärtiger Probleme in den Entscheidungen der Vergangenheit sehen. Und wenn man ehrlich ist, hat es damals durchaus Grund zum Optimismus gegeben. Alles sprach dafür, dass selbst die größten Probleme, auch die sich anbahnenden Krisen, Konflikte und Katastrophen, mit einer wissenschaftlich-technischen Herangehensweise und einem zivilisierten politischen System, in dem starke und wirtschaftlich stabile freiheitlich-demokratische Gesellschaften die internationale Führungsrolle haben, bewältigt werden können. Es gab gute Beispiele dafür, dass Schwierigkeiten, die sich aus menschlicher Aktivität entwickelten, erkannt und bewältigt werden konnten. Als Beispiel sei nur das Verbot von FCKW-Treibhausgasen zum Schutz der Ozonschicht in den 1990er Jahren genannt. Es gab Hinweise, dass internationale Konflikte friedlich beigelegt werden könnten auf Basis einer rationalen Politik. All diese Erfahrungen gaben Grund für einen optimistischen Blick in die Zukunft, der mehr als bloße Illusion oder Selbsttäuschung war.

Von diesem Optimismus ist heute nichts geblieben. Seit etwa drei Jahrzehnten versucht die Menschheit, das Problem des menschengemachten Klimawandels zu lösen. Weder ist inzwischen Einigkeit darüber vorhanden, was konkret getan werden soll (abgesehen von der allgemeinen Einsicht, dass auf irgendeine Weise der Ausstoß von Treibhausgasen xe "Treibhausgase" reduziert werden muss), noch ist die internationale Politik dazu in der Lage, ein abgestimmtes Vorgehen zu implementieren, um konkrete Zielsetzungen zu erreichen. 2017 kam in den USA mit Donald Trump ein Präsident an die Macht, der die Überzeugung als Illusion entlarvte, demokratische Verfahren würden garantieren, dass die Machthabenden in ihren Entscheidungen einer gewissen Rationalität folgen und dass demokratische Regierungen immer verlässlich und berechenbar agieren. In den letzten drei Jahren hat die Coronapandemie die Anfälligkeit hoch entwickelter Gesellschaften gegen Krankheiten gezeigt, die sich rasant verbreiten können und sowohl unsere moralischen wie auch unsere zivilisatorischen Gewissheiten infrage stellen. Zuletzt hat unter anderem der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gezeigt, dass auch in Europa der Frieden keineswegs stabil und gesichert ist, vor allem aber, dass die Welt sich keineswegs in Richtung Frieden, Demokratie und Freiheit xe "Freiheit" entwickelt.

Die Diagnose, dass wir uns gegenwärtig in einer postoptimistischen Situation befinden, ist nicht ganz neu, sie ist nicht erst mit den Erfahrungen der Pandemie und dem Ukrainekrieg xe "Ukraine-Krieg" aufgetaucht. Schon 2014 hat Tomáš Halík seinem Buch Nicht ohne Hoffnung den Untertitel „Glaube im postoptimistischen Zeitalter“ beigefügt.[4] Er verweist darin auf eines seiner früheren Bücher, in denen er „Argumente dafür gesammelt [hat], warum wir unsere ‚postmoderne‘ Zeit eine postoptimistische Zeit nennen können“.[5] Halík konstatiert einen „Bankrott des neuzeitlichen Optimismus, dieses naiven Vertrauens in die Macht der wissenschaftlich-technischen Entwicklung“.[6] Gegen den unbegründeten Optimismus setzt Halík die Hoffnung, die dem Menschen die Kraft gebe, eine Situation auszuhalten, in der sich der Optimismus als Illusion erwiesen habe. Halík nimmt also die Charakterisierung der Gegenwart als gegeben hin und sucht nach einer Möglichkeit, mit der Desillusionierung umzugehen. In diesem Buch werden wir einen Schritt zurückgehen und konkret den Charakter der postoptimistischen Gesellschaft analysieren. Wir werden dazu bei den Merkmalen der optimistischen Gesellschaft ansetzen und ihr Scheitern, das wir derzeit erleben, nicht anekdotisch, sondern systematisch analysieren. Uns interessiert, worin die Irrtümer des Optimismus bestehen, wo also die Ursachen dafür liegen, dass wir unseren Optimismus in den letzten Jahren verloren haben. Denn dies ist nicht darin begründet, dass hier und da und in letzter Zeit gerade mal sehr oft etwas schiefgegangen ist, um es einmal lax auszudrücken. Wenn das so wäre, hätten wir unseren grundsätzlichen Optimismus nicht verloren. Wir könnten weiterhin gute Gründe dafür anführen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt Lösungen für drängende Probleme bereitstellen wird, dass demokratisch-freiheitliche Gesellschaften diese Problemlösungen sozialverträglich und vernünftig umsetzen werden und dass daraus eine Attraktivität dieses Gesellschaftsmodells entspringen wird, die darauf hoffen lässt, dass die menschliche Zivilisation letztlich auf den Weg von Frieden, Freiheit und Demokratie gelangt.

Das Scheitern der optimistischen Weltsicht, die auf diesem Fortschrittsmodell gründet, ist aber nicht anekdotischer Art. Es ist im optimistischen Handlungsmodell selbst angelegt. Die Lösung kann nicht darin bestehen, es zukünftig einfach besser zu machen und darauf zu hoffen, dass die gesamte Menschheit auf den Pfad des Fortschritts einschwenkt. Vielmehr kommt es darauf an, mit den prinzipiellen Schwächen des Fortschrittsoptimismus umgehen zu lernen. Dazu sollen im Folgenden vor allem die Irrtümer dieses Optimismus analysiert werden. Sie sind durch eine Erfolgsgeschichte verdeckt, die seit den Anfängen der Aufklärung, mit der industriellen Revolution, der Entstehung demokratischer Nationalstaaten, den wissenschaftlich-technischen Revolutionen, der Entwicklung von Wohlstand, Gesundheit und langer Lebenserwartung in den Industriestaaten und zunehmend auch in den sogenannten Schwellenländern in immer neuen Kapiteln erzählt wird, auch wenn zunehmend Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit entstanden sind. Wir werden die Erfolge, die in diesen Geschichten gepriesen werden, gar nicht infrage stellen, und es wäre verfehlt, das zivilisatorische Potenzial dieser Entwicklungen zu ignorieren oder zu bestreiten. Worauf es ankommt, ist, ihre Begrenztheit, die Endlichkeit der Bereiche ihrer Wirksamkeit zu erkunden. Wir bewegen uns heute ganz offenbar an diesen Grenzen. Wenn wir dies akzeptieren, haben wir zwei Möglichkeiten, mit der gegenwärtigen Situation umzugehen: Wir können uns auf den begrenzten Bezirk zurückziehen, in dem unsere Weltbilder funktionieren, oder wir können lernen, ohne Fortschrittsoptimismus in den Grenzregionen zu agieren. Beides kann ein gutes Leben sein, von Zuversicht und Hoffnung geprägt, aber gleichwohl ohne den Optimismus, der sich aus der Fortschrittserzählung vergangener Zeiten nährt.

Es ist offenbar sinnvoll, zwischen Optimismus, Zuversicht und Hoffnung zu unterscheiden. Optimismus soll hier als die Überzeugung verstanden werden, für jedes Problem eine passende Lösung finden zu können, die das Problem beseitigt, und bereits grundsätzlich über die Verfahren zu verfügen, nach denen diese Lösung erarbeitet werden kann. Optimismus war durch die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte eng mit dem Fortschrittsgedanken verbunden. In einer optimistischen Gesellschaft herrscht die Überzeugung, dass es „vorwärtsgeht“, dass es insbesondere kommende Generationen in jeder Hinsicht besser haben werden, weil sie das, was wir heute für erstrebenswert halten, selbstverständlich zur Verfügung haben werden – Gesundheit, Wohlstand, Frieden, Freiheit, ein langes und entspanntes Leben voller Freude. Der Grund für diesen Optimismus liegt zum einen in den Erfolgen, den Fortschritten von Wissenschaft und Technik, zum anderen in der Überzeugung, dass die Vernunft sich in der Gesellschaft durchsetzen wird. Vernunft xe "Vernunft" wird dabei gedacht als ein abwägendes, an langfristigen Zielen orientiertes und vom Verständnis für Zusammenhänge geprägtes Denken und Entscheiden, also letztlich als eine Ausdehnung des wissenschaftlich-technischen Entscheidungsmodells auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Gemeinhin ist zudem die Überzeugung verbreitet, dass vernünftiges Entscheiden und Denken auf demokratische Prinzipien und Gewaltverzicht hinausläuft. Optimismus bedeutet deshalb auch, davon überzeugt zu sein, dass die Zukunft von einer Ausbreitung von Demokratie xe "Demokratie" , Freiheit xe "Freiheit" und Frieden geprägt sein wird.

Wenn ein solcher Optimismus verloren gegangen ist, muss die Alternative jedoch nicht zwingend der Pessimismus sein, also die Überzeugung, dass „alles schlechter wird“, dass das Chaos und die Gewalt siegen werden oder dass es gar mit der Menschheit insgesamt zu Ende geht. Man kann auch zu dem Standpunkt kommen, dass die Zukunft zwar nicht weniger Probleme für die Menschen als heute bereithält, dass zukünftige Generationen es nicht besser haben und dass sie schon gar kein sorgenfreies Leben haben werden – dass es aber gelingen wird, die Probleme beherrschbar zu machen und Lösungen zu finden, die vielleicht neue Probleme mit sich bringen, die aber doch auch immer Chancen auf ein gutes Leben eröffnen werden. Diese Sicht soll hier als Zuversicht xe "Zuversicht" bezeichnet werden. Zuversichtlich ist, wer sagt: Wir werden Wege finden, um zu überleben, und es wird auch in Zukunft Momente geben, in denen wir glücklich sind. Und das, was wir für erstrebenswert halten, das Besiegen einer Krankheit, die Beseitigung existenzieller Gefahren, ein freies Leben, eine Staatsform ohne Diktator, ein Zusammenleben der Menschen ohne Gewalt und Krieg, all das ist zwar niemals sicher und immer gefährdet, aber es ist dennoch möglich, und es ist auch möglich, dafür Konzepte zu entwickeln und in die Tat umzusetzen.

Zuversicht wird gebraucht, um gute Ideen als Handlungsanleitung zu nehmen, auch wenn man weiß, dass man scheitern kann. Um zuversichtlich sein zu können, muss man zuerst Hoffnung haben – Hoffnung, dass es überhaupt Ideen und Optionen, dass es Handlungsspielräume gibt, die man noch nicht kennt und die man vielleicht noch nicht einmal sieht, die man also erst einmal suchen muss oder auf die man womöglich sogar schlicht warten muss mit wachem Geist und eben mit Hoffnung, damit man sie erkennen und entwickeln kann.

Auf den kommenden Seiten wird es also darum gehen, Gründe für diese Hoffnung und Ansätze für diese Zuversicht zu entwickeln in einer Zeit, in der der Optimismus verloren gegangen ist. Dabei werden wir uns an dem philosophischen Dreiklang Wissen – Handeln – Hoffen orientieren. Als Dreischritt aus der fortschrittsoptimistischen Zeit heraus, die auf dem Vertrauen auf wissenschaftlich-technische Lösungen für fast alle Probleme gründet, und in die postoptimistische Zeit hinein, die ihre Zuversicht auch aus anderen Bereichen menschlicher Vernunft ziehen muss, gehen wir damit folgenden Weg: von der Beschreibung der Grundprinzipien des optimistischen Denkens und Handelns über die Analyse der Grenzen, die dem Fortschrittsoptimismus gesetzt sind, hin zu einem Entwurf von Grundlinien der postoptimistischen Gesellschaft, die trotz ihres Verzichts auf den alten Optimismus nicht pessimistisch ist. Gründe für Zuversicht zu finden ist das Ziel, aber sie können nur gewonnen werden durch ein Nachdenken über das Wissen, welches unser Handeln stützt und motiviert.

Wir werden daher mit der Frage beginnen, wie das Wissen in der optimistischen Gesellschaft aufgebaut ist, warum eine bestimmte Form von Wissen den Optimismus begründen kann und warum diese Wissensform letztlich in gewissen Anwendungsbereichen scheitern muss – was dann zum Verlust des Optimismus führt. Zugleich wird sichtbar werden, welche Wissensformen in einer postoptimistischen Gesellschaft Grund für Zuversicht sein können. Dies wird uns dazu hinleiten, die Handlungsweisen zu überdenken, die in der optimistischen Gesellschaft – basierend auf den dort entwickelten Wissensformen – als selbstverständlich angesehen sind. Auch hier wird sich zeigen, dass es Handlungsweisen und -motivationen in der postoptimistischen Lage gibt, die Grund zur Zuversicht geben. Schließlich werden wir auf diese Weise erkennen, warum es Grund zur Hoffnung gibt, auch wenn alle Selbstverständlichkeiten, die wir für den Optimismus brauchten, fragwürdig oder hinfällig geworden sind.

Kapitel 1Der Aufbau der wissenschaftlich-technischen Wirklichkeit – Lebensraum der optimistischen Gesellschaft

Irgendwann in der Mitte des 17. Jahrhunderts notierte Blaise Pascal den Satz „Es entspricht nicht dem Wesen des Menschen, immer voranzugehen.“[7] Pascal, der selbst nicht nur Philosoph war, sondern als Physiker und Erfinder in die Geschichte eingegangen ist, begegnet uns als ein Denker aus voroptimistischen Zeiten. Zu Beginn der Neuzeit, am Ende des 16. sowie im 17. Jahrhundert, waren die Menschen erschüttert und begeistert von den Entdeckungen der jungen Naturwissenschaften xe "Naturwissenschaften" . Sie blickten aber zugleich eingeschüchtert in die Unendlichkeit, die sich sowohl im Allergrößten als auch im Allerkleinsten zeigte. Sie erkannten die Endlichkeit der eigenen Fähigkeiten, diese Unendlichkeit auch nur zu erfassen, zu begreifen oder gar zu beherrschen. „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich“, notiert Pascal.[8] Die Natur, das Weltall könne, erkannte er, den Menschen auf einfachste Weise töten. Das Einzige, was den Menschen auszeichne, sei, dass er zu denken vermöge, dass er zu erkennen vermöge, wie schwach und elend er sei – darin bestand nach Pascal die Würde des Menschen. Pascal, der heute selbst zumeist als ein Vorläufer und Begründer der modernen Naturwissenschaften angesehen wird, kam nach intensiver Arbeit auf dem Gebiet der Mathematik und der Physik zu der Einsicht, „dass diese abstrakten Wissenschaften dem Menschen nicht entsprechen, und dass ich von meiner Daseinsverfassung mehr abschweifte, indem ich in diese Wissenschaften eindrang“.[9]

Wie weit ist dieses Denken von dem entfernt, welches sich in den letzten Jahrhunderten im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und der europäischen Aufklärung xe "Aufklärung" geformt hat! Schaut man zurück in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, kann man wohl zunächst das Denken, das sich etabliert hatte, mit der Umkehrung des zitierten Pascal-Satzes charakterisieren: Es entspricht dem Wesen des Menschen, immer voranzugehen. Dass der Mensch unendlich klein sei im Angesicht der unendlichen Vielfalt und Weite der Natur und des Alls, ist ein Gedanke, der dem späten 20. Jahrhundert fremd war. Wenigstens die Menschen in der Tradition der Aufklärung würden ihn vielleicht nicht einmal bestreiten – er käme ihnen schlicht nicht in den Sinn. Der Mensch ist das Wesen, das immer mehr versteht und immer mehr beherrscht, würden sie erwidern. Pascal war durchdrungen von der Einsicht, dass der Mensch „nur ein Schilfrohr“ ist, „das schwächste der Natur“. Am Ende des 20. Jahrhunderts hätten wir schulterzuckend erwidert: Na und? Wir bauen dem Schilfrohr eben einen Windschutz, ein Haus, damit „ein Dampf, ein Wassertropfen“ ihn eben nicht zerstören können. Das ist das Denken der optimistischen Zeit. Es hat die Erfahrungen und Erkenntnisse der Jahrhunderte auf seiner Seite, die seit Pascal vergangen sind, und entbehrt somit keineswegs einer überzeugenden Plausibilität. Dennoch ist es in den vergangenen Jahrzehnten in eine tiefe Krise geraten und, wie wir im Folgenden sehen werden, an sein Ende gekommen.

Die Wirklichkeit technisch kontrollieren

Um diese Krise zu verstehen, muss man zunächst diese Plausibilität des optimistischen Fortschrittsdenkens verstehen. Man muss aber auch darüber nachdenken, in welchem Maße sich bereits in der Geschichte, die wir uns über das Fortschreiten von Wissenschaft und Technik zum Schutze und Wohle der Menschen erzählen, früh Irrtümer und Selbsttäuschungen eingeschlichen haben, die nun, in der Gegenwart, unübersehbar werden.

Der Grundkonsens, der das Fundament der optimistischen Gesellschaft darstellt, besteht darin, dass die Wirklichkeit xe "Wirklichkeit" beherrschbar sei. Unter dem Begriff Wirklichkeit wollen wir hier nicht die ganze Natur xe "Natur" , nicht die ganze Realität vom Größten bis zum Kleinsten verstehen, sondern den Ausschnitt dieser Realität xe "Realität" , auf den wir als Menschen einwirken und der auf uns wirkt. Genauer gesagt, schauen wir uns gerade diesen Wirkungszusammenhang an, das wechselseitige Einwirken der Natur auf uns und unseres Handelns auf die Natur. Wir erleben die Natur, die Realität, indem wir ihre Wirkungen auf uns erfahren. Damit ist weniger gemeint, dass wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen, sondern dass sie etwas mit uns macht: der Regen, der uns nässt, der Wind, der uns beugt, die Virusinfektion, die uns krank macht, die Überschwemmung, die unsere Häuser und Straßen zerstört und Menschen tötet – das ist die Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit gehört umgekehrt die von uns geschaffene Realität, ebenjene Straßen und Häuser, die Medikamente, die Regenbekleidung. Wirklichkeit ist der Prozess und das Resultat der Beziehung des Menschen zur Realität. Diese Beziehung in der Hand zu haben, planvoll und erfolgreich gestalten zu können, das ist es, was sich als Fortschrittsidee in der Neuzeit, insbesondere seit der Aufklärung, in Europa, der „westlichen Welt“ und darüber hinaus etabliert hat. Fortschritt ist dabei die stetige Ausdehnung des Bereichs der beherrschten Wirklichkeit, die erfolgreiche, stabile und zuverlässige Sicherung ihrer Grenzen, das kontrollierte Öffnen dieser Grenzen mit dem Ziel, neue Räume der Realität in den Bereich der kontrollierten Wirklichkeit zu integrieren, ohne dass dadurch die Kontrolle über die bereits beherrschte Wirklichkeit gefährdet wird. Zum Fortschritt gehören deshalb die Eisenbahntrasse und die Autobahn durch vormals nicht besiedeltes Gebiet ebenso wie das GPS-Navigationsgerät, mit dem wir uns in den Bergen und auf dem Ozean orientieren können. Ebenso gehören dazu der Malariaimpfstoff, der uns ermöglicht, relativ gefahrlos durch Urwälder zu reisen, und die Bewässerungssysteme, mit denen trockenes Land fruchtbar gemacht wird.

Als Basis für diese Kontrolle der Wirklichkeit wird die Technik xe "Technik" angesehen. Diese ist wiederum vor allem fundiert in einer modernen Naturwissenschaft. Unter dem Begriff Technik fassen wir hier einerseits alle Elemente der Realität, die wir Menschen erzeugen und anpassen, die wir nutzen, um Wirklichkeit herzustellen und zu kontrollieren, andererseits aber auch die Verfahren, die wir erlernt haben, um diese Elemente zu benutzen und zu verwenden. Hier wird eine Parallelität der Begriffe Wirklichkeit und Technik sichtbar. Wie die Wirklichkeit ist auch die Technik zugleich etwas Materielles wie auch ein Prozess der Wechselwirkung zwischen Mensch und Realität. Wirklichkeit und Technik sind das dynamische, prozesshafte Verhältnis zur Welt. Die Wirklichkeit, wie sie in den letzten Jahrhunderten geformt wurde, ist eine technische. Unsere Wirklichkeit besteht aus Straßen, Häusern, Bewässerungsgräben, Funktionskleidung, Navigations- und Kommunikationsgeräten; unser Wirken besteht in der Benutzung und der Veränderung, der Wartung und dem Ausbau von Technik.

Genau besehen, finden wir in der menschlichen Praxis, in unserer Wirklichkeit, immer wieder diese Doppeldeutigkeit. Wir erleben die Wirklichkeit, die Technik, die Wissenschaft und das Wissen immer zugleich als etwas Bestehendes, das wir haben, und als etwas Entstehendes, das wir entwickeln, erzeugen, gestalten und verändern. Die Frage, wie das möglich ist, wird zumeist so beantwortet, dass wir das, was entstehen soll, bereits zuvor als Idee, als Vorstellung im Kopf haben – oder dass es wenigstens in den Köpfen der Leute, die die Wirklichkeit verstehen und die gemeinsam ihre Idee verwirklichen, bereits als Plan existiert, bevor sie mit der Verwirklichung beginnen. „Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formänderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss“,[10] schreibt Marx im Kapital und erweist sich damit als paradigmatischer Vertreter des aufgeklärten Optimismus. Der Bau des technischen Objekts, sei es ein Hochhaus oder eine Raumstation, ist zugleich das, was entsteht, wie auch der Prozess der Entstehung des Objekts selbst, nach einem Plan, der zuvor im Kopf des Baumeisters entstanden war. Das eigentliche Bauen ist in dieser Vorstellung gar keine aktive Handlung mehr, es ist nur noch Umsetzung des vorher gefassten Plans.

Optimismus xe "Optimismus" heißt nun, zu glauben, dass so etwas möglich ist, und zwar nicht nur ausnahmsweise, sondern als Normalfall: anzunehmen, dass wir uns aufgrund unseres Wissens über die Realität, die uns umgibt, Dinge so ausdenken können, wie wir sie benötigen; dass wir alle praktischen Tätigkeiten und Werkzeuge so vorbereiten können, dass wir das, was wir uns erdacht haben, auch planvoll herstellen können; und dass das so Hergestellte dann auch genau so funktionieren wird, wie wir es uns ausgedacht haben. Dies ist in der optimistischen Sichtweise nicht nur der Normalfall, es ist die Norm: Immer wenn es Abweichungen von dieser planvollen und zweckgerichteten Umsetzung unserer Ideen gibt, wenn die Dinge einmal nicht so laufen wie geplant, dann betrachten wir das als Störung, als Fehler, für den jemand konkret verantwortlich sei und den man hätte vermeiden können und vermeiden müssen.

Es ist unbestritten, dass wir Menschen zu einem solchen planvollen Handeln in der Lage sind. Technik in dem genannten umfassenden Sinn als Zusammenspiel von zweckvollen Werkzeugen und von erlernten Fähigkeiten, diese zur Herstellung wieder neuer technischer Objekte (oder zu ihrer Instandhaltung) zu benutzen, hat eine technische Wirklichkeit entstehen lassen, in der wir mit hoher Verlässlichkeit über lange Zeiträume und von Störungen durch die Natur weitgehend unbehelligt sicher agieren können. Man beobachte etwa eine Handwerkerin, die ein Möbelstück oder eine Maschine reparieren will: Sie untersucht das Objekt, entwickelt eine Idee, wie das Ding aussehen müsste, damit es wieder funktioniert, wählt das richtige Werkzeug und stellt mit eingeübten Handgriffen den Zustand her, von dem sie zuvor schon wusste, dass er den gewünschten Erfolg zeigen wird. Man denke auch an Ingenieure, die Häuser entwerfen, Maschinen und Fahrzeuge konstruieren: Auch ihre Ideen können auf technischem Wege Wirklichkeit werden und in dieser die gewünschten Zwecke erfüllen.

Schaut man sich die tatsächlichen Abläufe genauer an, bemerkt man allerdings oft, dass die Sache nicht so einfach ist, wie wir sie hier kurz skizziert haben. Oft irrt die Fachkraft, sie scheitert, muss über die Gründe des Scheiterns nachdenken, muss herumprobieren, andere Wege zum Ziel suchen, womöglich gar die Ziele ändern. In der Geschichte, die wir uns später vom Fortschritt erzählen, spielen Um- und Irrwege meist keine Rolle. Sie werden als vermeidbare Störung und Verzögerung angesehen, über die man nach dem Erfolg, zu dem man schließlich gekommen ist, keine großen Worte mehr machen will.

Zum Optimismus, der sich seit Pascal in der Tradition der Aufklärung xe "Aufklärung" entwickelt hat, gehört aber auch die Vorstellung, dass diese Fähigkeit des planvollen Gestaltens der Wirklichkeit keine Grenzen kennt, dass Schritt für Schritt, immer auf der Grundlage des schon Erreichten, die technische Wirklichkeit in das unendlich Große und das unendlich Kleine ausgedehnt werden kann. Diese Vorstellung ließ Pascal bekanntlich noch schaudern. Das optimistische Fortschrittsdenken lacht über dieses Schaudern. Wir werden noch sehen, ob die Gegenwart nicht erste Anzeichen dafür bereithält, dass wir das Schaudern Pascals, gedeutet als ein Zurückschrecken und ein Sich-Bescheiden im Endlichen, wieder ernst nehmen sollten.

Naturwissenschaft und Technik – Fundament des Optimismus

Es ist ein Gemeinplatz, dass der Erfolg der modernen Technik in der Anwendung moderner Wissenschaften liegt, insbesondere der Naturwissenschaften xe "Naturwissenschaften" und dort allen voran der Physik. Um zu verstehen, was die technische Wirklichkeit gegenüber anderen Formen des wirklichen Verhältnisses des Menschen zur Natur auszeichnet, ist es hilfreich, zunächst dieser Gründung der Technik in der modernen Naturwissenschaft nachzugehen – auch wenn sich zeigen wird, dass diese Fundierung durchaus fragwürdig ist und auch umgekehrt werden kann.

Was macht die moderne Naturwissenschaft aus? Eine verbreitete Ansicht geht von der Dominanz der Theorie xe "Theorie" über das Experiment xe "Experiment" in der modernen Naturwissenschaft aus, insbesondere in ihrer paradigmatischen Disziplin, der Physik xe "Physik" . Schon im obigen Marx-Zitat wird das deutlich: Der Baumeister hat zunächst eine theoretische Vorstellung von dem, was entstehen soll. Man könnte sagen, er hat ein theoretisches Modell dessen, was Wirklichkeit werden soll. Ohne diese Theorie ist gar kein erfolgreiches praktisches Handeln möglich. Populär gemacht wurde diese Sicht mit Blick auf die Naturwissenschaften durch die Logik der Forschung von Karl Popper. „Die Erfahrungswissenschaften sind Theoriensysteme“, schreibt er.[11] Demnach werden zunächst Theorien entworfen, auf deren Basis dann Fragen formuliert werden können, die in Experimenten zu beantworten sind. „Der Experimentator wird durch den Theoretiker vor ganz bestimmte Fragen gestellt und sucht durch seine Experimente für diese Fragen und nur für sie eine Entscheidung zu erzwingen.“[12] Diese Antworten wiederum entscheiden dann über die Richtigkeit der Theorie. Die viel diskutierten Details des Popper’schen Konzepts und vor allem die Frage, ob das Experiment ein Versuch ist, die Theorie zu bestätigen, oder ob es eher so konzipiert ist, sie zu widerlegen, müssen uns hier nicht interessieren. Es fällt aber auf, dass es gar nicht so einfach ist, aus diesem Konzept die Entstehung einer auf Naturwissenschaften basierenden Technik zu verstehen. Die naturwissenschaftlichen Theorien xe "Theorie" sind zunächst ja keineswegs von technischen Interessen oder von dem Wunsch nach Beherrschung der Wirklichkeit geleitet, sondern ausschließlich von dem Streben nach Wissen und nach immer besseren Theorien. Dass bei diesen Theorien am Ende Erkenntnisse entstehen, die „technisch nutzbar“ sind, erscheint da zunächst als Zufall. Man hat etwas über die Natur herausgefunden, und das nehmen sich dann kluge Ingenieure vor, um mit diesem Wissen Maschinen, Fahrzeuge, Apparaturen – eben Technik – zu entwickeln. Wenn sich aber Theorien ganz frei aus purer Lust am Erkennen, am Ausweiten des Wissens entwickeln würden, bliebe unerklärlich, warum Wissenschaft insgesamt so oft zu technisch anwendbarem Wissen führen kann.

Wissenschaftsphilosophische und -historische Untersuchungen, die von der Praxis des Experimentierens ausgingen, haben jedoch gezeigt, dass sich die Dynamik ganzer Wissenschaftsdisziplinen auch ganz ohne Bezugnahme auf Theorien beschreiben lässt.[13]