Richtig streiten - Jörg Phil Friedrich - E-Book

Richtig streiten E-Book

Jörg Phil Friedrich

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Beschreibung

Am Streit führt kein Weg vorbei, weder im Politischen noch im Privaten. Dafür sind unsere Wünsche, Ängste und Sehnsüchte zu stark. Jörg Phil Friedrich findet, dass man diese Tatsache anerkennen muss. Oft können wir diejenigen Dinge am wenigsten mit sachlich-rationaler Argumentation fassen, die uns am meisten am Herzen liegen. Deshalb ist es umso wichtiger, das richtige Streiten zu lernen. Mit dem vorliegenden Essay gibt Friedrich seinen Leserinnen und Lesern dafür ein belastbares Koordinatensystem an die Hand und eröffnet ungewöhnliche neue Perspektiven. So kann Streit fruchtbar werden!

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Jörg Phil Friedrich

Richtig streiten

Jörg Phil Friedrich, Jahrgang 1965, ist Softwareunternehmer, Philosoph und Publizist. Er liebt es, pointiert und lebensnah zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen und diese zu durchleuchten. Bei Claudius ist von ihm bereits erschienen: Degenerierte Vernunft – Künstliche Intelligenz und die Natur des Denkens (2023).

INHALT

Einleitung

Kapitel 1

Das begründete Sprechen

Kapitel 2

Gemeinsamkeiten im Streit und Nachsichtigkeit

Kapitel 3

Die Struktur der Meinung

Kapitel 4

Die Kontinuität des Begründens

Kapitel 5

Die Spontaneität der Äußerung

Kapitel 6

Geltungsansprüche und Fehlschlüsse

Kapitel 7

Prinzipien und die herrschende Meinung

Kapitel 8

Warum streiten wir überhaupt?

Anmerkungen

Impressum

Einleitung

Es wird viel gestritten, in Talkshows, in den sozialen Medien, in der Familie und unter Freunden. Es geht um die Umwelt oder das nächste Urlaubsziel, um den amerikanischen Präsidenten, um das Verbot von Pkw mit Verbrennermotoren, um den leeren Kühlschrank oder den vollen Mülleimer. Es geht um private Entscheidungen oder um gesellschaftliche Fragen und politische Probleme. Wir streiten mit Partnern und Freunden genauso über die Frage, was am Wochenende zu erledigen ist oder ob man sich mit Freunden treffen sollte, wie wir über die Nachrichten und die sogenannte große Politik streiten. In den Medien verfolgen wir den Streit der Experten über den richtigen Weg aus den Krisen, die uns auch im Alltag Sorgen machen, und den Streit unter Politikern, die Entscheidungen über Maßnahmen herbeiführen sollen.

Man meint oft, wir sollten uns weniger streiten, sollten eher den Konsens suchen, oder wenigstens einen Kompromiss, und wir sollten dem Streit aus dem Wege gehen, weil der nur Konflikte zuspitzt, die Gegensätze verhärtet und verhindert, dass man sich überhaupt einigt, dass man in Zukunft friedlich zusammenlebt. Anstelle des Streits sollte ein sachliches Argumentieren treten, das Abwägen von Fakten und Konsequenzen von Handlungen. Aber wie im Privaten so auch im Politischen merkt man schnell, dass gerade die Dinge, die am wichtigsten sind, unsere Wünsche, Sehnsüchte und Sorgen, unsere Werte und die Vorstellungen vom guten Leben, die in der Auseinandersetzung immer eine Rolle spielen, nicht mit Tatsachen beiseitegeschoben oder so begründet werden können, dass ein anderer durch sachliche Argumente überzeugt werden könnte. Hinzu kommt, dass Tatsachen zumeist nicht einmal so genau bekannt sind, dass ihre Konsequenzen als Argumente akzeptiert werden müssten.

Am Streit führt also kein Weg vorbei. Oft hört man, Streit sei irrational. Aber wenn man die Tatsachen und ihre Zusammenhänge in der Welt nicht so genau kennt und wenn die Auseinandersetzung über Wünsche und Werte ohnehin nicht durch Tatsachen entschieden werden kann, wäre es irrational, auf einer sachlichen Argumentation zu bestehen, die doch gar nicht zu einem Ende kommen kann. Streit selbst ist rational – er kann jedenfalls rational sein, wenn wir akzeptieren, dass die menschliche Rationalität vielfältiger und komplexer ist, als es eine formale Logik und nüchterne Tatsachen glauben machen wollen.

Irrational zu sein, nicht logisch zu argumentieren, ist dann ein oft gehörter Vorwurf. Dem politischen Gegner wird gern unterstellt, die Regeln der Logik zu verletzen, nicht rational zu argumentieren. Es hat den Anschein, als gäbe es irgendwo ein Regelwerk, an welches sich jede Person halten müsste und könnte, die an einem Streit teilnehmen will – und wer sich nicht an diese einfachen Regeln hält, der ist auch nicht berechtigt, mitzureden. Schließlich soll der Streit zwar engagiert, aber am Ende doch konstruktiv sein. Und um konstruktiv zu sein, so meint man, müssen sich alle an die Regeln der Logik halten.

Logik ist in dieser Sicht eine alte und gut begründete Wissenschaft, die zudem durch jeden, der für sich beansprucht, vernünftig zu sein, erlernt und angewandt werden kann. Logik als Wissenschaft ist Mathematik und ihre Regeln sind so glasklar vernünftig und zwingend wie die der Addition und Multiplikation. Wer sich nicht selbst die Mühe machen will, die Anwendung dieser Regeln zu lernen, soll wenigstens auf die Experten hören, die das können, soll ihnen vertrauen und im Übrigen schweigen.

Dieses Essay wird diese einfache Sicht der Dinge fragwürdig machen. Kurz gesagt, behaupte ich hier, dass die einfache Logik für die meisten Bereiche, um die wir engagiert streiten, gar nicht anwendbar ist. Unsere praktische und gesellschaftliche Welt gehorcht nicht klaren mathematischen Regeln, weder denen einer simplen formalen Aussagenlogik noch denen einer ausgefeilten Argumentationslogik. Wir können unsere Vorstellungen und Überzeugungen von der Welt nicht so in Begriffe fassen, dass einfache logische Regeln, die man im Mathematikunterricht lernen kann, anwendbar wären. Zwar können all die durchdachten Regelsysteme hilfreiche Orientierung geben, um die Realität zu durchschauen. Sie können uns sozusagen als einfache Beispiele dienen, so wie wir mit Puppen und Teddybären als Kinder Schule oder Vater-Mutter-Kind gespielt haben und damit einen ersten Eindruck davon bekamen, wie unser Zusammenleben strukturiert ist. Aber die einfachen Beispiele und Regeln lassen sich nicht einfach auf die Welt anwenden und schon gar nicht können wir sie als Werkzeugkasten in einem realen Streit verwenden, um irgendwen von einer Wahrheit zu überzeugen. Sie sind weder zur Beschreibung eines möglichen rationalen Diskurses geeignet noch als Normen, nach denen die Teilnehmer des Diskurses sich zu richten hätten, wenn sie beanspruchen, am Gespräch teilzunehmen.

Deshalb ist es auch absurd, die Einhaltung und Beachtung dieser Regeln zur Voraussetzung für die Teilnahme an einem Streit zu machen. Vernünftig ist immer nur die Beachtung einer Logik, die dem Problemkreis, um den sich das Gespräch dreht, angemessen ist. Die Einhaltung einer Logik zu fordern, die nicht angemessen ist, ist hingegen unvernünftig.

Wir müssen also, um es noch einmal anders zu sagen, zwischen Streit und Diskussion unterscheiden. Beide haben ihre Berechtigung und ihren eigenen Platz in der Kommunikation, sei es im privaten, im gesellschaftlichen oder im politischen Bereich. Keineswegs lässt sich jeder Streit in eine „sachliche Diskussion“ verwandeln. Sachlich bleiben können wir eigentlich nur, wenn wir den Gegenstand, um den es geht, zwar „interessant“ finden, wenn er uns aber nicht existenziell betrifft. Steht unser Selbstverständnis von guten, richtigen, erfüllten, sinnvollen Leben auf dem Spiel, sind wir nicht nur sachlich, sondern existenziell gefragt. Dann müssen wir streiten. Um die Logik und die Rationalität dieses Streitens soll es auf den folgenden Seiten gehen.

Eine Bemerkung zum Aufbau dieses Essays sei dem vorangestellt. Es handelt sich im ganz ursprünglichen Sinn um ein Essay, also um einen Versuch, ein aktuelles, durch tagtägliche Erfahrungen dynamisch veränderliches Geflecht von Problemen zu durchdenken. Wie Meinungen im Streit mag auch in diesem Essay einiges widersprüchlich und unpräzise wirken, aber ich habe die Hoffnung, dass es insgesamt das Nachdenken über das richtige Streiten in eine konstruktive, erhellende Richtung befördert. Im gewissen Sinne ist es ein Versuch, zum Streiten über das Streiten konstruktiv beizutragen.

Dabei gehen die ersten Abschnitte davon aus, dass Streitende im Streit nach Konsens und Ausgleich suchen, eine These, die später widerrufen wird. In der Realität wird beides nicht immer zu unterscheiden sein – und die widersprüchlich anmutende Methodik ist vielleicht geeignet, diese Ununterscheidbarkeit und Unentschiedenheit realer Streits verständlich zu machen.

Kapitel 1 Das begründete Sprechen

Das Wort Logik stammt bekanntlich aus dem Griechischen, die Nachsilbe -ik weist darauf hin, dass das Wort eine Kunst oder Technik beschreibt, genauer gesagt etwas, was sowohl Kunstfertigkeit als auch technisches Vermögen ist, eine Fähigkeit, die man einüben kann und in der man es zur Meisterschaft bringen kann. Das griechische Wort λόγος (lógos), das die erste Silbe des Worts beiträgt, hat eine besondere Bedeutung. Es ist nicht einfach das Sprechen oder die Rede, es ist das Sprechen mit oder zu anderen mit einem gewissen Anspruch. Schaut man in ein Wörterbuch des Altgriechischen, meint man zuerst, dass das Wort verschiedene Bedeutungen haben könnte, da steht als Übersetzung ebenso die Mitteilung, die Rede, die Erzählung oder gar das Gerücht wie auch die Behauptung, der Lehrsatz und auch die Rechenschaft und sogar die Rechnung und schließlich auch die Vernunft. Noch schillernder erscheinen die Bedeutungen, wenn man das zugehörige Verb λέγειν (légein) dazu nimmt, das auch auflesen, sammeln, auslegen und natürlich besprechen bedeutet. Wenn wir ein altgriechisches Wort heute mit so unterschiedlichen Wörtern übersetzen, weist das aber darauf hin, dass darin eine gemeinsame Bedeutung steckt, etwas, das ursprünglich zusammengehörte, das im Laufe der Geschichte vergessen wurde und sich in verschiedene Bedeutungen verloren hat. Es geht um das sammelnde, versammelnde gemeinsame Besprechen, bei dem ein gemeinsames Verständnis einer Sache entwickelt wird, welches sich aber nicht unbedingt in einem einfachen Satz, sondern in einer Erzählung, einer gemeinsamen Rede darstellen lässt. Diese frühe Bedeutung ist uns heute nicht völlig fremd; auch wenn wir keinen treffenden Begriff mehr dafür haben. Aber wir kennen noch immer die Kunst, gemeinsam im Gespräch eine Lösung für ein Problem oder eine Antwort auf eine wichtige Frage zu finden – durch gemeinsames Abwägen, dadurch, dass im Gespräch Verständnis für die Befürchtungen und Hoffnungen der anderen gefunden und Gründe für ihre Ansichten nachvollziehbar werden –, also einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden. Die Kunst dieses Beratschlagens und Rechenschaftgebens, das ist die Logik. Um diese Logik soll es in diesem Essay gehen.

Meinungen und Erwartungen

Ich werde versuchen, ein paar Elemente der Logik des alltäglichen Gesprächs zu finden, vor allem, wenn sich dieses Gespräch um politische oder gesellschaftliche Situationen, Ereignisse und Prozesse dreht.

Gleich vorweg: Es gehört zu den großen Missverständnissen, dass wir einander innerhalb eines alltäglichen Zusammentreffens, sei es ein Telefonat, ein Wortwechsel am Abendbrottisch oder in der Mittagspause, irgendwie von der Richtigkeit der eigenen Argumente und von der Falschheit der Argumente und Überzeugungen des anderen überzeugen könnten. Wo dies doch funktioniert, geht es meist um nichts Bedeutendes, nichts, was mir oder meiner Gesprächspartnerin wirklich wichtig ist. Wenn wir beratschlagen, welchen Wein wir den Freunden am Samstag servieren, ist das Argumentieren einfach und wir können uns rasch einigen. Wer darüber ins ernste Streiten gerät, der wird wohl auf den folgenden Seiten auch keine Hilfe finden. Hier geht es um die Dinge, die uns etwas bedeuten, die unsere Sehnsüchte und Hoffnungen, unsere Ängste und innersten Wünsche betreffen. Das können private Fragen sein, etwa, ob die Stadt, in der wir wohnen, die ist, in der wir alt werden wollen, ob wir im Sommer verreisen wollen oder lieber im Garten arbeiten. Gründe für das Streiten, um das es hier geht, können aber auch politische oder gesellschaftliche Herausforderungen sein, die unser Leben betreffen oder auch das unserer Kinder.

Zu solchen Fragen ändern wir unsere Meinungen nicht einfach, weil jemand ein gutes Argument gegen sie vorbringt. Jedes gute Argument gegen etwas, das mir wichtig ist, schmerzt und deshalb aktiviert es erst einmal Abwehrkräfte. Das ist vermutlich auch gut so, denn das zeigt, wie wichtig mir die Sache ist. Argumente überzeugen nicht unmittelbar, sie geben vielleicht einen Impuls, der mich, wenn er immer wieder erneuert wird, auf einen neuen Denkpfad bringt. Ein Nachdenken, das so in Gang kommt, kann dazu führen, dass ich selbst die Argumente abwäge auf eine Weise, die den Schmerz erträglich macht. Und dann ändern sich – allmählich – auch meine Meinungen und Überzeugungen.

Streit entsteht, wenn sich Menschen über Ereignisse austauschen, die sie beobachten und erleben und auf unterschiedliche Weise bewerten. Zu ihren Beobachtungen haben Menschen Meinungen, Standpunkte, Befürchtungen und Wünsche. Das Wort Meinung nutzen wir oft als Sammelbegriff für persönliche Äußerungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen, ebenso zu Sachverhalten im kulturellen, künstlerischen, sportlichen und auch im privaten Bereich. Eine Meinung ist ein persönliches Urteil zu einem Sachverhalt. Allerdings prägt die Meinung umgekehrt auch den Blick auf die Dinge. Meinungen bestimmen mit, wie wir die Dinge sehen.

Eine Erwartung ist auch eine Meinung, nämlich eine Meinung dazu, welche Ereignisse ich in Zukunft für möglich oder wahrscheinlich halte. In diese Ereignisse setze ich Hoffnungen oder sie wecken in mir Befürchtungen. Ich wünsche, dass es so kommt, oder ich habe Sorge, dass diese Ereignisse eintreten könnten. Hoffnungen, Befürchtungen, Sorgen und Wünsche: Diese Begriffe sollen zum Ausdruck bringen, dass es sich nicht einfach um Überzeugungen über den Zustand der Welt handelt, sondern dass die Person, die sie äußert, dazu auch Stellung bezieht. Auf der anderen Seite beziehen sich die meisten Meinungen als Erwartungen nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Konsequenzen des Gegenwärtigen für die Zukunft. Sie sind deshalb nur selten durch direkte Beobachtung zu beweisen oder zu widerlegen.

Diese Struktur der Meinung, ihre verschiedenen Ausprägungen und ihre zentrale Rolle beim Streit werden in einem eigenen Kapitel (Kapitel 3) genauer betrachtet. Es wird sich zeigen, dass es nicht etwa sinnvoll wäre, im Streit Meinungen durch Wissen zu ersetzen, ja den Meinungsstreit vielleicht sogar ganz zu verdrängen und an seine Stelle wissenschaftliche Verfahren der Erkenntnisgewinnung treten zu lassen, die dann von allen akzeptiert werden müssten. Meinungen zu haben und nach diesen