Degenerierte Vernunft - Jörg Phil Friedrich - E-Book

Degenerierte Vernunft E-Book

Jörg Phil Friedrich

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Beschreibung

Die Künstliche Intelligenz schickt sich an, Texte, Bilder und Musik zu erzeugen, die mit den Produkten menschlicher Intelligenz und Kreativität mithalten können. Euphorische Begeisterung wird ebenso laut wie die Angst vor einer letzten großen Kränkung der Menschheit. Aber die Produkte der KI sind im Grunde nur Echo einer degenerierten und reduzierten Vorstellung von menschlicher Vernunft und menschlichem Denken. Das Erstaunen und Erschrecken vor ihrer verblüffenden Ähnlichkeit mit menschlichen Werken sollten uns deshalb Anlass zur Besinnung darauf sein, was unser eigenes Denken im Wesen ausmacht.

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Jörg Phil Friedrich

Degenerierte Vernunft

Künstliche Intelligenz und die Natur des Denkens

Jörg Phil Friedrich, Jahrgang 1965, ist Philosoph, Publizist und Softwareunternehmer. https://jörg-friedrich.de

Die Künstliche Intelligenz schickt sich an, Texte, Bilder und Musik zu erzeugen, die mit den Produkten menschlicher Intelligenz und Kreativität mithalten können. Euphorische Begeisterung wird ebenso laut wie die Angst vor einer letzten großen Kränkung der Menschheit. Aber die Produkte der KI sind im Grunde nur Echo einer degenerierten und reduzierten Vorstellung von menschlicher Vernunft und menschlichem Denken. Das Erschrecken vor ihrer verblüffenden Ähnlichkeit mit menschlichen Werken sollte deshalb Anlass zur Besinnung darauf sein, was unser eigenes Denken im Wesen ausmacht.

INHALT

Kapitel 1

Besser als Menschen?

Kapitel 2

Künstlich oder natürlich?

Kapitel 3

Intelligenz und Vernunft

Kapitel 4

Wie arbeitet Künstliche Intelligenz?

Kapitel 5

Der Turing-Test

Kapitel 6

Schwache und starke Künstliche Intelligenz

Kapitel 7

Degenerierte Vernunft

Kapitel 8

Die wilde Schönheit der natürlichen Vernunft

Kapitel 9

Ein Ausblick auf die starke Künstliche Intelligenz

Kapitel 1 Besser als Menschen?

Dies ist kein Buch, das sich gegen jene Systeme wendet, die gegenwärtig unter dem Namen „Künstliche Intelligenz“ diskutiert werden. Wir werden den Prozess des zunehmenden Einsatzes solcher Lösungen nicht als Verfallsgeschichte der Zivilisation erzählen. Im Gegenteil, wir werden uns unter anderem damit beschäftigen, welche Chancen sie bieten, welche Vorteile sie für den Alltag und für die Bewältigung verschiedener Aufgaben haben. Wir werden uns hier auch nicht damit aufhalten, Risiken zu beschwören, die der Einsatz solcher Systeme mit sich bringen kann.

Das Anliegen dieses Buches ist ein ganz anderes. Es soll zur Selbstverständigung darüber beitragen, was uns Menschen tatsächlich ausmacht. Dabei geht es nicht darum, die menschliche Vernunft gegen Leistungen von Supercomputern zu verteidigen, darauf zu insistieren, dass wir doch irgendwie besser seien als KI-Systeme. So, wie Autos schneller sind als rennende Menschen, so, wie Krane schwerere Lasten heben können, so, wie Werkzeugmaschinen Material präziser und ausdauernder bearbeiten können, so, wie Navigationssysteme schneller und zuverlässiger eine optimale Fahrstrecke ermitteln können, so, wie Schachcomputer schon seit Jahren gegen Großmeister gewinnen, so werden die KI-Systeme in vielen, heute noch nur andeutungsweise bekannten Anwendungsfällen schneller, korrekter, ausdauernder sein als Menschen. Wieder werden es Resultate sein, die wir bisher nur Menschen zugetraut haben. So, wie ein besonders geschickter Handwerksmeister sich in seinem Selbstverständnis gefährdet sieht, wenn eine Maschine das gleiche Resultat präziser, schneller und ausdauernder erzeugt, für das er bisher geschätzt wurde, so wird auch eine Romanautorin demnächst vielleicht ihre Arbeit in Frage stellen müssen, wenn innerhalb von Sekunden eine KI einen Text produziert, der für das Publikum nicht von einem ihrer Werke zu unterscheiden ist, an dem sie Monate geschrieben hat.

Was für die einzelne Person schmerzhaft ist, ist für die Menschen insgesamt Grund zur Besinnung über das Wesen des Menschen, seiner Schaffenskraft, Geschicklichkeit, Kreativität und Vernunft. Dabei kann sich herausstellen, dass die Dynamik, die in der Vergangenheit gewisse Produkte als Krönung menschlicher Leistungsund Schöpfungskraft erscheinen lassen hat, die Menschheit womöglich in ein Missverständnis über das eigene Wesen geführt hat, dass sich Verfahren und Ziele verselbstständigt haben, weil sie für besonders kreativ oder meisterhaft gehalten wurden. Die Tatsache, dass auch eine Maschine, allerdings von Menschen entworfen, gebaut und eingerichtet, Vergleichbares hervorbringen kann, lässt uns erkennen, dass es sich vielleicht um etwas gehandelt hat, was zwar zunächst als etwas ganz Besonderes erschien, am Ende aber eine Spielerei, eine Ablenkung, ein Irrweg war, der verdeckte, was uns als Menschen tatsächlich ausmacht. Die maschinelle Produktion des einst so geschätzten Resultats gibt uns die Gelegenheit, uns selbst wieder zurückzuwenden auf etwas, was auf diesem Weg verschüttet wurde. Für diese Rückbesinnung einen Anfang zu finden ist der Sinn der folgenden Überlegungen.

Dieses Essay geht von der Frage aus, wie es möglich ist, dass wir die Ergebnisse solcher Software-Systeme, seien es Texte, Bilder, Musikstücke oder akustische Antworten auf Fragen, für intelligent halten können, dass wir die Systeme selbst mit dem Begriff Intelligenz bezeichnen. Das Ziel ist, zu klären, welch ein Begriff von Intelligenz, welche Vorstellung von Vernunft dem zugrunde liegt und was es letztlich über unsere menschliche Intelligenz, unsere menschliche Vernunft aussagt, dass wir bereit sind, die Ausgaben von Computersystemen bewundernd als Intelligenzleistungen anzusehen, ja, dass wir offenbar wirklich in absehbarer Zukunft kaum noch in der Lage sein werden, zu unterscheiden, ob eine sprachliche Äußerung von einem Computer oder einem Menschen stammt. Oder, noch weiter gedacht, dass wir zwar oft zutreffend vermuten werden, dass dieser Zeitungsartikel oder jene Produktbeschreibung oder gar diese Bachelorarbeit oder jener wissenschaftliche Aufsatz von einem Computersystem erzeugt wurde, aber nur, weil sie perfekter, besser, fehlerfreier und mithin anscheinend intelligenter sind, als wir es einem Menschen zutrauen würden.

Computersysteme werden schon bald, daran besteht kein Zweifel, Ergebnisse hervorbringen, deren Erstellung durch Menschen wir gerade noch als die beachtlichsten Zeugnisse menschlicher Intelligenz bewundert haben. Teilweise ist es schon heute so weit: Noch vor wenigen Jahrzehnten waren etwa Leute, die besonders gut Schach spielen können, diejenigen, die wir für besonders intelligent hielten. Heute werden sie alle von Computersystemen geschlagen. In absehbarer Zeit werden auch andere Leistungen, die wir nur den intelligentesten unter den Menschen zutrauten, von Computern scheinbar besser und schneller erledigt werden. Wissenschaftliche Abhandlungen, vermutlich sogar die diesen Abhandlungen vorangehenden Forschungen, empirische Studien von der Planung der Datenerhebung bis zur systematischen Auswertung, können dazu gehören, ebenso fiktionale Geschichten bis zur Romanlänge.

Das könnte darauf schließen lassen, dass diese Systeme nun tatsächlich intelligent geworden sind. Es könnte aber auch sein, dass unsere Vorstellung von Intelligenz sich im Laufe der Zeit so gewandelt hat, dass wir als Beweis größter Intelligenz etwas erwarten, was das Computersystem wenigstens im Prinzip viel besser kann als wir Menschen. Um diese These wird es im Folgenden gehen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen, so die Hoffnung, könnte eine Neubesinnung auf das möglich sein, was menschliche Intelligenz wirklich ausmacht und was sie besonders macht. Wir könnten dann den Computern das Feld der „Künstlichen Intelligenz“ weitgehend überlassen und uns an den Ergebnissen erfreuen, die uns in vielen Bereichen hilfreich sein können. Wir werden aber vielleicht die Freude an den Produkten der Computer verlieren, die wir aus guten Gründen der Domäne der menschlichen Intelligenz zuordnen. Und wir werden uns selbst aus den Fesseln einer Intelligenz-Idee befreien, die wir für eine gewisse Zeit als besonders erstrebenswert angesehen haben, die uns aber von unseren wirklichen Möglichkeiten und Fähigkeiten entfremdet hat.

Wir werden uns hier auf die Leistungen und Ergebnisse von Systemen konzentrieren, die Texte erzeugen, zumeist als Antworten auf Fragen oder Aufforderungen, die von Menschen formuliert worden sind. Es kann sich um Erklärungen und Beschreibungen, um Berichte oder Geschichten handeln, um kurze Antworten genauso wie um Gedichte. Die Argumente, die wir entwickeln werden, lassen sich ebenso auf andere Produkte der sogenannten Künstlichen Intelligenz anwenden, seien es Bilder, musikalische Stücke, aber auch auf technische Problemlösungen, Spielzüge bei Brettspielen, auf die Erkennung von Gegenständen oder Klängen. Hin und wieder werden wir auf Beispiele aus diesen Bereichen verweisen. Für die Klarheit der Argumentation und für die Kürze der Darstellung schränken wir unsere Beispiele aber zumeist auf Texterzeugungs-Systeme ein.

Ganz unberücksichtigt lassen wir hier jene Systeme der Künstlichen Intelligenz, die darauf ausgerichtet sind, bestimmte Muster zu erkennen und Diagnosen zu erzeugen, etwa in der Medizin bei der Krebs-Früherkennung oder in der Überwachung von Industrieanlagen, wenn es darum geht, die Wahrscheinlichkeit von Störfällen zu bestimmen. Diese Systeme, ihre Möglichkeiten und Herausforderungen hätten ein gesondertes Essay verdient, welches zwar auf den Überlegungen der folgenden Seiten aufbauen könnte, aber doch eine gänzlich andere Ausrichtung hätte.

Kapitel 2 Künstlich oder natürlich?

Wenn wir nach Künstlicher Intelligenz fragen, dann müssen wir zuerst nicht nur klären, was das Wort „Intelligenz“ überhaupt besagt, sondern auch, was wir mit dem Adjektiv „künstlich“ eigentlich meinen. Künstlich steht zumeist im Gegensatz zu natürlich, und damit wird auf einen Unterschied in der Entstehungsweise dessen hingewiesen, was man da betrachtet. Ein künstliches Aroma wird in einer Chemiefabrik hergestellt, demgegenüber stammt natürliches Aroma aus Pflanzen – wobei man hier fragen könnte, ob die technische Gewinnung des Aromas aus der Pflanze und die landwirtschaftlich-technischen Verfahren der Pflanzenproduktion „natürlich“ genannt werden können. Das Beispiel scheint uns von der Betrachtung der Künstlichen Intelligenz wegzuführen, aber wir werden gleich sehen, dass es uns ganz hervorragend hilft, natürliche und künstliche Intelligenz miteinander in Beziehung zu setzen. Schauen wir also genauer, wann wir etwas als natürlich und wann wir es als künstlich bezeichnen. Typischerweise ergänzen wir das Wort „natürlich“ gern mit „entstanden“ oder „gewachsen“, während wir „künstlich“ mit „hergestellt“ ergänzen. Diese Verwendungsweisen haben eine lange Tradition im europäischen Denken. Natura ist die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes physis, welches das benennt, was aus sich selbst heraus so geworden ist, wie es ist. Deshalb sagen wir heute auch, dass jemand sich so verhält, wie es seiner Natur entspricht; „natürlich“ ist auch für uns heute das, was nicht verformt oder verstellt ist. Wir sagen, ein Baum sei natürlich gewachsen, wenn er nicht beschnitten, nicht gebunden und nicht eingezwängt wurde.

Der Physis steht die Poiesis gegenüber, das hergestellte, das, was nicht von sich aus so gewachsen ist, wie es seiner natürlichen Anlage entspricht, sondern was durch jemanden so geformt und konstruiert wurde, wie es einem Ziel oder Zweck entsprach. Eine Form dieses Hervorbringens ist die Technik, ein Wort, das wir ebenfalls von den alten Griechen übernommen haben, und welches bei den Griechen noch sowohl für die Arbeit des Handwerkers als auch die des Künstlers stand. Noch heute sprechen wir von der Handwerkskunst oder von der Technik der Künstlerin und beschreiben damit den Aspekt des Schaffens der beiden, in dem etwas nach Plan, gekonnt und zweckmäßig hervorgebracht wird. In diesem Sinn verwenden wir auch das Adjektiv „künstlich“. Es hat nichts mit der Kunst eines Künstlers, sondern mit der Technik des Hervorbringens zu tun. Das künstliche Aroma wurde durch einen technischen Prozess erzeugt aus Zutaten, die selbst nicht aromatisch waren. Im Ergebnis entsteht etwas ähnliches oder sogar das gleiche wie ein natürliches Aroma, welches auf natürliche Weise, also in einem Gewächs, das von sich aus dieses Aroma hervorbringt, entstanden ist.

Künstlich und natürlich unterscheiden die Dinge also in die, die das Ergebnis auf technische Weise entsprechend bestimmten Zwecksetzungen und im Zusammenhang mit Erfahrungen und Erkenntnissen der Techniker erzeugen und die, die ihre charakteristischen Eigenschaften durch Prozesse entwickeln, die ohne das Wissen, die Fähigkeiten und Zwecke von Menschen stattfinden und entstanden sind.

Zwei Fragen drängen sich nun auf, die sich auch im Zusammenhang mit der künstlichen und der natürlichen Intelligenz stellen und die uns in diesem Essay intensiv beschäftigen werden: Ist das, was wir für gewöhnlich als natürlich bezeichnen, nicht auch immer in einem technischen Prozess entstanden, mithin eigentlich etwas Künstliches? Und: Ist das, was da als künstliches Ding geschaffen wurde, wirklich gleichwertig, ist es tatsächlich das, was der Begriff beschreibt, der zunächst für das natürliche Ding verwendet wurde?

Zur ersten Frage: Wir sprechen von natürlichem Aroma und wissen doch, dass dieses zwar aus Pflanzen stammt, die gewissermaßen natürlich gewachsen sind, dass es aus diesen Pflanzen aber durch technische Verfahren extrahiert wurde. Die Frage ist, ob es dabei das gleiche geblieben ist, ob die Eigenschaften, die es für uns zu einem Aroma machen, von dem technischen Verfahren unberührt geblieben sind. Sind der Geruch und der Geschmack eines natürlichen Aromas, das ich im Laden in Pulverform oder in Fläschchen kaufe, noch der, den die Pflanze hatte, aus der es gewonnen wurde? Das Bedenkliche ist: Wir wissen es nicht einmal, wir können es nicht beurteilen. Selbst wenn wir an einer realen Vanille-Schote riechen und zum Vergleich ein „natürliches Vanille-Aroma“ probieren und beide Erlebnisse als irgendwie gleich oder jedenfalls ähnlich beschreiben, wissen wir nicht, ob diese erlebte Übereinstimmung nicht vielleicht unserer mangelnden Erfahrung, unseren begrenzten Möglichkeiten, den Duft von Vanille zu erkennen und verschiedene Abweichungen zu differenzieren, geschuldet ist. Man denke an Leute, die verschiedene Rosen an ihrem Duft unterscheiden können, die am Geschmack verschiedener Tee-Proben nicht nur die Sorte, sondern gar die Herkunft oder den Boden, auf dem der Tee gewachsen ist, erkennen können. Für die wäre ein künstlich hergestelltes Aroma sicherlich sofort von allen anderen zu unterscheiden, und selbst das, was wir als natürliches Aroma im Laden kaufen, wäre für solche Kenner kein wirklich natürliches Aroma. Es muss also durch das technische Verfahren etwas geschehen sein, was das Natürliche wenigstens zum Teil zu etwas technisch Hervorgebrachtem gemacht hat, und dieses, so müssen wir wenigstens vermuten, hat dem Ding seine natürlichen Eigenschaften genommen und in künstliche umgewandelt.

Das gilt selbstverständlich auch schon für die Prozesse, die wir gern noch der natürlichen Seite zuschlagen. Die Pflanzen, aus denen die Aromen gewonnen werden, sind gezüchtet, es sind bestimmte durch Zuchtwahl und Manipulation technisch veränderte Sorten, ihr Anbau und ihr Wachstum verläuft nicht unter natürlichen, sondern unter künstlich stabilisierten und optimierten Bedingungen. Auch dabei dürfte das, was wir als natürliches Produkt bezeichnen und haben wollen, zu einem künstlich hervorgebrachten werden.

Wir müssen also zugestehen, dass es in unserer modernen technischen Kultur kaum etwas gibt, das wir wirklich als natürlich bezeichnen dürften. Die Begriffe natürlich und künstlich verwenden wir dabei wertneutral, wir bedauern nicht den Verlust an Natürlichkeit, dazu haben wir an dieser Stelle gar keinen Grund. Es geht darum, zu verstehen, dass alles, was wir als natürlich bezeichnen, in der technisch geprägten und strukturierten Kultur eine