Die Psychologin – Der Schatten am Fenster - Anna Salter - E-Book
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Die Psychologin – Der Schatten am Fenster E-Book

Anna Salter

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Beschreibung

Gnadenlos wie ein Albtraum! Der fesselnde Thriller »Die Psychologin – Der Schatten am Fenster« von Anna Salter jetzt als eBook bei dotbooks. Er hat sie für seinen perfiden Plan auserwählt: Aber ist sie wirklich seine Gegnerin, oder will er sie nur zu seinem Spielball machen? – Alex Wiley ist ein eiskalter Killer, sein messerscharfer Verstand und sein einnehmender Charme machen ihn umso gefährlicher. Nur einer einzigen Person hat er bisher seine Taten in jeder schrecklichen Einzelheit gestanden: Gerichtspsychologin Dr. Stone. Nachts kann sie nur schlafen, weil sie weiß, dass er den Hochsicherheitstrakt nie verlassen wird. Doch dann geschieht das Unfassbare: Bis zur Wiederaufnahme seines Verfahrens wird Wiley auf freien Fuß gesetzt. Schon bald erhält Stone eine dunkle Botschaft von ihm: Wie ein Schatten wird er sie fortan begleiten – und er wird es genießen, ihre Patienten zu seinen willenlosen Marionetten zu machen … Ein teuflisches Katz-und-Maus-Spiel – für alle Leserinnen und Leser von Thomas Harris’ großem Spannungsklassiker »Das Schweigen der Lämmer«! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Psycho-Thriller »Die Psychologin – Der Schatten am Fenster« von Anna Salter ist der zweite Band ihrer Reihe um die toughe Gerichtspsychologin Dr. Stone. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Er hat sie für seinen perfiden Plan auserwählt: Aber ist sie wirklich seine Gegnerin, oder will er sie nur zu seinem Spielball machen? – Alex Wiley ist ein eiskalter Killer, sein messerscharfer Verstand und sein einnehmender Charme machen ihn umso gefährlicher. Nur einer einzigen Person hat er bisher seine Taten in jeder schrecklichen Einzelheit gestanden: Gerichtspsychologin Dr. Stone. Nachts kann sie nur schlafen, weil sie weiß, dass er den Hochsicherheitstrakt nie verlassen wird. Doch dann geschieht das Unfassbare: Bis zur Wiederaufnahme seines Verfahrens wird Wiley auf freien Fuß gesetzt. Schon bald erhält Stone eine dunkle Botschaft von ihm: Wie ein Schatten wird er sie fortan begleiten – und er wird es genießen, ihre Patienten zu seinen willenlosen Marionetten zu machen …

Ein teuflisches Katz-und-Maus-Spiel – für alle Leserinnen und Leser von Thomas Harris’ großem Spannungsklassiker »Das Schweigen der Lämmer«!

Über die Autorin:

Anna Salter ist in North Carolina geboren und aufgewachsen. Sie studierte zunächst Literaturwissenschaft und Psychologie, bevor sie sich in Harvard auf klinische Psychologie spezialisierte. Ihre wissenschaftlichen Publikationen gelten als Meilenstein für die Therapie von Sexualstraftätern, sie ist Beraterin bei Gericht und im Strafvollzug. Anna Salter leitet eine Privatpraxis in Wisconsin, reist jedoch immer wieder um die Welt, um Lehrvorträge zu halten, und unterrichtete u. a. an Harvard. Als Schriftstellerin berühmt wurde sie mit ihrer »Psychologin«-Reihe um Dr. Stone.

Bei dotbooks veröffentlichte Anna Salter ihre Reihe um DIE PSYCHOLOGIN mit den Bänden »Dunkle Wasser«, »Der Schatten am Fenster«, »Tödliches Vertrauen« und »Schwarze Seelen«.

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Originaltitel »Fault Lines« bei Pocket Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Der Schatten am Fenster« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1998 by Dr. Anna Salter

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Karina Krawczyk liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrer Motive von Shuterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-925-6

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Anna Salter

Die PsychologinDer Schatten am Fenster

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Karina Krawczyk

dotbooks.

Für meinen Vater

THEODORE SALTER, M.D.,

der sich schützend zwischen seine Kinder und die Welt stellte.

Kapitel 1

»Er ist tot! Tot!« Die Frau am anderen Ende der Leitung schluchzte. Ich versuchte den Schlaf abzuschütteln und sah auf die Nummer, die mir die Notrufzentrale gegeben hatte – Clarrington. Wenn der Anruf aus Clarrington kam, war es nicht unwahrscheinlich, daß sie mit einer Hand den Hörer hielt und mit der anderen eine Waffe. Clarrington war eine kleine Industriestadt zwanzig Meilen von der blühenden Universitätsgemeinde entfernt, in der ich arbeitete. In Clarrington standen alle Räder still. Die Menschen waren mehr oder weniger ständig arbeitslos, und vielleicht war Clarrington deshalb – wenn nicht aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen, von denen ich nichts wußte – das Gewaltzentrum des bekannten Universums. Clarrington glich jener bewohnten Quadratmeile in Mexiko, die ganze Wolken von Monarch-Schmetterlingen anzog: Anscheinend kam jeder drogen- oder alkoholsüchtige Kriminelle dieser Welt in Clarrington vorbei.

»Wo ist er? Ist er bei Ihnen?« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Nichts, was ich aus meiner Ausbildung zur Gerichtspsychologin mit dem Fachgebiet Kindesmißbrauch und häusliche Gewalt kannte, hatte mich auf die rauhe Wirklichkeit des Bereitschaftsdienstes für die Psychiatrische Abteilung der Jefferson-Universitätsklinik vorbereitet. Ich war mir ziemlich sicher, daß die Frage »Wie fühlen Sie sich dabei?« unpassend war, zumindest, bis ich herausgefunden hatte, ob sie einen Krankenwagen brauchte.

Die schluchzende Frau beachtete mich gar nicht. »Er ist tot«, wiederholte sie. Sie weinte so sehr, daß ich sie kaum verstehen konnte. »Ich habe es in der Zeitung gelesen.« Ich sackte zurück auf mein Bett. Das war allerdings ein anderes Spiel. Ich schaute zur Uhr: drei Uhr morgens. Eine trostlose Zeit für meine unbekannte Anruferin. Aber wenn der Todesfall ihr so nahe ging, war es doch seltsam, daß sie erst aus der Zeitung davon erfahren hatte.

»Das tut mir leid.« Ich wußte nicht genau, was sie von mir hören wollte.

»Ich habe das nicht gewußt«, sagte sie. »Ich habe nicht gewußt, daß er noch am Leben war.«

Moment mal. Jemand, von dem sie nicht gewußt hatte, daß er immer noch lebt, war tot, und sie hatte davon in der Zeitung gelesen? Warum war sie so verstört, wenn sie sowieso geglaubt hatte, daß er tot sei? Ich setzte mich wieder auf und rieb mir die Augen. Hatte sie nicht alle Tassen im Schrank?

»Wenn ich geahnt hätte, daß er noch lebt ... Wenn ich es nur geahnt hätte ...« Ich erwartete die übliche Reue-Litanei: der Anruf, der nie gemacht wurde, die Entschuldigung, die nie ausgesprochen wurde, die Wiedergutmachung, die schon geplant war. »Wenn ich es gewußt hätte«, schluchzte sie, »hätte ich ihn eigenhändig umgebracht.«

Ich war perplex. Oh, Clarrington. Wir haben alle Schuldgefühle, wenn jemand stirbt, aber wegen einer verpaßten Chance, jemanden zu ermorden? Ich machte den Mund auf, ohne eigentlich zu wissen, was ich sagen sollte, aber meine anonyme Anruferin hatte schon aufgelegt. Auch gut. Ich war ganz sicher, daß in meiner Ausbildung kein passendes Seminar zu diesem Problem angeboten worden war.

Ich schaute in das schwarze Einsatzbuch auf dem Tisch neben mir. Es wurde von einem Bereitschaftsarzt zum nächsten weitergereicht und enthielt Angaben über die Wiederholungstäter unter den Notfall-Anrufern – die Aufmerksamkeitssüchtigen und Hysterischen und die üblichen Verzweifelten, nicht zu vergessen die wirklich Verrückten. Ohne einen Namen konnte ich nicht nachsehen, ob meine anonyme Anruferin zu den Stammkunden der Bereitschaftsärzte zählte. Sicher, ihr Anruf paßte nicht zu dem Verhaltensmuster der aktiven Daueranrufer, auf die man mich hingewiesen hatte. Seltsamerweise war fast keiner der Anrufe ein echter Notfall. Die meisten waren chronische Anrufer, die irgendwie herausgefunden hatten, daß eine Stimme am anderen Ende der Leitung die Schatten der Nacht verdrängt.

Inzwischen war mein Adrenalinpegel viel zu hoch, um wieder einschlafen zu können. Ich stand auf, ging hinunter und durch mein kleines Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse. Der Mond war gerade hell genug, um den kleinen Fluß unter mir glitzern zu lassen. Ich starrte in die Dunkelheit, dahin, wo die Baumgrenze anfing, gleich jenseits des Wassers.

Vor ein paar Jahren war ich zurück aufs Land gezogen, in dieses winzige Apartment ohne Gästezimmer. Die kleine Terrasse, der Fluß darunter, der Whirlpool in der Ecke der Terrasse waren genau das, wonach ich gesucht hatte. Durch meine Arbeit treffe ich allerdings ab und zu auf brutale Menschen, und als ich gerade umgezogen war, war mir einer von ihnen gefolgt, in mein abgelegenes Häuschen eingestiegen und hatte am Ende versucht, mich umzubringen. Jetzt gab es Zeiten, in denen ich nachts nicht ohne einen 38er Revolver in meiner Tasche auf die Terrasse ging.

Einem Impuls folgend, ging ich ins Haus zurück und nahm das Telefon, um den Anrufbeantworter in meiner Praxis abzuhören. Zumindest glaubte ich, es sei ein Impuls. Vielleicht brauchte ich auch nur eine Ausrede, um die Terrasse zu verlassen, wo ich mich als Zielscheibe fühlte. An manchen Tagen verhielt ich mich wie ein Junkie, der sich ständig Ausreden ausdachte, um den wahren Grund für sein Verhalten ignorieren zu können. Es war schon mehr als ein bißchen verrückt, um diese Zeit meinen Anrufbeantworter abzurufen. Ich hatte ihn abgehört, bevor ich ins Bett ging, und alle meine Patienten hatten die Notrufnummer, falls etwas dringend genug war, um mich mitten in der Nacht zu stören. Zu meiner Überraschung war eine Nachricht auf Band, die gegen zwei Uhr eingegangen war.

»Dr. Stone, hier ist Camille.« Camille war eine neue Klientin, die heute das erste Mal kommen sollte. »Ich wollte fragen, ob ich meinen Anfall-Hund zu der Sitzung mitbringen darf. Sie ist lizenziert, sie darf überall hingehen, in den Supermarkt und so. Bitte sagen Sie mir vorher Bescheid, denn ich glaube nicht, daß ich ohne sie kommen kann.« Ihre Stimme klang dünn und hatte etwas, das ich nicht identifizieren konnte: Es war nicht Angst, nicht Depression, etwas Seltsames.

Ein Anfall-Hund. Was in aller Welt war ein Anfall-Hund? Wenn Menschen bei einem epileptischen Anfall schon nichts machen konnten, was sollte dann ein Hund dabei? Und warum zerbrach sich Camille noch um zwei Uhr morgens den Kopf darüber? Sie war unruhig genug, um wach zu bleiben und mich anzurufen, aber zu höflich, um die Notrufnummer zu wählen, die ich ihr gegeben hatte, als wir den Termin vereinbart hatten. Das hieß wohl, daß die Frage für sie wichtig war und nicht bloß eine Ausrede, um mit mir Kontakt aufzunehmen.

War sie deprimiert? Menschen, die mitten in der Nacht nicht schlafen konnten, waren meistens deprimiert. Aber vielleicht wäre ich auch deprimiert, wenn ich so oft einen epileptischen Anfall hätte, daß ich selbst zu einer fünfzigminütigen Therapiesitzung nicht ohne meinen Hund kommen könnte.

Auf dem Weg ins Büro am nächsten Morgen dachte ich immer noch darüber nach. Dreiviertel des Jahres war die viertelstündige Fahrt dorthin eine einzige grüne Postkartenansicht. Wer auch immer New England erschaffen hatte, dachte wohl, daß das nur fair wäre, wenn New England all diese grünen, sanften Hügel bekam, gespickt mit alten Bauernhöfen; wenn es die schmalen, gewundenen Straßen bekam, die sich entlang kleiner, natürlicher Flüsse schlängelten; dazu die vermutlich wenigsten McDonald’s-Filialen pro Quadratmeile und die meisten Leute mit genug Verstand, um Reklametafeln an der Autobahn zu verbieten – zumindest in Vermont. Wenn New England also schon all diese Geschenke bekam, dann wäre es nur fair, daß es in einer Hinsicht leer ausging: In New England gab es keinen Frühling.

Ich bin eine geborene Südstaatlerin. Und obwohl es im Süden vieles gibt, was mich von der Region fernhält – Mama, zum Beispiel –, muß man vor dem Süden den Hut ziehen, wenn es Frühling wird. Im Süden beginnt er im Februar, und die ganze Welt explodiert. In Chapel Hill gibt es im Februar mehr Farbe als in ganz Vermont im Mai. Und das Licht: Im Frühling von North Carolina gibt es strahlendes, endloses Licht. Licht, wenn man aufwacht, und Licht, wenn man ins Bett geht. Aber wer konnte da schon ins Bett gehen? Ich erinnere mich, daß ich abends auf der Veranda meiner Großmutter in einem Schaukelstuhl saß – jeder saß abends auf seiner Veranda – und den Azaleen zusah, die sich am Ufer in der Brise wiegten.

Ich betrachtete die braune Landschaft. Es war Mai, und die Blätter warteten wohl erst das Ende der Matschsaison ab, bevor sie sich zeigen wollten. Matschsaison, das ist die Jahreszeit, wenn die Schneeschmelze soviel Matsch hinterläßt, daß Fremde vermuten müssen, eine Art Sintflut sei durchs Land gezogen. Die Matschsaison ist New Englands Ersatz für den Frühling, obwohl es eigentlich mehr nach der Kulisse für einen Horrorfilm aussieht.

Um neun Uhr morgens saß ich in meiner Praxis und wartete auf Camille. Um acht Uhr hatte ich sie angerufen, um sie wissen zu lassen, daß ich nichts gegen ihren Hund einzuwenden hätte. Als ich hörte, daß die Tür zu dem kleinen Warteraum in dem viktorianischen Haus geöffnet wurde, ging ich hinaus, um sie zu begrüßen. Ein Rottweiler, nahezu so groß wie meine Couch, spazierte herein, setzte sich und betrachtete mich auf eine entschieden unfreundliche Weise. Er hatte diesen Ich-kenne-die-Entfernung-zu-deiner-Kehle-Blick, den Kampfhunde haben. Es war zweifellos ein Arbeitshund – aber ein Anfall-Hund? Dieser hier konnte Anfälle erzeugen.

Ich trat vor, um der Frau am anderen Ende der Leine die Hand zu schütteln, und sah, wie sich die Muskeln des Hundes spannten. Camille war so groß wie ich, nur wesentlich fülliger. Sie sah blaß und mitgenommen aus. Irgend etwas an ihrer Ausstrahlung stimmte nicht, aber ich war so auf den Hund fixiert, daß ich einen Augenblick brauchte, um zu erkennen, was es war: der Farben-Mischmasch. Ihre Haut war hell, die Augenbrauen waren blond, aber ihr Haar war dunkelbraun, fast schwarz. Nur wenige echte Blondinen färbten ihr Haar in ein ungünstiges Dunkelbraun wie dieses. Sie hatte kluge Augen, aber irgendwie schien ihr Körper, ihre ganze Erscheinung, nicht zu den Augen zu passen. Außerdem zitterte sie unübersehbar; aber wenn sie epileptische Anfälle hatte, dann litt sie vielleicht auch unter einer zerebralen Ischämie. Das Zittern war keine Erklärung für den Hund. Niemand brauchte einen Rottweiler als Hilfe bei Krampfanfällen. Und wenn ich mir diesen Hund ansah, kam mir sofort der Begriff »Kampfhund« in den Sinn, auch wenn ich wußte, daß man sie heutzutage gerne als Schutzhunde bezeichnete.

Camille schüttelte mir schlaff die Hand. »Ich weiß nicht, ob ich bleiben kann«, sagte sie, kaum daß wir saßen. »Mir geht es nicht besonders gut.« Sie saß mir gegenüber, blickte aber ständig über ihre Schulter in Richtung Fenster.

»Kann ich etwas tun, damit die Situation für Sie angenehmer wird?« fragte ich. Sie sah aus, als fühle sie sich extrem unwohl.

»Nicht wirklich«, sagte sie und verstummte.

Ich wartete eine Weile und fragte dann: »Womit möchten Sie anfangen?« Ganz bestimmt war sie niemand, den ich mit Fragen bombardieren konnte. Vielleicht war sogar der Hund darauf abgerichtet, jeden zu beißen, der das versuchte.

»Ich ...« Ihre Stimme erstarb, und sie schaute zu Boden. Offensichtlich kämpfte sie mit den Tränen und versuchte sich zusammenzureißen.

»Lassen Sie sich Zeit. Erzählen Sie, was Sie können.« Während ich wartete, schätzte ich die Möglichkeiten ab. Paranoia? Nein, Paranoiker waren mehr damit beschäftigt, was sich in einem Zimmer befand, als damit, was draußen passierte. Paranoiker ließen ihren Blick durchs Zimmer schweifen und blieben zwangsläufig an der Reihe von Videofilmen in meinem Regal hängen. Dann suchten sie nach einer Kamera. Paranoiker hörten nicht auf, auf meine Notizen zu starren, bis ich sie ihnen zur Überprüfung aushändigte.

Wenn aber nicht Paranoia, was dann? Eine mißhandelte Ehefrau möglicherweise. Mißhandelte Ehefrauen waren oft in einer ziemlich schlechten Verfassung, und manchmal hatten sie Angst, ihr Mann könnte herausfinden, daß sie zum Therapeuten gingen. Vielleicht wurde sie von ihrem getrennt lebenden Mann bedroht. Aber in ihrer Angst war etwas, das so stark war, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte, noch nicht einmal bei einer mißhandelten Ehefrau. Ich bezweifelte, daß sie eine war.

»Ich kann nicht darüber sprechen.« Sie weinte. »Aber ich muß wissen, ob es irgendwann besser wird. Es ist fünf Jahre her. Ich glaube nicht, daß es besser wird. Ich kann nicht aus dem Haus gehen, und ich war seitdem keinen Augenblick allein ohne Keeter. Und manchmal glaube ich, daß er im Haus ist, obwohl ich weiß, daß es nicht sein kann, denn Keeter sitzt ganz ruhig da, aber ich habe wirklich das Gefühl, daß er da ist.« Sie hielt inne und weinte weiter.

»Das war nicht immer so«, meinte sie. »Ich war nie so. Ich war Krankenschwester«, sagte sie, und es klang, als ob dieses Leben Lichtjahre entfernt wäre, was vermutlich auch stimmte.

Vergewaltigung? Ein extrem brutaler Überfall? Vielleicht. Ich hatte Frauen gesehen, die deswegen in einem ziemlich schlimmen Zustand waren, aber niemals in einem so schlimmen. Irgend etwas hatte ihre Persönlichkeit völlig durcheinandergebracht. Sie versteckte sich hinter einem übergewichtigen Körper und dunklem Haar – das sie, da hätte ich wetten können, vorher nicht hatte –, verschanzte sich im Haus und hinter einem Rottweiler. Was, außer einer Vergewaltigung, konnte jemanden dazu bringen, sich derart zu verhalten?

»Mit der Zeit erholen sich fast alle Menschen von fast jeder Art Trauma«, sagte ich. Ich hatte den Satz bewußt vage formuliert. Manchen ging es später nicht sehr viel besser, und das zu wissen würde ihr vermutlich nicht helfen. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Und ich weiß, daß Sie es mir im Augenblick nicht sagen können. Aber wenn ich ein bißchen mehr darüber erfahre, was Sie durchgemacht haben, kann ich Ihnen vielleicht besser helfen.« Diese Frau brauchte jede Art von Beruhigung, die sie kriegen konnte, selbst wenn es nur vage Floskeln waren.

»Wenn ich darüber rede, wird es schlimmer.«

»Ja, ich weiß. Es löst Flashbacks aus, nicht wahr?« Sie nickte. »Dann erzählen Sie mir von Keeter«, sagte ich. Sie sah überrascht auf, blickte zu Keeter und dann zu mir. »Sie wird Ihnen nichts tun«, meinte sie. »Sie ist sehr gut abgerichtet«.

»Ja, so sieht sie aus«, erwiderte ich. Sie mußte es sein, denn das war das einzige, was sie kontrollieren konnte. Diese Frau war emotional bestimmt nicht stark genug, um einen Kampfhund unter Kontrolle zu halten. »Ich habe nicht gefragt, weil ich mir deswegen Sorgen mache«, sagte ich ruhig und meinte es ehrlich – auch wenn ich einmal eine Hundetrainerin gekannt hatte, die von einem Rottweiler angegriffen worden war, während sich dessen Besitzer gerade für ein Hundetraining anmeldete. Der Rottweiler sprang über den Tisch, geradewegs an ihre Kehle – ohne jede Vorwarnung. Ich blickte erneut auf Keeter.

»Ich habe gefragt, weil Sie vielleicht über Keeter reden können, ohne daß gleich die Flashbacks wiederkommen, weil sie eben nicht Teil dessen ist, was Ihnen zugestoßen ist. Sie bekamen sie doch erst später, richtig? Also gibt es zwar eine Beziehung zu dem, was passiert ist, aber sie war nicht dabei. Und vielleicht kann ich ein bißchen mehr über Ihre Symptome erfahren, wenn Sie mir von Ihrer Beziehung zu Keeter erzählen.«

Sie schaute mich nachdenklich an. Ich war froh, als sie sich für einen Moment entspannte. Das war zumindest ein gutes Zeichen. »Ich war vorher bei Anwälten. Die wollten immer darüber reden, was passiert ist.«

»Aber Sie konnten nicht, ohne sofort wieder zusammenzubrechen, nicht wahr?«

»Ja. Und dann ließen sie mich über irgend etwas reden.«

»Wir werden uns der Sache seitlich nähern«, erklärte ich. »Wir werden sie zunächst nicht direkt ansprechen, aber wir werden auch nicht ganz davon weggehen. Wir werden so nah wie möglich herankommen, ohne die Wunden aufzureißen. Okay?«

Sie nickte und seufzte und sah jetzt noch ein bißchen erleichterter aus. »Ich kenne das Problem ein bißchen«, sagte ich ruhig. Sie fühlte sich verloren und verängstigt, und sie sollte wissen, daß derjenige, den sie nach der Richtung fragte, wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wo es langging. Sonst würde ihre Angst, verloren zu sein, das Problem noch verschlimmern.

»Was ist ein Anfall-Hund?«

»Na ja, sie ist darauf trainiert, eine Telefontaste zu drücken, die automatisch eine Notrufnummer wählt. Und sie kann mich nach Hause bringen, wenn ich mich verirrt habe. Ich hatte mein ganzes Leben lang Anfälle, aber bis vor ein paar Jahren brauchte ich keinen Hund. Mein erster Hund war ein kleiner Terrier, und sie war wunderbar, aber nach alldem fühlte ich mich nicht mehr sicher. Ich wollte einen Hund, der mich beschützen konnte, und ich weiß, daß Keeter das kann, obwohl ... Ich fühle mich nirgends mehr sicher, selbst mit Keeter nicht.«

»Also ist Keeter ein Wachhund, der auch darauf abgerichtet ist, mit Krampfanfällen umzugehen?« Sie nickte. Das war schon eine Leistung, Keeter so abzurichten, daß sie Hilfe zuließ, wenn Camille sie brauchte, anstatt die Helfer fernzuhalten. Beide Aufgaben schienen mir unvereinbar, und ich fragte mich, wie Keeter wohl im Ernstfall reagieren würde.

Camilles Zittern hatte aufgehört, und mir wurde klar, daß es eher Angst war als zerebrale Ischämie. Diese Frau war wie ein Wrack nach einem Zugunglück – aber was für eine Art Zug hatte sie überrollt? Und wie würde sie mir jemals davon erzählen können?

»Ich war nie so«, sagte sie. »Ich war Krankenschwester«, wiederholte sie. »Ich war Säuglingsschwester auf einer Frühgeborenen-Station«. Sie sah hoch, und ihre Augen leuchteten auf. Das war Teil eines Traumas: Menschen hörten nicht auf, ihr verlorenes Leben zu betrauern. Camille konnte sich nicht damit abfinden, nicht mehr die zu sein, die sie einmal war.

Und früher war sie wahrscheinlich eine ganz andere gewesen. Schließlich ist eine Frühgeborenen-Station ein Ort, an dem sich die Aufgaben einer Krankenschwester nicht darauf beschränken, Patienten von einem Untersuchungszimmer ins andere zu schieben. Die Hälfte aller Frühgeborenen schwebt in Lebensgefahr, und Eingriffe sind so häufig wie Besucher. Diese Schwestern haben ein Maß an Verantwortung und Kompetenz, das normalerweise Ärzten vorbehalten ist.

»Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit als Krankenschwester.«

Ihre Hände hörten auf, das zerrissene Kleenex in ihrem Schoß zu drehen, und sie seufzte. »Ich hatte Schichtdienst. Ich hätte eine Begleitung zu meinem Auto bekommen können. Ich meine, wenn ich Nachtschicht hatte. Ich ging gegen Mitternacht nach Hause, und so manche Schwester hätte den Sicherheitsdienst bestellt, um sich zum Parkplatz begleiten zu lassen. Aber ich fürchtete mich nie, und der Wachmann brauchte zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde, um zu kommen. Ich wollte einfach nicht so lange herumsitzen. So ging ich immer alleine hinunter.« Sie brach abrupt ab, und als sie weitersprach, war ihr Redefluß versiegt, und sie klang nahezu aphasisch.

»Niemals hätte ich ... Ich hatte nicht erwartet ... Ich wußte, daß ich das Auto abgeschlossen hatte ... Es war immer noch abgeschlossen, als ich ... Ich weiß immer noch nicht ... Oh, Mama, Mama ...« Ihr Gesicht wurde fahl, und ihre Augen flackerten, als ob sie etwas Schreckliches erblickte. Keeter erhob sich, schaute zu Camille und dann zu mir. Keeter hatte einen Höllenjob. Woher sollte sie wissen, wen sie angreifen mußte? Ich saß bloß da, aber Camille reagierte unverkennbar so, als ob sie jemand mit einem Messer bedrohte.

Keeter hatte mich derart abgelenkt, daß ich Camille nicht schnell genug helfen konnte. In dem Augenblick, als ich den Mund aufmachte, um sie wieder auf sicheren Boden zurückzubringen, stand sie auf und wandte sich zur Tür. »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie.

»Warten Sie«, sagte ich eindringlich. »Gehen Sie nicht. Lassen Sie uns das wieder in Ordnung bringen.« Es war nicht gut, wenn sie jetzt ging. Ich war schließlich der Überzeugung, daß sich meine Klienten durch die Therapie nicht schlechter fühlen sollten. Ich wollte, daß sie zumindest in der gleichen Verfassung meine Praxis verließen, in der sie gekommen waren. Wenn Camille jetzt ging, hätte sie einen furchtbaren Tag voller Flashbacks und Ängste vor sich.

Sie stoppte und drehte sich wieder zu mir um.

»Ich möchte, daß Sie sich einen sicheren Ort vorstellen. Setzen Sie sich einen Augenblick«, sagte ich ruhig.

Sie blieb noch ein paar Minuten stehen, und ich sagte nichts, während ich wartete. Ich konnte Trauma-Opfer nicht herumkommandieren, sie mußten ihre eigene Entscheidung treffen. Schließlich ließ sie sich zögernd auf der Kante des Stuhles nieder.

Ich öffnete den Mund, um sie zu bitten, die Augen zu schließen, als mir klar wurde, was für eine idiotische Idee das war. So sagte ich statt dessen: »Stellen Sie sich einfach einen Ort vor, an dem Sie sich sicher und geborgen fühlen könnten – einen Garten, eine Festung, ein Schiff. Es muß kein realer Ort sein. Es kann alles sein, was Ihnen einfällt.« Wenn sie das schaffte, würde es ihre Erregung dämpfen. Ihr Herz würde aufhören zu rasen, ihre Handflächen würden nicht mehr schwitzen, ihre Gedanken nicht mehr galoppieren. Es würde die Aussicht verbessern, daß sie einen Tag ohne Flashbacks erlebte.

Für einen Moment blickte sie in die Ferne und dann auf den Boden. »Es gibt keinen Ort, der sicher ist«, sagte sie. »Es gibt keinen Ort, wo er nicht sein könnte.«

»Dann stellen Sie sich einen Ort vor, an dem Sie sich ein bißchen weniger fürchten würden, egal was für ein seltsamer Ort das auch sein mag. Eine Wolke, der Platz neben Gott, inmitten von Panzern oder sonst etwas.« Ich wartete, bis sie darüber nachgedacht hatte.

»Ein Grab«, sagte sie schließlich. »Vielleicht wäre es das.« Vergeblich hoffte ich, daß sie gleich anfangen würde zu lachen. Dafür huschte zum ersten Mal ein Schimmer von Frieden über ihr Gesicht. Ich spürte, wie mein Herz sich zusammenzog: Wenn jemand glaubte, sich nur noch in einem Grab sicher und geborgen fühlen zu können, würde er früher oder später versuchen, dorthin zu gelangen.

Nachdem sie gegangen war, dachte ich weiter darüber nach. Im Prinzip sah es ganz nach Vergewaltigung aus, aber es mußte mehr passiert sein – nicht, daß Vergewaltigung nicht schon schlimm genug war. Aber was mich bisher immer beeindruckt hatte, war die menschliche Fähigkeit, mit einem Trauma fertig zu werden, so fürchterlich es auch sein mochte. Vergewaltigungsopfer konnten normalerweise viel schneller ihre Funktionsfähigkeit wiedererlangen als diese Frau. Irgendwer hatte ihr in dieser Nacht auf dem Parkplatz aufgelauert, und irgend etwas war passiert – aber was?

Ich grübelte immer noch darüber nach, als das Telefon klingelte. Es war Carlotta, meine älteste und beste Freundin – abgesehen von der Tatsache, daß sie ihre über 1,80 Meter große Gestalt als Modell vergeudet hatte statt für Basketball. Jetzt war sie Anwältin und damit doch noch zu Verstand und zu einem richtigen Job gekommen. Eigenartig, wie man allein am Klang einer Stimme erkennen konnte, ob man gleich eine gute oder eine schlechte Nachricht zu hören bekam. Ich haßte es, wenn Carlottas Stimme so klang wie jetzt. Sie hatte mir einmal eine wirkliche Hiobsbotschaft überbracht, und seitdem zuckte ich sofort zusammen, wenn ich sie in diesem Ton sprechen hörte.

»Was ist los?« fragte ich.

Sie seufzte. »Hast du schon in die Zeitung geschaut?«

»Nein«, sagte ich. »Was steht drin?«

»Warum holst du dir nicht einfach eine? Und wir treffen uns zum Lunch. Vielleicht können wir dann darüber reden«, meinte sie.

Ich blickte zur Uhr. Es war halb elf. »Nein«, antwortete ich ruhig. »Du erschreckst mich zu Tode, und ich habe keine Lust, bei der Suche nach einer Zeitung panisch herumzurennen, nur weil ich nicht weiß, was los ist. Was ist passiert?«

Funkstille. »Es tut mir leid«, sagte sie, »es ist niemand gestorben.« Erst als ich ausatmete, merkte ich, daß ich den Atem angehalten hatte. »Es ist nur, daß Willy draußen ist.«

»Willy ist draußen? Willy ist raus? Willy ist nicht raus. Oder? Wie zum Teufel konnte er rauskommen?«

Carlotta wollte es erklären, aber ich redete bereits weiter. »Wie konnte Willy rauskommen? Warst du schon mal in einem Hochsicherheitstrakt? So ein Ort ist eine Festung. Da kommt man nicht raus. Das ist ein Witz, Carlotta. Genau die Art Trick, die dieser Hurensohn anwenden würde. Er will, daß ich einen Herzinfarkt kriege.«

Wieder Funkstille. Da wurde mir klar, daß Carlotta genau das hatte verhindern wollen. Ich schrie sie an, als ob sie Willy höchstpersönlich aus dem Gefängnis geschmuggelt hätte. Besser, ich hielt den Mund. Nach einem Augenblick meinte Carlotta: »Er ist nicht ausgebrochen, Michael. Er ist mit seiner Revision durchgekommen. Das Gericht hat den Fall an die Vorinstanz zurückverwiesen und ihn für die Zwischenzeit auf freien Fuß gesetzt.«

»Was? Auf welcher Grundlage?«

»Beeinflussung. Das Gericht hat beanstandet, daß einige der Fragen, die die Sozialarbeiter den mißbrauchten Kindern gestellt hatten, suggestiv waren.«

»Das glaube ich nicht.« Der Dezibelpegel meiner Stimme stieg wieder an, aber bei welchem zurechnungsfähigen Menschen wäre das nicht der Fall?

»Es gibt noch etwas. Ich glaube nicht, daß der Fall noch einmal verhandelt wird, aber im Moment kann ich nicht mehr dazu sagen. Ich habe eine Verhandlung. Geh und kauf dir eine Zeitung, und wir treffen uns dann mittags im Sweet Tomatoes.« Carlotta legte auf. Wie konnte sie mich so hängenlassen? Und warum konnte der Fall nicht neu verhandelt werden?

Dieses Jahr war Carlotta in die Generalstaatsanwaltschaft berufen worden, was bedeutete, daß sie den zuständigen Staatsanwalt dazu bringen konnte, mit ihr über Willys Fall zu reden, selbst wenn er nicht in unserem Staat verhandelt wurde. Ich fragte mich, ob sie ihn schon angerufen hatte und deshalb wußte, daß der Fall nicht noch einmal vor Gericht kommen würde.

Alex B. Willy war aus dem Gefängnis raus. Ich habe Alex B. Willy niemals außerhalb eines Gefängnisses erlebt, und es war mir bis jetzt auch egal gewesen. Als ich ihn vor drei Jahren das erste Mal traf, hatte er gerade angefangen, eine dreißigjährige Haftstrafe wegen Kindesmißbrauchs abzusitzen. Das war lang im Vergleich zu dem milden Strafmaß, das heutzutage für Kindesmißbrauch verhängt wird, aber während seiner Untersuchungshaft war ans Licht gekommen, daß er eine ganze Reihe von Opfern nicht genannt hatte.

Er entpuppte sich als jemand, der bis über beide Ohren in Narzißmus badete und es liebte, mir von seinen Untaten zu berichten. Aber so ungeheuerlich sein bekanntes Strafregister schon war, die Wahrheit war noch viel ungeheuerlicher: Willy war nicht nur ein gewöhnlicher Verführer und Laß-die-Kinderlein-im-Dutzend-billiger-zu-mir-kommen-Böser-Onkel-Typ. Willy war ein Sadist. Es machte ihn geil, Menschen zu quälen, besonders Kinder.

Ich ging an die Ecke und starrte auf den Zeitungskasten mit der Upper Valley Times, als wäre er ein Todfeind. Verdammter Hurensohn. Kein normaler Mensch hätte ihn auf freien Fuß gesetzt. Schließlich kramte ich den Vierteldollar raus, den ich brauchte, und zog die Zeitung heraus. Ich konnte mit dem Lesen nicht bis zum Büro warten, und so stand ich da und blätterte, bis ich den Artikel fand.

GEISTLICHER GEWINNT REVISION

Appleton, NH – Das Oberste Gericht von New Hampshire hat heute verfügt, daß Alex B. Willy Anspruch auf ein neuerliches Verfahren wegen sexuellen Mißbrauchs an Minderjährigen hat. An dem Fall, der nach Meinung vieler durch Übereifer der Staatsanwaltschaft und ein allzu naives Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Kindern gekennzeichnet war, beanstandete das Gericht, daß die Zeugen, ein sechs- und ein siebenjähriger Junge, während der Ermittlungen Suggestivfragen von Sozialarbeitern ausgesetzt gewesen waren. Das Oberste Gericht bemängelte, daß in der vorherigen Instanz die Aussagen der Kinder zugelassen worden waren, ohne durch ein Gutachten festzustellen, ob die Erinnerung der Kinder zu sehr beeinflußt worden war, um noch glaubwürdig zu sein.

Die Verfügung sieht allerdings auch vor, daß keine neue Gerichtsverhandlung angesetzt werden kann, solange ein solches Gutachten nicht vorliegt. Die Staatsanwaltschaft muß jetzt beweisen, daß das Erinnerungsvermögen der Kinder glaubwürdig ist und nicht unzulässig beeinflußt wurde. Wenn sie den Nachweis nicht erbringen kann, bleibt der Weg für eine Wiederaufnahme versperrt.

Mr. Willy sagte dazu: »Ich bin sehr dankbar für die Chance, meine Unschuld zu beweisen, und zuversichtlich, daß eine neue Verhandlung das erreichen wird. Ich hoffe, daß diese fürchterliche Nervenprobe bald vorbei ist. Ich hege gegen niemanden Groll in meinem Herzen, denn ich weiß, daß die beteiligten Erwachsenen es nur gut gemeint haben und die Kinder natürlich bloß Kinder und als solche leicht zu beeinflussen sind.«

Typisch Willy. Ich konnte die Überzeugungskraft seiner Worte selbst noch in gedruckter Form spüren. Er klang genau wie ein unschuldiger Mann, und jeder Durchschnittsmensch, der seine Aussage las, würde seine Unschuld keine Sekunde bezweifeln. Willy klang sogar wie ein liebenswerter, unschuldiger Mann, der noch nicht einmal bei den fürchterlichsten Anschuldigungen ärgerlich werden konnte.

Das war sein Talent. Wer mit Willy zu tun hatte, hatte es mit einem emotionalen Chamäleon zu tun. Als ob er über Radar verfügte, wußte er immer, für welchen emotionalen Ton sein Zuhörer empfänglich war, und er konnte ihn todsicher liefern. Ich hatte Willy unzählige Stunden beobachtet, aber ich wußte immer noch nicht, wie er das machte. Etwas in mir konnte es einfach nicht begreifen.

Langsam ging ich ins Büro zurück. Nur um mich meiner eigenen Zurechnungsfähigkeit zu versichern, öffnete ich das Fach mit den Kassetten von Willy. Mit seiner Einwilligung hatte ich einige der Interviews aufgenommen – einen echten Sadisten zum Reden zu bringen war eine so seltene Gelegenheit, daß ich mich für den Mitschnitt entschieden hatte, um es dann besser durcharbeiten zu können. Von Willy konnte ich eine Menge lernen, auch wenn es ziemlich deprimierend war.

Ich kramte in den Kassetten, bis ich die eine fand, die ich suchte. Auf dem Label stand: »Die Kunst, Erwachsene zu überreden«. Willy hatte mir seine Erlaubnis für die Aufnahme mit der schriftlichen Einschränkung gegeben, daß ich die Kassetten niemals dritten vorspielen durfte. So als ob er mich damit quälen wollte, um dann sicherzugehen, daß ich es nicht gegen ihn verwenden konnte.

Ich holte meinen Kassettenrekorder und legte die Kassette ein. Dann spulte ich bis zu der Stelle, die mir am wichtigsten erschien. »Es ist ganz einfach, Dr. Michael«, sagte Willy gerade. »Man muß nur herausfinden, welche Bedürfnisse die Menschen haben. Was brauchen sie? Brauchen sie Geld? Dann leihe ich ihnen welches. Brauchen sie einen Zuhörer? Ich bin da. Brauchen sie Bestätigung? Ich werde sie ihnen geben. Menschen sind randvoll mit Bedürfnissen.« Dabei hatte er gelacht.

»Die einzige Schwierigkeit ist, herauszufinden, was sie am meisten brauchen. Was brauchen sie so dringend, daß sie dafür, sagen wir mal, ihr Erstgeborenes verkaufen würden? Was brauchen sie so nötig, daß sie ignorieren würden, was vor ihren Augen passiert? Ich habe schon Kinder im Fond eines Autos mißbraucht, während ihre Eltern auf dem Vordersitz saßen.«

Ich war so verblüfft gewesen, daß ich einen Augenblick lang nichts sagen konnte. Willy hatte wieder gelacht. »Wirklich, ich habe es getan. Ich habe einfach eine Decke über die schlafenden Kinder geworfen und sie befummelt, obwohl ihre Eltern vorne saßen. Natürlich wachten die Kinder auf, und der erschrockene Blick, den sie ihren Eltern zuwarfen, war so befriedigend. Sie wußten, daß ihnen niemand glauben würde. Irgendwie wußten sie es. Und sie hatten recht.

Es gibt natürlich Raffinessen, von denen ich nicht erwarten kann, daß Sie sie kapieren. Sie sind eine viel zu beschränkte Schülerin.« Das, so dachte ich jedes Mal, wenn ich diese Bänder abhörte, war wirklich wahr.

»Was zum Beispiel?«

»In bezug auf ihre Bedürfnisse. Wonach sie hungern. Letztlich ist es nie etwas Konkretes. Na ja, manchmal fängt es mit Geld an, mit einem Kredit, der ihnen aus der Klemme hilft, oder so etwas, aber später stellt sich immer heraus, daß sich hinter dem Geld eine viel stärkere Sucht verbirgt.

Das Höchste ist natürlich« – und ich erinnerte mich, daß Willies Augen anfingen zu leuchten –, »etwas Existentielles zu liefern, etwas, wovon der andere noch nicht einmal eine Ahnung hatte, daß er es braucht. Irgend etwas Verborgenes, Unsichtbares, das sie nur von mir bekommen. Damit hat man Möglichkeiten, die das Vergnügen natürlich noch steigern.«

»Was zum Beispiel?«

»Oh, man kann die Mißhandlung ihres Kindes jeden Tag ein bißchen alltäglicher machen und noch ein bißchen alltäglicher, bis sie sie gar nicht mehr sehen.«

»Aber was ist das, was Menschen so dringend brauchen, daß sie leichtfertig zulassen, daß Sie ihr Kind mißbrauchen? Freundschaft? Selbstbestätigung? Was bieten Sie ihnen, Mr. Willy, das so wertvoll ist?«

»Kein Koch verrät alle seine Zutaten, Dr. Michael. Nein, wirklich, Sie erwarten doch nicht, daß ich die ganze Arbeit für Sie mache, oder?«

Und was lieferte Willy mir, das mich jedesmal wiederkommen ließ, um mit ihm zu reden? Willy wollte nicht darüber sprechen, aber ich auch nicht.

Ich nahm die Kassette heraus, hob die Zeitung auf und starrte entmutigt auf den Artikel. Ein Gutachten, um die Glaubwürdigkeit der Kinder zu beweisen. Der Fall war gelaufen. Es gab keine Chance, etwas zu beweisen, was nicht existierte. Das war so, als ob man nachweisen sollte, daß in einem Zimmer kein weißer Elefant war. Ein paar Idioten hatten irgendwann eine Suggestivfrage gestellt, und danach konnte nichts mehr von dem berücksichtigt werden, was die Kinder ausgesagt hatten.

Egal was sie vor der Befragung durch die Sozialarbeiter hatten durchmachen müssen – sonst hätte es keine Befragung gegeben. Egal, welche Symptome sie zeigten – und Willy hatte mir ihren Zusammenbruch in hämischen Details geschildert.

Am Ende war es ganz simpel: Was Menschen zweifellos brauchten, war der Glaube, unterscheiden zu können, wer Schutz brauchte und wer nicht, und eine Menge Leute hatten Willy vertraut. Er sah gut aus, er konnte gut reden, er war beliebt in seiner Gemeinde, ein Geistlicher, der regelmäßig die Kranken und Alten besuchte. Eine ganze Reihe Leute war ihm ergeben. Wenn es da auch nur eine Chance gab, die Beschuldigungen gegen ihn wegzureden, diese Leute würden sie ergreifen. Und nun hatten sie sie.

Kapitel 2

Mittags herrschte im Sweet Tomatoes Hochbetrieb. Ihre Spezialität waren ungewöhnliche Pastagerichte, und nirgends waren Pastagerichte so gut wie im Sweet Tomatoes. Das Angebot war zu speziell, um eine seriöse Konkurrenz zu haben. Das Sweet Tomatoes war mein Lieblingslokal.

Ich wurde zum letzten freien Tisch am Fenster geführt und winkte Harvey zu, einem der Besitzer, als ich mich setzte. Er kam zu mir herüber und begrüßte mich. »Haben Sie eine Minute Zeit?« fragte er.

»Vielleicht sogar mehr als eine«, antwortete ich. »Ich warte auf Carlotta, daß sie aus der Verhandlung kommt.« Staatsanwälte konnten das Ende einer Sitzung nicht beeinflussen, so daß Carlotta bald auftauchen konnte oder auch nicht. Harvey setzte sich, und ich widerstand der Versuchung, einfach die Augen zu schließen und zuzuhören. Er hatte diese wunderbar dunkle, weiche, männliche Stimme, bei deren Klang man gleich daran dachte, ins Bett zu hüpfen. Er war ein Teddybär von einem Mann, ein großer Typ mit ein paar Pfund zuviel um den Bauch. Aber das Übergewicht ließ sich leicht übersehen. Und einen Zoll neben meinem Ohr würde diese Stimme wunderbar klingen. Aber ich hatte verheirateten Männern abgeschworen, ja wirklich.

»Immer noch dabei, die Welt vor Kinderschändern zu schützen?«

»Nee, ich hab die Fronten gewechselt. Jetzt sage ich für die Täter aus. Dafür gibt’s mehr Geld.«

Harvey schaute mich perplex an. »Das war ein Witz«, meinte ich. »Aber vor Gericht habe ich wegen meines schwarzen Humors einmal fast Ärger bekommen, als ein Staatsanwalt mich fragte, warum ich soviel weniger berechnen würde als der Gutachter der Verteidigung. Fast hätte ich geantwortet: ›Es ist eben teurer, wenn man seine Seele verkauft‹, aber ich habe es gelassen.«

Harvey lachte. »Warum?«

»Zu riskant«, antwortete ich. »Schon einmal hat ein Richter mitten in meiner Aussage die Geschworenen ausgeschlossen und zum Staatsanwalt gesagt: ›Ihre Zeugin war gefährlich nah dran, den Verteidiger als Lügner zu bezeichnen.‹«

»Und? Darf man den Verteidiger keinen Lügner nennen?«

»Nein. Selbst, wenn es stimmt. Man erwartet Respekt. Und was ist mit Ihnen?«

»Nichts Besonderes. Wir werden demnächst nach Italien fahren, um ein paar neue Weine für das Restaurant zu testen.«

»Hartes Leben«, meinte ich.

»Aber ich wollte Sie etwas wegen meiner Nachbarin fragen ...«

»Schießen Sie los«, erwiderte ich. Dabei haßte ich das. Die Leute wollten immer, daß ich ihre Ehemänner, ihre Kinder und sogar ihre Katzen analysierte. Da mußte man zuhören. Und wenn man den letzten freien Tisch am Fenster haben wollte, erst recht.

»Ich habe diese Nachbarin mit diesem bösartig aussehenden Hund, und ich mache mir Sorgen ...« Ich spitzte die Ohren. War das möglich? Aber Kleinstädte sind so: Dauernd stolperte man über Querverbindungen – einmal hatte sich herausgestellt, daß der prügelnde Ehemann meiner neuen Klientin mein Zahnarzt war. Aber selbst in Kleinstädten, sagte ich mir, gab es mehr als nur eine Nachbarin mit einem bösartig aussehenden Hund.

Herausfinden konnte ich das nicht mehr, denn in diesem Augenblick kam Carlotta herein. Alle Köpfe wandten sich diskret nach ihr um. In New England starrte niemand jemand anderen an. Sogar Charles Bronson konnte – und tat es auch – die Straße in der Innenstadt hinunterspazieren, wo er ein Ferienhaus hatte, ohne von einem einzigen Fan angesprochen zu werden. Trotzdem fielen interessante Menschen auf, und Carlotta war 1,83 Meter groß und sah seit ihrem zwölften Lebensjahr interessant aus.

Harvey sah sie ebenfalls und erhob sich. »Macht nichts«, meinte er. »Wir reden später.«

»Rufen Sie mich an«, sagte ich und hoffte, daß nichts anderes aus meiner Stimme herauszuhören war als gewöhnliche Freundlichkeit. Sexy Männer brachten mich immer aus dem Gleichgewicht.

Carlotta war wahrscheinlich gerade erst aus der Verhandlung gekommen, aber niemand in dem Lokal hätte das geglaubt. Ohne Eile kam sie an den Tisch und setzte sich. Sie war betont schlicht gekleidet: schwarze Hose, eine matte schwarze Bluse, schwarzer Blazer. Um den Hals trug sie eine handgeknüpfte indianische Perlenkette, die sehr edel aussah, und die schlichte schwarze Kleidung war dafür der passende Rahmen. Calvin Klein hätte Carlotta auf den Laufsteg geholt, so wie sie war.

Carlotta sah beunruhigt aus. »Wie läuft der Fall?« fragte ich.

»Prima«, sagte sie, während sie mich besorgt ansah. Da merkte ich, daß ich der Grund für ihre Besorgnis war. Und es traf mich, daß sie Sweet Tomatoes vielleicht deshalb ausgesucht hatte, weil sie glaubte, daß ich hier nicht schreien würde. Jesus. Ich bin jemand geworden, den man bändigen mußte. Vielleicht sollte ich mein Temperament doch etwas zügeln.

»Ich bin okay«, sagte ich. »Klar, mir gefällt das nicht. Ich finde, es ist Bockmist. Ich finde, es ist schlimmer als Bockmist. Ich finde, es ist kriminell. Ich finde, daß jeder einzelne Richter, der dafür gestimmt hat, ihn freizulassen, erschossen werden sollte. Aber was soll ich dazu sagen? Jeden Tag kommt einer raus, der nicht rauskommen dürfte.«

Ich verstummte. Was beunruhigte Carlotta? Ich war doch ganz ruhig. Keiner konnte wegen Willy etwas tun. »Also gut, was wirst du tun?« fragte sie.

»Tun? Wie, was tun? Es gibt nichts, was ich tun könnte.«

»Michael, ich möchte dich an nichts erinnern, was du zu verdrängen versuchst.« Na, prima. War Carlotta jetzt die Psychologin? »Aber Alex B. Willy ist ein sehr gefährlicher Mann.«

»So?«

»Ja, so. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat er dir Dinge erzählt, die sonst niemand von ihm weiß.«

»So?«

»Ja, und vielleicht habe ich ja irgend etwas vergessen, aber ist das für ihn nicht bereits genug, um sich Sorgen zu machen?«

»Kann schon sein«, gab ich zu. »Aber womit kann ich ihm schon schaden? Natürlich kann ich nichts davon in die Zeitung setzen. Also, weshalb sollte er sich Sorgen machen?«

»Wird er aufhören, Kinder zu mißbrauchen?« fragte mich Carlotta geradeheraus.

»Nein, das wird er nicht tun.«

»Wie stehen die Chancen, daß er dabei wieder erwischt wird?« drängte sie.

»Unter Umständen kann das passieren«, sagte ich, »wahrscheinlich aber nicht so bald. Willy hat die Kinder in seiner Gewalt, indem er ihnen angst macht und ihre Eltern gleichzeitig dazu bringt, ihm zu vertrauen. Und die Dinge, die er den Kindern antut, sind absolut extrem. Diese Art Mißbrauch klingt für die meisten Eltern nicht glaubwürdig.«

»Warum sollte er also noch einmal erwischt werden?«

»Er ist zu aktiv«, antwortete ich. »Er hat einfach zu viele Kinder mißbraucht, und er nimmt jede Gelegenheit wahr. Er wird Schmiergelder verteilen, bevor er unter Umständen gefaßt wird.«

»Und wenn das passieren sollte, was ist dann mit dir?«

»Carlotta, was meinst du damit? Nichts ist mit mir.«

»Bist du eine Bedrohung für Willy oder nicht?« Carlotta fragte, als ob sie die Zeugin der Gegenseite ins Kreuzverhör nehmen würde, was sie auf gewisse Weise auch tat. »Wenn man davon ausgeht, wieviel du weißt, wärst du dann nicht eine sehr eindrucksvolle Zeugin der Staatsanwaltschaft?«

»Du vergißt die Anwälte. Alles, was Willy mir erzählt hat, wird vor Gericht als ›Hörensagen‹ eingeschätzt und ist nicht zulässig.«

»Beim ›Hörensagen‹ gibt es vierundzwanzig Ausnahmeregelungen. Ich möchte dich jetzt nicht mit Einzelheiten langweilen, aber das Entscheidende wäre: Ich gehe alles sorgfältig durch und laß es von meinem Chef absegnen – ohne die Namen zu nennen, natürlich«, fügte sie hastig hinzu, »und ich denke, das Material wäre zulässig.«

»Jesus.« Das würde Willy gar nicht gefallen. Und sicher würde er es herausfinden. Willy rechnete damit, daß keines der mißbrauchten Kinder, die ihn beschuldigten, in seiner Aussage bestätigt würde. Aber selbst wenn man den aktuellen Fall beiseite ließ – irgendein mißbrauchtes Kind würde ihn sicher irgendwann einmal beschuldigen.

»Was ist mit dem Patient-Arzt-Vertrauensverhältnis?« fragte Carlotta.

»Ich denke, es gibt keines«, mußte ich antworten. »Er war nie mein Klient. Ich habe niemals meine Dienste angeboten.«

Für einen Augenblick schwiegen wir beide. »Michael, das, was er dir anvertraut hat, könnte sogar zulässig sein, wenn man ihn für das laufende Verfahren noch einmal kriegen würde.«

»Aber das wird man nicht.«

»Das ist wahr.«

Wir verstummten. Die Unterhaltung ging nicht in die Richtung, die mir gefiel. Ich nahm die Speisekarte und vertiefte mich darin.

»Michael, du mußt dich damit auseinandersetzen.«

Ich legte die Speisekarte weg. Von ihrem kunstvollen Make-up bis hin zu den geschmackvollen Haarsträhnen sah Carlotta aus wie eine Frau, deren Hauptproblem es zu sein schien, sich möglichst keinen Fingernagel zu brechen. Aber das täuschte. Ich kannte Carlotta gut genug, um zu wissen, daß es keine Chance gab, ihr zu entkommen, wenn sie sich einmal in einer Sache festgebissen hatte.

»Sich mit was auseinandersetzen, Carlotta? Sieh mal, er interessiert sich nicht wirklich für die Sexualität von Erwachsenen, also wird er mich nicht als mögliches Opfer verfolgen. Du mußt auch bedenken, daß er seit Jahren nicht mehr mit Kindern zusammen war und deshalb eine Menge Phantasien aufgebaut hat. Er wird sich irgendwo niederlassen und anfangen, sich in der Gemeinde Liebkind zu machen. Ich glaube nicht, daß er zurückkommen wird, nur um mich ruhigzustellen. Er kann sein Problem mit mir auch dadurch lösen, daß er soweit wie möglich wegzieht. Ich würde niemals erfahren, ob er wegen einer neuen Sache gefaßt wird. Und der alte Fall wird nicht mehr verhandelt, das weißt du.«

Wir schwiegen erneut. Ich schaute wieder in die Karte. »Ist das wahrscheinlich?« fragte Carlotta. »Würde er einfach wegziehen? Und könntest du damit leben? Obwohl du genau weißt, daß er draußen herumläuft und Kinder mißbraucht?«

Ein »Nein« zu jedem einzelnen Punkt, dachte ich. Tief in meiner Seele wußte ich, daß Willy zu gründlich war, um eine Sache nicht zu Ende zu bringen. Und dazu gehörte, daß er wußte, daß ich ihn nie in Ruhe lassen würde, selbst wenn er mich in Ruhe ließ.

»Sicher«, log ich. »Warum nicht? Weißt du, wie viele Leute draußen herumlaufen und Kinder mißbrauchen? Du kannst mich damit nicht verrückt machen. Ich tue, was ich kann.« Aber ich wußte, Carlotta hatte recht. Ich mußte wegen Alex B. Willy etwas unternehmen.

Nur gab es keine Möglichkeit, Carlotta davon zu erzählen. Sie würde an die Decke gehen und meckern und sich aufführen wie eine Glucke. Schlimmer noch, sie würde es Adam erzählen, dem Vollzeit-Polizisten dieser Stadt und meinem Teilzeit-Liebhaber, der mich mit seinem Beschützerinstinkt verrückt machen würde, und dann würde ich meine Beziehung zu ihm verlieren und die Freundschaft zu Carlotta, und das alles nur deshalb, weil ich Carlotta die Wahrheit gesagt hatte. So konnte ich also meine Beziehung zu beiden nur schützen, wenn ich Carlotta anlog – wenn auch zähneknirschend.

Mama würde so etwas niemals tun. Mama liebte es, die Würfel fallen zu lassen, wie sie fielen. Manchmal warf Mama die Würfel auch selbst. Aber ich war nicht Mama. Definitiv: Ich war nicht Mama.

»Hmmm«, sagte Carlotta, und ich sah die Ratlosigkeit in ihren Augen. Eigentlich hätte sie es besser wissen müssen, als mir einfach zu glauben. Und dann lief mir ein kalter Schauer über den Rücken: Ich verkaufte Carlotta gerade Sicherheit. Sie wollte glauben, daß ich vor Willy sicher war, damit sie sich keine Sorgen um mich machen mußte. Und sie glaubte es wider besseren Wissens. Vielleicht hatte ich trotz allem etwas von Willy gelernt.

Kapitel 3

Ich bin nicht gerade geduldig und schon gar keine Zauderin. Ich bin mehr der Typ, der vor einer Kreuzung noch einmal Gas gibt. Und fürs Cross-Country suche ich lieber ein Pferd aus, das zu schnell springt und ausbricht, als eines, das scheut: Wir überspringen ein Hindernis auch dann noch, wenn es uns umbringt. Das ist wohl genetisch bedingt, der Preis, mit Mama verwandt zu sein.

Ich hätte Carlotta bitten können, ihre Verbindungen bei der Staatsanwaltschaft spielen zu lassen, um herauszufinden, wo sich Willy aufhielt, seitdem er entlassen worden war. Doch wenn ich sie mir so ansah, dann war das keine gute Idee: Ich würde sie nur mißtrauisch machen.