Die Psychologin – Schwarze Seelen - Anna Salter - E-Book
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Die Psychologin – Schwarze Seelen E-Book

Anna Salter

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Beschreibung

Eine Frau unter Wölfen … Der eiskalte Thriller »Die Psychologin – Schwarze Seelen« von Anna Salter jetzt als eBook bei dotbooks. Das Wissen um die Abgründe der menschlichen Seele – wird es ihre stärkste Waffe sein oder sie in tödliche Gefahr bringen? Als ein Freund die Gerichtspsychologin Dr. Stone bittet, in dem Hochsicherheitsgefängnis von Vermont die Leitung einer Therapiegruppe zu übernehmen, zögert sie zunächst. Aber Stone hat noch nie eine Herausforderung gescheut. Als sich jedoch die eisernen Türen zum ersten Mal hinter ihr schließen, hat sie das Gefühl, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Die Teilnehmer der Therapiegruppe verhalten sich seltsam, Gerüchte ranken sich um das Verschwinden der letzten Leiterin – und dann erschüttert ein Mord die alten Mauern. Stone bleibt nur eine Wahl, wenn sie die Wahrheit herausfinden will: Sie muss sich mitten in das Fadenkreuz des Mörders wagen! Fesselnde True-Crime-Spannung: Anna Salter verarbeitet in ihren abgründigen Thrillern eigene Erfahrungen aus der klinischen Psychologie. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Psycho-Thriller »Die Psychologin – Schwarze Seelen« von Anna Salter wird alle Fans von »Shutter Island« begeistern – das fesselnde Finale ihrer Reihe um die knallharte Gerichtspsychologin Dr. Stone. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 517

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Über dieses Buch:

Das Wissen um die Abgründe der menschlichen Seele – wird es ihre stärkste Waffe sein oder sie in tödliche Gefahr bringen? Als ein Freund die Gerichtspsychologin Dr. Stone bittet, in dem Hochsicherheitsgefängnis von Vermont die Leitung einer Therapiegruppe zu übernehmen, zögert sie zunächst. Aber Stone hat noch nie eine Herausforderung gescheut. Als sich jedoch die eisernen Türen zum ersten Mal hinter ihr schließen, hat sie das Gefühl, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Die Teilnehmer der Therapiegruppe verhalten sich seltsam, Gerüchte ranken sich um das Verschwinden der letzten Leiterin – und dann erschüttert ein Mord die alten Mauern. Stone bleibt nur eine Wahl, wenn sie die Wahrheit herausfinden will: Sie muss sich mitten in das Fadenkreuz des Mörders wagen!

Fesselnde True-Crime-Spannung: Anna Salter verarbeitet in ihren abgründigen Thrillern eigene Erfahrungen aus der klinischen Psychologie.

Über die Autorin:

Anna Salter ist in North Carolina geboren und aufgewachsen. Sie studierte zunächst Literaturwissenschaft und Psychologie, bevor sie sich in Harvard auf klinische Psychologie spezialisierte. Ihre wissenschaftlichen Publikationen gelten als Meilenstein für die Therapie von Sexualstraftätern, sie ist Beraterin bei Gericht und im Strafvollzug. Anna Salter leitet eine Privatpraxis in Wisconsin, reist jedoch immer wieder um die Welt, um Lehrvorträge zu halten, und unterrichtete u. a. an Harvard. Als Schriftstellerin berühmt wurde sie mit ihrer »Psychologin«-Reihe um Dr. Stone.

Bei dotbooks veröffentlichte sie in ihrer Thriller-Reihe auch folgende Bände: »Die Psychologin – Dunkle Wasser«, Band 1»Die Psychologin – Der Schatten am Fenster«, Band 2»Die Psychologin – Tödliches Vertrauen«, Band 3

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »Prison Blues« bei Pocket Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Schwarze Seelen« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2002 Dr. Anna Salter

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shuterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-927-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Anna Salter

Die PsychologinSchwarze Seelen

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Thomas Stegers

dotbooks.

Für

Jazzy wazzy wo

und

Blako dazu

Kapitel 1

»Heute war wieder ein typischer Tag«, sagte ich beim Abendessen zu Adam. »Mein neuer Klient hat die Kontrolle über seinen Penis verloren. Es ist immer dasselbe.«

Adam hörte auf zu essen. »Wie bitte?«

Ich zuckte mit den Achseln und verlagerte meinen Riesenbauch auf die Seite. Nichts fiel mir mehr leicht. Es war einfach keine bequeme Sitzhaltung mehr zu finden. Hinlegen und Schlafen war auch keine Lösung, und an Herumgehen war erst recht nicht zu denken. Ich musste kurz vor der Entbindung stehen. Offiziell waren es noch ein paar Monate bis dahin, aber mein Körper war derart aus den Fugen geraten, dass ich seine Gliedmaßen, einzeln vor mir aufgereiht, nicht mehr voneinander hätte unterscheiden können. Das muss ein Zeichen sein, dachte ich.

»Nicht weiter neu«, sagte ich. »So was kriege ich andauernd zu hören.« Ich meinte es ernst. Als Gerichtspsychologin, die tagtäglich mit Sexualstraftätern zu tun hat, verfüge ich über eine ansehnliche Sammlung solcher Entschuldigungen für kriminelles Verhalten. »Eigentlich hat er gar keine Straftat begangen«, ergänzte ich. »Er hat bloß die Kontrolle über seinen Penis verloren. Nicht annähernd so fantasievoll wie der Kerl letzte Woche.«

Adam verdrehte die Augen.

»Ja, ja, eine üble Sache«, fuhr ich fort. »Ich will hier nicht die Sexistin spielen, aber von Frauen habe ich solche Ausreden noch nie gehört. Wie kommt das? Was ist das bloß mit euch Männern? Dreht ihr euch einfach um, und schwups, weg ist er? Eine Frau, die die Kontrolle über ihre Vagina verloren hat, ist mir bis jetzt noch nicht untergekommen. Man wacht morgens auf, und das Ding ist da, wo es gestern Abend auch war. Man geht zur Arbeit, und es ist immer noch da. Schon mal gehört, dass eine Frau ihre Vagina verloren hat?

Noch abenteuerlicher war die Ausrede von dem Kerl letzte Woche. Er sagte, eine Vagina wäre durchs Zimmer geflogen und auf seinem Daumen gelandet. Einfach so. Das muss eine typische Männersache sein, dass sich der Schwanz selbstständig macht, sich duckt vor frei herumfliegenden Vaginas.«

Mein innigst geliebter Polizeichef sträubte sich, nahm seinen Teller und ging damit zur Spüle. Immer wieder vergaß ich, dass Adam, so wie die meisten Männer, nicht gerne mit Sexualstraftätern in einen Topf geworfen wird, auch nicht im Scherz. »Das ist keine typische Männersache«, sagte er, den Kopf seitwärts gewandt. »Meiner macht sich normalerweise nicht selbstständig, und ich wüsste auch nicht, wann ich je vor einer herumfliegenden Vagina in Deckung gegangen wäre.«

Ich trat zur Spüle und schlang meine Arme um ihn. Leider war mein Bauch so dick, dass ich meinen Freund nur zur Hälfte umfassen konnte. Ich beugte mich vor, legte den Kopf auf seine Schulter und fing an, ihn zärtlich im Nacken zu liebkosen. »Und wo ist deiner jetzt gerade?«, fragte ich ihn zwischen zwei Küssen.

»Wo hättest du ihn denn gern?«, sagte er, und ich spürte an seinen Halsmuskeln, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete.

»Meine Güte, Gary! Das ist ja eine Ewigkeit her. Wie geht es dir? Was macht das Leben da draußen in Nelson’s Point? Hat es in letzter Zeit mal wieder einen richtigen Gefangenenaufstand gegeben?« Bei meinem letzten Besuch in der Strafanstalt Nelson’s Point war mein Gespräch mit Gary Raines, dem Gefängnisdirektor, von einem der Wärter unterbrochen worden, der hereingerannt kam und ihm mitteilte, mehrere Spitzel unter den Häftlingen hätten das Gerücht aufgeschnappt, Block C würde abends in der Kantine meutern.

Das war Jahre her. Damals, als Gary noch normaler Vollzugsbeamter gewesen war, hatte ich mein praktisches Jahr in Nelson’s Point absolviert. Nur zehn Jahre hatte Gary gebraucht, um sich bis zum Posten des Direktors hochzuarbeiten, den er nun bereits fünf Jahre innehatte. Seit meinem Weggang hatte ich nur gelegentlich Kontakt mit ihm gehabt, meist wenn ich zu ihm hinausfahren musste, um für das Gericht Sexualtäter zu begutachten, was nicht häufig vorkam.

Ich klemmte den Telefonhörer zwischen Schulter und Kinn und versuchte, tief durchzuatmen und mich auf meinem Schreibtischstuhl niederzulassen. War es möglich, dass Stühle schrumpften? Meiner schien mit jedem Tag kleiner zu werden. Ich bin Frühaufsteherin und meist vor allen anderen Mitarbeitern der psychiatrischen Abteilung des Jefferson University Hospital in meinem Sprechzimmer. In Strafanstalten jedoch fängt der Tag noch früher an, und das Telefon klingelte bereits, als ich mein Sprechzimmer betrat.

»Einen Aufstand hat es nicht gegeben«, sagte Gary, »aber das Leben ist auch so spannend. Du hörst dich ganz außer Atem an. Bist du gejoggt?«

»Nein«, sagte ich. »Nur einmal durchs Zimmer gegangen. Egal, ich erklär’s dir, wenn ich bei dir bin.« Das würde natürlich nicht mehr nötig sein, wenn ich ihm erst gegenübertrat. »Was ist denn so spannend?« Ich erwartete meine Klienten und hatte folglich nicht viel Zeit zum Plaudern.

»Gerade habe ich zum Beispiel eine Psychologin entlassen, die beim Sex mit einem Insassen erwischt wurde. Jemand, den du kennst.«

»Die Psychologin oder den Insassen?«

»Die Psychologin.«

»Wer ist es?«

»Eileen Steelwater.«

»Nein!«, sagte ich völlig verblüfft. »Du hast Eileen vor die Tür gesetzt? Weil sie Sex mit einem Insassen hatte? Das kann doch nicht wahr sein. Ist das dein Ernst?« Eileen und ich hatten beide zur gleichen Zeit unser praktisches Jahr in Nelson’s Point absolviert. Eileen, fuhr es mir durch den Kopf, die mit dem farblosen Haar. Das heißt, nein, Haar kann ja gar nicht farblos sein, Menschen allerdings schon. Eileen hatte brünettes Haar, aber sie war ein farbloser Mensch, der stets auf Nummer Sicher ging. Mit ihrer sturen Gläubigkeit an die albernen Regeln und Verhaltensvorschriften, die aufzustellen Strafanstalten sich genötigt sehen, konnte sie einen verrückt machen.

Eileen stellte ihren Wagen stets auf dem weiter entfernten Parkplatz für Angestellte ab. Nie versuchte sie, etwa eine Aluminiumdose in die Anstalt zu schmuggeln. Nie nahm sie ein Taschenmesser in ihrer Handtasche mit, um sich zum Beispiel zum Mittagessen einen Apfel zu schälen. Nie verlor sie ihren Personalausweis. Ihre Autoschlüssel deponierte sie stets in einem der Schließfächer für Wertsachen, wie es sich gehörte. Ich wüsste nicht, dass sie je eine Vorschrift missachtet hätte. Wahrscheinlich hätte sie Albträume bekommen, wenn sie mal vergessen hätte, sich beim Verlassen des Gefängnisses auszutragen.

Ich hatte die Stelle gewechselt, mein anarchisches Gemüt kam mit der Konformität, die in Gefängnissen verlangt wird, nicht zurande. Allerdings schied ich mit einem gewissen Bedauern – extreme Bedingungen hatten für mich immer etwas Anziehendes gehabt. Eileen hatte sich eingerichtet, froh über ihren sicheren Arbeitsplatz – Kriminalität ist eine Wachstumsbranche –, und in der geordneten Welt, die all die Regeln und Vorschriften erzeugt, fühlte sie sich wohl.

»Ich weiß«, sagte Gary. »Verrückt, nicht? Ich glaube, kein Mensch hier hätte das von ihr gedacht, wenn wir sie nicht in flagranti ertappt hätten. Sie kann es unmöglich abstreiten. Und es tut ihr auch kein bisschen Leid. Sie kriegt natürlich eine Anzeige – immerhin gibt es ein kleines, unbedeutendes Gesetz, das Mitarbeitern jeglichen sexuellen Kontakt mit Insassen untersagt. Ich weiß nicht, ob sie dagegen etwas ausrichten kann, aber ihre Zulassung ist sie auf jeden Fall los.«

»Mein Gott«, sagte ich. »Was ist los mit Eileen? Hatte sie einen psychotischen Schub?«

»Äußerlich war nichts zu erkennen«, erwiderte Gary. »Obwohl man bei Psychologen ja nie weiß.«

Da konnte ich nicht widersprechen. Als Berufsgruppe fand ich uns schon verrückter als andere – allerdings nicht so verrückt wie die Psychiater, aber das war nur ein geringer Trost.

»Jedenfalls hoffe ich, dass du uns aus der Patsche hilfst«, sagte Gary. Seine nüchterne, direkte Art konnte ich gut leiden, er vergeudete nicht so viel Zeit mit Small Talk wie ich. Er hatte sich vom Gefangenenaufseher zum Gefängnisdirektor hochgearbeitet, und er kam gleich zur Sache, was mir an Polizisten immer gefallen hatte.

»Sie hat eine Therapiegruppe für Sexualtäter geleitet. Jetzt herrscht natürlich das totale Chaos, aber ich will nicht, dass die Gruppe auseinander fällt. Das würde sich nicht gut machen. Jemand pimpert mit dem Seelendoktor, und das soll das Ende der Gruppe sein? Wie sähe das denn aus, wenn einer der Männer Antrag auf Hafturlaub stellt? ›Ich bin gut vorangekommen in der Therapie, habe mich wirklich sehr angestrengt, und dann fing die Therapeutin an, mit einem der Insassen zu vögeln, und jetzt haben sie die Gruppe einfach aufgelöst‹ …«

»Was die Teilnehmer daraus gelernt haben, davon will ich lieber erst gar nicht reden«, bemerkte ich trocken. »Die müssen doch gesehen haben, wie er sie angesprungen hat.«

»Glaub mir«, sagte Gary, »der Kerl springt so schnell keinen an. Du wirst schon noch verstehen, was ich meine. Also, kannst du das machen? Die Gruppe übernehmen, bis wir jemand Dauerhaftes gefunden haben? Nur diese eine Gruppe, zweimal die Woche, mehr nicht.«

»Ich bin schwanger, Gary. In ein, zwei Monaten ist es so weit.«

»Schwanger?«, rief Gary überrascht. »Na, das ist doch toll! Einfach toll. In ein, zwei Monaten?«, wiederholte er nachdenklich. »Also gut, akzeptiert. Dann muss ich eben bis dahin einen neuen Ersatz finden.«

»Aber …«, hob ich an. Eigentlich hatte ich noch gar nicht zugestimmt.

»Die Gruppe fängt morgen um zwei Uhr an. Wir beide treffen uns um zwölf. Ich lade dich zum Essen ein. Dann kriegst du die nötigen Informationen.«

»Lass mich noch mal drüber schlafen, Gary.« Ich sollte mir das wirklich gut überlegen und dann zurückrufen. Irgendwann würde mich meine Neigung zu Spontanentschlüssen noch mal in Teufels Küche bringen – wenn es nicht schon längst passiert war. Andererseits wäre das Leben ohne solche Spontanentschlüsse ziemlich dröge.

»Ach, was soll’s. Ich mach’s«, sagte ich. In meinem Zustand konnte ich nicht mehr auf dem Boden herumkriechen, das hieß, die Therapiesitzungen mit den Kindern unter meinen Klienten musste ich ohnehin absagen. Es gab also noch Platz in meinem Terminplan, und außerdem war ich neugierig geworden: Ich wollte unbedingt herausfinden, was diese streng vorschriftsgläubige, aber ansonsten anständige Frau mit Namen Eileen Steelwater veranlasst hatte, ihre moralischen Grundsätze als Psychologin über den Haufen zu werfen, ihren Job zu riskieren, ihre berufliche Laufbahn und ihre Zulassung, und offenbar alles ohne die geringsten Schuldgefühle.

Ich schaute an den Mauern der Strafanstalt Nelson’s Point hoch, dem ältesten Zuchthaus in Vermont, errichtet zu einer Zeit, in der man beim Gefängnisbau noch keinen Wert auf ästhetische Erscheinung legte. Man hatte erst gar nicht versucht, die Konturen aufzuweichen oder den unvermeidlichen Stacheldraht zu verbergen. Die Wände stiegen senkrecht aus der Erde empor, wie bei einer Festung, in Abständen erhoben sich Wachtürme, dazwischen war Stacheldraht gespannt. Es war ein kalter Morgen – der Winter in Neuengland ergibt sich nie kampflos –, und der vereiste Stacheldraht funkelte. Stacheldraht hat für mich längst jeden Schrecken verloren. Er glitzert im Sommer wie Spiralen aus winzigen Spiegelscherben, und winterlich vereist blendet er, dass einem die Augen schmerzen. Vielleicht war ich bereits zu lange im Metier, wenn ich Stacheldraht auch eine schöne Seite abgewinnen konnte.

Es klingt seltsam, aber Gefängnisse haben mich schon immer angezogen. Es hat etwas mit der Klarheit zu tun, die das Leben erlangt, wenn es von allen Verzierungen befreit ist. Es bietet sich mir da etwas, das sich eigentlich nicht großartig von der Antarktis oder vom Mount Everest, vom Leben auf einem Güterzug oder einem Rettungsfloß unterscheidet. Bloß sind die Entbehrungen und die Gefahren hier von Menschen gemacht, das ist alles.

Aber es gibt nicht nur Entbehrungen; mit dem Bösen einher geht ein intensiveres Gespür für das Gute. Nie werde ich vergessen, wie mir mal jemand auf dem Gipfel eines Viertausenders eine Tasse Tee anbot, nachdem mir die ganze Nacht über von verdorbenem Trinkwasser übel gewesen war. Die Sonne war durchgekommen, die Außentemperatur auf ein erträgliches Maß gestiegen, und ich hatte mich zum ersten Mal wieder aufgerichtet. Jemand streckte eine Hand in mein offenes Zelt und reichte mir eine dampfende Tasse Tee. Ein Sonnenstrahl fiel auf seine Hand und die Tasse, und Tränen waren mir in die Augen gestiegen. Seitdem hatte ich in vielen Tassen Tee nach jenem Trost gesucht, den diese eine Tasse mir gespendet hatte.

Ich hörte auf, an die Wand zu starren, und ging zum Haupttor. Beim Pförtner war eine Genehmigung hinterlegt, die mir Eintritt gewährte. Der Beamte schob mir das Besucherbuch zur Unterschrift hin und griff zum Telefonhörer. »Direktor Raines kommt her und holt Sie ab«, sagte er mit einem anerkennenden Stirnrunzeln. Wenige Minuten später war das Geräusch einer zur Seite gleitenden Eisentür zu vernehmen, und Gary kam mir entgegen.

Er hatte einige Kilo zugelegt im Laufe der Jahre, was sein scharfkantiges Gesicht etwas weicher machte. Wie früher trug er schwarze, blank geputzte Schuhe, dazu ein weißes Hemd, das so stramm in die Hose gesteckt war, dass man hätte meinen können, er hätte das beim Bettenbeziehen im Krankenhaus geübt. Gary war früher beim Militär gewesen, und das war nach wie vor nicht zu übersehen.

»Michael«, sagte er und blieb wie angewurzelt stehen. Er fing an zu lachen. »Meine Güte, bist du aber rund geworden! Soll das ein Kind werden oder ein Kipper?«

»Deine Sensibilität freut mich, Gary. Es ist immer leicht, sich über Schwangere lustig zu machen. Lass dich ruhig weiter über meinen deformierten, hässlichen Körper aus.« Ich sagte das ganz ernst, aber Gary ließ sich nicht täuschen. Ich war ziemlich stolz auf meinen dicken Bauch und auf das gesunde Kind, das darin heranwuchs, und ich verhehlte es nicht.

»Früher warst du ganz klein und zierlich«, sagte er. Der Beamte sah Gary ungläubig an, sodass ich mich fragte, ob er ihn überhaupt schon mal als Privatmensch erlebt hatte. Wie bereits erwähnt, kannten Gary und ich uns seit der Zeit, als ich mein praktisches Jahr gemacht hatte und er noch einfacher Gefangenenaufseher gewesen war. Wir waren damals eine Clique, die nach Feierabend schon mal ein Bier zusammen trank – eine Clique, zu der auch Eileen Steelwater gehört hatte –, aber dann hatten wir uns aus den Augen verloren; das war fünfzehn Jahre her. Nach dem Verhalten des Beamten zu urteilen, führte sich Gary sonst eher wie ein erwachsener Mensch auf.

Zu Mittag aßen wir im Make-Shift-Café, vom Gefängnis aus nur ein Stück die Straße hinunter. Es war wärmer geworden, und Gary und ich gingen zu Fuß. Das Schild draußen kündigte den landesweit »unamerikanischsten Apfelkuchen« an, »garantiert nicht wie bei Muttern«. In Vermont wimmelte es von Althippies aus den Sechzigerjahren, die einfach nie weggezogen waren. Statt den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten, hatten sie sich häuslich niedergelassen, aber ihr Dope und ihren Humor hatten sie behalten. Eine ihrer Bastionen zu betreten hieß, in eine Zeitmaschine zu geraten: Kellner mit Pferdeschwänzen, die gebatikte T-Shirts trugen; an den Wänden hingen Schilder, auf denen das Make Shift als »genossenschaftlich geführtes Restaurant« vorgestellt wurde, gefolgt von umständlichen Erklärungen, was das bedeutete: Das Küchen- und Reinigungspersonal bekam den gleichen Lohn, Entscheidungen wurden gemeinschaftlich gefällt.

Erstaunlicherweise funktionierte das System seit zwanzig Jahren. Wenn man sich die Besetzung allerdings so anschaute, musste man zu dem Schluss kommen, dass die Mitspieler seit meinem letzten Besuch ausgetauscht worden waren. Die augenblickliche Kellnerauswahl sah so jung aus, dass es sich unmöglich noch um echte Hippies handeln konnte. Sie wirkten eher wie Möchtegernhippies, die Platten von Pink Floyd sammelten und ihre Eltern fragen mussten, wie es damals in den Sechzigerjahren wirklich zugegangen war.

»Kommst du oft hierher?«, fragte ich Gary. »Ich war seit Jahren nicht mehr hier.«

»Nur zu besonderen Anlässen«, erwiderte er. »Es hat sich nicht viel verändert.«

»Versetzt einen in alte Zeiten«, erklärte ich.

»Das kann man wohl sagen.« Mittlerweile hatten wir einen Platz gefunden und studierten die Speisekarte, die eine Auswahl diverser Tofu- und Vollkorngerichte bereithielt, erstaunlich gutes Essen, wenn es noch so köstlich war wie früher.

Ich legte die Speisekarte beiseite und fragte Gary: »Macht dir deine Arbeit als Gefängnisdirektor immer noch Spaß?«

»Meistens ja«, sagte er. »Ich gebe es nur ungern zu, aber es gefällt mir, den Laden zu schmeißen. Das Problem ist, dass ich mich die Hälfte der Zeit mit den hohen Tieren in der Verwaltung herumschlagen muss. Von den mediengeilen Politikern, die ein saublödes Gesetz nach dem anderen verabschieden, ganz zu schweigen.

Gebetsmühlenartig wiederholen die ihren sturen Glaubenssatz, hart gegen das Verbrechen vorzugehen. Ob irgendeine ihrer neuen Regelungen in der Praxis auch funktioniert, ist denen scheißegal, Hauptsache, es macht sich gut auf dem Papier. Da werden in zwanzig Minuten Gesetze durchgepeitscht, ohne dass eine Sekunde ein Gedanke daran verschwendet wird, welche Auswirkungen die haben. Dabei sind wir noch besser dran als andere. In manchen Bundesstaaten haben sie per Gesetz die bedingte Haftentlassung abgeschafft, und jetzt wundern sie sich, dass sie acht neue Gefängnisse bauen müssen. Die sind doch nicht mehr ganz richtig im Kopf!

Das Gefängnis ist nicht halb so schlimm wie die Politiker – aber natürlich haben auch wir unsere großen Momente. Erst vergangene Woche haben wir entdeckt, dass einige Männer in der Werkstatt eine fast zehn Meter lange Leiter gebaut hatten. Eine ziemlich gute Leiter, hoch genug, um die Mauer zu überwinden. Aus Metall und sehr stabil, hätte hundertfünfzig Kilo pro Sprosse ausgehalten. Anscheinend haben sie was in der Werkstatt gelernt. Ein Spitzel hat sie verraten, an dem Abend, als neun von ihnen vorhatten abzuhauen. Das hätte uns einige hübsche Schlagzeilen eingebracht.«

»Eine zehn Meter lange Leiter?«, fragte ich. »Seit wann baut ihr Leitern in eurer Werkstatt?«

»Spinnst du, Michael? Natürlich bauen wir keine Leitern in der Werkstatt. Wir stellen Übertöpfe her, solche Sachen.«

»Wie ist so etwas möglich: eine zehn Meter lange Leiter zu bauen, ohne dass es jemand merkt?«

»Das ist hier die Frage, nicht wahr? Vermutlich hat jemand, der eigentlich Aufsicht gehabt hätte, Karten gespielt oder Däumchen gedreht.«

»Wo haben sie die Leiter versteckt?«

»Gar nicht. Sie stand mitten zwischen dem ganzen Werkzeug und den Holzleisten.«

»Wow. Hast du nicht gesagt, du führst ein strenges Regiment?«

»Das ist noch gar nichts«, erwiderte er. »Letztes Jahr hatten wir hier jemanden, der aus Zahnseide ein Seil geflochten hat. Ein ziemlich haltbares Seil.«

Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein Seil aussah, das nur aus Zahnseide gefertigt war. »Der muss doch Unmengen von Zahnseide verbraucht haben«, stellte ich ungläubig fest.

»Allerdings«, sagte er. »Jetzt achten wir darauf, dass nur kurze Stücke Zahnseide ausgegeben werden.« Ich schaute hinüber zu dem Paar am Nachbartisch, das uns neugierig musterte.

Gary folgte meinem Blick. Er zuckte mit den Achseln und sagte, diesmal etwas leiser: »Gut, dass wir noch nicht über meinen neuen Gast geredet haben.«

»Und wer ist dein neuer Gast?«

»Er ist noch nicht da, aber er kommt demnächst. Clarence.«

Ich lehnte mich zurück und starrte Gary an. »Na, herzlichen Glückwunsch.«

»Irgendwo muss er ja hin.«

»Wieso stehen die Gaffer hier noch nicht Schlange?«

Wieder zuckte er mit den Achseln. »Es weiß keiner, dass er kommt. Ich glaube, nicht mal der Buschfunk der Insassen weiß Bescheid.«

»Erste Klasse. Wie hast du das denn hingekriegt?«

»Ich habe es dem Personal nicht gesagt. Außer mir und dem Staatssekretär weiß es niemand.«

»Das wird denen bestimmt nicht gefallen.«

»Wen meinst du damit?«, sagte er. »Keinem wird das gefallen. Das Personal will ihn nicht haben. Die Insassen werden ihn fertig machen. Und die Medien werden uns bei dem leisesten Mucks von ihm gnadenlos verfolgen.«

»Du scheinst ja ganz gelassen zu sein.«

»Ist doch eh immer die gleiche Geschichte.«

»Tut mir Leid«, entgegnete ich, »aber bei Clarence nicht.«

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Er ist nicht der Erste. Es gibt doch mittlerweile schon einige von seiner Sorte. Bundy, Dahmer, Gacey.«

»Aber keiner ist auf Kinder losgegangen«, sagte ich. Wir flüsterten verschwörerisch. »Keiner hat ihnen den Penis abgeschnitten und in Einmachgläsern auf seinen Nachttisch gestellt. Nicht mal der Grausamste hätte seine Freude an so etwas.« Es stimmte. Im Gefängnis herrschte eine Hierarchie, was als akzeptabel galt und was nicht. Männer, die Kinder misshandelt hatten, waren im Allgemeinen nicht beliebt, aber mittlerweile gab es so viele, dass sie nicht mehr derart schikaniert wurden wie früher. Aber dass ein Täter sein kindliches Opfer verstümmelte, das war auch für Häftlinge zu abgedreht, und die Tatsache, dass es sich um Jungen handelte, machte es nur schlimmer. Die Häftlinge würden sich fragen, an wem Clarence sich wohl jetzt vergreifen würde, da er keinen Zugang zu Kindern mehr hatte.

»Jeder Mensch braucht ein Hobby.«

»Du bist krank, Gary. Nicht mal ich kann über Clarence lachen.«

»Etwas muss ich doch tun. Warum also nicht darüber lachen? Ich habe ihn nun mal am Hals. Wenigstens habe ich eine gute Psychologin an der Hand. Ich beziehe dich mit ein, wenn es allzu schlimm werden sollte.« Er schaute auf, als wollte er meine Reaktion testen.

»In was willst du mich mit einbeziehen?«, fragte ich. »Du bist derjenige, der hier einen Psychologen braucht, nicht Clarence. Umgang mit Leuten wie Clarence kann einen krank machen. Außerdem wissen wir auch nicht besser als andere, was wir mit so einem anstellen sollen. Kennst du die Redensart ›bösartiger als eine Schlange‹? Absolute Bösartigkeit ist keine seelische Krankheit. Der Mann braucht einen Exorzisten, keinen Psychologen.«

»Wenn du mich fragst, braucht der Mann was ganz anderes. Er gehört in einem Bundesstaat untergebracht, wo es die Todesstrafe gibt.«

»Das ist ein Argument«, erwiderte ich. »Selbst denjenigen unter uns Psychologen, denen nicht wohl bei dem Gedanken ist, dass der Staat Menschen tötet, kommen so ihre Zweifel, wenn jemand wie Clarence aufkreuzt. Vielleicht werden das ja die Häftlinge für dich erledigen.«

»Nicht, wenn ich aufpasse«, sagte er grimmig. »Ich würde ihn am liebsten in einen Bundesstaat verlegen, der ihn schleunigst auf dem Elektrischen Stuhl brutzelt, aber solange ich für ihn zuständig bin, kriegt ihn keiner.« Er sah dabei auf die Speisekarte herab; es sollte beiläufig klingen, aber in seiner Stimme war von Beiläufigkeit nichts zu hören.

Ich musterte ihn verblüfft. Vielleicht bin ich ja abgestumpft, aber wenn man mich damit beauftragt hätte, Clarence vor den Konsequenzen seines abartigen Charakters zu schützen, hätte ich die Aufgabe sicher ernst genommen, solche Leidenschaft wie Gary hätte ich allerdings bestimmt nicht entwickelt. »Besser, wenn du dich darum kümmerst als ich«, sagte ich sanft. Eigentlich wollte ich noch mehr sagen, aber der Duft des herannahenden Essens machte alles Denkvermögen meines Schwangerenhirns zunichte. Nichts, aber auch gar nichts konnte mich dieser Tage vom Essen abhalten.

Ich kam in den Gruppenraum und rief in der Vermittlung an, sie sollten die Männer jetzt herschicken. Bei der höchsten Sicherheitsstufe, die hier herrschte, durften die Männer nicht einfach so in den Gefängnisfluren herumlaufen. Solange es nicht über die Lautsprecheranlage verkündet worden war, konnten sie ihre Zellen überhaupt nicht verlassen. Wenn die Ansage erfolgte, wurde ihnen ein Passierschein mit Zeitangabe ausgehändigt, und sie durften allein zur Gruppe gehen. Ich würde die Passierscheine einsammeln und im Anschluss an die Männer zurückgeben – versehen mit der neuen Zeitangabe –, wenn sie sich wieder auf den Weg zu ihren Zellen machten.

Natürlich geschah das alles aus Sicherheitsgründen, aber für mich gab es noch einen anderen Grund, warum ich da sein wollte, bevor die anderen eintrafen. Ich wollte sehen, wie sich jeder Einzelne aufführte, wenn er hereingelassen wurde, besonders zu dieser Gruppensitzung, die meine erste war. Bei solchen Übergangssituationen lässt sich gut beobachten, wer sich wo hinsetzt, wer wen anschaut, wer wen begrüßt, all die kleinen Dinge, die einem Auskunft darüber geben, welchen Platz jeder Einzelne in der unsichtbaren Hierarchie, die in einem Gefängnis herrscht, einnimmt. Über kurz oder lang hätte ich es auch allein durch Zuhören während der Gruppensitzungen herausgefunden, aber ich war Nachzügler, und ich brauchte eine gute Starthilfe für meinen Lernprozess.

Jetzt betrat der erste Mann den Raum und grinste breit, als er mich sah. Sicher hatten sie Wetten abgeschlossen, wem es gelingen würde, die Gruppenleiterin zu verführen – wenn man bedenkt, was mit der ersten passiert war. Die Gruppenleiterin zu verführen, galt immer als ein gelungener Coup, ob sie nun schwanger war oder nicht. Der Mann sah sich um, und als er merkte, dass er ein paar Minuten allein mit mir sein würde, grinste er noch breiter. »Hallo, wen haben wir denn da?«, sagte er gedehnt. »Sind Sie Michael?«

Ich stand auf und hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Dr. Stone«, sagte ich mit der angemessenen Reserviertheit in der Stimme. »Und Sie sind …?«

»Leroy«, antwortete er.

»Ach ja, Leroy Warner«, sagte ich. Nach dem Mittagessen hatte ich so viele Protokolle wie möglich gelesen, daher wusste ich, wer hier auftauchen würde. »Setzen Sie sich, Mr. Warner. Die anderen werden gleich da sein.« Er nickte, ließ sich nieder, und für einen Moment schauten wir uns schweigend an. Leroy war klein, Afroamerikaner, mit kurzen Locken und von sehniger Gestalt, und er machte einen verschlagenen Eindruck auf mich.

Wieder grinste er, und er durchbrach die Stille. »Meinen Sie, dass Sie die Gruppe bis zum Ende durchstehen werden? Aussehen tun Sie jedenfalls nicht so.«

Ich sagte keinen Ton.

Leroy warf einen Blick Richtung Tür. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit für sein Spiel, und die erste Eröffnung hatte nicht funktioniert. »Ich kann Ihnen gerne verraten, wer sonst noch so kommt. Ich kenne die Typen alle. Könnte Ihnen sagen, wer hier was zu melden hat.«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte ich. »Ich mache mir lieber selbst ein Bild.« Wenn es eine Regel im Umgang mit Häftlingen gibt, dann die, dass man sich niemals von ihnen helfen lassen darf. Es schafft eine individuelle Bindung. Es bedeutet, dass man etwas schuldig bleibt, ihnen und sich selbst. Und es ist schwierig, herauszufinden, was auf lange Sicht schlimmere Konsequenzen hat – dass sie glauben, man würde ihnen etwas schulden, oder dass man es selbst glaubt.

Erneut überlegte er, aber bevor er einen zweiten Anlauf nehmen konnte, ging die Tür auf, und ein kleiner, nervöser Weißer kam herein. Kinderschänder, war mein erster Gedanke, als er mich ansah und gleich wieder wegschaute. Von der alten Schule sozusagen, die Sorte Männer, die Angst vor Frauen hat und einfach nur bemitleidenswert ist.

Kaum hatte ich ihn begrüßt und ihm gesagt, er möge sich einen Platz suchen, ging die Tür erneut auf, und ein Mann schlenderte herein, den die Football-Mannschaft der New England Patriots mit Kusshand genommen hätte. Seine Schultern füllten den engen Türrahmen vollständig aus, und sein Oberkörper ging in schmale Hüften über. Sogar den typischen Stiernacken hatte er – den Nacken, der breiter ist als der Kopf.

Er stutzte, als er mich erblickte, und nahm dann sein jugendlich großspuriges Schlendern wieder auf, halb Tanzen, halb Gehen. Ein Gewichtheber; sein Bizeps zeichnete sich unter dem knapp sitzenden T-Shirt ab, während er den Raum durchquerte, was ihm wohl bewusst war. Sein Schädel war rasiert, und seine glatte ebenholzfarbene Haut schien zu glänzen. Die beiden Sitzenden erstarrten kurz, als er hereinkam, und schauten dann rasch woandershin. Beeindruckend, wie es ihm, wortlos, gelungen war, die beiden Mithäftlinge einzuschüchtern. Zweifellos ein Mann, der ganz oben in der Hierarchie stand.

Ich sagte nichts, und auch er schwieg, als er gemächlich zu einem Platz am Ende der in einem Halbkreis aufgestellten Stühle schritt und sich hinsetzte. Er hatte sich so weit entfernt wie möglich von mir niedergelassen, streckte die Beine aus und schlug sie übereinander, verschränkte die Arme hinterm Kopf und lehnte sich zurück. Ich schaute auf das Blatt Papier vor mir. Es gab nur einen in der Truppe, der einen bewaffneten Raubüberfall verübt hatte. Das musste er sein. »Mr. Avery?«, sagte ich.

Er erwiderte nichts, sondern sah mich bloß aufmerksam an. Draußen, außerhalb des Gefängnisses, galt es als ein Zeichen von Ehrlichkeit, jemandem in die Augen zu schauen, hier drinnen war es ein Zeichen von Verachtung. »Ich bin Dr. Stone«, fuhr ich fort, als wäre sein Verhalten vollkommen normal, was es unter den gegebenen Umständen ja auch war. »Schön, dass Sie gekommen sind. In wenigen Minuten, wenn alle eingetroffen sind, können wir anfangen.« Ich tat so, als wäre mir seine feindselige Haltung gar nicht aufgefallen, die sicherste Methode, damit umzugehen. Ohne das dazugehörige Publikum verlor die Anmache an Schärfe.

In schneller Folge kamen noch vier weitere Teilnehmer, die alle zuerst mich ansahen, dann Avery grüßten, ihm zunickten oder ihn anderweitig zur Kenntnis nahmen, ohne allerdings eine coole Show abzuziehen wie er. Auch fiel mir auf, dass sich niemand neben ihn setzte. Vielleicht wollten sie sich nicht aufdrängen; nur der Letzte würde wohl oder übel neben ihm Platz nehmen müssen.

Der Nachzügler erstaunte mich. Es war ein Weißer, ein großer Mann, irgendwie vornehm, und er hatte strahlende, gleichmäßige Zähne, was auf eine teure Kieferbehandlung hindeutete. Schlechte Zähne sind in diesem Land ein Zeichen von Armut, und die meisten Gefängnisinsassen hatten Zähne, bei denen jeder Zahnarzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Die gleichmäßigen Zähne legten den Verdacht nahe, dass er nicht aus dem kriminellen Milieu stammte, und auch sein Verhalten war anders. Er lachte warmherzig und stellte sich mir vor. »Jim. Jim Walker.« Er hielt mir die Hand hin. War ich hier bei einem Treffen des Rotary Club?

»Dr. Stone«, erwiderte ich. Als ich seine Hand schüttelte, fiel mir auf, dass sein Lächeln nicht bis zu den Augen reichte. Die Haut um die Augen herum blieb gespannt, und die einzigen Falten waren normale Altersfalten, die jeder Mann in den Dreißigern hatte, keine Lachfalten. Das hatte etwas zu bedeuten. Mir waren die Forschungsergebnisse bekannt, die besagten, dass sich das ganze Gesicht eines Menschen erhellt und die Augenfalten sich nach oben ziehen, wenn das Lachen echt ist. Bei gekünsteltem Lachen verzieht sich nur der Mund, und um die Augen herum geschieht überhaupt nichts.

Der Blick aus den Augen, die nicht lachten, war aufmerksam und hellwach. »Schnelligkeit kann man einem nicht beibringen«, wie der Trainer der UCLA-Basketball-Mannschaft einmal gesagt hatte. Und statt vom Körper hätte er genauso gut vom Verstand sprechen können. Ich brauchte keinen Intelligenztest als Nachweis, dass dieser Mann gescheit war – ein Blick in seine Augen genügte. Klugheit konnte ihm im Gefängnis Punkte einbringen – oder auch nicht. Intelligenz war in der Hierarchie schwieriger einzuordnen als Averys physische Kraft. Als Anwalt der Häftlinge, der seine Klugheit in den Dienst seiner Mitinsassen stellte, nähme er einen hohen Rang ein. Wenn er sein Köpfchen dazu nutzte, um Leute fertig zu machen, dann sähe es gefährlich für ihn aus.

Bei ihm tippte ich auf Betrug und Gelegenheitsvergewaltigung. Wegen irgendeines sexuellen Vergehens musste er schließlich verurteilt worden sein, sonst wäre er nicht in der Gruppe. Allerdings saßen Gelegenheitsvergewaltiger nie ihre volle Strafe ab, also musste bei ihm noch etwas anderes hinzukommen. Ich wusste noch nicht, was, denn ich hatte keine Zeit gehabt, vor der Sitzung alle Akten zu studieren.

Zu meinem Erstaunen eröffnete Avery das Gespräch. »Wie geht’s der Nutte?«, sagte er. Es wurde augenblicklich still, und alle sahen mich an.

Auf der Stelle überkam mich kalte Wut, aber genauso schnell schluckte ich sie wieder hinunter. Hier ging es nicht darum, ob man Eileen Steelwater eine Prostituierte nennen durfte oder nicht. Hier ging es um Macht in der Gruppe. Wenn du jetzt deinen Auftritt verbockst, wenn du ignorierst, was Avery gesagt hat, wenn du Angst zeigst, die Kontrolle über Avery verlierst, dann ist die Sache gelaufen – und zwar endgültig. Höchstwahrscheinlich wussten außer mir alle im Raum, dass Avery in die Offensive gehen würde. Bestimmt hatte er damit angegeben, wie er mit der neuen Gruppenleiterin umspringen wollte.

Ich starrte Avery einige Sekunden lang an, ohne ein Wort zu sagen, und baute gehörig Spannung auf. Es brachte etwas zum Ausdruck: Erstens würde ich so etwas nicht einfach hinnehmen, und zweitens würde ich mich nicht einschüchtern lassen. Außerdem gewann ich Zeit, um mir zu überlegen, wie ich damit umgehen sollte. Eigentlich blieben mir gar nicht viele Möglichkeiten. Erteil einen Befehl, und er riskiert eine Abspaltung von der Gruppe, um mich herauszufordern. Befehle entgegenzunehmen bedeutet schweren Gesichtsverlust. Geh einfach über die Bemerkung hinweg, und er hat die Gruppe in der Hand. Wenn du ihm dagegen die Wahl lässt, trifft er sehr wahrscheinlich eine kluge Entscheidung. Es war kein Versuch seinerseits, aus der Gruppe rausgeschmissen zu werden. Er wollte die Gruppenleiterin einfach nur testen.

Bedächtig erklärte ich: »Es ist Ihre Entscheidung, Mr. Avery, ob Sie in dieser Gruppe sein möchten oder nicht. Ich zwinge Sie nicht, hierher zu kommen. Ich zwinge niemanden. Wenn Sie sich dafür entscheiden, dann haben Sie sich an die Regeln zu halten, so wie jeder andere auch. Sie gelten für Sie genauso wie für alle anderen, mich eingeschlossen. Gehen wir sie also doch mal durch.«

Ich wandte mich an die Gruppe. »Respekt gegenüber allen Mitgliedern der Gruppe. In den Sitzungen und außerhalb der Gruppe. Keine Gewalttätigkeit. Keine Einschüchterung. Keine Drohungen. Keine Beschimpfungen. Keine Demütigungen. Wenn jemand Probleme damit hat, ist jetzt die Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Es wäre doch sonst die reine Zeitverschwendung für Sie und mich.«

Avery schnaubte, sagte aber nichts. Das Schnauben diente der Gesichtswahrung, und ich überhörte es. Ich holte tief Luft und sah mich in der Runde um. Zwei dumme Anmachen gegen die Gruppenleiterin, und die erste Sitzung lief gerade mal eine Minute. Ich würde sagen, alles im Bereich des Normalen.

»Also gut«, fuhr ich fort. »Es ist so: Ich übernehme die Gruppe von Dr. Steelwater, die nicht mehr hier arbeitet, wie jeder von Ihnen weiß.« Hier und da ein Glucksen oder ein unterdrücktes Lachen. »Ich werde mich nicht darüber auslassen, was Dr. Steelwater getan hat oder nicht und was dazu geführt hat, dass sie das Gefängnis verlassen hat. Eigentlich ist mir nur sehr wenig darüber bekannt. Vermutlich weiß jeder hier im Raum mehr als ich oder glaubt jedenfalls, mehr zu wissen. Worauf es hier ankommt, ist jedoch nicht, was Dr. Steelwater aus ihrem Leben macht – vielmehr kommt es darauf an, was Sie aus Ihrem Leben machen. Wie Sie hoffentlich mitbekommen haben, geht es uns in der Therapie darum, Ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen.

Ist unter Ihnen jemand, der versessen darauf ist, sein restliches Leben im Gefängnis zu verbringen?« Ich machte eine Pause und sah mich um. »Wenn ja, dann braucht er diese Gruppe nicht. Wenn Sie aber gerne rauswollen, draußen bleiben und Ihr eigenes Leben führen wollen, dann hat diese Gruppe Ihnen vielleicht etwas zu bieten.« Niemand sagte etwas, aber alle schienen mir zuzuhören, mit Ausnahme von Avery. Natürlich hörte auch er mir zu, nur wollte er nicht dabei ertappt werden.

»Also gut. Ich möchte die Runde daher noch mal eröffnen, und diesmal möchte ich von Ihnen hören, an was Sie in der Gruppe gearbeitet haben.« Alle Augen waren auf mich gerichtet, bis zu diesem Moment. Urplötzlich flogen die Blicke hin und her, auf den Boden, zur Tür, an die Wand. Mehrere Häftlinge sahen hinüber zu Mr. Zahnpastareklame, Mr. Walker. Nur Avery blieb ungerührt. Er starrte vor sich hin, seit er Platz genommen hatte.

Ich lehnte mich zurück, verärgert und leicht beunruhigt. Wussten die Männer etwa nicht, womit sie sich in der Gruppe beschäftigt hatten? Warum wichen sie mir plötzlich aus? Ich drehte mich zu Walker um. Alle anderen erweckten den Anschein, als wüsste er die Antwort, und ich war neugierig, warum das so war. »Mr. Walker. Fangen wir mit Ihnen an.«

Für eine Sekunde hatte ich ihn verunsichert, dann rutschte das Lächeln wieder an seinen Platz. »Mit mir?«, sagte er gedehnt. »Na gut. Also, ich habe mich hauptsächlich mit meiner Depression beschäftigt. Ich bin ziemlich deprimiert, auf Grund meiner Situation.« Er musterte mich genau, schätzte ab, ob er weiterreden sollte oder nicht. »Eileen … ich meine, Dr. Steelwater, hat mir sehr geholfen, damit umzugehen. Eine Zeit lang war ich sogar suizidgefährdet.«

Ich sah ihn ungläubig an. »In der Gruppe?«, fragte ich nach. »In einer Gruppe für Sexualtäter haben Sie sich mit Depressionen beschäftigt?«

Er sah sich, nach Unterstützung heischend, um. »Also, es war ziemlich schlimm«, sagte er. »Ich konnte die reguläre Therapie für Sexualstraftäter nicht mehr mitmachen, weil ich so deprimiert war.«

Walker zeigte keinerlei klinische Symptome einer Depression. Seine Sprechweise und seine Bewegungen waren nicht verlangsamt. Es sah nicht so aus, als hätte er in letzter Zeit an Gewicht verloren, und er wirkte auch nicht sonderlich traurig. Er war empfänglich für zwischenmenschliche Kommunikation – ich würde sogar sagen, er war dreist. Und selbst wenn er deprimiert gewesen wäre – gängige Praxis wäre es gewesen, einen Klienten mit seelischen Problemen an den psychologischen Dienst zu überweisen und ihn nicht in einer Sexualtätergruppe zu therapieren, die sich, nun ja, mit Sexualstraftaten auseinander setzen soll.

Ich fühlte mich wie matt gesetzt. Ich wollte nicht gleich am ersten Tag Eileens Arbeit kritisieren. Allerdings sah das alles nicht gut aus, was hier ablief. Ich schaute mich im Raum um. »Okay«, sagte ich. »Wer will als Nächster?« Niemand meldete sich.

Kapitel 2

Das Herrenhemd hing, lässig über eine Stuhllehne geworfen, in meinem Wohnzimmer. In meinem Wohnzimmer! Ich ließ mich auf dem Sofa gegenüber nieder und betrachtete das Hemd. »Ich weiß nicht genau, ob du hier hergehörst«, sagte ich zu dem Hemd. »Nichts für ungut, aber gewöhnlich lebe ich allein, und gewöhnlich finde ich auch keine Herrenhemden in meinem Wohnzimmer. Du bist zwar wirklich ein hübsches Exemplar, aber ich glaube nicht, dass es das Richtige für dich ist, einfach so rumzuhängen. Wochenendbesuche und so, das geht schon in Ordnung, aber du tust gerade so, als würdest du hier wohnen, hättest dich auf der Stuhllehne häuslich eingerichtet.«

Ich wartete ab, aber das Hemd hielt eine Reaktion nicht für nötig, und ich stand seufzend auf. Ich ging zu der Schiebetür aus Glas und schaute auf die Terrasse und den Bach, der dahinter verlief. Eigentlich war das Zusammenleben mit Adam gar nicht kompliziert. Ich verfügte sogar über ausreichend Realitätssinn, um mir vorstellen zu können, wen von uns beiden eine Geschworenenjury als »schwierig« bezeichnen würde. Wie auch immer, ich hatte da eine Macke: Für mich war der Gedanke, dass zwei Menschen unter einem Dach lebten, das Gleiche, als würden sie in derselben Haut stecken.

Das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte, holte mich aus meiner Grübelei. Beinahe wäre ich zusammengezuckt. Meine Güte, ich hatte ganz verdrängt, dass ich ihm den Hausschlüssel gegeben hatte. Hatte ich das wirklich getan? Warum ihm nicht gleich das ganze Haus vermachen? Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Adam trat ein und lächelte, was alles nur noch schlimmer machte. Ich sah mich im Raum um. Es gab keinen Platz zum Ausweichen. Alles war so klein. Befand man sich hier im Raum, und war noch jemand anders anwesend, dann war man zwangsläufig zusammen, da gab es kein Umhin. Ich gab mir Mühe, ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern, aber es klappte nicht. Heute Abend nicht. Eine Frau muss ihre Grenzen kennen. Ich schlenderte hinüber zu meiner Jacke und hob sie auf. »Gehst du noch weg?«, fragte er.

»Ja. Abendessen bei Carlotta.«

Er runzelte die Stirn. »Komisch. Ich habe sie heute nämlich getroffen. Davon hat sie mir gar nichts erzählt.«

»Das kommt daher, weil sie noch nichts von ihrem Glück weiß«, sagte ich, gab ihm einen flüchtigen Kuss und ging.

Beim Anblick meiner grimmigen Miene konnte sich Carlotta gegen ein gemeinsames Abendessen nicht mehr wehren. Sie hätte sich sowieso nicht gewehrt. Sie war meine älteste Freundin, wir kannten uns seit dem College. Es hatte Jahre gedauert, aber im Großen und Ganzen hatte ich ihr verziehen, dass sie ihren fast ein Meter achtzig großen Körper mit Mode ausstaffierte, statt sich dem Basketball zu widmen, wie es sich gehört hätte. Sie ihrerseits hatte aufgehört, sich über meine Neigung aufzuregen, mit Männern aufs Spielfeld zu gehen, die um etliche Pfunde schwerer waren als ich und mich um Längen überragten.

Wir beide vertreten die Ansicht, dass Männer kommen und gehen, Frauenfreundschaften dagegen von Dauer sind. Daher hatte ich allen Grund, Mitleid für mein augenblickliches Dilemma erwarten zu dürfen. Schließlich hatte es nichts mit Basketball zu tun, und es war auch nichts Gefährliches oder sonst irgendwas, das Carlotta abscheulich an mir fand. Diesmal ging es um Männer, und in der Hinsicht sprechen wir normalerweise die gleiche Sprache, also schnitt ich das Thema beim Abendessen im Sweet Tomatoes an. »Er wohnt da, Carlotta. Früher hat er nur ab und zu bei mir genächtigt, aber jetzt wohnt er richtig da.«

»Und?«

»Und … ach, ich weiß nicht.«

»Nervt er?«

»Nein.«

»Wirft er seine dreckigen Klamotten auf den Boden?«

»Nein, er ist ziemlich ordentlich.«

»Magst du ihn nicht mehr?«

»Ich mag ihn noch immer sehr.«

»Macht’s keinen Spaß mehr im Bett?«

»Dann wär’s so weit.«

»Schnarcht er?«

»Weiß ich nicht. Ich bin viel zu müde, um das zu hören.«

»Hat er irgendeine schlimme Angewohnheit, die so peinlich ist, dass du mir nicht sagen willst, was es ist?«

»Vor dir wäre mir nichts zu peinlich.«

»Streitet ihr euch?«

»Wenig.«

»Ärgert er sich, dass du schwanger bist?«

»Er ist begeistert.«

»Und?«

»Und … ich weiß nicht.«

Carlotta knabberte an ihren Salatblättchen, bevor sie weitersprach. »Adam ist nicht das Problem, Michael. Du bist das Problem.«

»Ich habe nie das Gegenteil behauptet«, wehrte ich ab. Irgendwie lief das hier nicht so wie gewünscht. Von seinen Freunden erwartet man, dass sie einen aufbauen, wenn man sich wie ein Idiot benommen hat, und einen nicht in die Pfanne hauen.

»Du brauchst einen guten Psychologen.«

»Ich bin selbst ein guter.«

»Das zählt nicht.«

»Zu wem soll ich denn gehen?« Ich kenne doch alle hier. Das ist der Nachteil einer Kleinstadt.« Es war so. Das Jefferson University Hospital war eines der wenigen größeren Krankenhäuser, das in einer überschaubaren ländlichen Gegend lag. Das kam daher, dass in einem ländlich geprägten Bundesstaat wie Vermont alles klein und überschaubar war. Wir haben ja nur eine halbe Million Einwohner. Alle zusammengerechnet, würde es nicht mal für einen Vorort einer amerikanischen Großstadt reichen.

»Geh zu Marion.«

»Marion?« Ich wusste augenblicklich, wen sie meinte. Marion war eine schmächtige, zartgliedrige Frau über sechzig, die ihr grau meliertes Haar kurz trug, zu Löckchen gedreht. Gerüchten zufolge hatte sie ihre gut gehende Praxis in Boston aufgegeben und war hier in die Gegend gezogen. Scheinbar wollte sie aber in Übung bleiben und behandelte nebenher ein paar Patienten. Seit einiger Zeit kam sie regelmäßig in die psychiatrische Abteilung, um an den Ärztebesprechungen teilzunehmen, und besuchte einige Seminare. Ich war ihr nur einmal kurz begegnet, was mich nicht davon abgehalten hatte, mir sofort eine Meinung über sie zu bilden. Als ich sie das erste Mal sah, hatte ich sie in die Schublade Teetrinker gesteckt, die Sorte Mensch, bei denen zu Hause nie Unordnung herrscht, die ihre Kleider stets auf Bügel hängen und die nie in Eile sind oder konfus. Selbstverständlich beruhte das alles auf reiner Einbildung, ich kannte die Dame ja überhaupt nicht.

»Sie soll Psychoanalytikerin sein. Psychoanalytikerin aus Überzeugung. Ich bitte dich, sie war Mitglied des psychoanalytischen Instituts in Boston. Du weißt, was ich von denen halte.«

»Meine Güte, Michael«, sagte Carlotta angewidert. »Eine Ausrede nach der anderen.«

»Na gut, eine Sitzung, nicht mehr«, sagte ich.

»Du brauchst nicht mit mir zu handeln. Schließlich wohnt dein Freund nicht bei mir, sondern bei dir.«

Die Nacht über kampierte ich in Carlottas Gästezimmer. Das war weiter kein Problem; für solche Spontanbesuche hatte ich immer eine Reisetasche im Auto. Ich war sogar bekannt dafür, dass ich nach Sitzungen gelegentlich, einer Eingebung folgend, direkt zum Flughafen fuhr, um von dort an die Küste von North Carolina zu fliegen, meiner Lieblingsgegend. Für solche Kunststückchen war meine Schwangerschaft zu weit fortgeschritten, aber für Carlottas Haus reichte es.

Zeitweise hatten Carlotta und ich sogar unter einem Dach gelebt, und es hatte mich immer gewundert, dass ich mir mit einer Freundin ein Haus teilen konnte, niemals aber mit einem Lover. Vielleicht lag es daran, dass Carlottas Haus ein alter viktorianischer Kasten ist – genug Platz für eine Großfamilie. Es mag auch daran gelegen haben, dass die Beziehung zu Freunden von Natur aus anders ist, es gibt nicht dieses übertriebene Wir-Gefühl. Wie auch immer.

Carlotta hatte nichts dagegen, dass ich die Nacht über blieb, nur konnte sie sich eine Bemerkung über meine Feigheit nicht verkneifen. Eigentlich gefiel es ihr sowieso nicht, dass ich so weit draußen auf dem Land wohnte, noch dazu in meinem Zustand, weswegen sie es keineswegs missbilligt hätte, wenn ich für unbestimmte Zeit ganz zu ihr gezogen wäre.

Adam rief ich nicht an, aber jede Wette, dass Carlotta das erledigte, bestimmt, um ihm zu sagen, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Ich fand nicht, dass Adam irgendein Recht hatte, sich Sorgen zu meiner Person zu machen, und das Gefühl, keine Bewegungsfreiheit zu haben, das dieses Sichmelden alle fünf Minuten mit sich bringt, konnte ich nicht ausstehen. Ich wusste, dass Carlotta das unvernünftig von mir fand, aber sie stritt nicht mehr mit mir über solche Kleinigkeiten. Sie machte das, was sie für richtig hielt, und dagegen konnte ich schlecht wettern, denn das war meine Rede seit jeher.

Ich wachte frohgemut auf, nachdem ich ein bisschen jugendliche Aufsässigkeit gegen meinen neuen Status als Hälfte eines Paars geübt hatte, und ertappte mich dabei, dass ich an Eileen Steelwater dachte. Ich musste sie unbedingt fragen, was es mit der Gruppe auf sich hatte, mir ihre Einschätzung der einzelnen Sexualtäter holen, aber ich brachte es einfach nicht fertig, sie anzurufen. Was ich sie wirklich fragen wollte, ging mich nichts an.

In der psychiatrischen Abteilung wimmelte es von Menschen, als ich das Krankenhaus betrat, und an dem vollen Wartezimmer vorbei bahnte ich mir meinen Weg durch die Doppeltür zum Schreibtisch meiner Sekretärin. Melissa hielt mit der einen Hand den Telefonhörer ein Stück vom Ohr weg, mit der anderen stützte sie den Kopf an der Stirn ab. Noch ehe ich vor ihr stand, hörte ich das Gebrüll in der Leitung.

Unsere Klienten in der Psychiatrie deckten ein breites Spektrum ab, angefangen bei den ambulanten Fällen über die wirklich Verrückten bis hin zu den total Abgedrehten. Die ambulanten Fälle waren ganz normale Leute wie du und ich, die Depressionen hatten, Eheprobleme oder Kinder, die ihre Hausaufgaben nicht machten. Die wirklich Verrückten waren davon meilenweit entfernt; sie sahen Dinge, die wir nicht sahen, und sie hörten Dinge, die niemand hören sollte, und sie litten furchtbar darunter. Sie waren jedoch nicht das Problem – für Leute wie sie waren wir schließlich da. Sie waren einfach nur krank, und sie waren eher Gequälte als Quälgeister.

Vielmehr waren es die Leute, denen man beschönigenderweise eine »Persönlichkeitsstörung« attestierte und die für Laien einfach nur »Arschlöcher« sind, die solches Gebrüll veranstalteten. Sie schrien uns an, sie schrien ihre Familien an, ihre Freunde, sie schrien jeden an, der ihnen über den Weg lief. Ihre Partner waren permanent selbstmordgefährdet, und ihre Therapeuten überlegten sich regelmäßig, ob es nicht sinnvoller wäre, sich ihr Geld als Würstchenverkäufer zu verdienen. Jemand las Melissa die Leviten, und ich unterbrach nicht. Irgendwie erschien es unhöflich, jemanden zu stören, der gerade geschlagen wurde.

Ich hatte den Flur zur Hälfte durchschritten und überflog die rosa Karteikarten, als ich den Zettel mit der Nachricht von Eileen entdeckte. Angeblich gibt es keine Telepathie – aber wie kommt es dann, dass man häufig von der betreffenden Person angerufen wird, wenn man an sie denkt? Ich ging schnurstracks in mein Büro und rief sie zurück, aber das Gespräch war kurz und unangenehm. Sie wollte nicht am Telefon reden, was ich in Ordnung fand. Ich war mir unsicher, wie schwierig das Gespräch werden würde, und ich musste die Person vor Augen haben, wenn ich auch nur den geringsten Takt, den ich ihr schuldete, walten lassen wollte. Ihr das Make-Shift-Café als Treffpunkt vorzuschlagen, ließ ich lieber gleich bleiben. In den Sechzigern hatte Eileen immer brave Mädchenblusen ohne Ausschnitt getragen und die Hymne ihrer Studentinnenvereinigung geschmettert. Der Anblick gebatikter T-Shirts hätte sie vermutlich nervös gemacht. Die Eileen, die ich kannte, hätte sich dort jedenfalls unwohl gefühlt – was ich von der neuen zu erwarten hatte, stand noch nicht fest.

Ich schiebe Dinge nicht gerne auf die lange Bank, daher schlug ich vor, sich gleich heute zum Mittagessen zu treffen. Eileen war arbeitslos und hatte sonst nichts zu tun, deswegen ging sie auf meinen Vorschlag ein. Unterwegs überlegte ich mir, dass ich den Vorwand, ich bräuchte nur Informationen über die Gruppe, eigentlich auch fallen lassen und ihr die Wahrheit sagen könnte. Mochte es meinerseits krankhafte Neugier sein oder Sentimentalität – eingedenk alter Zeiten –, auf jeden Fall war Eileen früher mal eine Kollegin gewesen, fast schon eine Freundin, und ich verstand ihr Verhalten einfach nicht.

Sie saß bereits an einem Tisch, erhob sich aber und winkte mir, als sie mich erblickte. Mir fiel die Kinnlade herunter, und ich gab mir alle Mühe, damit sie es nicht sah. Sie musste mindestens zwanzig Kilo zugenommen haben, und ihre Fußknöchel waren genauso geschwollen wie meine. Sie sah nicht gut aus, überhaupt nicht gut, körperlich gesehen, und das konnte unmöglich nur mit Depressionen zusammenhängen.

Sie erschien ebenso überrascht wie ich. »Michael«, sagte sie nur und sah verwundert auf meinen dicken Bauch. In dem Moment, als sie meinen Namen sagte, fielen die fünfzehn Jahre schlagartig von mir ab. Das Äußere eines Menschen verändert sich, nicht jedoch der Klang seiner Stimme. Am Telefon ist es etwas anderes, aber steht die Person erst einmal vor einem, dann braucht man nur die Augen zu schließen und dem Menschen, den man jahrelang nicht gesehen hat, zuzuhören, und es ist, als würde ein vertrautes Lied eine weit zurückliegende Zeit heraufbeschwören.

Wir setzten uns. »Ich wusste gar nicht, dass du wieder geheiratet hast«, sagte Eileen.

»Habe ich auch nicht.«

»Aber …?«

»Ich lebe mit dem Vater des Kindes zusammen, das heißt, in gewisser Weise, aber wir sind nicht verheiratet.«

»Immer noch dieselbe«, sagte sie. Sie hörte sich verbittert an.

»Tja, das stimmt«, erwiderte ich, den Stier bei den Hörnern packend. »Wahrscheinlich bin ich noch dieselbe Michael wie früher, aber du bist nicht mehr dieselbe. Ich verstehe nicht, was passiert ist, das ist die reine Wahrheit. Als wir uns kennen lernten, konntest du dich darüber ereifern, wenn jemand vergessen hatte, das Arbeitszeitblatt auszufüllen. Ich begreife es nicht. Was ist passiert?«

»Das ist unwichtig«, sagte sie. »Deswegen wollte ich dich nicht sprechen.«

»Ach ja?«, sagte ich verdutzt. »Weswegen dann?«

»Es geht um die Gruppe. Um jemanden aus der Gruppe.«

Ich lehnte mich zurück. Das war bestimmt ein besserer Einstieg als mein unverhohlener Angriff. Lass Eileen über eine Sache reden, bei der sie mir eine Hilfe sein kann. »Um wen?«

Eileen schwieg einen Moment und sagte dann: »Es ist schwierig. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Ich wartete.

»Es geht um Jim«, erklärte sie schließlich.

»Ach, Jim«, erwiderte ich. »Was ist mit Jim?« Jim hatte ich als Psychopathen eingestuft, und ich erwartete, dass Eileen meinen Verdacht bestätigte. Vielleicht wollte sie mich vor ihm warnen.

»Er ist unschuldig.«

»Was redest du da?«

»Es fällt dir sicher schwer, mir zu glauben, aber er ist wirklich unschuldig.«

»Unschuldig?« Hatte ich richtig verstanden? Nach der Gruppensitzung hatte ich Aktenstudium betrieben. Jim war Rechtsanwalt, der mit seinen völlig verzweifelten Mandantinnen, die sich scheiden lassen wollten und Angst hatten, ihre Kinder zu verlieren, gevögelt hatte.

Anscheinend hatte er ein feines Gespür dafür, wer unter den Frauen so verängstigt und arm war – das heißt, sich keinen anderen Anwalt leisten konnte –, dass sie mitmachte. Wenn sich eine widersetzte, drohte er ihr. Wenn sie sagte, sie würde ihn vor den Ethikausschuss der Anwaltskammer bringen, verprügelte er sie auf brutale Art und Weise. So viel zu seinem Lächeln und dem höflichen Auftreten. »Unschuldig?«, wiederholte ich. »Er hat eine Frau bewusstlos geschlagen. Wovon redest du?«

»Das will ich dir ja gerade erklären, Michael. Du musst nur zuhören. Er wurde reingelegt. Er hat niemanden zusammengeschlagen. Seine frühere Ehefrau hat diese Mandantin von einem anderen Mann zusammenschlagen lassen. Jim hatte nichts damit zu tun. Und schon gar nicht hat er jemanden zu sexuellen Handlungen gezwungen. Glaubst du, ein Mann wie Jim hätte so etwas nötig? Diese Frauen wollten von sich aus Sex mit ihm. Sie haben ihn verführt. Ja, ja, ich weiß, dass er sich nicht darauf hätte einlassen sollen. Aber er ist nun mal ein Mann, und du weißt ja, wie Männer sind.«

Ich saß bloß da, maßlos verwundert, und überlegte, was ich sagen sollte. Eileen hatte nicht nur das Gespür für ihre Grenzen verloren, sie hatte den Verstand verloren.

»Eileen«, sagte ich mit sanfter Stimme. Es hörte sich an, als würde ich mit einem Kind reden. »Hast du Jims Vorstrafenregister gesehen? Ich finde, das ist ziemlich eindeutig. Wie kommst du bloß auf die Idee, dass er unschuldig ist?«

»Dieses Vorstrafenregister ist eine einzige Lüge. So was kommt vor, Michael, glaub mir. Unser Rechtssystem ist nicht perfekt. Solche Fehler können durchaus passieren.«

»Wie bist du dahinter gekommen, dass er unschuldig ist? Woher hast du diese Informationen?«

»Ich kann mir denken, worauf du hinauswillst, Michael. Ja, ich weiß es von Jim, aber ich habe auch mit seiner Familie gesprochen. Die Probleme, die er als Heranwachsender hatte – seine Mutter sagt, er sei stets der Sündenbock gewesen. Er habe sich nur geschlagen, weil er musste. Er habe eben zu den Kindern gehört, die von anderen Kindern gequält werden. Wahrscheinlich Neid, weil er intelligent war. Was weiß ich. Du kennst dich doch aus, du behandelst doch Kinder. Ich sage dir, er ist kein Krimineller. Er hat nichts von alldem getan, was da behauptet wird. Bald werde ich Beweise haben. Ich habe einen Privatdetektiv engagiert.«

»Du hast einen Privatdetektiv engagiert? Nimm’s mir nicht übel, Eileen, aber wo bleibst du bei dem Ganzen? Du wirst bald genug Schwierigkeiten haben, deine eigenen Anwaltskosten zu bezahlen, es sei denn, du hast im Lotto gewonnen. Man wird dich verklagen wegen der Vorfälle im Gefängnis. In diesem Bundesstaat sind sexuelle Beziehungen zu Gefängnisinsassen verboten. Damit sage ich dir doch nichts Neues. Wieso verschwendest du dein Geld für einen armseligen Psychopathen, statt dich um dich selbst zu kümmern?«

Ich merkte sofort, dass ich einen Fehler begangen hatte. Eileens Blick verhärtete sich. Sie richtete sich kerzengerade auf und antwortete kühl: »Er ist kein armseliger Psychopath, Michael. Er ist ein netter, anständiger Mensch, der irrtümlich im Gefängnis sitzt. Bedeutet dir das denn überhaupt nichts?« Sie reckte das Kinn vor. »Und finanziell komme ich zurecht. Ich habe mein Haus verkauft und verfüge über genügend Mittel, so viele Privatdetektive zu engagieren, wie ich will. Aber eigentlich geht dich das gar nichts an.«

Ein Kellner unterbrach unser Gespräch mit der Frage, was wir zu essen wünschten. Ich fuhr ihn an, aber dann besann ich mich eines Besseren. Es war wohl kaum seine Schuld, dass Eileen Steelwater durchgeknallt war. Missmutig sahen wir uns die Speisekarte an. Eileen schien gegen Tränen anzukämpfen. Ich bestellte zwei Cheeseburger, Pommes und einen Milk-Shake. Nichts, was Eileen von sich geben würde, konnte meinen Appetit beeinträchtigen. Keine Ahnung, was für ein Wesen ich da in der Kugel vor mir beherbergte, aber wenn das so weiterging, sah es am Ende aus wie ein Sumoringer.

Eileen bestellte eine Tasse Tee und einen Toast. Als sie das Glas Wasser nahm und einen Schluck daraus trank, fiel mir auf, dass ihre Hand zitterte.

»Wie hast du Jim kennen gelernt?«, fragte ich. Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu streiten.

»In der Gruppe«, antwortete sie.

»Aber was du von ihm weißt, hast du doch nicht alles in den Gruppensitzungen erfahren. Ich meine, wie hat es sich ergeben, dass du ihn außerhalb der Gruppe kennen gelernt hast?«

»Eigentlich hat alles in der Gruppe angefangen«, sagte sie. »Dieser Avery«, sie schaute zu mir auf. »Avery kennst du bestimmt schon.«

»Ja. Erzähl weiter.«

»Avery hat mir das Leben schwer gemacht, und Jim hat sich mit ihm angelegt. Das war ziemlich mutig von Jim. Avery hätte ihn ohne weiteres umbringen können. Avery hat ihm ständig gedroht, aber Jim hat nicht klein beigegeben. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Jim nicht zwischen mich und Avery gegangen wäre. Wahrscheinlich säße ich dann heute nicht hier«, sagte sie mit gehörigem Pathos in der Stimme.

Wie Recht sie hat, dachte ich. Sie würde immer noch im Gefängnis arbeiten, hätte ihre Zulassung behalten, ihr Haus und ihren guten Ruf.

»Ich will dich nicht ärgern, Eileen, aber ich will dir auch nichts vormachen. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass Jim diese Tour mit Avery abgesprochen haben könnte? Es ist ein uralter Trick – schütze einen Gefängnismitarbeiter vor einem Insassen, und er ist dir auf ewig zu Dank verpflichtet.« Ich sagte es mit einer gewissen Portion Mitleid. Was da abgelaufen war, war einfach zu offensichtlich. Eileen arbeitete seit Jahren in Gefängnissen. Wieso hatte sie das nicht durchschaut?

»Ich will dich auch nicht ärgern, Michael, aber jeder weiß, dass du für Häftlinge nur Zynismus übrig hast. Du würdest selbst Jesus nicht glauben, dass er unschuldig ist, wenn er im Knast säße.«

»Wach auf, Eileen. Wir haben es hier nicht mit Jesus zu tun. Außerdem leiten wir Therapiegruppen, keine Gerichtsprozesse. Es bringt nichts, das Rechtssystem im Nachhinein zu kritisieren; du kennst nur eine Seite der Medaille. Ein Täter wird immer versuchen, die Opfer in ein falsches Licht zu rücken.«

»Was ist, wenn nun wirklich jemand unschuldig ist?«

»Dann sollte er sich einen guten Anwalt nehmen. Jemand, der sich mit dem Rechtssystem bestens auskennt und ihm in der Beziehung helfen kann. Wir können das nicht.« Das Baby im Bauch drehte sich wieder, und ich zuckte zusammen. Schweigen herrschte, während ich herumrutschte, um eine bequeme Sitzhaltung zu finden.

»Geht es dir gut?«

»An sich ja, abgesehen von den üblichen Schmerzen.« Ich seufzte. »Ich will mich nicht mit dir streiten, Eileen. Erzähl weiter. Wie hast du ihn kennen gelernt?«

»Ich habe angefangen, Einzelberatung mit ihm zu machen. Er brauchte mehr als nur die Gruppe.«