Die Psychologin – Tödliches Vertrauen - Anna Salter - E-Book
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Die Psychologin – Tödliches Vertrauen E-Book

Anna Salter

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Beschreibung

Ein gefährlicher Verdacht – ein hochexplosiver Fall … Der Thriller »Die Psychologin – Tödliches Vertrauen« von Anna Salter als eBook bei dotbooks. Was ist Wahrheit, was Lüge? Als der gefeierte Arzt Reginald Larsen in ihrer Praxis auftaucht, denkt die Gerichtspsychologin Dr. Stone zunächst, dass er Hilfe für einen seiner Patienten sucht. Tatsächlich will er ein psychologisches Gutachten … allerdings über sich selbst! Larsen wurde des sexuellen Missbrauchs an einer Patientin angeklagt, sein Ruf steht auf Messers Schneide. Stone soll nun die Wahrheit beweisen. Doch je mehr sie sich in die Tiefen seiner Seele vorwagt, desto mehr hat sie das Gefühl, dass sich eine Schlinge immer enger um ihren Hals zuzieht. Als ein Anschlag auf ihr Leben verübt wird und bald weitere Missbrauchsopfer auftauchen, weiß die Psychologin bald nicht mehr, ob sie ihren eigenen Instinkten noch trauen darf … Die schockierenden Fälle ihrer Thriller-Reihe basieren auf Anna Salters eigenen Erfahrungen in der klinischen Psychologie: »Sie schreibt mit schockierender Detailkenntnis!« The New York Times Book Review Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Psycho-Thriller »Die Psychologin – Tödliches Vertrauen« von Anna Salter ist der dritte Band ihrer Reihe um eine Gerichtspsychologin, die immer wieder mit den tiefsten Abgründen der menschlichen Seele konfrontiert wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Was ist Wahrheit, was Lüge? Als der gefeierte Arzt Reginald Larsen in ihrer Praxis auftaucht, denkt die Gerichtspsychologin Dr. Stone zunächst, dass er Hilfe für einen seiner Patienten sucht. Tatsächlich will er ein psychologisches Gutachten … allerdings über sich selbst! Larsen wurde des sexuellen Missbrauchs an einer Patientin angeklagt, sein Ruf steht auf Messers Schneide. Stone soll nun die Wahrheit beweisen. Doch je mehr sie sich in die Tiefen seiner Seele vorwagt, desto mehr hat sie das Gefühl, dass sich eine Schlinge immer enger um ihren Hals zuzieht. Als ein Anschlag auf ihr Leben verübt wird und bald weitere Missbrauchsopfer auftauchen, weiß die Psychologin bald nicht mehr, ob sie ihren eigenen Instinkten noch trauen darf …

Die schockierenden Fälle ihrer Thriller-Reihe basieren auf Anna Salters eigenen Erfahrungen in der klinischen Psychologie: »Sie schreibt mit schockierender Detailkenntnis!« The New York Times Book Review

Über die Autorin:

Anna Salter ist in North Carolina geboren und aufgewachsen. Sie studierte zunächst Literaturwissenschaft und Psychologie, bevor sie sich in Harvard auf klinische Psychologie spezialisierte. Ihre wissenschaftlichen Publikationen gelten als Meilenstein für die Therapie von Sexualstraftätern, sie ist Beraterin bei Gericht und im Strafvollzug. Anna Salter leitet eine Privatpraxis in Wisconsin, reist jedoch immer wieder um die Welt, um Lehrvorträge zu halten, und unterrichtete u. a. an Harvard. Als Schriftstellerin berühmt wurde sie mit ihrer »Psychologin«-Reihe um Dr. Stone.

Bei dotbooks veröffentlichte Anna Salter ihre Reihe um »DIE PSYCHOLOGIN« mit den Bänden »Dunkle Wasser«, »Der Schatten am Fenster«, »Tödliches Vertrauen« und »Schwarze Seelen«.

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »White Lies« bei Pocket Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Tödliches Vertrauen« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2000 by Dr. Anna Salter

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shuterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-926-3

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Anna Salter

Die PsychologinTödliches Vertrauen

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Thomas Stegers

dotbooks.

Für meine Schwester Linda, »die vor langer Zeit den Funken entzündete«

Kapitel 1

Man fragt sich, warum Spione eigentlich hingerichtet werden. Soldaten vergewaltigen, brennen alles nieder, was ihnen in die Quere kommt, und walzen mit ihren Panzern Häuser platt, auch wenn sich noch Menschen darin befinden. Spione dagegen fahren nicht bei Rot über die Ampel, verhalten sich auch sonst nicht verkehrswidrig und machen meistens nur Fotos von militärischen Anlagen oder anderen Dingen. Man stelle sich vor, die Japaner hätten die Bombenflugzeuge über Hiroshima und Nagasaki abgefangen – sie wären dazu verpflichtet gewesen, die Piloten über ihre Rechte als Kriegsgefangene aufzuklären und dafür zu sorgen, dass das Rote Kreuz ihnen ihre Post zustellt, selbst wenn den Aufsehern nicht im Geringsten danach gewesen wäre, aber so lauten nun mal die internationalen Bestimmungen. Einen Spion, der beim Ablichten der Schuttberge erwischt worden wäre, hätten sie dagegen standrechtlich erschießen dürfen.

Ich sagte mich von meinen quälenden Gedanken los, die die meiste Zeit in solch niederen Gefilden verweilen, und widmete mich wieder dem Tagesgeschäft. Ich saß in meinem Büro und wartete auf einen Mann, den ich nicht kannte und der ein Problem hatte, über das mir ebenfalls nichts bekannt war. Es war nicht das übliche Procedere, aber es war auch nicht ganz ungewöhnlich, wenn man bedenkt, was für eine Sorte Psychologin ich bin. Ich beurteile und behandle Täter und Opfer von Gewaltverbrechen, unterschiedlichster Art von Gewalt. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn nicht gleich jeder freimütig gesteht, was ihm auf der Seele brennt. Ob Opfer oder Täter, es kam selten vor, dass jemand mit einem wildfremden Menschen am Telefon sprechen wollte.

Normalerweise kannte ich den Namen der betreffenden Person oder wusste wenigstens irgendwas anderes über sie, aber diesmal wusste ich rein gar nichts. Der geheimnisvolle Anrufer hatte sich lediglich als Reggie vorgestellt. Als ich ihm mitteilte, ich könnte ihn schlecht beurteilen oder behandeln, wenn ich nicht wüsste, wer er sei, sagte er, er würde mir seinen vollen Namen lieber erst nennen, wenn wir uns Auge in Auge gegenübersäßen.

Die Stimme des Mannes am Telefon hatte ich nicht erkannt, aber seine Heimlichtuerei legte nahe, dass mir wahrscheinlich sein Name oder sein Gesicht bekannt sein würde, was mich allerdings auch nicht weiter erstaunt hätte. In einer Welt, in der ein Nobelpreisträger dabei erwischt wird, wie er kleine Jungen belästigt, in der ein Universitätsprofessor obszöne Telefonanrufe tätigt, die mitgeschnitten werden, in der ein Richter bei einem Kongress über Kindesmissbrauch dabei ertappt wird, wie er das Kind eines Kollegen unsittlich berührt, in so einer Welt hätte mich ein berühmter Name mehr in diesem Zusammenhang nicht überrascht.

Ich musterte den Mann genau, als er schließlich bei mir aufkreuzte, aber sein Gesicht kam mir trotzdem nicht bekannt vor. Der Mann hatte einen Bart, war gut gekleidet, Anfang vierzig und wirkte mit seinem kurzen dunklen Haar irgendwie vornehm. Er trug eine Hornbrille, einen teuren Anzug und eine Rolex-Armbanduhr. Uhr und Anzug deuteten auf mehr hin als nur Geldbesitz. Die meisten Chirurgen, die ich kenne, tragen Jeans und billige Digitaluhren, einer fährt sogar auf Rollerskates zur Arbeit, und was für einen Haufen Geld diese Leute verdienen, weiß man ja. Hier hatte ich es also mit jener Spezies des auffälligen Konsumjunkies zu tun, der der Welt demonstrieren will, wie erfolgreich er ist.

Er kam aus dem Wartezimmer in mein Sprechzimmer und ging schnurstracks zu der Wand, an der meine Zeugnisse hingen. Ich betrachtete ihn dabei neugierig. Mit meinen Zeugnissen war alles in Ordnung – meine Promotionsurkunde war nicht aus dem Versandhaus, meine Zulassung hatte ich mir auf legalem Weg erworben –, aber nur wenige Menschen machen sich die Mühe, sie zu überprüfen. Leute, die Bedenken haben, erkundigen sich in der Regel vorher über mich.

Jede Wette, dass er das ebenfalls getan hatte. Warum aber las er sich dann den fein säuberlich geschriebenen Text auf jedem Empfehlungsschreiben und jeder Auszeichnung an der Wand durch? Ich sagte nichts und wartete ab. Weiß der Himmel, welche Schau er hier abziehen wollte, aber ich ließ ihn gewähren.

»Harvard«, sagte er. »Keine schlechte Uni. Da habe ich mein Vordiplom gemacht. Ich habe nicht viele Psychologieseminare belegt, nur das von Larry Kohlberg. Waren Sie zufällig auch bei dem?«

Ich schmunzelte und sagte: »Bestimmt gibt es da Parallelen zwischen uns, aber ich habe das Gefühl, dass Ihre Zeit sehr wertvoll ist, und ich möchte nicht, dass Sie sie vergeuden. Haben Sie irgendwelche Bedenken wegen meiner Zeugnisse? Ich bin gerne bereit, alle Ihre Fragen zu beantworten.«

»Nein, nein«, sagte er und ging zu einem Stuhl mir gegenüber. »Ich bin am Boston Harbour View Hospital. Das Krankenhaus hat Sie mir empfohlen. Ich muss gestehen, dass mein Rechtsanwalt Sie gründlich unter die Lupe genommen hat.«

»Boston Harbour View? Das ist ja ganz schön weit weg von hier.« Ungefähr drei Stunden mit dem Auto. Ich ließ die Frage in der Schwebe.

»Ich bin sicher, dass sich die Fahrt gelohnt hat«, erwiderte er diplomatisch. »Außerdem, um ehrlich zu sein, lebt meine Mutter hier in der Gegend, und es ist eine gute Gelegenheit, sie wieder mal zu besuchen.«

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich. »Zunächst, wie heißen Sie?«

»Reginald Larsen«, sagte er und wartete meine Reaktion ab, »aber Sie können Reggie zu mir sagen.«

Ich warf einen Blick auf die Zeugnisse an der Wand, wo auch die Urkunde des Reginald-Larsen-Preises für herausragende Lehrtätigkeit hing.

»Sind Sie ein Verwandter?«

»Ich bin sein Sohn.«

»Tatsächlich?«, sagte ich. Reginald Larsen war früher Leiter der Pädiatrie am Jefferson University Hospital gewesen, in dem auch ich arbeitete. Er war der Begründer jenes Preises für herausragende Lehrtätigkeit, den ich vor einigen Jahren erhalten hatte und der nach ihm benannt worden war. Ich war seinerzeit in der psychiatrischen Abteilung tätig gewesen, aber da ich mit Kindesmissbrauch zu tun hatte, war ich gleichzeitig Mitglied der pädiatrischen Abteilung. Allerdings hätte es keine Rolle gespielt, wo ich gearbeitet hätte, denn jeder in dem medizinischen Zentrum kannte Reginald Larsen.

Larsen war zu einer Legende in der Pädiatrie geworden. Er war seit über zehn Jahren tot, aber er war immer noch in aller Munde. Dr. Larsen hatte eine außergewöhnliche Herzlichkeit und Wärme besessen, besonders im Umgang mit Patienten; er hatte Großes mit dem Fachbereich vorgehabt, stets die Zukunft im Blick – im Gegensatz zu seinen Nachfolgern. Noch immer habe ich das Stöhnen der Fachbereichsmitglieder im Ohr: »Wenn Reginald jetzt hier wäre … Reginald hätte niemals … Was Reginald wohl dazu gesagt hätte …« – als wäre sein Tod, er war vor zehn Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, erst wenige Monate her.

Ich schwieg einen Moment und überlegte, ob die Behandlung seines Sohnes für mich möglicherweise einen Interessenkonflikt darstellte. Die Frage lautete, ob ich durch die Tatsache, dass er der Sohn von Reginald Larsen war, beeinflussbar war oder nicht.

Vielleicht. Ich hatte keinen sehr intensiven Kontakt zu Reginald Larsen gehabt, aber die Erinnerung an ihn war immer noch lebhaft.

»Ich weiß nicht, ob ich Sie behandeln kann oder nicht«, sagte ich. »Ich habe Ihren Vater gekannt, und sein Einfluss auf das medizinische Zentrum ist immer noch spürbar. Aber ich höre mir gerne Ihr Problem an und würde Sie dann an jemanden weiterempfehlen, wenn ich der Meinung bin, ich selbst sollte Sie lieber nicht behandeln.«

»Ich hoffe doch sehr, dass Sie mich nicht abweisen«, sagte er mit einem Hauch von Verbitterung in der Stimme. »Anscheinend gibt es an der Ostküste niemanden, der meinen Vater nicht gekannt hat, vor allem in Boston, wo er Jahrzehnte seines Lebens verbracht hat. Nach Vermont zu fahren ist schon schlimm genug. Ich hoffe nur, dass ich nicht erst bis an die Westküste reisen muss, um eine Beurteilung zu bekommen.«

»Ich werde es mir überlegen«, sagte ich. »Erzählen Sie mir doch erst einmal, worum es überhaupt geht.«

Er seufzte und machte eine Pause; er hatte Schwierigkeiten, den Anfang zu finden. »Ich bin Anästhesist«, sagte er schließlich, »am Boston Harbor View Hospital. Ich bin seit drei, vier Jahren dort. Vorher war ich in Fort Wayne … Ausgebildet worden bin ich in Texas. Noch weiter konnte ich mich dem Einflussbereich meines Vaters nicht entziehen.« Sein Lachen hatte einen seltsamen, verdrießlichen Unterton. Bei dem Namen »Fort Wayne« war seine Stimme ein Idee tiefer gerutscht, und die Worte verloren sich irgendwie, als bedauerte er, dass er sie überhaupt ausgesprochen hatte. Ich merkte es mir. Ich wusste nicht, was Fort Wayne mit dem aktuellen Problem zu tun hatte, aber irgendwas musste dran sein.

Ich ging zunächst nach Erickson vor. Milton Erickson ist in Psychologenkreisen mindestens so berühmt wie Freud. Er war – unter anderem – ein Genie der Mikroanalyse noch so winziger Signale in der Körpersprache während der Gespräche mit seinen Klienten. Er achtete auf mögliches Stocken in der Stimme, auf Stirnrunzeln, er schaute hin, bei welchen Worten sein Gegenüber mit den Augen blinzelte, hörte auf Veränderungen in der Atmung und merkte sich, in welchen Momenten diese Veränderungen einsetzten. Aus alldem konnte er schließen, worauf es der betreffenden Person wirklich ankam und was nur Fassade war.

»Jedenfalls«, fuhr Reggie jetzt fort, nachdem sich seine Stimme wieder gefangen hatte, »haben sich die Dinge in beruflicher Hinsicht sehr gut für mich entwickelt. Vor einigen Jahren habe ich eine Forschungsreihe über negative Reaktionen auf Narkosemittel initiiert.« Seine Stimme wurde selbstsicherer, und seine Atmung ging regelmäßiger. Jetzt befand er sich auf sicherem Terrain. »Um es kurz zu machen: Ich habe einen Test erfunden, der anzeigt, ob jemand bei einer Narkose, die bei dreiundachtzig Prozent der Operationen angewendet wird, mit hoher Wahrscheinlichkeit negative, lebensgefährliche Reaktionen zeitigt oder nicht.

Dieser Test funktioniert wie ein Hauttest, der allgemein bei Allergieverdacht angewendet wird. Bis jetzt sind bei zweiundneunzig Prozent der Personen, die auf Narkose eine nachteilige Reaktion zeigen, auch nachteilige Reaktionen auf den Hauttest festgestellt worden. Zurzeit überprüfen wir die Ergebnisse noch, aber es sieht so aus, als wären wir in der Lage, die allergischen Reaktionen auf das Betäubungsmittel während des chirurgischen Eingriffs durch einen Test im Vorfeld stark zu reduzieren.

Ich brauche Ihnen nicht zu erläutern, welche Vorteile es hat, wenn man vorher weiß – und es nicht erst merkt, wenn man bereits mitten in der Operation ist –, ob der Patient negativ auf die Narkose reagiert oder nicht. In diesem Fall kann man auf eine andere Gruppe von Betäubungsmitteln ausweichen. Sie sind komplizierter in der Anwendung, deswegen greift man nicht gern auf sie zurück, aber nur wenige Menschen reagieren negativ auf beide Mittel.«

In Reginalds Stimme schwang ein aufgeregter Unterton mit, den er zu verbergen suchte. Vielleicht war er verliebt in seine Arbeit, vielleicht besaß er auch bloß irgendein Patent auf den Test.

Wie auch immer seine Motivation aussehen mochte, auf jeden Fall hatte er erreicht, dass ich schwer beeindruckt war. Wenn es zutraf, was er mir erzählte, dann würde der Mann, der da vor mir saß, schon sehr bald eine Berühmtheit in Medizinerkreisen werden, wenn nicht darüber hinaus.

Unglücklicherweise würde seine Berühmtheit es auch mit sich bringen, dass jedermann von Fort Wayne bis Sibirien herausfinden würde, worin sein augenblickliches Problem bestand. Berühmte Menschen, selbst solche, die nur auf ihrem begrenzten Gebiet Berühmtheit erlangen, haben große Probleme, ihre Geheimnisse für sich zu behalten.

»Das ist ja unglaublich«, sagte ich aufrichtig. »Wenn der Test klappt, wäre das eine großartige Leistung.«

»Ja«, sagte er, »da haben Sie Recht.« Er schaute einen Moment zur Seite. Was geht ihm bloß durch den Kopf?, dachte ich. Wollte er es auf die Titelseite des Time Magazine bringen, oder wollte er bloß seinem Dad beweisen, dass er doch zu etwas taugt?

»Aber deswegen sind Sie nicht zu mir gekommen«, sagte ich sanftmütig. Er hatte sicheren Boden unter den Füßen, und wenn man ihn sich selbst überließ, würde es wahrscheinlich dabei bleiben.

»Nein«, sagte er und machte ein langes Gesicht. Zwischen seiner Nobelpreisfantasie und dem Problem in seinem beruflichen Alltag, weswegen er zu mir gekommen war, herrschte offenbar eine große Kluft.

»Ich … Das Krankenhaus hat mir nahe gelegt … Ich meine …« Er schwieg.

»Also gut«, sagte ich geduldig. »Warum?«

»Warum?«

»Warum hat das Krankenhaus Sie überwiesen?«

»Weil … also … in Wahrheit … ich weiß es nicht. Ich meine, ich glaube zu wissen, warum, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Wie bitte?«

Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Man will mir nicht sagen, wie die Vorwürfe lauten. Ich weiß nur, dass man mich eines sexuellen Vergehens gegenüber jemandem bezichtigt.«

»Einem Patienten?«

»Nicht einmal das will man mir sagen. Es heißt, gegenüber einem Patienten oder einem Mitglied des Personals … aber ich glaube, es ist gegenüber einem Patienten.«

»Warum glauben Sie das?«

»Weil es stimmt.« Er sah mich direkt an, und zum ersten Mal erkannte ich seinen Vater in ihm wieder. Ich lehnte mich zurück und musste unwillkürlich schmunzeln. Das Schmunzeln auf seine Worte war völlig unangebracht, aber mir fiel die Situation wieder ein, als ich zum ersten Mal merkte, dass mit seinem Vater nicht zu spaßen war.

Es war über fünfzehn Jahre her, und ich war neu in der psychiatrischen Abteilung und bitter enttäuscht. Gleich an einem der ersten Tage hatte ich eine Fallbesprechung über mich ergehen lassen, bei der ein Mann, der seine Frau vor den Augen ihrer gemeinsamen Kinder erschossen hatte, nicht als Mörder bezeichnet wurde, sondern als jemand, der Beihilfe zum Selbstmord geleistet hatte.

»Stellvertretender Suizid«, wie der behandelnde Klinikarzt sich ausdrückte, weil die Frau sich schick gemacht und ihrem Mann gesagt hatte, sie ginge jetzt mit anderen Männern feiern. Die Kollegen im Raum glaubten anscheinend, ihr Verhalten hätte das Ganze zu einer Art Selbstmord gemacht. Ich hatte zu bedenken gegeben, dass sie nur eine Seite der Geschichte gehört hätten – die Person, die die andere Seite vertrete, sei tot – und was sie denn von einem des Mordes Überführten erwarteten. Dass er sie aus Lust und Laune umgebracht hätte? Meine Bemerkungen waren natürlich im höchsten Maße unerwünscht.

So deprimiert war ich von dem Ganzen, dass ich die folgenden Tage ernsthaft daran gedacht habe, den Job zu schmeißen und mir etwas anderes zu suchen, egal was – als Hot-Dog-Verkäufer schien man ganz gut zu verdienen. Da ereignete sich auf der Kinder-Intensivstation ein schlimmer Vorfall. Ein Frühgeborenes war nur knapp dem Tod entkommen, weil eine Schwester den Hahn an einem intravenösen Tropf versehentlich offen gelassen hatte. Der kleine Körper wurde von Kalium geradezu überschwemmt, was einen Herzstillstand zur Folge hatte. Es hatte einen Großeinsatz erfordert, das Neugeborene zu retten.

Der Fall wurde auf der M&M diskutiert, der Konferenz Mortalität und Morbidität, bei der die Mediziner aus ihren Fehlern lernen sollen. Unter anderem wurde darüber gesprochen, was man den Eltern sagen sollte.

Die Teilnehmer stimmten darin überein, die Mitteilung an die Eltern, eine Schwester habe versehentlich beinahe ihr Kind getötet, würde das Vertrauen in das Personal der Kinderstation unterminieren. Ich konnte es nicht fassen, dass sie sich darauf einigten, die Eltern zu belügen, um ihre eigene Haut zu retten. Im Kopf füllte ich bereits meine Bewerbung um eine Lizenz als Hot-Dog-Verkäuferin aus, als Reginald sagte: »Ich glaube, bei diesem Punkt brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Es versteht sich von selbst, was wir den Eltern sagen werden.«

Keiner sprach ein Wort. Es verstand sich überhaupt nicht von selbst, und auch ich begriff nicht, was er meinte. Ich bin mir sicher, Reginald interpretierte die Stille richtig, aber er zwang niemanden zu einem Eingeständnis, sondern sagte bloß in einem sachlichen Ton: »Wir werden ihnen mitteilen, dass jemandem ein Fehler unterlaufen ist und der Hahn an der Infusion offen gelassen wurde.«

Noch immer sagte niemand etwas. Schließlich ergriff der Vertreter der Abteilung Risikomanagement das Wort: »Äh, Reginald, ich habe Verständnis dafür, aber, hm, die Frage ist doch, warum wir ihnen das mitteilen sollten. Es gibt …«

»Weil es stimmt«, hatte Reginald geantwortet und ihn dabei direkt angesehen, genauso wie sein Sohn jetzt mich ansah. Wahrscheinlich gab das den Ausschlag für mich, nicht zu kündigen, denn ich hatte zumindest einen Menschen sagen hören: »Weil es stimmt.«

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Reggie Larsen zu. »Erzählen Sie«, sagte ich, und im selben Moment war mir klar, dass ich den Fall eigentlich nicht übernehmen sollte. Dieser Reggie hängte sich schamlos an den Rockschoß seines Vaters. Er konnte sich meiner Sympathie sicher sein, trotz Rolex und aller anderen Insignien, und das war nicht gut. Reggie mochte das Ebenbild seines Vaters sein, aber vielleicht war er ja auch ganz anders. Manche Äpfel fallen nicht weit vom Stamm, andere meterweit davon entfernt.

»Ich hatte ein Verhältnis mit einer Patientin«, sagte er seufzend, »aber das ist Jahre her. Ich habe keine Ahnung, warum das jetzt wieder aufs Tapet kommt. Und ich verstehe auch nicht, warum man mir nicht sagt, wie der Vorwurf gegen mich lautet. Man tut so, als hätte diese Person Angst vor mir. Was soll ich machen? Sie anzeigen, weil sie die Wahrheit sagt?

Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Die Frau hatte ein Fibrosarkom, einen Tumor, der sich an die innere Bauchdecke heftet. Man konnte ihn entfernen, aber anschließend hatte sie starke Schmerzen, die einfach nicht nachlassen wollten. Sie wurde mir zur Schmerztherapie überwiesen. Seitdem denke ich oft darüber nach, ob sie sich wirklich mit mir einlassen wollte oder ob sie nur Angst hatte, die Person, die ihre nicht unerheblichen Schmerzen behandelte, könnte sich ihr entziehen.«

Gute Frage, aber es gab noch eine andere Frage: Inwieweit verspürte jemand mit akuten oder chronischen Unterleibsbeschwerden überhaupt den Wunsch nach Sexualität mit einem anderen? »Was ist denn passiert?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte er. »Es war kurz nach meiner Scheidung, und ich weiß, es ist keine Entschuldigung, aber ich war schrecklich deprimiert, und sie war eine sehr nette Frau. Als ich meinen Verstand wieder beisammen hatte, habe ich die Beziehung beendet. Wir hatten sowieso nicht besonders viel gemeinsam. Das ist alles.«

»Und die Schmerzen?«

»Oh, das ist schließlich besser geworden. Es ging ihr gut, jedenfalls zu dem Zeitpunkt, als ich sie das letzte Mal sah.«

»Wann war das?«

Er überlegte einen Moment. »Vor zwei Jahren, glaube ich. Sie zog gerade um und kam zu einer letzten Untersuchung. Die Schmerzen waren kurzzeitig wieder aufgetreten, aber es war nichts Schwerwiegendes.«

»Wie verlief das Treffen? War sie wütend auf Sie?«

»Nein, überhaupt nicht. Sie kam mir ziemlich aufgeräumt vor. Unser Verhältnis schien endlos lange zurückzuliegen. Sie wollte wieder heiraten – sie war auch geschieden, so wie ich – und sie zog zu ihrem Verlobten.«

»Warum glauben Sie dann, dass es bei den Vorwürfen um diese Frau geht?«

»Weil es nichts anderes gibt, worum es gehen könnte«, sagte er. »Es ist sonst nichts weiter vorgefallen.«

Ich hatte mir zwischendurch, während er redete, Notizen gemacht, und ich ließ mir beim Schreiben Zeit, damit ich nachdenken konnte. Er klang glaubwürdig, völlig glaubwürdig. Allerdings traf das auf viele Leute zu, die dennoch logen, dass sich die Balken bogen. Ich hatte so einiges gesehen und erlebt in meinem Beruf, und ohne Bestätigung von dritter Seite glaubte ich gar nichts mehr – eine Tatsache, die mir eigentlich verhasst war. Es war traurig, aber wahr: Wenn ich gute Arbeit leisten wollte, musste ich jeder Menschenseele misstrauen.

Eine Kleinigkeit war mir aufgefallen. Larsens Körpersprache war leicht unstimmig. In dem Moment, als er anfing, von dem Verhältnis zu der Frau zu erzählen, hörte er auf, die Hände zu bewegen, mit denen er vorher, als es um seine Arbeit ging, heftig gestikuliert hatte. Das war kein gutes Zeichen. Die Forschung hat gezeigt, dass Menschen, die beim Sprechen normalerweise ihre Hände benutzen, dazu neigen, beim Lügen die Hände still zu halten – vermutlich, weil sie sich stark auf das Gesagte konzentrieren müssen.

Und noch etwas, nichts Weltbewegendes, aber es war deutlich genug: Es gab keinerlei physische Reaktionen auf das, was er sagte, nicht einmal dann, als er erzählte, er habe ein Verhältnis zu einer Frau gehabt, die wegen einer Schmerztherapie immerhin abhängig von ihm war. Und ich wusste, was Anästhesisten meinten, wenn sie von »nicht unerheblichen« Schmerzen sprachen.

Eigentlich hätte es physische Reaktionen bei ihm auslösen müssen. Wenn es zutraf, dass er etwas getan hatte, das seitdem immer mit einem Gefühl der Angst behaftet war, hätte sich die Stimmlage verändern müssen, wenn auch nur leicht. Die Pupillen hätten sich beim Reden über quälende Dinge zusammenziehen, die Atmung hätte etwas schneller gehen, irgendein Signal hätte es geben müssen. Tatsächlich gab es keinerlei Anzeichen, dass er überhaupt irgendetwas empfand, wenn er über emotionale Dinge sprach.

Vielleicht glaubte er wirklich, dass nichts Schlimmes daran war, eine Affäre mit einer Patientin anzufangen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stand. Oder er war von Natur aus ein ruhiger Mensch, der keinen Kontakt zu seinen Gefühlen hatte. Es konnte auch sein, dass er das Ganze einfach nur erfunden hatte. Alles zusammen betrachtet, konnte ich nicht ausschließen, dass Reginald Larsens Sohn mich hemmungslos belog.

»Warum sind Sie hier?«, fragte ich ihn. »Was erwarten Sie von mir?«

»Das Krankenhaus hat mich beurlaubt«, sagte er. »Man besteht auf einer Beurteilung meiner Person, einem psychologischen Gutachten, bevor ich wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren kann. Ich möchte es so bald wie möglich hinter mich bringen. Je länger ich draußen bin, desto unglaubwürdiger werden die vorgeschobenen ›persönlichen Gründe‹. Ich bin ruiniert, wenn das herauskommt, selbst wenn sich die Vorwürfe als haltlos erweisen. Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein. Meine Erfindung spricht sich herum, und ich bekomme Anrufe und E-Mails aus ganz Amerika. Ich darf nicht einmal mehr mein Büro betreten!«

Das war allerdings wirklich seltsam. Der medizinische Apparat funktioniert anders als die freie Wirtschaft. Im Normalfall werden diejenigen, gegen die ermittelt wird, nicht aus ihren Büros ausgesperrt, nicht mal bei einer regulären Kündigung. »Ist die Krankenhausleitung bereit, mir mitzuteilen, worum es überhaupt geht?«, fragte ich ihn.

»Warum?« Er schien erstaunt. »Müssen Sie mit denen reden? Können Sie mich nicht einfach so beurteilen? Mehr erwartet man doch gar nicht.«

»Nein«, sagte ich. »Das kann ich nicht. Ich will Ihnen sagen, was dieser Prozess beinhaltet, damit Sie für sich entscheiden können, ob Sie sich ihm unterziehen wollen oder nicht. Solange ich nicht jeden einzelnen Vorwurf gegen Sie kenne, werde ich keine Beurteilung über Sie abgeben. Ich muss wissen, worin das eigentliche Problem besteht.

Außerdem: In einer Situation wie dieser ist eine Beurteilung eine heikle Sache. Es gibt keine Interviewtechnik und keinen psychologischen Test, der mit absoluter Sicherheit feststellen kann, ob jemand ein Sexualstraftäter ist oder nicht. Sagen wir zum Beispiel, Sie wären angeklagt, eine Patientin in einem Aufzug vergewaltigt zu haben« – Reggie erbleichte – »egal welche Technik ich anwende, ich kann niemals mit Sicherheit sagen, ob Sie diese spezifische Tat begangen haben oder nicht. Letztendlich kann die Frage nach der Schuld oder der Unschuld im Zusammenhang mit einem bestimmten Verbrechen nur von einem Gericht beantwortet werden.« Bei dem Wort Gericht wich noch mehr Farbe aus Reggies Gesicht.

»Je mehr ich über Ihre spezifischen sexuellen Probleme erfahre, und je bereitwilliger Sie darüber reden, desto leichter kann ich herausfinden, was Sie in puncto Therapie brauchen – wenn Sie überhaupt eine brauchen – und was Sie in puncto Arbeitsumgebung brauchen, um einen Rückfall unwahrscheinlich zu machen.

Um so eine Beurteilung vorzunehmen, muss ich Ihre Aussagen mit den Aussagen der Beschwerdeführer vergleichen. Dabei erfahre ich nicht nur etwas über Ihre Probleme, sondern auch darüber, ob Sie sich ihnen ehrlich stellen.«

»Aber vielleicht lügen die Beschwerdeführer«, brachte Reggie stotternd hervor.

»Kann sein«, erwiderte ich ruhig, »aber Sie vielleicht auch. Das herauszufinden, darin besteht ja gerade meine Arbeit. Vielleicht besitzen die Beweise nicht die Stichhaltigkeit, die vor Gericht nötig wäre, aber sie geben doch genügend Gewissheit, um sagen zu können, ob Sie eine Therapie brauchen, was für eine Therapie das sein könnte und ob Sie danach dieselbe Arbeit in derselben Umgebung wieder aufnehmen können.«

»Nur so, um das einmal festzuhalten«, warf Reggie ein, »ich verwahre mich dagegen, dass Sie über mich wie über einen Sexualstraftäter reden. Ich will das Verhältnis mit der Patientin nicht beschönigen, aber mit einer Vergewaltigung in einem Aufzug ist das nicht zu vergleichen.«

»Was ich sagen will«, antwortete ich gelassen, »ist Folgendes: Ich weiß nicht, ob Sie ein Sexualstraftäter sind oder nicht. Vielleicht sind Sie ein unschuldiger Mensch, vielleicht haben Sie aber auch jedes Kind auf der pädiatrischen Station belästigt. Ich weiß es nicht. Aus diesem Grund, unter anderem, muss ich erfahren, wie die Vorwürfe lauten, damit ich überhaupt weiß, was man Ihnen zur Last legt.«

»Aber ich habe Ihnen doch gesagt …«

»Sie haben mir gesagt, Sie wüssten nichts, Sie könnten nur vermuten, was man Ihnen vorwirft. Selbst wenn Sie mir sagen würden, Sie wüssten es genau, würde ich mich bei den anderen erkundigen. Sie müssen verstehen: Viele Menschen, denen man sexuelle Verfehlungen vorwirft, sagen nicht die Wahrheit. Nehmen Sie es nicht persönlich – aber ich habe nicht den geringsten Hinweis darauf, ob Sie ehrlich zu mir sind oder nicht.«

»Ach so«, sagte er, aufatmend und sich zurücklehnend, »wenn es mehr nicht ist …«

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte ich. »Das ist erst der Anfang. Nachdem ich die Beschwerden eingeholt habe, müssen Sie jeden von der Norm abweichenden Sexualakt auflisten, den Sie je in Ihrem Leben begangen haben. Das Ganze nennt sich ›Autobiografie der sexuellen Devianz‹. Geschlechtsakte mit Erwachsenen, die in gegenseitigem Einvernehmen stattgefunden haben, interessieren mich dabei nicht. Ich will es nur dann wissen, wenn es in Verbindung steht mit der Belästigung von Kindern, mit Vergewaltigung, Exhibitionismus, Voyeurismus et cetera. Alles, wo Kinder eine Rolle spielen, wo Gewalt eine Rolle spielt oder die Verletzung von persönlichen Grenzen anderer Menschen.«

»Meine Güte«, sagte er, und mir fiel die flache Atmung auf, die zusammengezogenen Pupillen und die höhere Stimmlage, die besagten, dass er in diesem Gespräch schließlich doch emotional involviert war. »Jetzt bezeichnen Sie mich sogar als Kinderschänder. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein Kind als Sexualobjekt auch nur angesehen.«

»Dann dürfte das für Sie kein Problem sein«, sagte ich. »Das Verfahren zur Beurteilung von Sexualstraftaten ist heutzutage standardisiert. Wir fragen jede Art von Abweichung ab. Ich will Sie nicht mit den neuesten Forschungsergebnissen langweilen, es sei denn, Sie möchten mehr darüber erfahren – aber unterm Strich lässt sich sagen, dass die meisten Sexualstraftäter sich in mehrfacher Hinsicht deviant verhalten.«

»Ich aber nicht«, erwiderte er zornig, »das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich bin kein Sexualstraftäter.«

»Gut«, sagte ich, »gegen eine kurze Devianzautobiografie ist nichts einzuwenden. Nichts gegen ein leeres, unbeschriebenes Blatt Papier.«

Er sah erleichtert aus, und seine Atmung erholte sich wieder.

»Aber bedenken Sie, dass Sie sich einem Lügendetektortest unterziehen müssen.«

»Wie bitte?«, sagte er. »Das ist doch wahnsinnig. Lügendetektoren sind vor Gericht nicht zugelassen.«

»Wir sind hier nicht vor Gericht«, sagte ich trocken. »Hier geht es um eine Beurteilung, und wir bedienen uns dabei aller Hilfsmittel, die wir für angemessen erachten.

Und nur zur Information«, fügte ich hinzu, »in immerhin achtunddreißig Staaten sind Lügendetektoren zugelassen, aber das ist ein anderes Thema.« Es gab keinen Weg drum herum. Einen mutmaßlichen Täter zu beurteilen bedeutete, Angst zu verbreiten. Bei Tätern musste man, wenn man überhaupt irgendetwas erreichen wollte, mit der Angst handeln. Was einem mit dem ganzen Procedere versöhnte, war die Tatsache, dass wirklich unschuldige Menschen viel weniger Angst haben als schuldige – und so sollte es auch sein.

»Aber sie sind nicht exakt«, sagte er.

»Auch das trifft eigentlich nicht zu. Nach Auskunft des Polygraph Institute des Verteidigungsministeriums und der John Hopkins University sollen die neuen Computer-Polygraphen mit dem richtigen Prüfer an ihrer Seite bei der Feststellung von Unschuld eine Genauigkeit von neunzig Prozent erreichen und eine noch höhere Rate, nämlich achtundneunzig Prozent, bei der Feststellung von Schuld. Auf jeden Fall sind sie seit Jahrzehnten zuverlässiger als Menschen, die selbst einschätzen müssen, ob jemand lügt oder nicht.«

»Das muss ich mir erst überlegen«, sagte er. Sein Verlangen nach einer Beurteilung hatte sich bei der Erwähnung eines Lügendetektors merklich abgekühlt.

»Das sollten Sie unbedingt«, sagte ich. »Es ist ein sehr langwieriger Prozess, und ich empfehle Ihnen, sich das gut zu überlegen und sich mit Ihrem Anwalt zu beraten. Ich muss es mir auch überlegen, weil ich mich Ihrem Vater, den ich sehr geschätzt habe, verbunden fühle. Rufen Sie mich doch bitte kommende Woche an.«

»Nächste Woche? Das ist viel zu lange hin«, sagte er rasch. »Ich werde morgen entscheiden. Ich muss diese Beurteilung umgehend kriegen, sonst spielt es keine Rolle mehr, wie das Ergebnis lautet. Die Gerüchte bringen mich um.«

»Besprechen Sie sich zuerst mit Ihrem Anwalt«, sagte ich. Das war nur gerecht. Leute, die sich dem Vorwurf eines sexuellen Vergehens ausgesetzt sehen, können häufig nicht mehr klar denken. Ich fand nichts dabei, solche Leute, die jemanden hatten, der sie vertrat, unter Druck zu setzen, aber wenn sie keinen Interessenvertreter hatten, hätte ich das Gefühl gehabt, sie auszunutzen.

Wir vereinbarten einen Telefontermin, und Reggie stand auf, um zu gehen. An der Tür hielt er inne und drehte sich noch einmal um. »Meine Mutter kennt Sie«, sagte er. »Sie sagte, mein Vater hätte Ihnen immer vertraut. Er meinte, Sie seien ein Segen für die Psychiatrie. Meine Mutter sagte, wenn die Karriere meines Vaters auf dem Spiel gestanden hätte, hätte er sich Sie für die Beurteilung ausgesucht. Ich soll Sie von ihr grüßen.«

Er war weg, bevor ich antworten konnte. Anschließend hatte ich ein beklemmendes Gefühl, und das Gewicht seiner Worte lastete auf mir. Die zehn Jahre in der Tretmühle der Psychiatrie hatten mich immun gegen Attacken gemacht, für Vertrauensbekundungen dagegen war ich höchst anfällig. Diesen Glauben an mich rechtfertigen, das war das Einzige, was ich wollte, mehr nicht.

Warum sollte ich Reginald Larsen junior seine Geschichte nicht abnehmen? Es klang alles einsichtig, was er sagte, und er wirkte extrem ernsthaft. Diese nörgelnde Stimme in meinem Kopf wollte jedoch nicht verstummen. Das, worüber Reggie keine bewusste Kontrolle besaß – Zusammenziehen der Pupillen, Veränderungen der Stimmlage, Atmung –, hatte sich in den Momenten, in denen man es hätte erwarten können, nicht gezeigt.

Und es gab noch etwas, eine Kleinigkeit nur, nämlich das, was er abstritt, und das, was er ausließ. Weglassen ist auch eine Form von Lüge. Zwingt man die Leute nicht zum Lügen, streiten sie das, was sie gemacht haben, nicht rundheraus ab, nein, sie lassen es einfach unerwähnt. Ich hatte Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Voyeurismus und Exhibitionismus angesprochen, ein breites Spektrum perverser Hobbys. Das Einzige, bei dem er wütende Empörung gezeigt hatte, war Kindesmisshandlung.

Vielleicht hielt er sie einfach bloß für schlimmer als alles andere. Vielleicht war es auch das Einzige, dessen er sich nicht schuldig gemacht hatte. Was hätte wohl Mrs. Reginald Larsen senior, an die ich mich gut erinnern konnte, von alldem gehalten?

Kapitel 2

Es war zwischen zwei Kliententerminen, und ich dachte immer noch an Reginald Larsen, als das Telefon mich aufschreckte. »Michael«, sagte Marv mit Erleichterung in der Stimme. »Ich wollte dich um einen Rat bitten. Es geht um einen bestimmten Fall. Hast du heute Abend Zeit?« Marv war, bis vor kurzem, mein Lieblingskollege in der psychiatrischen Abteilung gewesen – was sage ich, mein Lieblingspsychiater überhaupt. Momentan stand es zwischen uns beiden nicht zum Besten, aber nicht so schlimm, dass ich ihm seine Bitte um Hilfe abgeschlagen hätte.

»Heute Abend?«, sagte ich und wunderte mich über die Eile. Marv nahm seine Bitte nicht zurück, sodass ich schließlich einwilligte: »Gut, da kann ich.«

»Schön. Es ist … wenn du nichts dagegen hast, sage ich dir alles weitere heute Abend.«

»Kein Problem«, erwiderte ich. »Soll ich nach der Arbeit bei dir vorbeikommen?«

»Ach, die Fahrt zu dir nehme ich gern in Kauf«, sagte Marv. »Ich bin ja schließlich derjenige, der um Hilfe bittet, nicht umgekehrt.« Marv wohnte in einem Haus in der Stadt, unweit der psychiatrischen Abteilung, und ich lebte auf dem Land.

»In Wahrheit komme ich wegen deiner Kunstsammlung. Sie gewinnt Macht über mich:«

»Wenn das so ist.« Marvs Stimme wurde sanfter. »Dann komm her. Ich habe eine neue Holzschnitzarbeit aus Bali. Ziemlich detaillierte Darstellung. Exquisit.«

»Ich habe um sechs Uhr Feierabend«, sagte ich.

Ich hatte so gut wie keine Ahnung von Kunst. Ich wusste nicht einmal genau, was mir gefiel. Aber ich sah gerne das Leuchten in den Gesichtern von Menschen, wenn sie sich über Dinge ausließen, die sie liebten, vor allem, wenn ich selbst nichts von diesen Dingen verstand. Dann offenbarte sich auf einmal das Geheimnis, warum der eine gerne kocht und der andere mit Vorliebe an Dieselmotoren herumbastelt. Es waren nicht Marvs Gemälde, die Macht über mich gewannen, es war Marvs Liebe zu ihnen.

Außerdem brauchten wir etwas, um uns voneinander abzulenken. Ich hatte noch nie viel Geschick darin, zerbrochene Freundschaften wieder zu kitten. Normalerweise ließ ich den Betreffenden einfach fallen, wenn es größere Probleme gab. Ich gestehe, es zeugt nicht von Reife, es ist albern und pubertär, und meinen Klienten hätte ich dieses Verhalten niemals empfohlen. Bla, bla, bla.

Diese endlosen, tiefen, grässlichen Gespräche, um wieder mit jemandem ins Reine zu kommen, waren mir verhasst. Auf einem Grabstein habe ich mal die Inschrift gelesen: »Weiß Gott, ich hab’s versucht.« Aber inwieweit nützen solche Versuche wirklich? Manche Menschen reden über Beziehungen, als handle es sich um Autos, die man zu Bruch fahren kann, man tauscht hier ein Ersatzteil aus, schmirgelt da den Rost vom Blech. Diese Einstellung konnte ich nicht akzeptieren. Für mich war alles viel flüchtiger, viel schwerer zu fassen. Beziehungen war ein Zauber eigen, den man nicht reklamieren konnte, wenn das Vertrauen erst einmal dahin war.

Marv hatte einmal einen schlimmen Fauxpas begangen. Er hatte eine intime Information, mich betreffend, an einen Klienten weitergeleitet, um ihn sich vom Hals zu schaffen. Dass er hinterher einsah, was er falsch gemacht hatte, nutzte nichts. Es fehlte nicht viel, und wir hätten uns auf den Gängen nur noch mit einem Kopfnicken gegrüßt. Ich weiß auch nicht, warum ich mich nicht einfach gänzlich von ihm abwendete. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte ich das getan. Vielleicht war ich erwachsener geworden, vielleicht hatte ich mich auch verschlissen – es ist immer schwierig, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Marv trug lila Hausschuhe, als er mir die Tür öffnete. Manchmal hatte ich das Gefühl, er suchte sich absichtlich Kleidungsstücke in den hässlichsten Farben aus, so wie die Kunstwerke, die er sich an die Wand hängte, die herrlichsten Farben hatten. Es war nur eine der Seltsamkeiten an ihm, und nie wusste ich, ob und wie ich sie zur Sprache bringen sollte. Was sollte ich sagen? »Marv, du läufst herum wie der letzte Trottel. Mir kann es ja egal sein. Ich begreife es nur nicht. Wie kommt es, dass du so viele Gedanken darauf verschwendest, wie du deine farbenprächtigen Bilder an der Wand arrangierst, aber nie darauf achtest, welche Farben du am eigenen Leib trägst? Hast du keinen Spiegel im Haus?«

Ich war bekannt für meine direkte Art, aber das schien selbst mir ein bisschen zu freimütig. Deswegen habe ich es nie geäußert, was zur Folge hatte, dass ich jedes Mal daran dachte, wenn ich ihn sah.

Der Mann vor mir war klein, untersetzt und fast kahl. Angeblich hat man in der DDR schon bei Kindern nach Körpertypen unterschieden und sie später auf dem Gebiet ausgebildet, das dem jeweiligen Typus am besten entsprach. Marv wäre mit fünf Jahren für eine psychoanalytische Ausbildung ausgewählt worden, da bin ich mir sicher. Irgendwie hatte er seinen eigenen Weg dorthin gefunden.

»Komm rein«, sagte er, und seine Herzlichkeit umfing mich gleich wie ein warmer Mantel. Vielleicht war das der Grund, warum ich ihn nicht zu einer »Nickbekanntschaft« degradieren wollte.

»Oh Marv«, rief ich aus, auf die Wand in seinem Wohnzimmer zusteuernd, »du hast ja alles umgehängt.« Marvs Bilder hatten in seinem Haus immer denselben Platz eingenommen, seit ich ihn kannte.

»Ein Neuanfang«, bestätigte er und schaute zur Seite. »Komm, ich zeige dir meine neueste Erwerbung.«

Ich folgte ihm ins Arbeitszimmer. Dort stand, in seiner gewissermaßen einsamen Herrlichkeit, ein filigran geschnitztes Schachspiel. Ein Neuanfang? Sollte das irgendwas mit mir zu tun haben? Mit dem furchtbaren Fall, in dem wir beide beruflich engagiert gewesen waren? Oder war Marvs Beziehung zu seinen Kunstwerken so komplex wie die Beziehungen, die andere Menschen mit ihren Mitmenschen haben? Wer weiß?

Das Schachspiel war ein erlesenes Stück, das konnte selbst ich erkennen. Marvs Blick auf die Figuren teilte mir jedoch mehr mit, als wenn ich sie mir selbst angesehen hätte. Kein schlechtes Leben: immer eine neue Geliebte, wenn man sich eine leisten konnte.

»Ein Schachspiel?«, sagte ich. »So etwas habe ich nie als Kunstwerk betrachtet, aber das hier könnte meine Meinung ändern.«

»Oh ja«, antwortete er, nahm eine der Figuren in die Hand und reichte sie mir, damit ich sie genauer betrachten konnte. »Schau dir die Details im Gesicht an. Außerordentlich, findest du nicht? Die Herstellung von Schachspielen hat bei Künstlern sogar eine lange Tradition. Sie reicht Jahrhunderte zurück. Häufig wurden Schachspiele als Geschenke für Könige angefertigt. Manche Könige haben sie auch in Auftrag gegeben. Früher habe ich solche Spiele mal gesammelt.«

Ich bewunderte die Figur gebührend, als wüsste ich, wovon ich redete, und stellte sie dann schweren Herzens wieder hin. Die winzige kriegerähnliche Figur hatte etwas Einnehmendes. Ich ging in die Hocke, auf Augenhöhe mit dem Brett, und stellte mir eine Schlacht vor. Marv reichte mir die einzelnen Figuren und erschien mir dabei auf einmal ganz wie ein Kind. Wir waren wie zwei Zehnjährige, die sich über Actionfiguren unterhielten, so deutlich war die Begeisterung aus seiner Stimme herauszuhören. Schließlich rissen wir uns los.

»Kannst du spielen?«, fragte ich und ließ mich in einem besonders bequemen, üppig gepolsterten Sessel nieder.

»Meinst du Schach?«, erwiderte Marv. »Ein bisschen. Jedenfalls früher. Es ist lange her. Ich spiele schon seit Jahren nicht mehr. Willst du ein Glas Eistee?«

»Klar«, sagte ich. Eistee ist Muttermilch für uns Südstaatler. Das heißt, eigentlich gibt es zwei Sorten von Südstaatlern: die Eistee- und die Jack-Daniel’s-Trinker. Ich gehöre zu den Eisteetrinkern, aber in meiner Verwandtschaft gibt es viele, die Jack Daniel’s bevorzugen – ein hinreichender Grund, um bei Eistee zu bleiben.

Als er mit dem Tee wiederkam, fragte ich ihn: »Warum hast du aufgehört?«

»Mit Schach?«, fragte er. Meine Güte, Marv, dachte ich. Womit wohl sonst? »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er und servierte umständlich den Tee. Es war deutlich, dass er nicht die Absicht hatte, mir die Geschichte zu erzählen.

»Na gut«, sagte ich. »Dann sag mir, wozu du meinen Rat brauchst.«

»Also, ich habe eine Klientin.« Marv sah mich an – er konnte besser in meinem Gesicht lesen als sonst irgendjemand. »Die Eile kommt daher, weil eine verschüttete und jetzt wieder entdeckte traumatische Erinnerung sie eingeholt hat, an ihren Vater, der sie vergewaltigt hat. Nun will sie ihren Vater damit konfrontieren.«

»Das ist ein ziemlich heikles Unterfangen, Marv. Da darf man nichts überstürzen. So etwas kann in jeder Hinsicht schief gehen.« Ich lehnte mich in den Sessel zurück. Meine geliebte Finnhütte auf dem Land würde ich so schnell nicht wiedersehen. »Fang doch einfach ganz von vorne an.«

»Die Frau heißt Jody«, sagte Marv. »Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, geboren in …«

»Äh, so weit vorne meinte ich eigentlich nicht«, unterbrach ich. Ich kannte Marv. Er wusste sogar, was seine Mutter gegessen hatte, als sie mit ihm schwanger gewesen war.

Marv machte eine Pause, während der er überlegte, wo er neu ansetzen sollte. »Sie kam vor etwa sechs Wochen zu mir«, sagte er schließlich. »Ich bin ihr dritter Therapeut. Ihre Krankengeschichte weist häufige Depressionen und Angstattacken auf. Die Symptome zeigen sich, mit Unterbrechungen, seit der Highschool; im zweiten Jahr dort wurde sie wegen eines Selbstmordversuchs stationär behandelt. Ihr Studium begann sie an einem kleinen College in der Nähe von Manchester, wo ihre Familie wohnt, aber nach einem Semester hat sie wegen ihrer Depressionen alles hingeschmissen. Damals wurde sie wieder ins Krankenhaus eingeliefert.

Dieser zweite Aufenthalt war im Jefferson-Hospital. Nach ihrer Entlassung entschied sie, nicht wieder nach Manchester zurückzukehren, und arbeitete stattdessen hier ein Jahr als Kellnerin. Zum Herbst hat sie sich an der Jefferson University eingeschrieben, aber sie hat gleich wieder schwere Depressionen bekommen.

Sie hat sich wegen der Depressionen in Therapie begeben, aber sehr schnell hat sich der Schwerpunkt verlagert. Sie ist zunehmend beunruhigt wegen eines ständig wiederkehrenden Traums, der gegen Ende diesen Jahres einsetzte. Es geht in diesen Träumen um einen Mann, der sich bedrohlich über sie beugt, während sie schläft. Sie kommt sich furchtbar klein vor, und er erscheint ihr riesig groß. Beim Aufwachen ist sie überzeugt, dass ein Mann sich in ihrem Zimmer befindet, und sie ringt nach Luft. Es fühlt sich an, als läge eine schwere Last auf ihrer Brust.

Dann, vor zwei Wochen, auf der Fahrt zur Arbeit, kommen bei ihr plötzlich kleine Erinnerungsfetzen wieder hoch. Die Bilder gleichen denen aus den Träumen, nur dass meine Klientin dabei hellwach ist. Die Bilder werden so überwältigend, dass sie an den Straßenrand fahren muss. Sie sagt, sie erinnert sich daran, dass ein Mann in ihr Zimmer kommt und sich bedrohlich über sie beugt, genau wie in ihrem Traum. Sie sagt, er hätte sie vergewaltigt, und im Auto sei ihr auch klar geworden, dass dieser Mann ihr Vater sei, obwohl sie sein Gesicht nicht hätte erkennen können. Sie ist ausgestiegen und hat sich übergeben.«

»Woher weiß sie, dass es ihr Vater ist, wenn sie sein Gesicht nicht erkannt hat?«

»Das konnte sie auch nicht sagen. Sie wüsste es einfach, meint sie.«

»Irgendwelche Hypnoseversuche?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Marv.

»Kein Sodiumamytal?«

Marv schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, dass du nicht gerne mit den psychologischen Techniken der geleiteten Bildfantasie oder der Wiederbelebung verschütteter Erinnerungen arbeitest. Was ist mit den beiden anderen Therapeuten?«

Erneut schüttelte Marv den Kopf. »Ich kenne die beiden. Sie hat zwei Psychiater in der Umgebung von Manchester aufgesucht. Sie sind sehr engagiert in der Psychoanalytischen Gesellschaft, und sie vertreten immer noch die Ansicht, dass die Frauen, die Freud gegenüber von sexuellem Missbrauch sprachen, hysterisch waren. Sie wollen nicht wahrhaben, dass es sexuellen Missbrauch von Kindern in dieser Gesellschaft überhaupt gibt, schon gar nicht in größerem Umfang.«

»Gibt es keinen Hinweis, dass jemand ihr die Erinnerung an den Missbrauch eingeredet haben könnte?«

»Nein«, sagte Marv. »Sie hat auch keine Freundinnen, die ihr gegenüber erwähnt haben könnten, selbst mal missbraucht worden zu sein. Ihre anderen Therapeuten haben jedenfalls nicht gezielt danach gefragt. Und ich«, fügte er trocken hinzu, »habe es auch versäumt. Ich habe mich nur gefragt, ob ihre Depressionen vielleicht etwas mit dem Problem der Unabhängigkeit zu tun haben. Solche Krisen sind immer während familiär bedingter Übergangsphasen aufgetaucht. Missbrauch habe ich nie in Erwägung gezogen.«

»Hättest du aber tun sollen«, sagte ich offen. »Schon bei deiner Differenzialdiagnose. Depression und Angststörungen in allen Varianten treten bei Missbrauchsopfern vermehrt auf.«

»Aber warum in Übergangsphasen?«, fragte Marv. »Warum immer dann, wenn sie aus dem Elternhaus ausgezogen ist?«

»Was weiß ich?«, erwiderte ich. »Warum treten sie bei anderen erst mit vierzig, fünfzig oder sechzig auf? Niemand weiß, warum solche Dinge bei dem einen früher und bei dem anderen später wieder hochkommen.«

»Heute kam Jody zur Sitzung«, fuhr Marv fort, »und sagte, sie wolle das nächste Mal ihren Vater einladen. Sie will ihn mit der Missbrauchsgeschichte konfrontieren.«

»Marv«, sagte ich, »das wäre vollkommen verfrüht. Ich halte das für keine gute Idee. Was meint sie wohl, wird er antworten?«

»Das weiß ich nicht, aber ich glaube, sie ist wild entschlossen«, erwiderte Marv. »Es ist mir gelungen, sie ein, zwei Sitzungen hinzuhalten, aber ich befürchte, sie wird auf ihrem Willen bestehen.«

»Mach das nicht, Marv. Hör auf mich. Mach es nicht. Ihre Erinnerung, oder was immer das sein soll, ist noch ganz frisch. Sie weiß ja nicht einmal, ob die Erinnerung stimmt oder nicht. Jede Wette, dass sie sich in ihrer Fantasie ausmalt, sie würde ihren Vater damit konfrontieren und er würde vor ihr auf die Knie fallen und sie anflehen: ›Meine liebe kleine Jody, es tut mir ja so Leid. Seit zwanzig Jahren schleppe ich das mit mir herum. Wie kann ich das je wieder gutmachen?‹ Sie will nur, dass er ihre Erinnerungen bestätigt.

Von der Mutter ganz zu schweigen. Die soll ihm mit der Handtasche auf den Kopf hauen und ihn anschreien: ›Du böser Kerl, du, wie konntest du meinem armen kleinen Kind nur so wehtun?‹

Aber das wird nicht passieren, Marv. Ich sage dir, was stattdessen passieren wird: Ihr Vater wird sagen: ›Was? Ich bin ein angesehener Geschäftsmann. Wie kannst du nur so etwas behaupten?‹ Und die Mutter wird sagen: ›Du weißt, dass dein Vater dich liebt. Wie kannst du nur so etwas behaupten?‹ Jody wird aus der Familie verstoßen, und die Familie tritt dem Verein für fälschlich beschuldigte Familien bei. Du hast bestimmt schon mal von dem VfbF gehört, oder nicht? Die geben die Geschichte an die Zeitungen weiter – oder umgekehrt, zuerst wendet sich die Familie an die Zeitungen. Ihre Eltern landen in einem Gesprächskreis des VfbF, und Jody landet in einer geschlossenen Abteilung. Und du, du kriegst eine Anzeige an den Hals. Ich kann es nicht genug betonen, Marv: Mach es nicht!«

Marv war still geworden. »Ich glaube, ich habe gar keine Wahl«, gestand er schließlich. »Sie hat gesagt, sie würde es so oder so machen, ob mit oder ohne mich. Wenn es stimmt, was du mir erzählst, dann wird sie, ohne einen Therapeuten an ihrer Seite oder jemand anderen im Raum zur Unterstützung, zum Schluss am Boden zerstört sein.«

»Du hast nicht verstanden, worum es geht, Marv«, sagte ich. »Die Stimmung gegen das ganze angebliche Gerede um sexuellen Kindesmissbrauch schlägt gerade erst um. Zunächst einmal: Sobald du im Raum bist, wird man dir die Schuld geben. In dem Moment, wo du den Raum betrittst, schlägt die gesamte Dynamik um. Daddy wird nicht zu seiner Tochter sagen: ›Wie kannst du das nur behaupten?‹, nein, er wendet sich an dich und wird sagen: ›Sie haben meine arme Tochter so lange bearbeitet, bis sie diese Dinge über mich behauptet. Wie konnten Sie nur? Meine arme Tochter ist ein Opfer, jawohl, aber hier liegt kein Missbrauch von Seiten des Vaters vor, sondern von Seiten des Therapeuten.‹