Die Psychotherapeutin - Mechthild Myers - E-Book

Die Psychotherapeutin E-Book

Mechthild Myers

4,6

Beschreibung

Die 60jährige Therapeutin Agnes sehnt sich nach dem unnahbaren Wissenschaftler Dr. Savorski. Anlässlich eines Kongresses beginnt sie, ihn mithilfe ihres psychologischen Wissens für sich einzunehmen. Sie wirbt und kämpft - sowohl um ihn, als auch ehrgeizig um wissenschaftliche Anerkennung.

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Inhaltsverzeichnis

Der Kongress

Sinnvolles Leben

Mit Fantasie zur Realität

‚Hooked‘ – an der Angel

Aufbruch zu unbekannten Ufern

Parallelwelten

Traum und Wirklichkeit

Sehnsüchte und Alltag

Ein weiterer Kongress

Ende gut, alles gut

DER KONGRESS

„Wie heißen Sie“, fragt der berühmte amerikanische Psychologieprofessor durchs Mikrofon vor mehr als einhundert TeilnehmerInnen im Hörsaal der Universität. Die sechzigjährige Therapeutin Agnes zuckt zusammen. „Agnes“, sagt sie und wiederholt ihren Namen, „Agnes“. „I can’t pronounce it“, kontert er, „I‘ll call you Sarah in the roleplay“.

Sein suchender Blick hatte sich an ihrem erhobenen Zeigefinger festgehakt, der ihre Bereitschaft zur Mitarbeit in seinem Rollenspiel signalisierte. Doch war sie nur eine unter vielen Willigen, warum gerade sie?

Mit steifen Beinen und geradem Rücken geht sie die Hörsaalstufen hinunter und bleibt vor dem hell beleuchteten Podium stehen. Prof. Huntington steigt drei Stufen herab und geht einige Schritte auf sie zu. Mit schüchternem Lächeln stellt sie sich an seine Seite. „Go on“, sagt Dr. Huntington, „play the depressive woman and I show you my therapeutical technique.”1 - Mit matter, tonarmer Stimme klagt Agnes-Sarah: „Ich grübele viel, lebe zurückgezogen, schaue oft hoffnungslos in die Zukunft. Ich bin sehr erschöpft und häufig krank. Mein Leben ist sinnlos“. Ihre Beine fühlen sich jetzt müde an, der Körper möchte sich ablegen, der Kopf auf Daunen ruhen. Bin ich wirklich depressiv, denkt sie, oder nur erschöpft vom Leben, verwelkt wie eine Blume?

„Ok, go on Sarah“, hört sie seine fordernde Stimme. Aber was soll sie jetzt tun? Die Gestalt von Frau Wagner schiebt sich in den Vordergrund ihrer Bilderwelt: wie diese vergangene Woche in die Ecke der roten Couch gedrückt sass, mit der großen Handtasche als Schutz auf der anderen Körperseite.

Kann man sehen, wie ich mich fühle, auch ohne Tests und Diagnoseraster wissen wie’s mir geht? Agnes atmet tief ein und wirft den Seufzer in Richtung des Professors. Es ist so still im Saal. Warten alle darauf, dass ich etwas sage? Aber was soll ich denn noch sagen? Agnes‘ Blick zieht Schleifen über den Holzboden bis er an einem schlichten Stuhl hängenbleibt. Ihr Körper trägt sie dorthin, so dass sie sich endlich setzen kann. Ihr folgt eine tiefe Männerstimme, dann eine höhere, bis sie Worte versteht: „…dies ist eine typische Reaktion des Abdriftens, in der die Patientin auf jeden Fall durch eine aktive Intervention zurück geholt werden muss“, sagt die Übersetzerstimme. Die Therapie muss auf den Patienten zugeschnitten sein, nicht der Patient auf die Therapie“.

Agnes-Sarah spürt, wie der frisch eingezogene Atem ihren Körper lebendig werden lässt. Als sie den Oberkörper aufrichtet, spürt sie auf der rechten Schulter ein warmes Gewicht. Sie blickt hoch in die freundlichen Augen des Mannes, dessen Hand auf ihrer Schulter liegt. „Good“, hört sie ihn sagen „You did a good job, Sarah, go on”.

Ist Sarah nicht auch die Ehefrau von Abraham, denkt Agnes, dem sie in hohem Alter noch viele Kinder gebar. Und ist Sarah nicht auch die berühmte Mimin Sarah Bernhardt. Woran der Prof wohl gedacht hat?

„Ich bin alleinlebend, I am single“, fährt Sarah-Agnes fort und stutzt über ihre eigene Aussage: Was heißt alleinlebend? Bin ich wirklich alleinlebend? Lebe ich nicht ständig in menschlichen Beziehungen – mit ArbeitskollegInnen, mit Nachbarn und Freundinnen? Nur weil ich Wohnung, Bett und Haushaltskasse nicht regelmäßig mit jemandem teile, werde ich zum Single.

Und dann ist da noch meine belebte Innenwelt, denkt sie. Wie von lodernden Flammen angefeuert schlägt ihr Herz plötzlich in wildem Rhythmus. Er! Der Mann meiner Träume, seufzt sie und sieht ihn vor ihrem geistigen Auge: den erfolgreichen Wissenschaftler, 58 Jahre alt und seit mehreren Jahren auf einem soliden Platz in ihrem inneren Haus. Während der wenigen Begegnungen sammelte sie all die sinnlichen Eindrücke und geistigen Erfahrungen, mit denen sie dann später seinen Raum in ihrem Gedankengebäude belebte.

Wenn er gestresst und überarbeitet aussah, stellte sie sich vor, wie er bei ihr Ruhe findet. Erfuhr sie von seinen internationalen kollegialen Kontakten, sah sie sich an seiner Seite diskutieren. Dann fühlte sie sich wohl, so wohlig, als wären die Fantasien ihre Wirklichkeit für kurze Augenblicke. Sie sehnte sich nach einem Leben in jener Welt, in der er zuhause ist.

Davon jetzt aber kein Wort! beschwört sie sich, auch wenn ihr klopfendes Herz schon auf dem Pullover sichtbar ist. – Agnes wendet sich ganz dem neben ihr stehenden Professor zu, folgt seinen Erklärungen und liest aus seinen Augen. Ob Frau Wagner mich auch so betrachtet, wenn ich Erklärungen abgebe? Ob sie sich auch so eingeschüchtert fühlt wie ich jetzt? – Ich muss das mal ansprechen nächsten Montag.

Die tiefe Stimme, die „Thank you Sarah, thank you very much” äußert holt sie in den Hörsaal zurück und zeigt das Ende des Rollenspiels an. Agnes schickt ihre Sarah-Seite in jenen abgeschirmten Seelenteil zurück, der ihm zusteht. Mit erhobenem Kopf und betont sicherem Schritt bewegt sie sich am Podiumsrand entlang und steigt dann die vielen Stufen zum Hörsaalausgang hinauf. Pause ist angesagt.

Mit der Kollegin vor sich in der Kaffeeschlange spricht sie über das Rollenspiel. Dabei spürt sie, dass ein beruhigender Strom in ihren Körper einzieht. Als sie dann handeln darf und Kaffee eingießt sowie Milch hinzufügt, hören ihre Hände zu zittern auf. Ihre Beine stehen jedoch zu unruhig, um still am Platz stehen zu bleiben. Mit der randvollen Tasse des heißen Getränks schlängelt sie sich an Kollegen vorbei entlang der Betonwände des engen Flures.

Tief aufatmend setzt sie sich schließlich zu einer entspannt wirkenden älteren Kollegin an den einzigen weißen Plastiktisch in einem öden Vorraum. Irgendetwas an diesem Rollenspiel, überlegt sie, hat mich aus der Bahn geworfen. Wenn ich nur wüsste, was es war? – Bevor sie weiter überlegen kann, beugt sich die Kollegin zu ihr hinüber und räuspert sich, so dass Agnes aufschaut. Redefreudig beginnt die Frau ein Gespräch und schildert frühere Erfahrungen in dieser Stadt. Sie erzählt vom Gestern vor der Wende und vom Heute im vereinten Deutschland und verbindet die Person, die sie früher war mit der von heute. Agnes hört interessiert zu und vergisst darüber für kurze Zeit, ihren ungeklärten Gefühlen seit dem Rollenspiel weiter nachzuhängen.

Agnes hört einen Gong zwei Mal schlagen und blickt auf ihre Armbanduhr, die ihr mit großen Ziffern anzeigt, dass die nächsten Vorträge gleich beginnen werden. „Kommen Sie mit zu dem deutschen Prof, der zu krankheitswertigen Beziehungsstörungen redet“, fragt sie die Kollegin, die Heike heißt. Als diese bejaht, eilen beide zum Plenumssaal.

Schnell treten sie durch die geöffnete Tür in den Saal, bevor er sich hinter ihnen verschließt. Aus plappernden, schnatternden, dozierenden Stimmen werden langsam flüsternde bis eine Ruhe einkehrt, die Zuhören erleichtert.

Prof. Simmler trägt souverän mithilfe von Power-Point-Präsentation und Mikrofon aus seiner Berufs-, gemischt mit Lebenserfahrung vor. Angesichts der Thematik „Beziehungsstörung und frühkindliche Erfahrung“ wird Agnes‘ innere Verfassung schon wieder erschüttert. Ja, ja, ich vermeide, ich weiss es ja, denkt sie und stützt den Kopf auf die Hand und den Arm auf das Klappbrett vor ihr. Damit niemand sieht, wie sie mit sich hadert. – Ich klage über mein Single-Dasein, aber tue nichts für…

Der Mann ihrer Träume kommt ihr in den Sinn: wie er oben auf einem Podium sitzt mit mehreren Kollegen, die Beine übereinander geschlagen, der Blick schwebt frei durch das Auditorium wenn er redet oder nur zuhört. Habe ich Angst vor Nähe, vor Enttäuschung nur wegen ‚frühkindlicher Verluste oder späterer Enttäuschungen‘? Quatsch, in meinem Alter – oder doch? Unruhig rutscht Agnes auf ihrem Sitz herum und blättert dann in der Kongressbroschüre. Vielleicht findet sie dort eine Antwort in einem der Exposés? – Doch kein Wort oder Satz klebt sich an ihre Frage und gibt ihr Erleichterung.

Einzelne Wortfragmente des Vortrags füttern, leiten und begleiten ihre Innenschau. „Vermeidungsziele“ anzustreben, erklärt der Seniorprofessor, diene dazu, vordergründig bestimmte Bedürfnisse befrieden zu wollen, jedoch unbewusst entgegengesetzte Strategien zu verfolgen. Zum Beispiel würde ein Mensch alles daran setzen, um der Beste zu werden, doch innerlich sähe er sich seit der Kindheit als Versager. Diesem frühen Leitgedanken entsprechend wird er sich Hindernisse hin zur „Spitze“ aufbauen und Scheitern programmieren. Gilt dies auch für mich? fragt Agnes sich. Hindere ich mich mit meiner Schwärmerei für P. an einer beruflichen Entwicklung? Oder umgekehrt: vermeide ich durch hohen beruflichen Einsatz persönliche Nähe? Irgendwie stagniere ich seit einiger Zeit, beruflich und privat.

„Also ich meine“, wendet sie sich Heike zu in der kurzen Pause, nach der ein weiterer Vortrag folgen wird, „dass die Kindheit zwar wesentlich prägt, wie der Prof sagt, aber auch die Erfahrungen späterer Jahre. – Ich denke gerade daran, wie ich als Gruppenleiterin vor einem Gremium von Psychocracks geprüft wurde.“ Während dieser Worte spürt Agnes wie sich ihr Körper erhitzt und ihre Atemluft verknappt, je mehr sie die demütigende Situation bildhaft auffächert. „ Die Prüfer schauten verachtend auf mich, spuckten quasi auf mich, gaben mir das Gefühl, versagt zu haben. Klein wie eine 6jährige vor der neuen Schulklasse habe ich mich gefühlt.“ Agnes schaut starr zu Boden und Heike hört ihr ruhig zu. „So wie damals: als ich als Neue in eine gefestigte 2. Klasse der Volksschule eintrat. Und noch eine Tafel und Griffel hervorholte, wo alle schon mit Füller übten. Fünfundzwanzig Kinder schauten auf mich.“ Sie atmet tief ein und blickt jetzt Heike an. „Die Einsamkeit änderte sich zwar glücklicherweise nach einigen Wochen, als eine zweite Neue erschien. Wir waren jetzt als Tandem integriert in die Klasse.“

„Hast du dich denn damals als Versagerin gefühlt und bist danach besonders strebsam geworden und gescheitert?“, fragt Heike mitfühlend.

„Eigentlich nicht. In der 3. Klasse wurde ich ausgewählt als typisch für ‚befriedigende‘ Schulleistung.“ Sie lächelt verschmitzt. „Da hatte ich Heuss mit Adenauer verwechselt. Wurde mir jedoch nicht angekreidet. Beide waren wichtige Politiker der 50er Jahre. Dass ich überhaupt Namen kannte, schien den Prüfern altersangemessen zu sein.“

„Und die unterschiedlichen Funktionen von Bundeskanzler und Präsident kennen oft nicht mal Erwachsene“, fügt Heike hinzu und steht auf. „Ich geh mir noch schnell ‚n Wasser holen“, sagt sie.

Angemessen wäre es gewesen, mir als erwachsene Gruppenleiterin das Zepter nicht aus der Hand nehmen zu lassen, denkt Agnes weiter, selbst wenn Ängste dazwischenfunken. Meinen Schutzpanzer anzulegen. Verantwortung zu tragen selbst in Situationen, in denen ich nur als Handlanger der Könige auftrete.

„Weil ich damals aus dem ‚Königspalast hehrer Wissenschaft‘ flüchtete, und mich in die vertraute Stube meiner kleinen Praxis zurückgezogen habe, bleibt mir jetzt nur die Sehnsucht,“ beichtet sie Heike, während sie einen Sitz weiterrückt, um der Zurückgekommenen Platz zu geben.

Agnes sieht in Gedanken den unerreichbaren Dr. Paul Savorski vor sich, wie er auf einem Podium läuft und redet; gleichzeitig spürt sie die Sehnsucht nach einem ‚Palastleben‘ im Elfenbeinturm der Wissenschaft. „Ich bewege mich in den Kellergewölben aber es zieht mich etwas mit Macht hinauf. Wenn die Angst vor dem Versagen, der Blamage nicht wäre….“, gesteht sie. Und Heike nickt verständnisvoll dazu.

Immer noch innerlich erregt steht sie auf, dehnt sich und hebt beide Arme in die Höhe, um den angespannten Rücken zu entlasten.

Der berufserfahrene Ehe- und Familienberater Ludwig Seiters sitzt gelangweilt in der obersten Sitzreihe nahe am Ausgang des Hörsaales. Er tippt mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln nach einem inneren Rhythmus. Eigentlich hält ihn nichts hier außer der Verpflichtung gegenüber seinem Arbeitgeber, einem großen Wohlfahrtsverband. Er soll aktuelles Wissen über psychische Erkrankungen und deren Behandlung erwerben. Schließlich gingen immer mehr Ehen wegen Beziehungskonflikten in die Brüche. Die Partner würden dann depressiv oder waren es vorher, was sich dann noch verstärken würde.

Er lehnt sich vor und blickt eher gedankenlos auf die unteren Reihen, die vor allem mit weiblichen und jungen Kollegen gefüllt sind. Da seine Sitznachbarin gerade zurückkommt und einen angenehm orientalisch-erdigen Geruch verströmt, beginnt er ein Gespräch mit ihr: „Typisch, es sind mal wieder Männer, die Reden halten und Frauen, die zuhören.“

„Dann sind Sie ja hier eine Ausnahme“, kontert sie. – Dabei spürt er einen leichten Stich in Herznähe, was ihm zeigt, dass er immer noch kränkbar ist. Er hat es nicht so weit gebracht, wie andere von ihm erwarten: vor allem seine Frau. Versager, Angsthase, ich verplempere meine Zeit mit Nebensächlichem – diese Worte drängen sich ihm auf.

Mit einer heftigen Handbewegung streicht er sich eine kleine Haarsträhne aus dem Gesicht und wischt gleichzeitig die selbstabwertenden Gedanken fort. Aus dem Augenwinkel bemerkt er eine plötzliche Bewegung weiter unten in den Stuhlreihen. Zwei Arme recken sich und strecken sich, um sodann wieder zurück zu fallen und zu verschwinden. Seine Aufmerksamkeit gilt dem dazugehörigen Hinterkopf. Er kommt ihm bekannt vor. Sein Herz klopft jetzt heftiger und die Hände werden feucht vor innerer Erregung. Wie auf einem Foto klar und präzise sieht er: sich selber sitzend auf Steinstufen vor dem prächtigen Dom. Weiter unten die Frau mit diesem Hinterkopf in einer lasziven Körperhaltung ans Treppengeländer gelehnt: umhüllt von beinahe sakraler Atmosphäre, einem hellblauen Sommerhimmel und leisen menschlichen Stimmen. Wie eine Fata Morgana ist das Bild in seinem Gedächtnis abgelegt. Ludwig schließt die Augen und träumt sich in diese weltentrückte Szene zurück.

Hungrig stürzt Agnes aus dem Hörsaal, geradewegs hin zum Mittagsbuffet. In der Warteschlange ist sie eine der Ersten. Einen Porzellanteller, gefüllt mit Chilly con carne auf Nudeln, überbackenen Käsehäppchen und einzelnen Salatblättern, stellt sie gleich in der Nähe auf einem runden Stehtisch ab. Schweigend genießen sie und zwei weitere Frauen die sinnlichen Freuden. Keiner ist nach Diskutieren zumute.

Während Agnes zum Nachtisch eine Orange schält, fällt ihr der Titel einer Geschichte der Philosophin Hélène Cixous ein: Die Orange leben. „Sag mal“, stößt sie die ihr unbekannte Tischnachbarin an. „Erinnern Sie sich an die verrückten Ideen Anfang der 80er Jahre, als die französischen Denkerinnen ‚in‘ waren?“

„Nein“, antwortet diese nach kurzem Zögern. Und während sie weiter kaut fragt sie: „Was war da Besonderes?“

„Die hatten eine neue Herangehensweise, um Dinge zu erfassen und zu beschreiben: nicht rational, von außen. Die Frucht in der Hand, an die Nase geführt, mit den Lippen berührt und den Gedanken umsponnen wurde die Orange Teil der Person, die ihr begegnete: Die Orange in mir, was sagt sie mir, wie teilt sie sich über meine Sinne und meinen Geist mit? Wie finde ich Worte?“ – Ihre Stimme ist lauter geworden, so dass vom Nachbartisch schon herübergeschaut wird. Da die eigentlich Angesprochene nicht sehr interessiert erscheint, dämmt Agnes ihren Redefluss.

Sie zieht sich wieder in ihre Innenwelt zurück. Eine verrückte Geschichte aus anderen Zeiten. Aus der Zeit, als die kleinen Bücher des Merve-Verlags spannender waren als die großen blauen Bände, die alle an der Uni lesen mussten.

Merve. Das Bild einer kräftigen Frau mit halblangen dunklen Haaren und selbstbewusstem Auftreten taucht aus dem Hintergrund auf. Die Frau, die in der Institutsbibliothek ausgeholfen hat. Nach der der Verlag benannt wurde, ihr Verlag. Sie starb Anfang der 80er Jahre und damit die besondere Prägnanz des Verlages. Agnes beißt vorsichtig in einen unförmigen Orangenschnitz, wobei einige klebrige Tropfen über ihr Kinn rinnen, um dann auf dem Stehtisch zu enden.

‚Le lieu, qu’elle occupe‘: der Raum, den ein Mensch im Innenleben eines anderen einnimmt, diesen Topos habe ich damals von der Irigaray übernommen. Weitere Schnitze zermalmt Agnes genießerisch ohne den süßen Saft tropfen zu lassen. Dann hält sie sich ein Orangenstückchen vor die Nase, um es zu beriechen und seine intensive Feuerfarbe näher vor den Augen zu haben.

Begreifen – das Wort gefällt Agnes: eine Frucht, einen Menschen. Etwas ertasten und mit allen Sinnen erfassen dürfen ist so schön. Jemanden so umfassend erfassen dürfen. Ihn. – Sie spürt, wie ihre aus dem Seelenbasement hervorkriechende Sehnsucht ihr den Atem nimmt und doch gleichzeitig die Brust weitet. „Ah, mmh“ seufzt sie – und es könnte ebenso der Orange gelten wie Ihm. Wo bist du? Wirst du morgen wirklich da sein? Werde ich dich morgen sehen? Einen Blick geschenkt bekommen, ein Kopfnicken, ein Zeichen des Erkanntwerdens? Agnes lächelt wie beseelt und gesteht sich diese gut sichtbare Regung zu. – Und wenn du nicht kommst, wie werde ich das verkraften? Sie seufzt tief auf und sieht sich im Zug nach Hause sitzen, bei Regenwetter und mieser Laune.

Zur Beruhigung spricht sie sich lautlos einige Zeilen vor, die sie dereinst aus einer sehnsuchtsvollen Stimmung heraus verfasst hatte. ‚Der Raum, den P. in meinem inneren Haus einnimmt, duftet blau und rosa und durchsichtig nach Sehnsucht. Bin ich obenauf, zieht meine Nase eine Sphäre voll Schwerelosigkeit ein, benetzt mit weichen Tautropfen, die sich leichtgewichtig im Raum bewegen. Bin ich jedoch unten am Boden, drückt der Geruch schwerer Erdschollen unter schwarzem Regenhimmel auf mein Gemüt‘.

Sie sieht sich im Halbdunkel auf braunen, groben Ackerschollen liegen – unbekleidet – fühlt körperlich die Kühle der Erde, riecht ihre Schwere, fühlt sich in der vom Körper geformten Kuhle geborgen; auch ängstlich und beklommen, im Gedanken daran, dass sie selber irgendwann zu Erde werden wird.

„Wer ist der nächste Referent?“ hört Agnes nahe an ihrem Ohr und wird mit dieser Frage in die Wirklichkeit zurück geworfen.

„Mal gucken“, sagt sie. Gucken, sehen ist nur eine Art, um Dinge und Menschen zu erkennen.

Sie überprüft den Tagesplan des Veranstaltungsprogramms. „Da kommen diese verschiedenen Workshops dran nach der Pause“, sagt sie „was haben Sie gewählt?“

„Ich wollte mehr über die Bremer Untersuchung zu Belastungen von TherapeutInnen hören“, antwortet die Kollegin. „Eigentlich kennen wir das ja alle. Dieses ständige Hineinversetzen in Andere und sich selber zurücknehmen. Da muss man ganz schön aufpassen, dass man nicht jedes Drama mit nach Hause nimmt. Mein Mann sagt schon immer: Hör doch endlich auf, dich selbst zu belauern.“ Mit einer Kopfbewegung, die seine Ignoranz auszudrücken scheint und einem Zungenschnalzen bringt sie Agnes zum Lächeln. „ Andererseits gehört Achtsamkeit auch für sich selber zum Handwerkszeug.“

„Und wieso gehen Sie denn jetzt noch in den Vortrag, wenn Sie schon so versiert sind“, fragt Agnes amüsiert.

„Mit wissenschaftlichen Daten kann ich dann besser argumentieren in der Öffentlichkeit“, antwortet die Kollegin, während sie ihre geräumige Handtasche nimmt und Papiere darin verstaut. „Und was machen Sie“, fragt sie, schon halb im Gehen.

„Ich, ach ich bin noch so mit mir beschäftigt, dass ich gar kein Ohr für Theorien habe. Angemeldet habe ich mich für den Workshop zu Depressionen. Aber eigentlich weiß ich schon alles“, sagt Agnes und schränkt ein „oder doch sehr viel. Was kann da noch kommen? Mein Praktikerinnenwissen reicht für den Arbeitsalltag aus.“ Aufmunternd fügt sie hinzu: „Wir müssten unser Erfahrungswissen besser in die Forschung und Lehre einbringen“.

Die Tischnachbarin nickt zustimmend und verabschiedet sich dann mit einem leicht hingeworfenen „Bis später“.

Wieso habe ich denn jetzt schon wieder missioniert und für forschende Praktikerinnen geworben? „Ich müsste mir endlich selber einen Schubs geben und öffentlich reden“, murmelt sie selbstkritisch.

„….dass ich Sie anspreche. Könnte es sein, dass wir uns kennen?“

Aus dem Augenwinkel hat Agnes noch mitbekommen, dass ein Mann zu ihr gekommen ist und zu reden anfing, aber dass es ihr galt, bemerkte sie zuerst nicht. Mittelgroß, mit leicht grauem gepflegtem Bart, Jeans und irgendetwas Dunklem als Oberteil, nimmt sie wahr. Muss ich ihn kennen? Wieso spricht er mich hier an, denkt sie und sagt dann irritiert lächelnd: „Sorry, ich äh, ich wüsste jetzt nicht, wo ich Sie hinstecken soll“.

„Kann es sein, dass Sie am Tag vor dem Papstbesuch am Mariendom gestanden haben, alleine, und irgendetwas Rotes anhatten?“ – Als sie nicht antwortet, fährt er fort: „Es war ein wunderschöner, warmer Spätsommertag und die Atmosphäre flirrte von Wärme und Erwartung des Kommenden. Menschen waren wie in Trance in jenen Tagen. Ich übrigens auch.“

Dom, rote Kleidung, Papstbesuch, Sommerhitze – das war doch diese Fachtagung, bei der P. auch war. Und dieser Mann hier – was hat er damit zu tun. „Ich war im Trubel rund um den Dom. Das kann gut sein, dass Sie mich gesehen haben. Sind Sie für den Papst gekommen?“ hakt sie nach, um sich aus dem Erinnerungsfeld um P. herauszuziehen. Denn schon spürt sie wieder Anzeichen einer nahenden Sehnsucht.

„Nein, ich nicht, aber meine Frau. Ich habe sie nur begleitet. Ich saß auf den Treppenstufen und Sie waren um einiges weiter unten ans Geländer gelehnt.“ Ludwig nutzt die Schweigepause für einen ‚Bodyscan‘: aber lasziv ist sie nicht, eher unauffällig – und doch attraktiv. Ist sie schon über sechzig oder gerade so?

Der Mann hat ein gutes Gedächtnis, Donnerwetter, denkt sie. „Und was machen wir jetzt mit dieser Erkenntnis?“ Agnes tritt zwei Schritte zurück, um den an ihr vorbeiströmenden TeilnehmerInnen aus dem Weg zu sein. Sie zieht Ludwig leicht am Ärmel in ihre Richtung.

„Wir könnten mal schauen, ob es noch mehr Gemeinsamkeiten gibt“, antwortet er forsch mit Blick auf seinen Arm. Doch als er sie zusammenzucken sieht, schränkt er ein: „Später vielleicht. – Sie haben jetzt sicherlich etwas vor“.

Klar, meinen wahrscheinlich langweiligen Workshop zu Depressionen, denkt Agnes. Trotzdem möchte ich jetzt nicht mit diesem Bärtigen plaudern. „In welchen Workshop gehen Sie denn“, fragt sie vorsichtig, in der Hoffnung, dass es nicht „Depression“ ist. Nein, ist es nicht. – Sie fädelt sich in den Strom der Hörsaalsuchenden ein und lässt den ihr nachschauenden Ludwig zurück.

Agnes steht mitten im Impulsreferat zu „Depressionen“ auf, greift gleichzeitig Tasche und Jacke und bittet die Sitznachbarinnen, sie aus der Reihe treten zu lassen. Leise schließt sie die Hörsaaltür, vor der zwei Tagungshostessen mit den Headphones stehen. „Ich brauchte keine Übersetzung“, sagt sie auf die fordernde Geste der kleineren von beiden hin. Die größere lächelt freundlich, woraufhin Agnes ihr ein Kompliment über ihr Outfit macht. – Die Mädels sind seit 8 Uhr früh in Aktion, immer noch tadellos gekleidet und geschminkt, mit helfender Hand für alle desorientierten TeilnehmerInnen – und dann lächeln sie noch freundlich. Das könnte ich nicht, denkt Agnes während sie an den grauen Waschbetonwänden entlangläuft. So nett sein den ganzen Tag. – Zickig sei ich manchmal, launisch, himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt, kühl. Na ja, auch mal warmherzig und mütterlich. Und eine depressive Seite habe ich sowieso – die Sarah. Professor Huntington und seine Namensgebung verändern ihre zuvor selbstzufriedene Stimmung. Dieser Mistkerl! Ich heiße Agnes – wie die heilige Agnes mit dem Lämmchen, nicht wie eine Sarah aus der Bibel, zürnt sie innerlich.

Geistig ermüdet setzt sie sich auf einen Treppenabsatz, der die Vorhalle mit einem halben Plateau verbindet. Sie lehnt sich an das Geländer, hinter dem ein Tisch mit Getränkeflaschen und Gläsern steht. Eine Hostess schenkt ihr ungefragt Orangensaft ein – auch sie lächelt und Agnes lächelt zurück. Um sie herum wickelt sich das Backstage-Geschehen des Fachkongresse ab. Es wirkt auf Agnes als angenehm beruhigende Geräuschkulisse:

„Was für’n Dreck die hier immer machen“, hört sie eine Hostess sagen, „also das kann ich nicht verstehen. Also, die Gläser mit rein zu nehmen, anstatt die hier abzustellen. Die lassen die irgendwo auf dem Boden stehen, derweil kann man doch einfach zu dem Tisch da hingehen und die abstellen. Das ist doch kein Weg.“ „Ach sag mal“, beginnt eine andere Stimme, „guck mal der da vorne. Der sieht doch ganz nett aus. Ob das auch ein Psycho ist?“

Agnes dreht sich zu den Stimmen um und folgt dann deren Blicken. Zwei Hostessen schauen beide auf einen wuschelhaarigen Mitzwanziger, der aus einer Dreiergruppe junger Männer durch eine selbstbewusste Haltung auffällt. Und durch seinen eloquenten Redefluss, mit dem er die anderen unterhält. – „..diese Ausbildungsdebatte nimmt doch kein Ende. Seit Jahren wollen wir als PiA‘s2 ordentlich bezahlt werden, so wie die Ärzte in Ausbildung. Doch Bundesregierung und Lobbyisten und Ausbildungsinstitute und Kammern – alle diskutieren und feilschen und kommen nicht zu Potte. Doch jetzt tut sich endlich was, mit dem neuen Gesundheitsminister.“ Der Redner setzt sein Wasserglas auf dem Stehtisch ab, die Männer stapeln ihre Porzellanteller mit den Essensresten übereinander und wenden sich dann – weiter debattierend – dem Hörsaal ihrer Wahl zu. Sie werden aufgesogen im Strom der eilenden Nachzügler, welche die Nachmittagssonne im Vorhof zu lange genossen haben.

Agnes schaut ihnen nach wie einem Zug von Wildenten, die im Frühjahr und Herbst laut schnatternd über ihr Haus fliegen. Dabei verfängt sich ihr Blick am unruhigen Treiben vor dem Rezeptionstisch: Zwei Mitglieder aus dem Veranstalterteam räumen Papierstapel aus einem Trolley und übergeben diese der Hostess am Infostand. Sie weisen die Frauen an, jedem neu ankommenden Teilnehmer ein Paper an die Hand zu geben.

Ein Techniker tritt hinzu und fragt, ob er die Lüftung im großen Hörsaal wieder anstellen darf, denn man habe sich beklagt. „Wenn die Luft so schlecht ist, dann machen Sie dies bitte“, wird ihm geantwortet.

Die Leiterin des Cateringteams nimmt die Gelegenheit wahr, die Teammitglieder auf den Mangel an Servietten hinzuweisen, was aber nicht an ihnen läge. „Dann müssen die sich eben die Finger waschen gehen“, ist die Schlussfolgerung aus dem Hygienedefizit.

Die attraktive Frau vom Software-Stand lehnt sich nach ausführlicher Beratung eines Interessenten entspannt zurück und trinkt aus einem großen Pott mit Firmenemblem. Ihrer Miene nach zu urteilen ist der Kaffee kalt oder ungenießbar.

Agnes spürt jetzt die Kälte der steinernen Treppenstufe und schiebt sich die Kongressbroschüre unter den Po. Sie nippt am Orangensaft und kaut dann am Strohhalm, schaut gelegentlich aus einem Fenster in einen begrünten kleinen Innenhof. Dabei fallen ihr Therapiesitzungen mit depressiven Patientinnen ein: wie sie zusammengesunken auf dem Praxissofa sitzen und sich quälen mit dem veränderten „Ich“. Nichts geht mehr so richtig. So lethargisch, wie sie bei ihr sind, so antriebslos sind sie auch zuhause. Sie erkennen sich nicht mehr wieder und schämen sich dafür, dass sie jetzt so sind. Oft sind sie in Übergangsphasen, in denen Abschied nehmen und Loslassen von Menschen, Objekten oder Situationen angesagt wäre. Doch passiert dies nicht von alleine, ohne Mühe und innerer Auseinandersetzung. Zahllosen Gedanken muss gefolgt werden und sich vielen unterschiedlichen Gefühlen gestellt, bevor sichtbar wird, wie neue Wege aussehen könnten.

Agnes stellt das geleerte Glas neben sich, streckt ihr Rückgrat, wobei sie tief durchatmet. – Meine ‚Sarah‘-Erfahrungen helfen mir schon bei der Arbeit. Denn nur die Wissenschaft – nein, die reicht wahrlich nicht aus, um Menschen zu begreifen. - Agnes lässt den Blick absichtslos schweifen und bleibt dann an dem kleinen Bücherstand hängen, der hinter dem Getränketisch aufgebaut ist. Sie steht auf und geht zum Büchertisch, um den jetzt zur Vortragszeit nur wenige Interessierte stehen und blättern. Zur Buchhändlerin, die gerade einige Bände umgruppiert, sagt Agnes: „Es gibt so viele depressive Menschen in der Welt, so viele Fachbücher und Romane von hochdepressiven Frauen!“

Die Händlerin blickt irritiert hoch, überlegt einen Moment und sagt dann: „Denken Sie an Virginia Woolf? Oder die ‚Anna Karenina‘ von Tolstoi? – Die haben wir leider nicht am Stand hier.“

„Nein, nein, ich wollte nur…“ Agnes schüttelt den Kopf und macht eine ablehnende Geste der linken Hand. Die Buchhändlerin gruppiert ihre Bücher weiter und Agnes steigt die wenigen Stufen zur Vorhalle hinab, um sich von dem sonnigen Innenhof anziehen zu lassen. Weinlaub rankt sich eine rote Ziegelwand herauf. Der Geruch von frisch gemähtem Gras vermischt sich mit warmer Luft. Auf einer bequemen Holzbank sitzend, mit Spätsommersonne im Rücken, die Augen geschlossen, genießt Agnes ihre vortragsfreie Zeit.

„Grüß dich Agnes“, hört sie eine Männerstimme neben sich, während zwei behaarte Arme ihre Schulterpartie umfassen.

„Hasso, dich habe ich lange nicht mehr gesehen. Was machst du denn hier?“ fragt sie. „Das letzte Mal – ist genau ein Jahr her. Auf der prunkvollen 10-Jahres-Feier im Schloss.“

„Wir sind auf keinem der Fotos drauf, die verschickt wurden. Wo wir uns doch so gut unterhalten haben“, sagt er. „Und du sahst super aus in deinen Highheels und dem kleinen Schwarzen.“

„Ich war an dem Abend auch sehr, sehr glücklich. Alles hat gestimmt – die Wärme, der barocke Ort, die Menschen.“ Sie hatte an diesem Abend auch mit P. gesprochen. Doch will sie sich jetzt keinesfalls an ihn erinnern. „Und zwei Glas Sekt und ein halbes Glas Rotwein – das trinke ich auch selten an einem Abend. – Habe ich mich übrigens irgendwie daneben benommen?“ fragt sie.

„Ganz und gar nicht!“ antwortet ihr alter Freund und setzt sich neben sie auf die Bank. So sitzen sie Schulter an Schulter, eingebettet in den warmen Duft von Gras und Kräutern. „Der Minister war andauernd abgelichtet. Und der Hofstaat natürlich“, sagt er lachend. „Die haben den ganz schön hofiert, obwohl allen klar war, dass er die nächste Wahl nicht übersteht. – Aber so ging’s ja auch schon mit dem vorherigen. Mal sehen, ob sich der Neue länger halten kann.“

„Politische Lobbyarbeit kann ganz schön erschöpfend sein“, merkt sie an, „aber sie führt unseren Beruf in die Sphäre der Seriosität, die ihm zusteht. Hättest du das gedacht vor … 30 Jahren, als wir noch studiert haben, dass wir mal mit einem Minister an einem Tisch sitzen werden und unsere beruflichen Forderungen einbringen?“ Lachend korrigiert sie sich: “Na ja, wir zwei saßen ja nur am Katzentisch, aber immerhin.“

„Apropos“, beginnt Hasso mit leiser zögernder Stimme und blickt Agnes kurz an, bevor er langsam fortfährt: „Kann ich dir was sagen. Was Ernstes?“

Agnes Rücken versteift sich, doch sie nickt.

„Er hat eine Neue“.

Die Luft vereist im Brustkorb, im Magen lagert ein Stein. Sie blickt auf ihre Hände im Schoß: „Woher weißt du…?“

„Sein Vortrag letzten Monat in Köln.“

„Und wie ist sie?“

„Lange schwarze Haare. Zwanzig Jahre jünger sicherlich. Juniorprofessor.“

„Nein. Das kann nicht sein!“ Agnes holt tief Luft, streicht verwehte Haare aus der Stirn, steht auf und stellt sich vor Hasso. „Das glaube ich nicht. Die ist gar nicht sein Typ.“

„Woher willst du das wissen?“, fragt Hasso zurück. Denn Agnes hat ihm, als einzigem Kollegen, von P. erzählt – aber nie Details von möglichen Frauenbeziehungen erwähnt. „Warum glaubst du mir nicht? Warum sollte ich dich belügen. Es tut mir doch selber weh. Du weißt, wie sehr ich ihn dir gönne.“ – „Komm setz dich wieder“, sagt er und zieht sie an beiden Armen herunter auf die warme Holzbank. In seiner Jacketttasche findet er ein Herrentaschentuch, das er ihr reicht.

„Genug mit Sehnsucht und Tränen“, wagt er den Vorstoß. „Ich finde, du müsstest endlich mal Nägel mit Köpfen machen und dich outen“.

Agnes schnäuzt sich umständlich und schüttelt dann den Kopf. „Ich kann nicht. Wie soll ich das denn machen? – Außerdem bin ich viel zu alt, und nicht so hübsch, und keine Professorin und…“ Agnes merkt selber, dass ihre selbstmitleidigen Tiraden sie an konstruktivem Denken hindern.

Und Hasso befiehlt: „Wir lamentieren jetzt aber nicht, dazu ist das Wetter zu schön. Lass dir was einfallen.“ – „Du siehst ihn ja morgen“, fügt er hinzu. „Bis dahin ist doch eine Ewigkeit für kreative Einfälle.“

Agnes lächelt und legt ihre Hand auf seine rechte Schulter. „Du bist wirklich ein guter Freund“, sagt sie leise.

Sie gehen zurück zum Hauptgebäude. Als sie sich trennen, ruft er „Ciaou, Bella“ und wedelt stilsicher mit einer ausladenden Handbewegung einen leichten Kuss herüber.

Die Gesundheitspolitik hat ihn mir beschert, erinnert sich Agnes, während sie die grauen Flure entlang läuft zum Personenaufzug. Das waren Gefühle … unerklärlich. Etwas Vertrautes und Wärmendes vermischt mit einem Erschrecken wie vor einer Tsunamiwelle. Diese wenigen Minuten haben mich aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Ich kann mich an nichts weiter erinnern, außer an ihn. – Völlig verrückt. – Später erst sah ich ihn dann von nahem. Manchmal war sein Gesicht überzogen von einer eisernen Härte, die seinen eigentlich weichen Zügen übergestülpt erschien. Wie bin ich da zusammengezuckt! – Agnes drückt auf den roten Knopf, um den Aufzug zu rufen.

Ja, und dann fielen mir Fritz und Rainer ein. Die beiden haben mir damals auch so ein Herzklopfen bereitet. Äußerlich ähnelt P. wirklich dem Rainer. Schade, dass der in seinem kleinen Dorf versackt ist.

Agnes zieht aus ihrem inneren Bilderarchiv ein Leporello mit ihm und ihren ersten jungfräulich-erotischen Erfahrungen. Nach einer Weile klappt sie es zu.

Dann lässt sie einen Bilderbogen mit Fritz aufscheinen, dem P. vom Wesen her ähnlich ist: Ihr Sportlehrer im Turnverein verhalf mit vielem Augenzudrücken zum Fahrtenschwimmer-Abzeichen. Richtig Schwimmen konnte sie damals nicht, sondern strampelte irgendwie durch das gechlorte Wasser. – Er ist vergangenes Jahr gestorben, 600 Kilometer weit entfernt, und sie legte eine Blume an sein Grab.

Agnes schließt die Augen für eine Weile und spürt den Schatten, auch den auf ihrer Seele. – Der Klingelton der sich öffnenden Aufzugstür führt sie in die Wirklichkeit der Universitätsflure zurück. Sie steigt in den Aufzug und lässt sich tragen.