Die Rache - Sie haben nichts zu verlieren - Juan Gómez-Jurado - E-Book

Die Rache - Sie haben nichts zu verlieren E-Book

Juan Gómez-Jurado

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Beschreibung

Der neue Nr.-1-Bestseller von Spaniens erfolgreichstem Thrillerautor

Immer gewinnen die Gleichen. Es ist an der Zeit, die Regeln zu ändern.

Sie haben alles verloren, sogar die Angst. Und genau das macht diese drei Frauen so gefährlich: Aura, eine ehemalige Bankerin, der ein millionenschwerer Betrug zur Last gelegt wird. Mari Paz, eine Ex-Elitesoldatin mit Alkoholproblem, die seit Jahren in ihrem Auto lebt. Und Sere, eine geniale Informatikerin, die von ihrem Mann betrogen wurde und ein völlig isoliertes Leben führt. Gemeinsam planen sie einen Rachefeldzug, der die Welt auf den Kopf stellen soll. Der Plan scheint zum Scheitern verurteilt, doch die drei Frauen setzen alles auf eine Karte. Denn sie haben nichts zu verlieren …

»Nach dem unglaublichen Erfolg der Rote-Königin-Trilogie konnte ich mich nur auf eine Art bei meinen Lesern bedanken: indem ich einen noch besseren Thriller schreibe.« Juan Gómez-Jurado

»Halsbrecherisches Tempo, kurze Kapitel, unterhaltsame Nebenschauplätze, messerscharfe Beschreibungen – ein Pageturner, der großen Spaß macht.« The New York Times (über »Die rote Jägerin«)

»Juan Gómez-Jurado hat sich einen herausragenden Platz in der spanischsprachigen Literatur gesichert.« El País

»Ein neuer Goldstandard im Thrillergenre.« USA Today (über »Die rote Jägerin«)

»Juan Gómez-Jurado nimmt seine Leser unweigerlich für sich ein.« Booklist (über »Die rote Jägerin«)

»Die ungewöhnliche und spektakuläre ›Rote-Königin-Reihe‹ gehört sicherlich zu den aktuell besten europäischen Thriller-Serien.« krimi-couch.de

»Ein echter Pageturner. Handy ausschalten, den Abend freinehmen und sich einen gemütlichen Platz suchen. Sie werden das Buch nicht mehr aus der Hand legen.« krimi-couch.de (über »Der weiße Spieler«)

»Gómez-Jurado gelingt schlicht und einfach das größte Kunststück in der Geschichte des Thrillers.« ABC (über »Die rote Jägerin«)

»Gómez-Jurado ist der beste Thrillerautor Europas.« Literaturzeitschrift Zenda

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Seitenzahl: 508

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Buch

Aura Reyes führte bis vor Kurzem ein privilegiertes Leben – bis ihr Mann ermordet und sie selbst wegen millionenfachen Betrugs verurteilt wurde. In wenigen Tagen muss sie ihre mehrjährige Haftstrafe antreten. Doch was passiert dann mit ihren über alles geliebten Zwillingstöchtern? Auras einzige Chance, die Haftstrafe zu umgehen: Sie muss eine Kaution von einer halben Million Euro auftreiben.

In ihrer Verzweiflung heckt Aura einen tollkühnen Plan aus, der zum Scheitern verurteilt scheint. Hilfe bekommt sie dabei von zwei Frauen, die ebenso wenig zu verlieren haben wie sie selbst: der Ex-Elitesoldatin Mari Paz, die ein Alkoholproblem hat und in ihrem Auto lebt, und der Informatikerin Sere, die vor Kurzem ihren Job und ihre gesamte Familie verloren hat. Die drei Frauen haben eines gemeinsam: Sie fürchten sich vor nichts und niemandem mehr …

Weitere Informationen zu Juan Gómez-Jurado sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

JUAN GÓMEZ-JURADO

Die Rache

Sie haben nichts zu verlieren

Thriller

Aus dem Spanischen von Sybille Martin

Die spanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Todo arde« bei Ediciones B, Penguin Random House Grupo Editorial, Barcelona.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich Die Übersetzung dieses Werkes wurde gefördert durch Acción Cultural Española, AC/E.

Das Zitat stammt aus: Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln. Aus dem Englischen von Christian Enzensberger. © der deutschen Ausgabe Insel Verlag Frankfurt am Main 1974. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Insel Verlag Berlin.

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2024

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Juan Gómez-Jurado

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

LS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31000-4V001

www.goldmann-verlag.de

Für Babs

Erster Teil Aura

Es gibt Jahrzehnte,

in denen nichts geschieht,

und es gibt Wochen,

in denen sich Jahrzehnte abspielen.

Lenin

So weit sind wir gekommen.

Los Chichos

1 Ein Beginn

Alles, was geschehen wird – die Toten, die Flut der Schlagzeilen, die Veränderung, die das Land auf den Kopf stellt –, beginnt auf prosaische Weise.

Das ist nichts Ungewöhnliches. Die besten Geschichten beginnen harmlos. Ein Apfel ist verboten, ein anderer fällt einem Physiker auf den Kopf, und ein weiterer wird zum Logo für einen Computer. Kaum hast du dichs versehen, wurdest du aus dem Paradies vertrieben, hast das Gravitationsgesetz entdeckt oder eine milliardenschwere Firma gegründet.

Diese Geschichte beginnt nicht mit einem Apfel.

Diese Geschichte beginnt mit einer Shampoo-Flasche aus dem Mercadona-Supermarkt. Und nichts wird mehr sein wie vorher.

Einer Shampoo-Flasche – genauer zwei Flaschen – in den Händen von Aura Reyes.

Fünfundvierzig Jahre alt, Witwe, Mutter zweier wunderbarer, wirklich wun-der-ba-rer Mädchen. Im Begriff, eine folgenschwere Entdeckung zu machen.

Eine gewaltige sogar.

Eine derartige Entdeckung macht von einer Million Menschen nur einer in seinem ganzen Leben.

Aura ereilt sie unter der Dusche, als ihr das Wasser übers Haar läuft. Es ist so heiß, dass sich ihr Rücken langsam rot färbt. Aura starrt auf die beiden Flaschen und begreift, dass sich ihr Blick auf das Leben soeben für immer verändert hat.

Was kaum drei Stunden später zu einer Katastrophe von epischen Ausmaßen führen wird.

2 Eine Motorhaube

Als Aura mit dem Gesicht auf die Motorhaube des Streifenwagens schlägt, verwandelt sich ihre Wut in Angst.

Es ist nicht nur der heftige Aufschlag. Es ist das Zusammenspiel.

Auf ihrem Rücken das Gewicht des Polizisten, der sie auf die Karosserie drückt.

Sein Geruch, eine Mischung aus sportlichem Herrenduft, Automatenkaffee und noch etwas anderem (in wenigen Tagen wird Aura erfahren, dass es sich um Waffenöl handelt, aber dazu später mehr).

Die Kälte der Handschellen, das Geräusch beim Zuschnappen, ein doppeltes Knacken. Der Druck des Stahls auf den Knochen, schmerzhaft und unausweichlich.

Die Hitze des laufenden Motors steigt ihr in die Wangen. Der Druck der Motorhaube, die nur wenig nachgegeben hat, aber dringend wieder ihren ursprünglichen Zustand einnehmen möchte.

Die Scheinwerfer, die sich in den Schaufenstern spiegeln. Die Handy-Blitzlichter der Passanten auf der Calle Serrano, die grell in der Abenddämmerung aufleuchten, direkt in Auras weit aufgerissene Augen.

Die heisere Stimme des zweiten Polizisten, die Aura aus dem Chaos herausfiltern kann.

»Ihren Ausweis, Señora«, wiederholt er.

Mit wenig Luft in der Lunge, einem Knoten der Angst in der Kehle und einem staubtrockenen Mund ringt Aura nach Worten.

Dann hört sie sich ganz leise und mit fremd klingender Stimme sagen: »In meiner Handtasche.«

Die noch über ihrer Schulter hängt, weshalb der Polizist kurz eine Handschelle lösen muss, um sie ihr abzunehmen. Aus purem Fluchtinstinkt ballt Aura die Fäuste. Der Druck des Polizisten wird stärker. Kleine Erinnerung an ihre Wehrlosigkeit.

Das Leder der Tasche – eine echte Prada Tote Bag, Herbst-Winter-Kollektion 2019 – verursacht ein dumpfes Geräusch, als sie auf der nassen Motorhaube landet. Der Polizist hat keine Eile und ist sehr darauf bedacht, dass die Verhaftete sieht, wie er in ihren persönlichen Dingen herumwühlt.

Demokratie fünf, Würde sechs, denkt Aura.

Ein Lippenstift kullert – mit rasendem Dior-Logo – direkt an ihrer Nase vorbei und fällt zu Boden.

Aura will schon protestieren – mehr bleibt ihr nicht –, aber die Stimme des zweiten Polizisten hindert sie daran.

»Señora, wir haben Ihre Identität überprüft und festgestellt, dass ein Haftbefehl gegen Sie vorliegt.«

Der Polizist lockert seinen Griff und hilft ihr, sich aufzurichten. Als hätte die Tatsache, dass sie eine strafrechtlich verfolgte Kriminelle ist, ihre unmittelbare Gefährlichkeit verringert. Wie wenn du einen Nespresso-Laden betrittst und siehst, wie der Gesichtsausdruck der Verkäuferin sich verändert, wenn du ihr deine Kundenkarte hinhältst. Sie will keinen Gratiskaffee, sie ist Stammkundin.

Mit dem Polizisten geschieht das Gleiche. Er zieht ihr sogar die Jacke glatt, die sich durch seinen Griff auf dem Rücken zusammengeschoben hatte. Und er ist so aufmerksam, ihren Lippenstift aufzuheben.

Aura dreht sich um und versucht, sich zu beruhigen, mit ihnen zu reden. Schließlich ist es ihre große Stärke, Menschen zu überzeugen.

»Das Geld wird in den nächsten drei Wochen überwiesen«, sagt sie, auf den Wagen gestützt.

Sie streckt den Rücken durch und versucht – vergeblich –, das Bild einer vorbildlichen Bürgerin abzugeben.

Der Polizist, der sie auf den Wagen gedrückt hat, ist ein großer junger Mann mit Kindergesicht. Er dreht sich um und betritt den Laden, im Zickzack, um die Glasscherben herum. Der andere, klein und korpulent, lässt Aura nicht aus den Augen, wobei er auf ihren Ausweis klopft.

»Können Sie mir erklären, was da drin passiert ist, Señora?«

Aura wirft einen Blick auf das kaputte Schaufenster, als würde sie es zum ersten Mal sehen.

Eine der Neonleuchten flackert schwach, dann reißt das letzte Kabel, und sie landet krachend auf dem Bürgersteig.

»Ein Missverständnis, Señor.«

Der Polizist nickt und schüttelt die Glassplitter von seinem Stiefel. Kann jedem mal passieren, sagt sein Gesicht. Das zwar nicht freundlich, aber verständnisvoll wirkt. Ein Schulterzucken, im Sinne von: Es regnet in Madrid, aber alles nimmt seinen gewohnten Lauf.

»Soso. Na, das können Sie dann dem Richter erklären.«

Die Sonne ist bereits untergegangen, und die Straßenlaternen sind an, nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt, einem Richter vorgeführt zu werden. Das weiß Aura, der Polizist ebenfalls. Und genau das macht Aura Angst. Wegen der sehr realen Handschellen und der Waffe am Gürtel des Polizisten. Wegen der Stroboskoplichter, die sie blenden und ihre Gedanken nur auf eines fokussieren.

Was auch immer geschieht, ich darf diese Nacht nicht im Knast verbringen.

»Ich habe nichts getan.«

Der Polizist nickt erneut. Ein weiteres Schulterzucken, im Sinne von: Meine Liebe, ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, um dich wieder glücklich zu machen.

»Das höre ich zum ersten Mal, Señora.«

Er ergreift ihren Arm. Dieser unvermittelte Körperkontakt verschlägt ihr die Sprache und steigert die Angst.

Sie sagt nichts.

Sie erklärt nichts. Sie argumentiert nicht.

Sie windet sich, kämpft und schreit.

»Meine Töchter! Meine Töchter!«

Mehr Blitzlichtgewitter, mehr Gelächter. Endlich haben sie ihr Spektakel, ihr Foto für die WhatsApp-Gruppe, ihre Story auf Instagram. Hashtag #Serrano. Hashtag #BekloppteTussi.

Am meisten beklatscht wird der Moment, als man sie am Nacken packt, damit sie sich beim Einsteigen nicht den Kopf stößt.

Erfolglos.

Kraftlos und mit verschwommenem Blick sackt Aura auf dem Rücksitz in sich zusammen. Das Türzuschlagen, das ihr Schicksal besiegelt, ist das Letzte, was sie hört, bevor sie das Bewusstsein verliert.

3 Eine Überstellung

Wenige Minuten später kommt sie wieder zu sich. Im Rückfenster zeichnet sich kurz der mächtige Schatten der Puerta de Alcalá ab, bevor der Streifenwagen wieder losfährt und nur noch der schwarze Himmel von Madrid zu sehen ist. Unterbrochen von der einen oder anderen Straßenlaterne, während sie die Calle de Alcalá Richtung Paseo de Recoletos fahren.

»Sind Sie in Ordnung?«

Der Polizist hat sich mit echtem Interesse zu ihr umgedreht. Vielleicht fühlt er sich schlecht, weil er ihren Kopf auf die Motorhaube gedrückt hat. Obwohl das auch ihre Schuld gewesen ist, denn sie hatte sich wie eine Besessene gewunden.

»Wo bringen Sie mich hin?«

»Das wissen Sie.«

»Nein, das weiß ich nicht.«

Und das ist die Wahrheit. Sosehr die Polizisten auch davon überzeugt sein mögen, dass sie eine Kriminelle ist, handelt es sich doch um Auras erste Verhaftung. Sie hat keinerlei Erfahrung, was sie tun soll, wie sie sich verhalten soll oder, was noch viel nötiger wäre, wie sie die Ruhe bewahren soll.

Mach nicht denselben Fehler wie vorhin, denkt sie. Von den Mädchen dürfen sie nichts erfahren.

Tief einatmen. Das innere Gleichgewicht finden. Die Worte gehen ihr durch den Kopf, direkt von einem Mindfulness-Video, das sie auf YouTube gesehen hat.

Problematisch wird es, als die Achtsamkeit übertönt wird von der lauten Stimme des Polizisten, der auf einen Funkspruch reagiert.

»Verstanden, Zentrale. Wir sind auf dem Weg zur Plaza Castilla. Ein kurzer Zwischenstopp ist kein Problem.«

»Danke, Z-50. Ende der Durchsage«, verabschiedet sich eine Frauenstimme.

Auf dem Rücksitz nimmt Auras Gehirn die Information auf, wie man einen unerwünschten Gast empfängt. Eine Cousine, die mitten in der Nacht klitschnass vor der Tür steht und die man auf dem neuen Sofa übernachten lassen muss.

»Ich kann nicht ins Gefängnis«, flüstert sie.

Die Polizisten scheinen sie nicht zu hören. Also wiederholt Aura den Satz lauter. Und drückt ihr schweißnasses Gesicht an die Scheibe, die sie von den Vordersitzen trennt.

Der große Polizist dreht sich um und klopft gegen das Glas, um Aura auf einen rot-schwarzen Aufkleber aufmerksam zu machen.

Dieser Wagen verfügt über Spezialsitze. Undurchlässig für Erbrochenes, Blut, Urin oder andere Flüssigkeiten. Danke.

»Legen Sie es nicht darauf an, Señora. Denn das müssen wir saubermachen.«

Aura muss an den Kauf ihrer Mikrowelle denken. Beim Lesen der Bedienungsanleitung blieb ihr Blick zufällig an einem Satz hängen: Es wird dringend davor gewarnt, lebende Katzen in das Gerät zu stecken.

Als sie das gelesen hatte, musste sie dieselbe Übung machen, zu der sie sich jetzt gezwungen sieht. Sie liest die vierzehn Wörter und nimmt sich einen Augenblick Zeit, um einzuschätzen, in welcher Abteilung des Universums ein solcher Hinweis nötig ist. Welche Art von Menschen auf diesem Rücksitz landen. Mit wem die Personen auf den Vordersitzen gewöhnlich zu tun haben.

Die Antwort ist entmutigend.

Nichts, was sie zu den Polizisten sagt, wird deren Meinung ändern. Nichts wird sie anhalten und Aura aussteigen lassen. Nichts wird sie daran hindern, sie in ein Kommissariat zu bringen, um ihre Aussage aufzunehmen (was im Rechtsstaat bedeutet, absolut gar nichts zu machen).

Nein, nichts wird sie daran hindern, sie vor Gericht zu bringen, wo sie weiß Gott wie lange in Untersuchungshaft sitzen wird.

»Señora, sind Sie in Ordnung?«

Wieder dieser aufrichtig besorgte Blick des Beamten. Aura fühlt sich betrogen. Es wäre einfacher, wenn der Polizist ein fieser, boshafter Mann wäre, der sie verächtlich und grausam behandelte. Es würde helfen, die Welt in zwei komfortable Hälften einzuteilen und sich selbst auf der richtigen Seite der gut sichtbaren Linie zu wähnen.

»Frag sie, ob wir jemanden benachrichtigen sollen«, sagt der Kollege, der kleinere und erfahrenere, der sie im Rückspiegel beobachtet.

»Sie hat vorhin ihre Töchter erwähnt. Sind Ihre Töchter gut versorgt, Señora Reyes?«

Die Augen des älteren Polizisten im Rückspiegel verengen sich leicht. Aura ist sich des Schweigens, das sich im Wagen ausbreitet, schmerzlich bewusst, untermalt vom Brummen des Motors. Sie stehen im Samstagabendstau auf dem Paseo de la Castellana, und die anderen Fahrer starren neugierig in den Streifenwagen. Aura spürt Hunderte auf sie geheftete Blicke, die auf eine Antwort warten.

»Ja, natürlich. Sie sind bei meiner Mutter.«

Die Lüge kommt ihr leicht und spontan über die Lippen. Ein Abglanz der alten Aura, bevor geschah, was geschehen ist. Mit einer Stimme voller Wärme und Überzeugung, die dich dazu bewegen könnte, mit einer einzigen Unterschrift deinen gesamten Besitz und das Blut deines Erstgeborenen aufs Spiel zu setzen.

Nicht annähernd so gut wie die alte Aura. Aber gut genug, wie es scheint.

»Wollen Sie sie nicht anrufen?«, fragt der junge Polizist. »Ich kann Ihnen mein Handy leihen.«

»Rodríguez!«, ermahnt ihn der ältere.

»Was denn, es ist doch nur ein Anruf.«

»Das kann sie auch nach ihrer Ankunft machen; dafür gibt es schließlich Vorschriften.«

»Ich habe eine Flatrate.«

Der Ältere schnaubt, was seine Meinung über Flatrates – im Allgemeinen – und über Rodríguez’ Angebot – im Besonderen – kundtut.

Aura nutzt die kleine Ablenkung, um sich zurückzulehnen und auszuatmen, weil sie die Luft angehalten hat. Ganz, ganz langsam. Während sich ihre Lunge entleert, brüllt Aura innerlich, was sie um jeden Preis verheimlichen will.

Nämlich:

Dass die Mädchen allein zu Hause sind. Dass die Großmutter eher eine Gefahr denn eine Hilfe darstellen würde, wenn sie bei ihnen wäre. Dass sie erst neun Jahre alt sind, dass sie schon eine Weile auf sie warten, um gebadet zu werden und ihr Abendessen zu bekommen. Dass sie ihnen gesagt hat, sie würde nur kurz was besorgen. Dass sie inzwischen halb tot vor Angst sein dürften. Dass es unverantwortlich von ihr war, sich aus Angst und Stolz in diese Situation gebracht zu haben. Dass sie aus diesem Streifenwagen rausmuss, zu ihnen zurückkehren muss, was auch immer, um sie in Sicherheit zu bringen. Dass sie niemanden hat, den sie benachrichtigen kann, niemanden, dem sie wirklich vertrauen kann. Dass ihr ganzer Körper zu ihren Töchtern strebt, dass er förmlich darum fleht, mit dem innerlichen Geschrei aufzuhören und stattdessen laut zu schreien, oder was auch immer nötig ist, um sie zu überzeugen, um zu entkommen.

Stumm innerlich zu zerbrechen ist ihre einzige Option. Denn wenn sie die Wahrheit sagt, wenn einer dieser – leider – freundlichen Gesetzeshüter auch nur argwöhnt, dass zwei neunjährige Mädchen verängstigt allein zu Hause sind, würden sie keinen Moment zögern und die Tür eintreten.

Und was in weniger als drei Wochen passieren würde, wenn das Jugendamt von ihrer Situation erfährt …

Adiós, Mami.

Aura bleibt keine Zeit, sich in Dunkelheit und Angst zu verlieren, denn der Streifenwagen biegt in die Avenida de Alberto Alcocer ab und hält nur einen Häuserblock vom Paseo de la Castellana entfernt. Der junge Polizist dreht sich mit einem angespannten Lächeln der Entschuldigung zu ihr um.

»Ich hoffe, es stört Sie nicht, Gesellschaft zu bekommen, Señora.«

Als Aura zum Fenster hinausblickt, kann sie nicht fassen, was da auf sie zukommt.

4 Ein pulsierender Bass

Vor dem San-Fernando-Garten gibt es einen kleinen Tumult. Zwei Streifenwagen stehen quer auf der Straße und blockieren den Verkehr Richtung Westen. Der mit Aura wendet verbotenerweise in der Calle del Doctor Fleming und hält zwischen den beiden anderen. Als Aura sich umdreht, sieht sie, wie ein Körper gegen die Karosserie prallt.

»Taxi!«

Selbst durch das geschlossene Fenster ist zu hören, dass die Frau betrunken ist. Die Bestätigung erfolgt, als ein weiterer Polizist die Tür öffnet und die soeben Festgenommene nicht ohne Mühe auf den Rücksitz bugsiert. Eine Dunstwolke aus billigem Wein und Schweiß erfüllt die Luft, als die vollkommen betrunkene Frau auf den Rücksitz plumpst und Aura zur Seite drückt.

Die beinahe aus dem Wagen kippt, weil eine Polizistin die andere Tür öffnet, sich ins Wageninnere beugt und Aura samt der auf ihr hängenden Betrunkenen Handschellen anlegt.

»Das ist nicht nötig«, sagt der ältere Polizist.

»Also wirklich, Bustos. Du weißt doch, was die immer für ein Theater macht.«

»Ja, weiß ich. Ist aber trotzdem nicht nötig.«

»Und wenn sie abhauen will?«

»Wird sie nicht weit kommen.«

»Dann also für den Fall der Fälle. Wir fahren ins Kommissariat zurück, okay? Ist schon spät.«

Besagter Bustos nickt und startet den Wagen, noch bevor seine Kollegin die Tür zugeschlagen hat.

Die an die Tür gedrückte Aura versucht zu erkennen, wen, zum Teufel, man ihr gerade ans Handgelenk gefesselt hat.

Es handelt sich um ein achtzig Kilo schweres Bündel – obwohl Aura das Gefühl hat, es seien eher achthundert Kilo.

Sie trägt eine braune Twill-Jacke, ein T-Shirt, das mal weiß war, eine schwarze Hose und abgetragene Stiefel. Mit unterschiedlichen Schnürsenkeln – runde rote am linken, flache grüne am rechten Stiefel –, wie Aura gut erkennen kann, weil die Frau die Füße ans Fenster gestützt hat.

Das Gesicht der Unbekannten kann sie nicht erkennen, denn ihr Kopf liegt auf Auras Brust, als wäre Aura kein menschliches Wesen, sondern ein Kissen, das ihr die Fahrt so gemütlich wie möglich machen soll.

»Fahrer«, ruft die Frau mit starkem galicischen Akzent.

»Was ist?«, fragt der Polizist und geht damit auf das Spiel ein.

»Fahren Sie die Calle Padre Damián hoch, das geht schneller«, sagt sie unter Schluckauf.

Aura rümpft angewidert die Nase. Der Kopf der Frau befindet sich auf Höhe ihres Kinnes, und das Haar riecht schmutzig und fettig. Sie versucht, sie wegzudrücken, aber genauso gut könnte sie versuchen, einen Container voller Schutt wegzuschieben.

»Entschuldigung. Entschuldigung!«

»Sei so gut und benimm dich, Mari Paz«, sagt der junge Polizist, ohne sich umzudrehen.

Die Angesprochene reagiert nicht, sondern macht es sich noch gemütlicher. Gleich darauf schnarcht sie wie ein Drache im Winterschlaf.

Aura versucht, sich darüber hinweg Gehör zu verschaffen, doch die Polizisten hören sie nicht. Zum Glück ist die restliche Fahrt nur kurz. Nach wenigen Minuten fährt der Streifenwagen auf den Parkplatz eines riesigen, heruntergekommenen Gebäudes.

Was folgt, erlebt Aura wie in einem bösen Traum oder einem hellsichtigen Albtraum, erleuchtet vom billigen Neonlichtflackern aus dem Ein-Euro-Laden.

Sie sieht, wie sie aus dem Auto gezogen und von der Betrunkenen befreit wird, um anschließend höflich, aber bestimmt in einen winzigen Raum geführt zu werden, der wie ein Fotostudio wirkt. Nicht viel anders als das, in dem sie mit ihrem Mann – er möge in Frieden ruhen – die Hochzeitsfotos hat machen lassen. Vor fast zwanzig Jahren. Schlicht, feucht und ausgestattet mit Möbeln, die schon in den Neunzigern altmodisch waren. Und einem Fotografen mit Schnurrbart, der kein einziges Mal lächelt.

Es gibt nur zwei Unterschiede. Der Fotograf trägt einen weißen Kittel, und der Hintergrund besteht nicht aus roten Vorhängen mit zwei Plastikpflanzen, sondern aus einer Wand mit horizontalen Linien und Maßangaben. Ein Beamter, ebenfalls im Kittel, hebt Auras Kinn, um sicherzustellen, dass sie in die Kamera blickt. Desgleichen überprüft er ihren Hals unter dem langen Haar, fragt, ob sie vom Hals aufwärts Tätowierungen habe, und führt sie zu einem Tisch, um ihre Fingerabdrücke zu scannen. Der Scanner funktioniert nicht, weshalb er ihre Fingerkuppen mit blauer Tinte einfärbt.

»Die schwarze ist uns ausgegangen, tut mir leid«, entschuldigt er sich mit einem Achselzucken.

Aura will gerade antworten, sie werde sich darum kümmern, er solle unbesorgt sein, ein andermal. Aber schon wird sie aus dem Raum geführt, während die beiden Polizisten (Bustos und Rodríguez, unvergesslich) die Betrunkene hereinbringen, die so weit wach ist, dass sie auf die Männer gestützt hineinschlurfen kann. Sie ist einen Kopf größer als einer der Männer, was das Ganze nicht einfacher macht.

»Verflucht, ist die schwer!«

Aura fragt sich, wie sie die Frau fotografieren wollen – vielleicht im Liegen, wie auf dem Bild Joven decadente von Ramón Casas. Bevor sie das Rätsel lösen kann, hat sie sie aus den Augen verloren. Plötzlich befindet sie sich in einem dieser Filme, in denen die Protagonistin nicht die Füße bewegt – denn sie steht auf einer Plattform mit Rädern, die man in der Großaufnahme nicht sieht –, während die Kamera auf ihr Gesicht fokussiert ist.

Alles um sie herum geschieht sehr schnell, mit dem pulsierenden Bass aus »Jump into the Fire« als Hintergrundmusik, denn jemand hat Einzelaufnahmen von ihr gemacht, damit die Erfahrung noch sinnestäuschender, noch verrückter wirkt.

Der Raum, in den sie zwei Stunden lang zusammen mit zwanzig weiteren Personen gepfercht ist; die Beamtin, die ihnen befiehlt, sich nach Geschlechtern unterteilt im Flur aufzustellen; die Einzeluntersuchung in einer winzigen Zelle, wo eine Beamtin mit Latexhandschuhen sie zwingt, sich auszuziehen, und in ihrem Schritt herumfingert, sie dann einen Moment anstarrt, bevor sie von einer genaueren Untersuchung absieht, der sie, daran hat Aura keinen Zweifel, jede andere Frau unterziehen würde; der Weg ohne BH, ohne Gürtel, ohne Handtasche, ohne Mantel, aber mit der Demütigung ins gerötete Gesicht geschrieben, in einen jetzt fast leeren Flur; der Gang durch ein Labyrinth aus Stufen und Gittern im Halbsouterrain, mit Linoleumboden und Wänden, die kotzgrün und schlammgrau gestrichen sind; der einzige Halt vor einem Plastiktisch mit Coca-Cola-Logo, wo eine junge Beamtin ihren Papieren entnimmt, dass sie in Zelle 11B kommt.

Schließlich setzt die Musik aus, und hinter ihr schließt sich eine Metalltür.

Mit Widerhall und allem.

5 Eine Zelle

Tage später wird sich Aura Reyes – mit einem Pistolenlauf vor der Nase und blutverspritztem Gesicht – an diesen Moment in Zelle 11B im Untersuchungsgefängnis der Plaza Castilla erinnern als den Tag, an dem sie ihren schlimmsten Fehler begangen hat.

Jetzt weiß sie natürlich noch nicht, dass sie ihn gleich begehen wird. Denn eigentlich kann sie gerade an gar nichts denken.

Jegliches vernünftige Denken ist der Kälte, dem Hunger und der Angst gewichen.

Ihr ist eiskalt, weil die Bluse viel zu dünn ist. Und den Mantel hat die Beamtin einbehalten, zusammen mit allem anderen, was ihr jetzt dienlich wäre, um sich das Leben zu nehmen.

»Letzte Woche hat sich einer mit seinem T-Shirt aufgehängt. Damit es nicht reißt, hat er es vorher nass gemacht.«

Sie ist halb tot vor Hunger, denn sie hat seit gut zwölf Stunden nichts gegessen. Die Beamtin hat ihr verstohlen und mit vielsagender Miene – Das bleibt unser Geheimnis – eine Packung Kekse in die Hosentasche geschoben.

»Vor acht gibt es keine Bocadillos. Sonntags gibt es immer Bratwurst.«

Sie ist halb tot vor Angst. Es ist ihre erste Nacht hinter Gittern.

Die erste von vielen, sagt sie sich kopfschüttelnd.

Die Zelle hat kaum zwölf Quadratmeter. Sie ist zweifarbig gestrichen, genau wie der Flur. Aber hier spürt man die Kreativität und die endlose Freizeit der Häftlinge, die die Wände mit den unterschiedlichsten Zeichnungen verschönert haben. Penisse, Hakenkreuze in allen Größen und Farben, Totenschädel. Das Beste aus jedem Haus. Akribisch mit den Fingernägeln in den Putz geritzt, mit dem Feuerzeug eingebrannt, mit dem Kugelschreiber gemalt.

Die Luft ist stickig und stinkt nach Schweiß und etwas anderem, das Aura nicht benennen kann. Das Mobiliar entspricht der Klientel. An einer Wandseite eine Betonbank. In einer Ecke eine Kloschüssel aus rostfreiem Stahl, ohne solch unnötigen Luxus wie Trennwände oder Toilettenpapier.

Bei ihrem Anblick spürt Aura, dass sie mal muss. Ziemlich dringend. Aber das ist gerade ungünstig. Drei Frauen umringen eine vierte, die unbekümmert mit dem Slip an den Knöcheln auf dem Klo hockt. Alle vier lachen und erzählen sich Anekdoten.

Für den Augenblick verzichtet Aura. Sie sucht sich einen Sitzplatz, um in Ruhe die Kekse zu essen.

Was nicht so einfach ist.

Die linke Wand wird von den vier Latinas in Beschlag genommen. Das hintere Ende der Zelle ist auch nicht geeignet. Auf der Bank stehen zwei Frauen und rufen etwas durch ein vergittertes Rechteck unterhalb der Decke. Aura kennt die Sprache nicht. Von der anderen Seite sind Stimmen und gedämpfter Straßenlärm zu hören, weshalb Aura vermutet, dass es sich um ein Fenster nach draußen handelt.

»Hey, du da. Komm doch zu uns, Schätzchen«, ruft die Frau auf der Kloschüssel.

»Die Yoni hat Schnupfen. Sie braucht viel Gesellschaft«, sagt eine andere und lacht schallend.

Aura hat noch nie in ihrem Leben eine drogensüchtige Person gesehen, ist aber davon überzeugt, dass diese drei die typischen Anzeichen aufweisen. Gerötete Augen, entstelltes Gesicht, Schweiß. Brüske Bewegungen. Lockeres Mundwerk, ebenso das Lachen.

Sie macht ihnen ein Zeichen, das respektvoll sein soll, und geht zur anderen Zellenwand.

»Hey, Tussi, wo willst du denn hin?«

»Sie will dir nicht helfen, Yoni.«

Die rechte Wand ist fast frei. Dort liegt nur ein großes Bündel auf der Betonbank. Die Neonröhre auf dieser Seite ist durchgebrannt, und die gegenüber gibt ebenfalls bald den Geist auf. Aber Aura braucht kein Licht, um die Mitfahrerin aus dem Streifenwagen wiederzuerkennen.

Selbst mit der Twill-Jacke über dem Kopf – ihr hat man sie nicht weggenommen, Aura fragt sich, wieso – ist das Schnarchen unverwechselbar.

Aura setzt sich auf den restlichen Platz zu ihren Füßen. So nah wie möglich bei der Tür, um schnell rauszukommen, wenn sie aufgerufen wird.

Sie öffnet vorsichtig die an ihre Brust gedrückte Kekspackung und beginnt sie mit gesenktem Kopf zu essen. Sie denkt an die Mädchen. Aura hat schon immer eine überbordende Fantasie, Frucht ihrer maßlosen Romanlektüre. Was sie bisher für einen Vorteil gehalten hat.

Bisher.

Denn plötzlich kann sie nur noch an all das denken, was ihren Töchtern passieren könnte. Sie sind so neugierig, so zappelig und zerstreut. Sie versucht sich zu erinnern, was es in der Wohnung zu essen gibt. Was leicht zuzubereiten ist, was keinerlei Mühe macht. Vor allem, ohne den Herd zu benutzen. Oder schlimmer noch, den Backofen. Im Geiste geht sie den Inhalt des Kühlschranks (fast leer) und den des Vorratsschranks (voller Spinnweben) durch. Sie kann sich lediglich daran erinnern, was es zum Abendessen gab. Die Spinatpizza, die sie so mögen. Die von irgendeinem Doktor.

Und natürlich sieht sie ihre Töchter vor sich.

Wie sie den Backofen einschalten – das haben sie Mama schon oft tun sehen.

Aber dieser Backofen ist nicht wie der in unserem früheren Haus

(das nicht mehr unser Haus ist).

Er hat nicht diese schöne Leiste in LED-Farben mit klaren Hinweisen und automatischer Abstellfunktion. Der Backofen in der Wohnung der Großmutter

(die jetzt unsere Wohnung ist)

ist ein weißer Herd aus dem letzten Jahrtausend, dessen Knöpfe vom vielen Gebrauch unleserlich geworden sind. Leicht hat man den Grill statt Ober- und Unterhitze angestellt. Ganz zu schweigen vom Timer. Der funktionierte schon nicht mehr, als die Zwillingstürme einstürzten. Du hast am Knopf gedreht und darauf vertraut, dass es in zwanzig Minuten klingelt, du hast sein lästiges Ticken gehört und konntest dich in der Zwischenzeit ausruhen.

Sie stellt sich die rauchende Pizza und den brennenden Backofen vor und wie die Mädchen versuchen, den Brand mit bloßen Händen zu löschen. Sie stellt sich Verbrennungen dritten Grades vor und keinerlei Möglichkeit, die Feuerwehr zu rufen. Denn sie sind noch zu klein für ein Handy, und auf das Festnetz verzichtet sie schon seit Längerem. Ebenso wie auf Süßigkeiten, das HBO-Abo und eine Million anderer Dinge, die das Leben früher erträglich gemacht haben und die sie für selbstverständlich gehalten hatte.

»Hey, Tussi, hallo!«

Aura erwacht aus ihrem Albtraum und blickt auf. Vor ihr steht die Frau vom Klo.

»Was isst du da, Tussi?«

Aura lässt die Hand mit der halb vollen Kekspackung sinken und wägt ihre Möglichkeiten ab. In einem Film wäre die Antwort klar. Der Frau ins Gesicht schlagen, um ihr klarzumachen, dass sie mit ihr keine Spielchen spielen kann, und all das. Sich durchsetzen.

Aber das ist kein Film.

Das ist das wahre Leben.

Sie lässt ihren Blick über besagte Yoni gleiten. Enge Lederhose, fast platzendes T-Shirt, Riesenbrüste. Auch wenn Aura einen Kopf größer ist, ist sie fünfzehn Kilo schwerer. Und hinter ihr stehen die drei anderen Frauen, die sie nicht aus den Augen lassen.

Also tut sie das Einzige, was sie tun kann.

Sie gibt ihr die Kekspackung.

Wortlos.

Yoni schenkt ihr ein wölfisches Grinsen und macht sich über die Kekse her. Sie stopft sich immer drei auf einmal in den Mund, wobei mehr herunterfällt, als sie kauen kann.

Aura hat das Gefühl, wieder sieben Jahre alt zu sein und eine Folge Sesamstraße zu sehen. Nur hat das Krümelmonster kein blaues Fell, sondern verfilztes schwarzes Haar.

Aura weiß, dass die Frau keinen Hunger hat. Dass sie die Kekse nur isst, weil sie es kann.

Die Frau lässt die Verpackung fallen, rülpst zufrieden und zieht mit ihren lachenden Freundinnen wieder ab.

Aura schließt die Augen und schluckt die Demütigung hinunter. Sie versucht zu schlafen, aber es ist unmöglich. Ihre Gedanken rasen. Selbst als eine halbe Stunde später das letzte Neonlicht ausgeht, fällt sie nur in einen unruhigen Dämmerschlaf.

Aus dem sie von der Stille gerissen wird.

Die Frauen, die zum Fenster hinausgerufen haben, sind endlich verstummt. Die anderen ebenfalls.

Im Halbdunkel wird ihre traurige Lage immer größer, sie spitzt sich zu. Die einzige Lichtquelle in der Zelle ist der Streifen unter der Tür. Da sie nichts sehen kann, schärft Aura ihre anderen Sinne. Die Kälte in der Zelle. Der Gestank, eine Mischung aus Urin, Feuchtigkeit und nackten Füßen. Die Atmung der Insassinnen, die Geräusche, die ihre Körper in der unbequemen Dunkelheit verursachen.

Wäre Verzweiflung etwas Physisches, bestünde sie gewiss aus dem Gefühl von Last auf Auras Herzen.

Nein, Aura schläft nicht. Deshalb bemerkt sie als Erste, dass sich am anderen Zellenende Schatten bewegen. Sie spürt es in den Eingeweiden.

Ein ähnliches Gefühl hatte sie vor Jahren schon einmal. Am Ende war ihr Mann tot, und sie wäre vor den Zimmern ihrer Töchter fast verblutet. Damals hat sie zu spät und falsch reagiert. Wie eine Frau in einem Reichenviertel eben, die glaubte, Monster lebten nur auf der anderen Seite einer undurchdringlichen Decke, die aus Geld und Demokratie gewebt ist.

Die Decke war voller Löcher.

Diesmal reagiert Aura anders. Sie streckt sich, spitzt die Ohren, starrt auf den Boden. Im schwachen Lichtstrahl unter der Tür bewegen sich Schatten auf sie zu.

6 Ein Fehler

Aura steht auf, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Da hört sie das Flüstern.

»Wo ist sie?«

»Direkt vor dir, Schätzchen.«

»Gib’s ihr, gib’s ihr schon.«

Es folgen Gerangel und ein Geräusch. Sie hört etwas, das klingt, als würde ein Sack über den Boden geschleift. Dann ein Luftzug.

»Was macht ihr da?«

Ihre Stimme klingt seltsam. Zittrig und kindlich. Es sind die ersten Worte, die sie seit Betreten der Zelle spricht, zur Einschüchterung wenig geeignet.

Aber die Schatten halten inne.

Die folgende Stille ist lastend und brodelnd wie eine Suppe, die zu lange auf dem Herd stand.

»Geht dich nichts an, Tussi«, sagt eine Stimme aus der Dunkelheit.

Aura spürt die Frauen um sich herum. Sie hört wieder das Gerangel, ganz nah, und begreift endlich, was hier vorgeht. Die Schatten sind eine Bedrohung, ja, aber nicht für sie.

Sie haben es auf die Betrunkene abgesehen.

»Ich rufe die Schließerin.«

Die Schatten halten erneut inne.

»Gib mir das Feuerzeug«, bellt eine andere Stimme.

Es folgt ein Klicken. Und nah an Auras Kopf flackert plötzlich eine Flamme, was sie zurückzucken lässt. Im Lichtschein des Feuerzeugs Yoni, die sie anstarrt. Im Flackern der Flamme wirken ihre Augen – perfekt geschminkt, wie Aura sehen kann – wie zwei glänzende Schlitze.

»Das geht dich nichts an, Tussi. Wir haben mit dieser Schlampe noch eine Rechnung offen, verstanden?«

Aura tut das Einzige, was sie tun kann. Sie nickt.

»Ich höre nichts. Das geht dich nichts an, verstanden?«

»Verstanden.«

»Es sei denn, du willst, dass es dich auch was angeht. Willst du das, Tussi?«

»Nein«, antwortet Aura mit gebrochener Stimme.

Die Flamme erlischt und hinterlässt in Auras Pupillen ein rötliches Gespenst, sie blinzelt und kauert sich zusammen. Dann setzt sie sich ängstlich und beschämt wieder hin.

Was könnte sie sonst tun?

Sie sind zu viert, ich allein. Sie sind knallharte Frauen – Kriminelle, schießt ihr durch den Kopf, doch das Wort wird von der politischen Korrektheit sofort wieder verdrängt –, und ich bin bloß eine Bankkauffrau.

Jetzt nicht mal mehr das.

Jetzt bin ich nur noch eine bankrotte Hausfrau, eine Mutter, die ihre Töchter alleingelassen hat und nur so schnell wie möglich zu ihnen zurückwill.

Auras Gesicht brennt vor Scham, und ihr Bauch ist verkrampft vor Angst. Aber der Gedanke an ihre Töchter lässt plötzlich ein anderes Gefühl aufsteigen. Dasselbe, was sie vor Stunden – die jetzt wie Tage wirken – empfunden hat, als sie unter der Dusche die beiden Shampoo-Flaschen in Händen hielt. Das sie in den Laden in der Calle Serrano geführt und in diese höllischen Schwierigkeiten gebracht hat.

Das Gefühl lässt sich nur schwer erklären. Oder vielleicht doch, mit einer Million Wörtern. Oder nur vier Buchstaben. Einer Silbe. Kurioserweise genau die, die sie gerade ausgesprochen hat.

»Nein«, wiederholt sie.

Nur dass ihre Stimme jetzt völlig anders klingt. Schneidend. Sie zieht eine rote Linie.

Das Gerangel hält inne.

»Lasst sie in Ruhe«, entfährt es Aura, ohne genau zu wissen, warum.

Die Hände schützend vor dem Oberkörper, steht sie auf.

»Ich mach dich fertig, du Fotze«, schnaubt Yoni.

Aura sieht einen Schatten auf sich zukommen und macht einen Satz zur Tür. Zufall, Glück oder beides, die Angreiferin stolpert über Auras rechtes Bein und strauchelt. Ihre Faust, mit der sie Aura ins Gesicht schlagen wollte, landet auf der Betonbank.

Ein Schmerzensschrei zerreißt die Dunkelheit und dreht den Spieß um. Eine der Latinas schreit nach ihrer Anführerin.

»An der Tür. Mach die Fotze fertig«, erwidert Yoni heulend.

Aura wird gewahr, dass sie vor der einzigen Lichtquelle in der Zelle steht – so schwach der Schein unter dem Türschlitz auch sein mag –, und das ist keine empfehlenswerte Position.

Mit dem Rücken an der Wand, um nicht zu stolpern, bewegt sie sich in die entgegengesetzte Richtung zum Kampfschauplatz. Die Fäuste sind geballt, das Herz ist verkrampft, und in den Ohren rauscht das Blut. Konfusion beherrscht die Dunkelheit. Abgehackte Laute, Jammern, Schläge.

Jemand stößt einen erstickten Schrei aus. Eine andere Stimme einen Fluch, den Aura nicht versteht.

Noch ein Schlag und ein Geräusch, als würde jemand über den Boden kriechen. Endlose, zähe Sekunden einer Unterbrechung.

Ein weiterer Schlag.

Und plötzlich gerät alles in Bewegung.

Aura hört jemanden schleppenden Schrittes auf sich zukommen. Sie drückt den Rücken an die Wand und hebt die Arme, um sich vor dem unvermeidlichen Schlag zu schützen.

Sie spürt, wie jemand ihre Kleidung streift, Finger, die blind nach ihr tasten.

Eine Hand umklammert ihr Handgelenk. Nicht brutal. Aber fest.

Die Hand zieht sie ans andere Zellenende zurück an ihren Platz.

Voller Angst sinkt Aura auf die Bank.

Die Hand klopft ihr beruhigend auf den Rücken. Eine Stimme mit starkem galicischem Akzent – und eindeutig alkoholschwanger – sagt: »Schlaf, Blondi.«

7 Eine Verhandlung

Am Sonntagmorgen um elf verlässt Aura das Gerichtsgebäude.

Der Himmel über Madrid hat sich zugezogen. Grau wie Putzwasser. Es weht ein erbarmungsloser Wind, der Blätter, Staub und zerfetzte Lidl-Prospekte durch die Luft wirbelt. Auf der Plaza Castilla herrscht reger Verkehr. Die Umgebung im Schatten der Kio-Türme könnte nicht hässlicher und unmenschlicher sein.

Tief atmet Aura die verpestete Luft ein und denkt, dass sie in ihrem ganzen Leben nichts Schöneres gesehen hat.

Was vor allem dem Wahnsinn der vergangenen zwei Stunden geschuldet ist.

Als Aura in der Zelle erwacht, weiß sie nicht, wo sie ist. Benommen und verwirrt hebt sie den Kopf. Sie blinzelt und versucht, ihre Augen an das Licht zu gewöhnen, in die raue Wirklichkeit zurückzukehren. Die Neonröhren sind wieder eingeschaltet, und die Zelle ist halb leer. Nur die beiden Frauen, die nicht Spanisch sprechen, liegen unter dem Fensterchen eingerollt und schlafen tief und fest.

Von der betrunkenen Galicierin keine Spur. Auch nicht von den Latinas, abgesehen von einem blutigen Schmierer an der Wand, Yonis Beitrag zu den Wandmalereien, davon ist Aura überzeugt.

Das könnte mein Blut sein. Bei dem Gedanken läuft Aura ein Schauer über den Rücken.

Genau. Das erwartet mich jetzt.

Geräusche vor der Zelle holen sie aus ihrem Selbstmitleid. Die Tür wird geöffnet, und eine Aufseherin brüllt ihren Namen.

»Reyes Martínez!«

Gehorsam schlurft Aura zur Tür. Die Aufseherin führt sie durch die labyrinthischen Flure zur Krankenstation.

»Willst du eine Probe?«, fragt sie.

»Verzeihung?«

»Eine Urinprobe.«

Als sie Auras verständnislosen Blick sieht, erklärt die Wärterin: »Wenn du Konsumentin bist, ist das strafmildernd. Alle lassen eine Urinprobe machen.«

Im Geiste geht Aura die kräftigsten Substanzen durch, die sie im vergangenen Monat zu sich genommen hat – einschließlich Ibuprofen, Fanta light und ein paar Tropfen des abgelaufenen Tabascos auf den Spiegeleiern –, und schüttelt den Kopf.

»Sicher? Du musst dich nicht schämen. Dauert auch nicht lange …«

Die Frau ist so freundlich, dass Aura versucht ist, einzuwilligen, nur um sie nicht zu verärgern. Sie wirft einen Blick in die Krankenstation und sieht dort Yoni, die mit verbundenem Arm und dem Gesicht voller blauer Flecken auf einer Krankenliege sitzt.

»Nein danke, das ist nicht nötig.«

»Wie du willst«, sagt die Frau und setzt sich in Bewegung.

Yoni macht Anstalten, aufzustehen, wird aber von einer Krankenschwester festgehalten. Ein drohender Schrei verfolgt Aura, die hinter der Wärterin den Schritt beschleunigt.

»Ich mach dich fertig!«

Wer hat der bloß in den Kopf geschissen?, denkt Aura und freut sich, die Krankenstation hinter sich gelassen zu haben.

Kurz darauf gelangen sie zu einem Raum, vor dem ein kleiner, glatzköpfiger Mann mittleren Alters in einem zerknitterten Anzug steht, der aussieht, als hätte er darin geschlafen.

»Ich bin dein Pflichtverteidiger, du wirst dem Richter vorgeführt. Name?«, sagt er, als Aura vor ihm steht.

Aura nennt ihn. Der Mann holt einen Aktenordner aus seinem Rucksack, der zwischen seinen Beinen steht, und findet die Strafanzeige seiner Klientin. Er überfliegt sie, murmelt ein paarmal »Hm, hm«, dann packt er sie an der Schulter und will sie in den Raum schieben.

»Komm, es geht los.«

»Hören Sie, wollen Sie mir nicht erst …«

»Du hältst schön den Mund und streitest alles ab. Vermassle es nicht.«

»Aber ich würde gern erklär…«

»Du sollst alles abstreiten, verdammt.«

Aura zwingt den Mann zum Stehenbleiben.

»Können die mich hier festhalten?«

Der Mann schnalzt mit der Zunge und zieht lautstark Luft ein.

»Es ist Sonntag, der Richter hat es eilig, und deine Akte ist kompliziert. Wenn ihm danach ist, wirst du bis Montag drinbleiben.«

»Ich muss hier raus«, sagt Aura. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Das habe ich dir schon gesagt«, erwidert der Anwalt und schiebt sie in den Raum.

Der Saal ist kleiner als die Zelle, aber voller. Ein paar Tische, eine Handvoll Stühle, ein Richter, ein Staatsanwalt, mehrere Aufseher, ein Pflichtverteidiger und die Angeklagte. An den sonnengelb gestrichenen Wänden gibt es weder Fenster noch sonstige Dekoration außer dem Porträt seiner Majestät König Felipe VI., dessen angedeutetes Lächeln daran erinnert, dass das Recht für alle gilt.

Der Staatsanwalt erhebt sich und liest die Anklageschrift gegen Aura vor, die mitten im Raum steht. Der Richter hebt den Blick erst, als er fertig ist. Aura beantwortet jede Frage des Staatsanwalts – die meisten beginnen mit »Stimmt es, dass …« – mit einem überzeugten Nein. Sieben Mal, sieben Lügen.

Als die Befragung beendet ist, räuspert sich der Richter gelangweilt. Er ist ein Mann fortgeschrittenen Alters – wenn auch noch keine siebzig – mit einem weißen Spitzbart und sieht eher wie ein pensionierter Optiker aus, nicht wie ein Richter des Zivilgerichts.

»Das ist ein Bagatelldelikt. Kann mir die Staatsanwaltschaft erklären, warum die Angeklagte hier ist?«

»Gegen Señora Reyes liegt ein Haftbefehl vor, und in drei Wochen ist die Gerichtsverhandlung, Euer Ehren. Deshalb hat die Polizei sie festgenommen, eine vorbeugende Maßnahme.«

»Welche Anklagepunkte?«

Jetzt geht’s los, denkt Aura und schließt die Augen.

»Betrug im großen Stil, unrechtmäßige Aneignung, Dokumentenfälschung, Geldwäsche. Alles unter strafverstärkenden Umständen, Euer Ehren.«

Der Richter sieht von der Mappe auf und mustert Aura neugierig. Die teure Bluse, die farblich dazu passenden schönen Schuhe. Mal abgesehen von den Augenringen, dem zerzausten sandfarbenen Haar und den hängenden Schultern als Folge einer Nacht im Gefängnis.

»Um welche Summe handelt es sich?«

Der Staatsanwalt trägt die acht Ziffern bis zum letzten Euro vor. Ohne Dezimalstellen; ist auch nicht nötig.

Der Richter hebt vielsagend die Augenbrauen.

»Und die Kaution?«

»Eine halbe Million Euro, Euer Ehren.«

Im Vergleich zu den zehn Millionen wirkt die halbe Million geradezu lächerlich. Eine symbolische Zahl, um sicherzustellen, dass die Beschuldigte nicht abhaut und so weiter. Für Aura ist das, als würde man von ihr verlangen, den Mond mit einer rosa Schleife zu versehen.

»Verstehe«, sagt der Richter mit einer Miene, die das Gegenteil ausdrückt. »Señora Reyes, Sie bringen mich in eine schwierige Lage. Eine Strafanzeige wegen Gewaltanwendung wie die, die Sie vor dieses Gericht gebracht hat, ist ein Problem. Selbst wenn es sich bei der Straftat um ein Bagatelldelikt handelt.«

»Angebliche Straftat, Euer Ehren«, wirft der Anwalt ein. »Meine Klientin hat die Tat in vollem Umfang bestritten.«

»Es ist für dieses Gericht keine große Überraschung, dass einige Ihrer Klienten sogar noch die Luft zum Atmen bestreiten, Herr Pflichtverteidiger«, erwidert der Richter lakonisch.

Sein Blick ruht erneut auf der Mappe, und seine Finger trommeln bedächtig auf den Tisch, während er seine Worte abwägt.

»Ihr Fall ist typisch«, sagt er kurz darauf. »Ein Mensch, dem eine Gefängnisstrafe droht, hat bei Näherrücken des Termins oft das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Sein Sinn für Moral nimmt ab, und er neigt dazu, Fehler zu machen, die er unter anderen Umständen nicht machen würde. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will, Señora Reyes?«

»Ich verstehe.«

»In dieser Sachlage ist es besser, zum Wohle der Gesellschaft und des Angeklagten selbst, die Inhaftierung so bald wie möglich zu vollziehen. Ich glaube, das ist bei Ihnen der Fall, Señora.«

Die Angst, die Aura verspürt hat, als sie – vor knapp fünfzehn Stunden – mit dem Gesicht auf die Motorhaube des Streifenwagens gedrückt wurde, steckt noch in ihr. Mal ist sie stärker, mal schwächer, eine Furcht, die sie nur schwer kontrollieren kann.

Doch in diesem Augenblick schwächt sich die Angst so weit ab, dass sie fast verschwunden ist. Denn Aura hat den letzten Satz des Richters eher als versteckte Frage verstanden denn als direkte Drohung.

Und wieder schimmert die alte Aura hindurch.

»Das wäre der Fall, wenn ich für das, was in der Strafanzeige steht, verantwortlich wäre. Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, dass das nicht stimmt, Euer Ehren«, lügt Aura selbstbewusst. »Und um ehrlich zu sein, muss ich Ihnen sagen, dass ich nicht die Absicht habe, vorzeitig die Haftstrafe anzutreten, sondern dass ich das Geld für die Kaution aufbringen und mich als freier Mensch dem Prozess stellen werde, was mein gutes Recht ist.«

Der Richter mustert Aura aufmerksam.

»Aha. Und die Nacht in der Zelle hat vermutlich etwas mit dieser Entscheidung zu tun.«

Diplomatisch zuckt Aura mit den Schultern.

»Señora Reyes, wenn ich Sie heute freilasse, gehe ich ein Risiko ein. Kann ich Ihnen vertrauen?«

»Ja, Euer Ehren. Vollkommen, Euer Ehren. Ich habe mein Lehrgeld bezahlt. Ich kann Ihnen aufrichtig versichern, dass ich ein neuer Mensch bin und keine Gefahr für die Gesellschaft darstelle. Das ist die reine Wahrheit«, erklärt Aura in ihrer besten Imitation von Morgan Freeman.

Einen Moment lang fürchtet sie, zu weit gegangen zu sein, aber der Richter wirkt zufrieden, fast amüsiert über ihre Ausführungen.

»Hoffentlich muss ich es nicht bereuen, Señora Reyes«, erwidert er und zeigt zur Tür.

Aura geht in den ersten Stock, holt die Plastiktüte mit ihren persönlichen Sachen (Handtasche, Portemonnaie, BH und Mantel) und ist keine Viertelstunde später wieder auf der Straße. Sie sieht den bewölkten Himmel, die Kio-Türme und die herumwirbelnden Lidl-Prospekte. Tief atmet sie die mit Kohlendioxyd verpestete Luft der Freiheit ein und denkt, dass sie in ihrem ganzen Leben nichts Schöneres gesehen hat.

Bis sie etwas sieht, das sie ihre Meinung sofort ändern lässt.

8 Eine Stange

Von einer Bank winkt ihr eine Gestalt zu. Aura muss schlucken, denn sie hat sie sofort erkannt, aber überhaupt keine Lust, darauf zu reagieren. Sie atmet aus und macht sich mit gesenktem Kopf auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung.

Nach zwanzig Metern hört sie sie rufen.

»Hey, Blondi.«

Nach weiteren fünf Metern hat sie sie eingeholt.

Die Frau schneidet ihr den Weg ab.

»Du bist ohne Frühstück gegangen. Wenn es dort schon mal was Gutes gibt …«

Sie hält eine durchsichtige Plastiktüte hoch, darin ein Bocadillo in Aluminiumfolie und zwei Mandarinen.

»Es gab auch einen Joghurt, den habe ich aber schon gegessen. Ich hatte einen Bärenhunger, Kleine. Du bist mir doch nicht böse?«

Beim Anblick des Bocadillos beginnt Auras Magen zu knurren, aber Angst und Eile setzen sich durch. Ganz zu schweigen davon, dass sie keinerlei Kontakt mit dieser Frau haben möchte.

»Entschuldigung, aber ich habe keine Zeit zum Essen. Ich muss so schnell wie möglich nach Hause.«

Sie legt eine abschätzende Pause ein, befindet, dass von der Frau keine Gefahr ausgeht, und fügt hinzu: »Meine Töchter sind allein zu Hause.«

»Mensch, warum hast du das nicht früher gesagt? Komm, ich fahre dich heim. Ich stelle meine Karre immer in der Nähe des Gerichts ab, wenn ich einen hebe, denn am Ende passiert immer das Gleiche.«

Aura rümpft die Nase, sie kann nicht anders. Das Aussehen der Frau hat sich in den letzten Stunden nicht verbessert. Die Twill-Jacke hängt über ihrer rechten Schulter. Das T-Shirt würde bei einem Fettflecken-Wettbewerb den ersten Preis gewinnen. Das Haar ist sehr kurz und um die Ohren herum rasiert, weshalb die Frisur nie aus der Fasson geraten kann. Aber die Frau stinkt noch immer nach Schweiß und Wein, selbst an der frischen Luft und auf anderthalb Meter Entfernung.

»Nimm’s mir nicht übel …«

Sie verstummt, weil ihr einfällt, dass sie ihren Namen nicht kennt. Sie meint sich zu erinnern, einer der Polizisten hätte ihn genannt, als man sie in den Streifenwagen bugsierte, aber …

»Mari Paz Celeiro Buján«, kommt sie ihr zu Hilfe. »Und du bist Aura.«

»Woher weißt du das?«

»Weil die Aufseherin dich als Erste holen wollte. Aber ich habe ihr gesagt, sie soll dich schlafen lassen. Du wirktest so erschöpft.«

Aura rollt mit den Augen. Sie wäre also viel früher rausgekommen. Doch sie fasst sich in Geduld und setzt noch einmal an.

»Nimm’s mir nicht übel, Mari Paz, aber ich nehme lieber die Metro.«

Dann hört sie hinter sich ein Geräusch. Sie dreht sich um und sieht, wie zwei Freundinnen von Yoni gerade das Gerichtsgebäude verlassen und sie böse anstarren. Die eine sagt der anderen etwas ins Ohr und zeigt dabei auf Aura. Keine von beiden wirkt sonderlich freundlich gesinnt.

»Blondi«, sagt Mari Paz, die ihrem Blick gefolgt ist. »Ich denke, dass es keine gute Idee ist, die Metro zu nehmen, ernsthaft.«

»Was auch immer du mit denen hast …«

»… hast jetzt auch du. Komm schon, Herzchen, lass dich von mir fahren.«

Dann legt sie Aura liebevoll den Arm über die Schultern und führt sie zur Calle Bravo Murillo.

»Sie folgen uns, stimmt’s?«

»Ich fürchte ja. Geh einfach weiter, nicht stehen bleiben.«

»Wann hatte ich bloß diese verfluchte Idee, dir zu helfen.«

»Im Morgengrauen.«

»Ich meine damit, dass ich es bereue.«

»Das habe ich schon verstanden. Geh weiter, gleich da vorne steht mein Wagen.«

Aura beschleunigt den Schritt, dicht gefolgt von Mari Paz. Sie hinkt leicht, wie Aura bemerkt, als sie schneller gehen.

»Du hast sie letzte Nacht verprügelt«, sagt sie mit einem Blick über die Schulter.

Die beiden Latinas sind ihnen auf den Fersen. Eine von ihnen hat die Hand in der Jackentasche vergraben.

»Letzte Nacht war letzte Nacht.«

»Hättest du das nicht …«

»Hast du die rechts gesehen? Die ist gut gerüstet.«

Aura schaut Mari Paz verständnislos an.

»Bewaffnet. Mit einem Stachel, einem Messer, was auch immer. Wenn sie uns einholen, werde ich sie windelweich prügeln müssen.«

»Lass dich nicht von mir aufhalten.«

»Du scheinst die Freiheit ja schnell sattzuhaben. Wenn wir uns auf so was einlassen, sind wir schneller wieder im Knast, als wir blinzeln können.«

Wirklich keine guten Aussichten, denkt Aura.

»Da ist er schon«, sagt Mari Paz und zeigt auf einen weißen Škoda, der älter ist als der schmiedeeiserne Zaun des Retiro-Parks. Sie drückt Aura den Autoschlüssel in die Hand mit dem Hinweis: »Steig ein und schließ ab.«

Aura umrundet den Wagen und spürt, dass Herzrhythmus und Atmung sich beschleunigen. Sie will den Schlüssel ins Schloss stecken, schafft es aber nicht gleich.

Mari Paz hat sich inzwischen umgedreht und lässt die Jacke zu Boden fallen. Die Frühstückstüte nimmt den gleichen Weg.

»Na so was, habt ihr noch immer nicht genug?«

Die beiden Frauen bleiben stehen. Die größere zieht einen großen Schraubenzieher aus der Jackentasche, dessen Griff mit Heftpflaster umwickelt ist. Er sieht nach allem aus, nur nicht nach Werkzeug. Die andere folgt Aura und nähert sich dem Wagen.

Mari Paz streckt die Arme aus und macht einen Schritt zur Seite, um ihr den Weg zu versperren.

»Verpiss dich, Schnapsdrossel, aus dem Weg«, sagt die mit dem Schraubenzieher.

»Keinen Bock. Ihr habt es doch eigentlich auf mich abgesehen. Was hat Blondi euch getan?«

»Yoni lässt ihr schöne Grüße ausrichten.«

»Dann soll sie ihr eine Postkarte schicken. Hey, du, ich habe dich genau im Blick«, warnt sie mit ausgestrecktem Zeigefinger die Frau, die den Wagen umkreist. »Du wirst gleich dein blaues Wunder erleben.«

Aura hat es inzwischen geschafft, die Fahrertür aufzuschließen. Als Erstes springt sie der Geruch an, nach Schmutzwäsche und verdorbenem Essen. Der Rücksitz ist übersät mit Krempel. Eine Sporttasche, ein grüner Schlafsack, ein alter Weinkarton und überall Rotweinflecken.

Nichts von alldem ist ihr nützlich.

Denn sie hat nicht die Absicht, auf Mari Paz zu hören.

Ich bin genug davongelaufen, denkt sie.

Beim Abtasten der Unterseite des Armaturenbretts schließen sich ihre Finger um einen harten metallischen Gegenstand. Sie zieht daran, aber er hängt fest. Sie stützt den Fuß auf den Schweller des Wagens, um kräftiger ziehen zu können.

Ein letzter Ruck, und die Wegfahrsperre – Marke Ranz, rot lackiert und mit abgeblätterten Kanten, genauso eine hatte ihr Vater in seinem Renault Fuego, als sie klein war – löst sich knirschend. Aura fliegt nach hinten und kann sich gerade noch an der Tür festhalten, um nicht auf dem Hintern zu landen. Dabei knallt die Stange mit grässlichem Getöse auf den Boden.

»Na so was«, sagt Aura, als sie sie aufhebt.

Der Frau ist es inzwischen gelungen, Mari Paz auszuweichen, und sie steht jetzt wenige Schritte hinter ihr. Sie hat ihren Gürtel – eine Stahlkette – abgezogen und schwenkt ihn in der Luft. Doch beim Anblick von Aura, die sich mit der achtundfünfzig Zentimeter langen Stange aus legiertem Stahl umdreht, hält sie abrupt inne.

»Na so was«, wiederholt Aura grinsend. »Kann ich dir vielleicht helfen?«

Die Frau starrt erst die Stange und dann Aura an und trifft eine weise Entscheidung.

»Wir kriegen euch noch, du bitch«, brüllt sie und rennt davon.

Ihre Freundin folgt ihr auf dem Fuße.

Mit der Wegfahrsperre in der Hand steht Aura vor dem Auto. So lange, bis Mari Paz Jacke und Frühstücksbeutel – eine Mandarine ist etwas angeschlagen – aufgehoben hat und ihr die Stange aus der zittrigen Hand nimmt.

»Sag mir die Wahrheit. Weißt du, was du damit anstellen kannst?«

»Keine Ahnung.«

»Dachte ich’s mir doch. Los, steig schon ein.«

9 Eine Fahrt

Mari Paz hat einen ausgezeichneten Fahrstil.

Das gesteht Aura nicht jedem zu. Klugscheißerin. Dieses Wort benutzte ihr Mann oft, wenn er von ihrem Fahrstil sprach. Pedantisch, zwanghaft und nervig waren die Adjektive, die in solchen Gesprächen häufig vorkamen.

Aura hat eben ihre eigene Art, Auto zu fahren, das ist alles. Früh den Blinker setzen, vor dem Spurwechsel zweimal in den Rückspiegel schauen, dem Bus die Vorfahrt lassen, so fährt sie für gewöhnlich.

Weshalb sie wirklich überrascht ist, dass Mari Paz, wie jetzt auf der M30, ganz ähnlich fährt. Defensiv, gewissenhaft und routiniert.

Mit einer Hand natürlich.

In der anderen hat sie Auras Bocadillo, die wegen Bauchschmerzen darauf verzichtet hat.

»Das Brot ist knochentrocken«, sagt Mari Paz. »Um es etwas feuchter zu machen, füllen sie es mit Tortilla francesa. Trotzdem bleibt es einem fast im Hals stecken. Außerdem gibt es sonntags normalerweise Bratwurst. Ist doch auf nichts mehr Verlass auf dieser Welt, echt jetzt.«

Aura öffnet das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Der Geruch des Bocadillos – des Wagens insgesamt – und ihre Nervosität verursachen ihr Übelkeit.

»Wer waren denn diese Bekloppten?«

Mari Paz hat aufgegessen, sie zerknüllt die Alufolie und wirft sie auf den Rücksitz.

»Die Mara 22.«

Aura nickt, als wäre damit alles klar.

»Du hast keine Ahnung, stimmt’s, Blondi?«

»Ich schaue Nachrichten.«

»Sag ich doch, du hast keine Ahnung. Mara 22 ist eine Straßengang. Ganz üble Leute.« Sie macht eine Pause und fügt dann hinzu: »Danke.«

»Wofür?«

»Du hast mir heute Nacht das Leben gerettet.«

Aura sieht Mari Paz befremdet an.

»Du machst Scherze. Sie wollten dich nur verprügeln.«

»Sie wollten mich mit dem Jackenärmel strangulieren. Ratzfatz und gute Nacht.«

Ihr Tonfall ist hart, unnachgiebig, trotz des ironischen Untertons im letzten Satz. Aura begreift, dass sie es wirklich ernst meint, kann es aber nicht glauben.

Bis sie den rötlichen und gleichförmigen Striemen an Mari Paz’ Hals sieht.

Sie muss schlucken, versucht, das zu verdauen. Sie, die bislang in einer Welt lebte, in der die größte Gefahr darin bestand, die Hypothek nicht bezahlen zu können, und die größte Angst der jährlichen Mammografie galt.

Und dann ist da noch, was vor zwei Jahren geschah. In der Nacht, als Jaume starb und sie alles verlor oder zu verlieren begann. Aber selbst das, was geschah, war in ihrem Kopf nur ein schwarzer Schwan. Eine seltsame Begegnung mit dem Fatalismus, so unwahrscheinlich wie unerwartet.

Was sie in den letzten Stunden erlebt hat, ist kein schwarzer Schwan. Es ist der Beweis dafür, dass Angst und Gewalt nicht die Ausnahme, sondern die Norm sind, die wir nur umschiffen können, wenn wir das Glück haben, morgens gefahrlos in unserem Bett aufzuwachen.

Der Beweis dafür, dass die Decke sehr löchrig ist.

Auch der Beweis dafür, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als entsprechend zu handeln.

Die Welt bleibt kurz stehen. Die Autos gefrieren mitten in der Fahrt, die Vögel verharren im Flug. Eine Mücke, die auf die Windschutzscheibe prallt, erstarrt in der Bewegung, weder tot noch lebendig.

Aura erlebt gerade den zweiten Teil ihrer Entdeckung.

Nicht annähernd so weitreichend wie die von gestern mit dem Shampoo aus dem Mercadona. Dieser Apfel ist ihr schon auf den Kopf gefallen, er wird es nicht noch einmal tun.

Dieser zweite Teil besteht darin, den Apfel auf dem Boden liegen zu sehen und zu entscheiden, was sie mit ihm machen soll.

Etwas Wichtiges. Etwas, das den Kurs ändert. Ein Ausweg.

Das ist Wahnsinn, sagt sie sich.

Das ist es, erwidert sie. Aber …

Das Saatkorn einer Idee hat sich in ihrem Kopf eingenistet. Eine so unwahrscheinliche wie unmögliche Idee.

Eine Idee, die sie nur noch nicht umsetzen konnte. Jetzt hingegen …

Die Welt dreht sich weiter.

»Tut es sehr weh?«, fragt sie Mari Paz und zeigt auf ihren Hals.

»Nur beim Essen von Tortilla-Bocadillos. Hey, mach ein fröhlicheres Gesicht, Blondi. Es wirkt, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Aura hat zwar kein Gespenst gesehen, aber sie hat etwas gesehen. Etwas, das bei ihr das Bedürfnis auslöst, mehr über ihre Zellengefährtin zu erfahren.

»Warum wollten sie dich …?«

Sie lässt das Wort in der Luft hängen.

»So ist das auf der Straße, Blondi. Da triffst du viele Leute. Gute, normale und mittelmäßige. Und dann gibt’s noch diese Hurentöchter.«

Aura wirft einen Blick auf den Rücksitz – eher ein Müllsitz, denkt sie schmunzelnd – voller Krimskrams sowie Mari Paz’ zerknitterter und schmutzstarrer Kleidung.

»Du lebst im Auto, oder?«

Sie hat das einfach so dahingesagt und wird sich im selben Moment bewusst, dass sie sich diese Frage hätte schenken können. Mari Paz zuckt zusammen und verzieht gekränkt den Mund. Aura versucht sich zu entschuldigen.

»Hör mal …«

Aber Mari Paz’ stolze Geste lässt sie verstummen. Es folgt ungemütliches Schweigen, unterbrochen vom Straßenlärm und dem dumpfen Pochen des Fremdschämens.

»Ich habe eine schlechte Phase«, sagt sie schließlich.

»Seit wann?«

Mari Paz schüttelt den Kopf, als wüsste sie es nicht genau. Mit den Fingern der rechten Hand rechnet sie nach, wie viele Jahre sie schon im Auto lebt. Seit jenem unheilvollen Tag vor dem Militärgericht, als man sie mit zwanzig Prozent ihres Soldes aus der Legión Española entließ. Und dennoch bin ich glimpflich davongekommen nach dem, was ich getan habe.

»Fünf Jahre«, sagt sie selbst überrascht.

»Das ist ganz schön lang.«

»Ja, das stimmt. Meine Güte, wie die Zeit vergeht«, sagt Mari Paz und seufzt.

Der Wagen nähert sich der Puente de Vallecas und biegt in die Avenida Ciudad de Barcelona ein. Jetzt sind wir gleich da, denkt Aura.

Sie weiß, dass es den Mädchen gut geht, sie ist davon überzeugt, dass es ihnen gut geht, trotzdem streckt sie die letzten Meter den Kopf zum Fenster hinaus in der Erwartung, die Sirenen der Feuerwehr oder einer Ambulanz zu hören.

Nach dem Einbiegen in die Calla Abtao, ihrem Ziel, springt Aura aus dem noch fahrenden Auto und läuft zur Haustür. Ihre Entdeckung ist auf eine zweite Ebene gerückt, bis sie sich vergewissert hat, dass es den Mädchen gut geht.

»Hey, Blondi, nicht mal ein Abschiedsgruß?«, ruft die Fahrerin empört.

Aura läuft zum Wagen zurück und zeigt auf die Straße. »Such dir einen Parkplatz und komm hoch. Zweiter Stock rechts.«

Mari Paz blinzelt überrascht. Sie ist nicht daran gewöhnt, in Wohnungen eingeladen zu werden.

»Ich weiß nicht, du wirst zu tun haben …«

»Ich will dir etwas vorschlagen. Ich warte oben auf dich!«

Ich habe mit einem Abschied gerechnet. Vielleicht mit einem Bierchen. Nicht mit einer Einladung.

Mari Paz fällt aber nichts ein, wie sie sie ausschlagen könnte. Weshalb sie nur sagt: »Du weißt schon, wie schwer es ist, hier einen Parkplatz zu finden, oder?«

10 Ein Sprung

Manchmal beweist sich Mut vor einer Gegensprechanlage.

Mari Paz ist nicht feige, das war sie nie.

Aber den Klingelknopf drückt sie nicht. Nein.

Sie ist starr vor Angst.

Angst

Mutig ist, wer Angst hat und sie überwindet, pflegte ihre Großmutter zu sagen, die nur selten Spanisch sprach. In Vilariño, der galicischen Provinz Ourense, war in den letzten dreißig Jahren kein Madrilene aufgetaucht. Und in Luar do Carballo, dem winzigen Nest außerhalb von Vilariño, wurden seit dreihundert Jahren keine Madrilenen gesichtet. Der Stammsitz der Familie Celeiro war schon immer das Steinhaus am Eichenwald. Auf dem nahegelegenen Berg stand in der Bronzezeit eine Festung; seitdem hat niemand mehr einen Fuß in diese Berge gesetzt.

»Soweit ich weiß«, fügte die Großmutter hinzu, die sich nur ungern die Finger verbrannte.

Das mit dem Mut und der Angst galt ein Leben lang, hatte ihr die Großmutter eingebläut und Mari Paz an ihrem achtzehnten Geburtstag aufgefordert, ihr Bündel zu schnüren und nach Pontevedra zu gehen. Zwar hatte sie dabei Tränen in den Augen, die Großmutter, aber sie wollte ja nur ihr Bestes.

Sie hatte einen roten Kugelschreiber genommen und auf der Rückseite eines Kassenbons eine Liste von Dingen notiert, die es in der angestammten Heimat der Celeiros nicht gab:

Arbeit (zweimal eingekringelt)Geld zum Studieren (Denn Mari Paz’ Eltern waren gestorben, als sie noch sehr klein war. Sie waren auf dem Weg zu einer Hochzeit von einem Lastwagen überrollt worden.)Heiratsfähige junge Burschen (Was Mari Paz egal war, denn ihre Präferenzen lagen woanders.)Zukunft

Eine Zwickmühle, die nur zwei Möglichkeiten zuließ:

Die Fischerei (wie langweilig)Die Streitkräfte (wie gruselig)

Eine wahrhaftig missliche Lage.

Am Tag ihres Abschieds ergriff Mari Paz beide Hände der Großmutter. Schwielige Hände, Hände, die Rüben pflanzten und Stürme ernteten. Hände, die den Eintopf umrührten und die Eierkuchen aus der Pfanne nahmen – vorsichtig, ohne sich zu verbrennen. Großzügige Hände bei einem Klaps und noch großzügiger beim Streicheln. Die Hände einer Frau, die außer Großmutter auch Vater und Mutter für sie sein musste.

»Ich habe dich sehr lieb, Großmutter.«

Die sagte nichts. Ihr Hals war wie zugeschnürt nach siebzig Jahren des Abschiednehmens. Sie hatte erlebt, wie sich das Land entvölkerte, wie sich die Menschen – mit mehr Träumen als Chancen im Gepäck – auf den Weg zur Bushaltestelle im Dorf machten.

Die Großmutter sagte nichts, sie hatte ihre eigenen Ängste. Die schlimmste Angst? Irgendwann allein zu sterben, ohne einen Menschen, der ihre Hand hält.

Deshalb hielt sie die Hand des einzigen Menschen, der ihr auf der Welt geblieben war, eine lange Minute schweigend fest. Und das Schweigen blieb, als Mari Paz gegangen war.

In Pontevedra ging Mari Paz 1996 zur Legión Española, einer Eliteeinheit der spanischen Streitkräfte. Sie war nicht die erste Frau, die sich anwerben ließ. Seit acht Jahren gab es Frauen im Heer.

Aber sie war die erste, die ein Jahr später auf eine internationale Mission geschickt wurde. Nach Albanien.