Die Rächerin - Hans Melzer-Gunesch - E-Book

Die Rächerin E-Book

Hans Melzer-Gunesch

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Beschreibung

Johann Maurers zweiter Kriminalfall: Als er das Tagebuch der Toten findet, ahnt er nicht, wie sehr es ihn beeindrucken und ihm zur Lösung des Falles helfen wird. Mit einem unkonventionellen Verhör geht er der Wahrheit auf den Grund.

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Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber.

Chinesische Weisheit

***

„Wann haben Sie sie aufgefunden?“ – Johann Maurer sah sich in dem kärglich eingerichteten Zimmer um. Ein schmales Bett, höchstens 60 cm breit, ein winziger Tisch an der Wand, darauf ein Schlüssel. Darunter ein einfacher Holzstuhl, an der gegenüberliegenden Wand am Boden eine Waschschüssel aus weiß lackiertem Blech, das an etlichen Stellen durch Brüche in dem Lack durchschimmerte. Daneben eine Wasserkaraffe. Ein kleiner verblasster Spiegel darüber. Kein Schrank. Kein Herd. Wahrscheinlich gab’s zum Kochen eine gemeinsame Küche im Haus. Dafür befand sich unter dem einzigen Fenster ein kleiner mit Gas betriebener Heizkörper. Beim genaueren Hinschauen entdeckte Johann den Münzschlitz, mit dem man die Heizung aktivieren musste. Es war kalt im Zimmer. Sehr kalt genau genommen. Der Heizkörper hatte wohl schon lange keine Münze mehr erhalten.

„Heute Mittag. Nachdem sie sich heute Morgen das Glas Milch nicht abgeholt hat und ich sie auch nicht hab weggehen sehen, wollte ich nach ihr schauen. Als sie nicht antwortete, habe ich die Türe mit dem Generalschlüssel geöffnet. Sie lag gekrümmt in ihrem Bett, als habe sie Bauchschmerzen.“ Frau Werner, Leiterin des Frauenhauses, eine hagere Frau mittleren Alters, bemühte sich auffällig, nicht in Richtung des Bettes zu schauen. Man sah es ihr an, dass sie das Zimmer am liebsten sofort verlassen wollte.

„Haben Sie sie angefasst oder bewegt?“

„Nein, habe ich nicht. Ich habe sie angesprochen und danach laut ihren Namen gerufen. Als sie nicht antwortete, wusste ich, dass etwas Schlimmes geschehen ist. So habe ich sofort die Polizei gerufen.“

„Danke“, entgegnete Johann. „Sie können jetzt gehen. Halten Sie sich aber bitte bereit für weitere Nachfragen.“ Er wandte sich von ihr ab und stellte fest, dass am Fußende des Bettes ein langes Frauenkleid lag, aber keine weitere Wäsche.

Dann betrachtete er die Tote. Noch sah er aber nicht viel von ihr, denn sie lag mit dem Gesicht zur Wand. Er wollte es dem Pathologen überlassen, sie umzudrehen. Dann konnten auch erste Rückschlüsse über die Todesursache gezogen werden. Er hatte lediglich an der Schlagader ertastet, dass kein Leben mehr durch die Frau floss. Dabei erkannte er, dass sie recht jung war. Ihr Gesicht sah zwar friedlich aus, aber abgesehen davon, dass sie tot war, wies ihr dünnes Gesicht eine gewisse Leidensgeschichte auf, geprägt von: Hunger.

Johann kannte diesen Gesichtszug. Seine tägliche Arbeit hatte auch viel mit Straftätern zu tun, deren Taten der Armut geschuldet waren, meistens dem Hunger. Er befasste sich nur ungern mit ihnen, denn der sogenannte Mundraub war in seinen Augen bei Weitem nicht so schlimm wie die aus Habgier begangenen Straftaten.

Er schätzte die Frau auf Mitte Zwanzig. Sie lag eingehüllt in einem Wollmantel, der an seinem Ende lose Fasern aufwies, ansonsten aber offensichtlich in Ordnung war. Auf den ersten Blick war kein Blut zu sehen oder andere Spuren einer etwaigen Gewaltanwendung.

„Na, was haben wir denn hier?“ – Ohne jemanden sonst zu beachten, schritt der Pathologe auf die Tote zu und begann, sie sorgfältig abzutasten, bevor er sie umdrehte. Die Leichenstarre hatte schon längst eingesetzt und so musste die fahrbare Trage ans Bett gestellt werden, sonst wäre die Leiche durch den Vorgang hinuntergefallen.

Als sie nun auf der Trage lag, entdeckte Johann auf dem Bett das Etwas, das ihn durch diesen Fall tragen würde! Es sah aus wie ein kartoniertes Buch, aber Johann erkannte noch bevor er es behandschuht in die Hand nahm: Es war eins dieser Hefte, in die man hineinschrieb:

Ein Tagebuch! Und es war in der Tat vollgeschrieben. Bis hin zur letzten Seite. Da war kein Platz mehr. Die Anzahl der Seiten konnte er nicht abschätzen, aber das Heft war gut drei Zentimeter dick.

Sorgfältig, als wollte er vermeiden, dass das Tagebuch in seiner Hand zerbröckelte, obwohl es eigentlich in einem guten Zustand war, öffnete er den Heftdeckel und las auf der ersten Seite:

Lore Weinrather

Mein Tagebuch

Die Rückseite des Blattes war fast leer. Nur oben war eine Zeile, die – wie Johann sofort bemerkte – einen Satz zu Ende brachte, der woanders begonnen wurde. Die Seite war wohl ursprünglich fein säuberlich freigehalten worden wie bei einem richtigen Buch.

Die Schrift war auch nicht mehr so fein kalligraphiert wie auf der ersten Seite, sondern krakelig unregelmäßig. Johann dachte sich sofort, wo der Satz angefangen wurde für die Zeile, die eigentlich nicht auf Seite zwei gehörte.

Ein kurzer Blick auf die letzte vollgeschriebene Seite genügte, um zu erkennen, wo der unvollständige Satz begann. Und das wiederum genügte Johann, um zu erkennen, dass dieser Fall höchstwahrscheinlich ein richtiger Kriminalfall war.

Das Tagebuch begann auf Seite drei mit dem Datum:

5. Mai 1957

Da er vorerst genug gesehen hatte – die Todesursache würde er nach der Autopsie erfahren – beschloss er, schon mal zurück in sein Büro in der Juchgasse zu fahren. Er würde mit dem Tagebuch anfangen. Das bereits Gelesene machte ihn neugierig und er wusste, dass es gut war, mit der Lektüre zu beginnen.

***

Johann hatte es in der Zeitung gesehen. Die Familie des Färberei-Fabrikanten Dr. Feibl gab die Verlobung der Tochter Emilie mit dem Erben der Färberei Winkler bekannt. Die zwei Färbereien waren harte Konkurrenten über die letzten zwei Jahrhunderte gewesen. Beide am Wienufer im Stadtteil Ober St. Veit gelegen, konnten sie sich nicht aus dem Weg gehen, da das Wasser der Wien unentbehrlich für die Produktion in beiden Fabriken war sowie für die Entsorgung des Abwassers.

Mittlerweile hatten sich beide Fabriken, auch wenn sie sich nach wie vor Färbereien nannten, zu Textilproduzenten entwickelt, wobei die Firma Feibl hauptsächlich Skianzüge vertrieb, während die Firma Winkler sich eher auf modische Kleidung verlegt hatte. Die Liaison der beiden Familien bedeutete praktisch eine Firmenfusion, die aus der Konkurrenz ein Asset machen sollte.

Johann wusste, dass für Sonntag das große Fest geplant war, und so beschloss er, am Abend vorher die Familie Dr. Feibl in ihrem vornehmen Haus in der Amalienstraße 48 zu besuchen. Er nahm an, sie würden letzte Vorbereitungen treffen und der Bräutigam, Anton Winkler, könnte auch anwesend sein.

In den letzten Tagen nach dem Auffinden der toten Lore Weinrather hatte er sich hauptsächlich mit der Lektüre des gefundenen Tagebuchs befasst und, gewissenhaft wie er war, viele Notizen gemacht. Mit der Zeit war das sehr hilfreich gewesen, denn langsam verknüpften sich diese zu einem Gesamtbild, das ihn nicht nur überraschte, sondern seitdem auch dauernd beschäftigte. Auch hatte er an einer bestimmten Stelle, die Sinn machte, ein Foto entdeckt. Es lag fein säuberlich zwischen den Seiten und zeigte eine hübsche Frau, scheu lächelnd, sodass man nicht erkennen konnte, ob das Lächeln echt war oder nur dem Fotografen zuliebe aufgesetzt. Jedenfalls sah sie da besser aus als auf ihrem Sterbebett.

„Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Familie nicht sehr erbaut ist über die anstehende Verbindung. Sie hat sich für Sie bestimmt eine noch bessere Partie vorgestellt.“ Dr. Feibl beugte sich etwas vor, so als wollte er etwas im Vertrauen sagen, obwohl sich sonst niemand im Salon befand.

„Könnte sein“, erwiderte Anton Winkler zurückhaltend. Er sah sich im Raum um, obwohl er nicht das erste Mal da war, und stellte tatsächlich fest, dass er mehr Luxus gewohnt war. Die Feibls waren gewiss wohlhabend, aber bis zu dem Luxus der Winklers fehlte einiges. In den letzten fünfzig Jahren hatte die Färberei Winkler ihren Konkurrenten wirtschaftlich überholt. Was die Feibls allerdings noch nicht wussten trotz der üblichen Industriespionage, die auf diesem Level auf Indiskretionen aus dem gegnerischen Lager fußte, war, dass die Firma Winkler seit geraumer Zeit Probleme mit ihren Modetextilien hatte, da die Konkurrenz weltweit explodierte. Die Firma Feibl hingegen machte mit ihrer Skimode einen soliden Umsatz.

„Weshalb wollen Sie dennoch meine Tochter heiraten?“ – fragte Dr. Feibl nicht besonders irritiert über die kühle Antwort des Schwiegersohns in spe. In diesen Kreisen war man noch weniger einfühlsame Bemerkungen gewohnt. So eine ließ auch nicht lange auf sich warten:

„Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, so heißt es doch, oder?“ Anton nahm einen Zug aus der amerikanischen Zigarette der Marke Kent und schaute seinen zukünftigen Schwiegervater ausdruckslos an. Dr. Feibl ließ sich nach wie vor nichts anmerken, nahm aber innerlich etwas angespannt einen Schluck aus dem Whiskyglas.

Er brauchte nur einige Sekunden, um sich zu sammeln und den Trumpf auszuspielen, den er von Anfang an für dieses Gespräch eingeplant hatte:

„Nun, da verrate ich Ihnen im Vertrauen etwas, das diese Verbindung für Sie schmackhafter machen wird. Ich bin vorgesehen für einen Sitz im Stadtrat. Es ist noch nicht offiziell, aber so gut wie sicher. Was sagen Sie jetzt dazu?“ Mit gespieltem Selbstbewusstsein, der Triumph ausdrücken sollte, lächelte Dr. Feibl sein Gegenüber an.

„Klingt gut“, gab Anton nach wie vor ungerührt zurück. „Es ist ja nicht so, dass ich mich für Ihre Familie schämen müsste. Wir sind ja geschäftlich auf Augenhöhe, nicht wahr?“ – log Anton. „Und Ihre Tochter Emilie ist eine reizende junge Dame, die einen Mann aus gutem Hause gewiss verdient“, beeilte sich Anton das Gespräch wieder in angenehmere Bahnen zu lenken. Emilie gefiel ihm wirklich, aber gegenüber dem Vater wollte er das nicht zu offen zugeben. Mit seiner Haltung hoffte er, ihn dazu zu bewegen, mit einer ordentlichen Mitgift die für Familie Feibl vermeintlich vorteilhafte Verbindung zu besiegeln.

Die Türe zum Salon ging auf und Emilie trat herein. Sie nickte Anton unmerklich zu und begab sich zu ihrem Vater:

„Ein Herr Kriminalkommissar Maurer möchte dich sprechen, Vater.“

Dr. Feibl konnte sein Erstaunen nicht gut verbergen, gab sich aber Mühe, gelassen zu bleiben.

„So, so, ein Kriminalkommissar! Mal sehen, was der von mir will. Ich kann mich nicht erinnern, jemanden umgebracht zu haben“, schmetterte er lachend in den Raum. „Bitte ihn doch herein, Kind!“

Als ob er das vernommen hatte, stand Johann schon in der Türe und grüßte in den Salon hinein: „Einen schönen guten Abend wünsche ich! Ich hoffe, ich störe nicht am Vorabend eines so wichtigen Tages für Ihre Familie.“

„Kommen Sie nur, Herr Kommissar! Was verschafft mir die Ehre? Ich hoffe, Sie beschuldigen mich keines Kapitalverbrechens!“ Dr. Feibl verblieb in dem Scherzmodus, den er eingenommen hatte, als der Kommissar angemeldet wurde.

Johann ging darauf nicht ein. Alles, was er dazu bemerkte, war: „Ich weiß noch nicht, ob es sich um ein Kapitalverbrechen handelt, aber deshalb bin ich hier. Um diese Frage zu klären.“

Die scherzhafte Stimmung, die sich Dr. Feibl zugelegt hatte, trübte sich sichtlich ein, indem ein unsicheres Lächeln übrigblieb und er nach Luft schnappte. Er war sich in der Tat nicht bewusst, etwas verbrochen zu haben, doch als gebildeter Mann fiel ihm sofort die Romanfigur des Josef K. in Kafkas „Prozess“ ein, der verhaftet wurde, ohne jemals zu erfahren, was er getan hatte. Deshalb fragte er spontan: „Aber verhaften wollen Sie mich nicht, oder?“ Damit gelang es ihm, wieder so zu tun, als würde er das Erscheinen des Kommissars nicht ganz ernst nehmen.

„Wie gesagt, ich will hier erst einmal einige Dinge klären“, ließ sich Johann auf keine weiteren Spielchen ein.

„Na dann schießen Sie los, Herr Kommissar! Ich meine nicht wörtlich, sondern mit Ihren Fragen“, blieb Dr. Feibl bei seiner unernsten Haltung.

„Kennen Sie eigentlich alle Ihre Arbeiterinnen in der Färberei?“ – fragte Johann als erstes.

Der Hausherr sah ihn ungläubig an und schüttelte zum Zeichen des Unverständnisses den Kopf: „Wie kommen Sie denn darauf!? Ich kann doch nicht alle meine Arbeiterinnen kennen! Es sind bestimmt über dreißig.“