Die Ratten: Berliner Tragikomödie - Gerhart Hauptmann - E-Book

Die Ratten: Berliner Tragikomödie E-Book

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Die Ratten: Berliner Tragikomödie Gerhart Hauptmann - Schauplatz der 1911 erschienenen Tragikkomödie Die Ratten ist eine ehemalige Berliner Kavaleriekaserne, in der Theaterdirektor Hassenreuter seinen Kostümfundus untergebracht hat. Dort hausen die zentralen Figuren des Stücks: das schwangere Dienstmädchen Pauline, die Morphinistin Knobbe, die kinderlose Maurersgattin ... Als leitmotivisches Sinnbild dienen die Ratten, die sowohl Schmutz und Armut als auch Verfall der Sitten und des Regimes symbolisieren.

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Gerhart Hauptmann
Die Ratten: Berliner Tragikomödie

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Die Ratten

Berliner Tragikomödie

von Gerhart Hauptmann

S. Fischer / Verlag Berlin 1911

Siebente Auflage.

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript. Copyright 1911 S. Fischer, Verlag, Berlin.

Personen:

Harro Hassenreuter, ehemaliger Theaterdirektor Seine Frau Walburga, seine Tochter Pastor Spitta Erich Spitta, Kandidat der Theologie, sein Sohn Alice Rütterbusch, Schauspielerin Nathanael Jettel, Hofschauspieler Käferstein, Schüler Hassenreuters Dr. Kegel, Schüler Hassenreuters John, Maurerpolier Frau John Bruno Mechelke, ihr Bruder Pauline Piperkarcka, Dienstmädchen Frau Sidonie Knobbe Selma, ihre Tochter Quaquaro, Hausmeister Frau Kielbacke Schutzmann Schierke Zwei Säuglinge

Erster Akt

Im Dachgeschoß einer ehemaligen Kavalleriekaserne zu Berlin. Ein fensterloses Zimmer, das sein Licht von einer brennenden Lampe erhält, die von der Mitte der Decke über einen runden Tisch herunterhängt. In die Hinterwand mündet ein gerader Gang, der den Raum mit der Entreetür verbindet: einer eisenbeschlagenen Tür mit einer primitiven Schelle, die der Eintritt Begehrende von außen durch einen Drahtzug in Bewegung setzt. Eine Tür in der Wand links schließt ein Nebengemach ab. An der Wand rechts führt eine Treppe auf den Dachboden.

Auf diesem Dachboden, sowie in den sichtbaren Räumlichkeiten, hat der Ex-Theaterdirektor Harro Hassenreuter seinen Theaterfundus untergebracht.

Man kann, bei dem ungewissen Licht, in Zweifel sein, ob man sich in der Rüstkammer eines alten Schlosses, in einem Antiquitätenmagazin oder bei einem Maskenverleiher befindet.

Zu beiden Seiten des Ganges sind auf Ständern Helme und Brustharnische Pappenheimscher Kürassiere aufgestellt, ebenso in je einer Reihe an der rechten und linken Wand des vorderen Raums. Die Dachbodentreppe steht zwischen zwei Geharnischten. Die Decke darüber schließt die übliche Bodenklappe ab.

Ein Stehpult ist vorn links an die Wand gerückt. Tinte, Federn, alte Geschäftsbücher und ein Kontorbock, sowie einige Stühle mit hohen Lehnen um den runden Mitteltisch lassen erkennen, daß der Raum zu Bureauzwecken dienen muß. Wasserflasche mit Gläsern auf dem Tisch und einige Photographien über dem Stehpult. Die Photographien zeigen Direktor Hassenreuter als Karl Moor, sowie in verschiedenen anderen Rollen.

Einer der Pappenheimschen Kürassiere trägt einen ungeheuren Lorbeerkranz um den Nacken gehängt, mit einer Schleife, deren Enden in goldenen Lettern die Worte tragen: „Unserem genialen Direktor Hassenreuter! Die dankbaren Mitglieder.“ Eine Serie mächtiger, roter Schleifen trägt nur die Aufschrift: „Dem genialen Karl Moor ... Dem unvergleichlichen, unvergeßlichen Karl Moor ... usw. usw.

Der Raum ist nach Möglichkeit zu Magazinzwecken ausgenutzt. Wo irgend angängig, hängen an Kleiderhaken deutsche, spanische und englische Kostümstücke aus verschiedenen Jahrhunderten. Man sieht schwedische Reiterstiefel, spanische Degen und deutsche Flamberge.

Die Tür links hat die Aufschrift: „Bibliothek.“

Das ganze Gemach zeigt eine malerische Unordnung. Alte Scharteken und Waffen, Pokale, Becher usw. liegen umher.

Es ist eines Sonntags, Ende Mai.

Frau John, über Mitte der Dreißig hinaus, und das blutjunge Dienstmädchen Piperkarcka sitzen am Mitteltisch. Die John, den Oberkörper weit über den Tisch gelehnt, redet lebhaft auf das Dienstmädchen ein. Die Piperkarcka, dienstmädchenhaft aufgedonnert, mit Jackett, Hut und Schirm, sitzt aufrecht. Ihr hübsches, rundes Lärvchen ist verweint. Ihre Gestalt zeigt Spuren noch nicht vollendeter Mutterschaft. Sie malt mit der Schirmspitze auf der Diele.

Frau John

Na ja doch! Freilich! Ick sag’t ja, Pauline.

Die Piperkarcka

Nu ja. Ick will nu also Schlachtensee oder Halensee. Muß jehn un muß nachsehn, ob ick ihm treffe! —

Sie trocknet ihre Tränen und will sich erheben.

Frau Johnverhindert die Piperkarcka am Aufstehen.

Pauline! Um Jottes Willen, bloß det nich! Det nich, um keenen Preis von de Welt. Det macht Skandal, kost Jeld und bringt nischt. Wat woll’n Se woll, und wo Se noch in den Zustande sind! dem schlechten Halunken noch weiter nachlofen!?

Die Piperkarcka

Denn soll meine Wirtin heute soll warten umsonst verjeblich auf mir. Ick spring im Landwehrkanal und versaufe.

Frau John

Pauline! Warum denn? warum denn, Pauline? Jeben Se Obacht, heren Se jetzt bloß um Jotteswillen ’n janz’n eenziges ... bloß ma ’n janzen kleenen Ochenblick uf mir, und passen Se dadruf uf, wat ick Ihn vorstelle! Det wissen Se doch, ick hab et Ihn doch bei de Normaluhr, wo ick an Alexanderplatz aus de Marchthalle bin jekomm, jleich anjesehn und hab et Ihn uf’n Kopp druf jesacht. Wat hab ick jesacht? Jeld, hab ick Ihn uf’n Kopp druf jefragt, jeld, kleenet Aas, er will nischt von wissen! — Det jeht hier vielen, det jeht hier allen, det jeht hier vielen Millionen Mächens so! Und denn hab ick jesacht ... wat hab ick jesacht? komm, hab ick jesacht, ick will dir helfen.

Die Piperkarcka

Zu Hause darf ick mir nu janz natürlich nich blicken lassen, wie ick verändert bin. Mutter schreit doch auf’s ersten Blick! Vater haut mir Kopf an die Wand und schmeißt mir Straße. Jeld hab ick nu ebenfalls och weiter nu weiter keens nich! als wie Stücker zwei Joldstücke, was ick mich Jackettfutter einjenäht. Hätte mich, schlechter Mensch nich Mark nich Pfennig übrig gelassen.

Frau John

Freilein, mein Mann ist Mauerpolier. Freilein: wenn Se bloß wollten Obacht jebn ... jebn Se doch um Jotteswillen Obacht, wat ick Ihn for Vorschläge unterbreiten tu. Freilein, denn is doch uns beede jeholfen. Ihn is jeholfen und so desselbijen jleichen och mir. Außerden is Pauln, wat mein Mann is, jeholfen, wo sterbensjerne een Kindeken will, weil det uns doch unser eenziget, unser Adelbertchen, an de Bräune jestorben is. Ihr Kind hat et jut wie’n eechnet Kind. Denn kenn Se jehn Ihrem Schatz wieder ufsuchen, kenn wieder in’n Dienst, kenn wieder bei Ihre Eltern jehn, det Kind hat et jut und keen Mensch uf die janze Welt nich braucht wat von wissen.

Die Piperkarcka

I jrade! Ick stürze mir Landwehrkanal! — (sie steht auf.) — Ick schreibe Zettel, ick lasse Zettel in mein Jackett zurück: du hast mit deine verfluchte Schlechtigkeit deine Pauline im Wasser jetrieben! dann setze vollen Namen Alois Theophil Brunner, Instrumentenmacher zu. Denn soll er sehn, wie er mit sein Mord auf Jewissen man meinswegen fertig wird.

Frau John

Warten Se, Freilein, ick muß erst ufschließen.

Frau John stellt sich, als wolle sie die Piperkarcka hinausbegleiten.

Noch bevor beide Frauen den Gang erreichen, tritt Bruno Mechelke langsam forschend aus der Tür links und bleibt stehen. Bruno Mechelke ist eher klein, als groß, hat einen kurzen Stiernacken und athletische Schultern. Niedrige, weichende Stirn, bürstenförmiges Haar, kleiner runder Schädel, brutales Gesicht mit eingerissenem und vernarbtem linken Nasenflügel. Die Haltung des etwa neunzehnjährigen Menschen ist vornübergebeugt. Große, plumpe Hände hängen an langen, muskulösen Armen. Die Pupillen seiner Augen sind schwarz, klein und stechend. Er bastelt an einer Mausefalle herum.

Brunopfeift seiner Schwester wie einem Hunde.

Frau John

Ick komme jleich, Bruno. Wat wiste denn?

Brunoscheinbar in die Falle vertieft.

Ick denke, ick soll hier Fallen ufstellen.

Frau John

Haste dem Speck denn rinjemacht? — (zur Piperkarcka) — ’T is bloß mein Bruder. Erschrecken sich nicht, Freilein.

Brunowie vorher.

Ick ha heute dem Kaisa Wilhem jesehn, Jette. Ick war mit de Wachparade jejang.

Frau Johnzur Piperkarcka, die durch Brunos Erscheinung angstvoll gebannt ist.

Et is bloß mein Bruder, bleiben Se man. — (zu Bruno) — Junge, wie siehst du bloß wieder aus? Det Freilein muß sich ja von dich Angst kriejen.

Brunowie vorher. Ohne aufzublicken.

Schuberle buberle, ick bin ’n Jespenst.

Frau John

Mach uf’n Boden und stell deine Mausefallen.

Brunowie vorher. Tritt langsam an den Tisch.

Jawoll, det is och man wieder so’n Jeschäft zum Vahungern. Wenn ick mit Streichhölzer handeln du, denn ha ick wahrhaftig mehr Pinke von.

Die Piperkarcka

Atje, Frau John.

Frau Johnwütend auf den Bruder los.

Wiste woll jehn und wist mir in Frieden lassen.

Brunogeduckt.

Hab dir man nich. Ick jeh ja schonn.

Er zieht sich folgsam wieder in das anstoßende Zimmer zurück, dessen Tür Frau John resolut hinter ihm schließt.

Die Piperkarcka

Den mecht ick Tierjarten Jrunewald nich bejejnen. Bei Nacht nich und nich ma bei Dage nich.

Frau John

Jnade Jott, wo ick Brunon hetze und der ma hinter een hinter is.

Die Piperkarcka

Atje. Hier jefällt mir nich. Wenn mich wieder sprechen wollen, lieber Bank bei Wasserkunst Kreuzberg, Frau John.

Frau John

Pauline, ick ha Brunon mit Sorje un Kummer Tag un Nacht jroßjebracht. Ihr Kindeken hat et noch zwanzigmal besser. Also Pauline, wenn et jeboren is, nehm ick det Kind un, bei meine in Jott vastorbene Eltern, wo ick an Totensonntag immer noch und keen Mensch mich zurückhält nach Rüdersdorf jeh und Lichter uf beede Jräber ansteche: det kleene Wurm soll et madich jut habn, wie et besser keen jeborener Prinz und keene jeborene Prinzessin haben tut.

Die Piperkarcka

Ick jeh, mit meine letzten Pfennig kaufen mir Vitriol — trefft wen trefft! — un jießen dem Weibsbild, wo mit ihm jeht — trefft wen trefft! ... mitten in Jesicht! trefft wen trefft! brennt ihm janze verfluchte hübsche Visage kaput! Mir jleich! Brennt ihm Bart kaput! Brennt ihm Augen kaput! wenn er mit andres Frauenzimmer jeht. Trefft wen trefft! Hat mir betrogen! zu Jrunde jerichtet! hat mir Jeld jeraubt! hat mich Ehre jeraubt! hat mich verfluchtiger Hund verführt, verlassen, belogen, betrogen, in Elend jestoßen! Trefft wen trefft! Soll blind sein! Nase soll wegjefressen sein! soll jar nich mehr überhaupt auf Erde sein!

Frau John

Freilein Pauline, bei meine ewige Seligkeit, von Stund an, wo det kleene Wurm erstma uf de Welt is ... von den Augenblick an! ... det soll et haben, als wenn et, ick weeß nich wo! in Samt und Seide jeboren wär. Bloß jutes Zutrauen! und, det Se „ja“ sachen! — Ick habe mir allens ausjedacht. Et jeht zu machen, Pauline, et jeht, et jeht sach ick Ihn! Und weder ’n Dokter, noch Polizei, noch Ihre Wirtin merkt wat von. — Und denn kriegen Se erst ma hundertunddreiundzwanzig Mark, wat ick mir von det Reinmachen hier beim Direkter Hassenreuter abjespart habe, ausjezahlt.

Die Piperkarcka

Denn lieber bei die Jeburt erwürgen! verkaufen nich!

Frau John

Wer redet denn von verkofen, Pauline?

Die Piperkarcka

Wat hab ick Oktober vorijen Jahr bis heutijen Tag for Himmelsangst ausjestanden. Bräutijam steßt mir fort! Mietsfrau steßt mir fort. Schlafbodenstelle is mich jekindigt. Wat du ick denn, daß man mir so verachtet und von die Leute verflucht un ausstoßen muß?

Frau John

Det sach ick ja, det kommt, weil der Deibel unsern Herrn Christus Heiland noch immer ieber is.

Ohne bemerkt zu werden ist, bastelnd wie vorher, Bruno geräuschlos wiederum in die Tür getreten.

Brunosagt in eigentümlicher Weise, scharf, aber wie nebenbei.

Lampen!

Die Piperkarcka

Der Mensch erschrickt mir. Lassen mir fort.

Frau Johngeht heftig auf Bruno los.

Willst du woll jehn wo de hinjeherst! Ick ha dir jesacht, ick wer’ dir rufen.

Brunowie vorher.

Na Jette, ick ha doch bloß Lampen jesacht.

Frau John

Biste verrickt? Wat heest denn det: Lampen? —

Bruno

Na, klinkt et denn nich an de Einjangstir?

Frau Johnerschrickt, horcht, hält die Piperkarcka zurück, die im Begriff ist, davon zu gehen.

Pst, Freilein! Halt! Warten Se man noch ’n Ogenblick.

Bruno schnitzelt weiter. Die beiden Frauen horchen.

Frau Johnleise, angstvoll, zu Bruno.

Ick her nischt.

Bruno

Du ollet vatrockentes Kichenspinde, denn schaff da man bessare Lauscha an.

Frau John

Det wär in det janze Vierteljahr det erstema, det der Direkter kommt, wenn Sonntag is.

Bruno

Wenn der Theatafritze kommt, kann a mir meinswejen jleich angaschieren.

Frau Johnheftig.

Quatsch nich!

Brunogrinsend zur Piperkarcka.

Jlobens et, Freilein, ick ha bei Zirkus Schumann ’n dummen Aujust sein Esel dreimal rum die Manesche jebracht. Det mach ick allens! Ick wer’ mir woll furchten.

Die Piperkarckascheint die phantastische Sonderbarkeit der Umgebung erst jetzt zu bemerken, erschrocken, stark beunruhigt.

Josef Maria, wo bin ick denn?

Frau John

Wer kann denn det sind?

Bruno

Da Direkta nich, Jette. Det is eha ’ne Tülle, wo elejante Trittlinge hat.

Frau John

Freilein, jehn Se man zwee Minuten, sein so jut, hier uf ’n Oberboden. ’S kommt eener, kann sind, der bloß wat wissen will.

In ihrer zunehmenden Angst tut die Piperkarcka das Verlangte. Sie klettert über die Treppe auf den Oberboden, dessen Klappe geöffnet ist. Frau John hat sich so gestellt, daß im Notfalle die Piperkarcka gegen die Entreetür gedeckt ist. Die Piperkarcka verschwindet. Frau John und Bruno bleiben allein.

Bruno

Wat wiste denn mit die barmherzige Schwester?

Frau John

Det jeht dir nischt an, verstehste mich.

Bruno

Ick frage ja man, weil det de vor det Mächen so ängstlich ’ne Wand machen dust. Sonst is et mich doch wahaftig Pomade.

Frau John

Det soll dir och immer Pomade sind.

Bruno

Danke Komma, denn kann ick woll abtippeln.

Frau John

Lump, weest du woll, wat du mir schuldig bist?

Brunopomadig.

Wat regste dir denn uf? Wo stoß ick dir denn? Wat wiste? Ick muß jetzt zu meine Braut. Mir schläfert. Vorichte Nacht hab ick unter Sträucher in Tierjarten platt jemacht. Und juterletzt is Kohlmarcht bei mich. — (Er kehrt seine Hosentaschen um.) — Foljedessen muß ick jehn ’n Stück Brod verdienen.

Frau John

Hier jeblieben! — und nich von de Stelle! — oder du krist und wenn det de jaulst wie ’n kleener Hund, kriste nimmermehr wenn’t bloß ’n Pfennich is, krist de von mich! Bruno, du jehst uf schlechte Weche.

Bruno

Ick wer’ woll immer jejen de janze Welt ... noch wat! ... wer’ ick der Potsdammer sind. Soll ick etwa nich jehn, wo ick scheen bei Hulda’n zu leben kriege? — (Er zieht eine schmutzige Brieftasche.) — Nich ma ’n dreckigen Pfandschein ha ick mehr in de Plattmullje drin. Wat wiste von mich, un denn laß mir abschrenken.

Frau John

Von dir? Wat ick will? For wat wärst du woll nitze? Du bist zu nischt weiter nitze, als det eene Schwester, wo nich richtig in Koppe is, mit so’n Lump un Tagedieb Mitleid hat.

Bruno

Kann sind, det de in Koppe manchmal nich richtig bist.

Frau John

Unser Vater hat oft zu mich jesacht, wo du schonn mit fünf, sechs Jahre alt schlechte Dinge jetrieben hast, det mit dir in Leben keen Staat weiter nich zu machen is un det ick dir sollte lofen lassen. Un mein Mann, wo richtig un orntlich is ... vor so’n juten Mann: du darfst dir nich blicken lassen.

Bruno

Jewiß doch, det weeß ick ja allens, Jette! Aber so eenfach schiebt sich det nu eemal nu eben nich. Wat wiste? Ick weeß, ick bin mit ’n Ast uf’n Puckel, wenn det’n och det’n keener sieht, un nich in Zangzuzih uf de Welt jekomm. Ick muß sehn un mir mit mein Ast mang mang helfen. Na jut so! wat wiste? von wechen de Ratten brauchst du mir nich. Du wist bloß wat mit die Dohle vertussen.

Frau Johndie Faust drohend unter Brunos Nase.

Verrat du een eenziget kleenet Sterbenswort: denn mach ick dir kalt. Denn bist du ’ne Leiche!

Bruno

Na weeßte, vastehste, ick mache mir dinne. — (Er steigt die Treppe hinauf.) — Womeglich komm ick, mir nischt dir nischt, noch ma in Schokoladenkasten rin. —

Er verschwindet durch die Bodenklappe. Frau John löscht eilig die Lampe und tappt sich zur Bibliothekstür. Sie geht in die Bibliothek, schließt aber die Tür hinter sich nicht ganz.

Die Geräusche eines verrosteten Schlosses und Schlüssels, der darin umgedreht wurde, sind vernehmlich gewesen. Ein leichter Schritt kommt nun den Gang herauf. Vorübergehend war der Berliner Straßenlärm, auch Kindergeschrei aus den Hausfluren vernehmlich geworben. Leierkastenmusik vom Hof herauf.

Mit scheuen Bewegungen erscheint Walburga Hassenreuter. Das Mädchen ist noch nicht sechzehn Jahre alt und sieht hübsch und unschuldig aus. Sonnenschirm, fußfreies helles Sommerkleidchen.

Walburgastutzt, horcht, sagt dann ängstlich.

Papa! — Ist schon jemand hier oben? — Papa! Papa! — (Sie horcht lange gespannt und sagt dann): — Es riecht ja hier so nach Petroleum! — (Sie findet Streichhölzer, entzündet eines davon, will die Lampe anstecken und verbrennt sich an dem noch heißen Zylinder.) — Au! — Donnerwetter, wer ist denn hier? —

Sie hat aufgeschrien und will fortlaufen.

Frau John erscheint wieder.

Frau John

I, Freilein Walburga, wer wird denn jleich Lärm machen! Sein Se man friedlich! Det bin ja bloß ick.

Walburga

Gott, hab ich aber einen ganz entsetzlichen Schreck bekommen, Frau John.

Frau John

Weshalb denn, Freilein? Wat suchen Se denn heit an Sonntag hier?

WalburgaHand auf dem Herzen.

Mir steht noch immer das Herz ganz still, Frau John.

Frau John

Wat hat’s denn, Freilein Walburga? Wer ängstigt Se denn? Sie missen det doch von Ihren Herrn Vater wissen, det ick Sonntag und Wochentag hier oben mang die Kisten und Kasten zu tun habe, mit Staub abbürsten und Motten auskloppen. In drei, vier Wochen, wenn ick jlicklich mit die zwölf- oder achtzehnhundert Theaterlumpen eemal ’rum bin und fertig bin, fängt et doch immer wieder von frischen an.

Walburga

Ich hab’ mich erschrocken, weil sich der Lampenzylinder noch ganz heiß anfaßte, Frau John.

Frau John

Nu ja, de Lampe hat ebent jebrannt un ick hab se vor eene halbe Minute ausjepustet. — (Sie hebt den Zylinder ab.) — Mir brennt et nich! Ick hab harte Hände! — (Sie zündet das Docht auf.) — Na, nu wird Licht! Nu hab ick se wieder anjestochen. Wat is nu Jefährliches los? Ick sehe nischt.

Walburga

Hu, Sie sehen ja aus wie ein Geist, Frau John.

Frau John

Wie soll ick aussehn?

Walburga

Das ist, wenn man so aus der prallen Sonne ins Finstere kommt ... in diese muffigen Kammern hinein, da ist man wie von Gespenstern umgeben.

Frau John

Na, kleenet Jespenst, weshalb kommen Se denn? — Sind Se alleene oder is noch jemand? — Kommt am Ende Papa noch nach?

Walburga

Nein! Papa ist heute zu einer wichtigen Audienz nach Potsdam hinaus.

Frau John

Und wat suchen denn also Sie nu woll hier?

Walburga

Ich? Ich bin einfach spazieren gewesen.

Frau John

Na, denn sehn Se man wieder, det Se fortkomm. In Papa’n seine Rumpelkammer scheint keene Pfingstsonne nich.

Walburga

Sie sollten auch, so grau wie Sie aussehen, mal lieber ’raus an die Sonne gehn.

Frau John

I, Sonne is bloß for feine Leite! Wenn ick man alle Tache meine paar Pfund Staub und Dreck uf de Lunge krieje. — Jeh man, Kindken, ick muß an de Arbeet! — mehr brauch ick nich: ick lebe von Müllstob und Mottenpulver. —

Sie hustet.

Walburgaängstlich.

Sie brauchen Papa nicht sagen, daß ich hier oben gewesen bin.

Frau John

Ick? Ick habe woll sonst nischt besseret zu tun.

Walburgascheinbar leichthin.

Und sollte Herr Spitta nach mir fragen ...

Frau John

Wer?

Walburga

Der junge Herr, der bei uns im Hause Privatstunde gibt ...

Frau John

Na, und?

Walburga

Sind Sie so freundlich und sagen Sie ihm, daß ich hier gewesen aber gleich wieder gegangen bin.

Frau John

Also Herrn Spitta soll ick et sagen, Papa’n nich?

Walburgaunwillkürlich.

Um Gottes willen nicht, liebste Frau John.

Frau John

Na wacht du, wacht! Jib du bloß man Obacht. Manch eene hat ausjesehn, wie du, und is aus die Jejend jekomm wie du, wo nachher in de Drajonerstraße in Rinnsteen oder jar in de Barnimstraße hinter schwedsche Jardinen zujrunde jejangen is.

Walburga

Sie werden doch damit nicht sagen wollen, Frau John, oder glauben wollen, daß in meiner Beziehung zu Herrn Spitta etwas Unerlaubtes oder Ungehöriges ist?

Frau Johnin höchstem Schreck.

Mund zu! — Et hat jemand dem Schlüssel im Schloß jestochen.

Walburga

Auslöschen!

Frau Johnbläst schnell die Lampe aus.

Walburga

Papa!

Frau John

— Freilein, ruf uf’n Oberboden.

Sie und Walburga verschwinden über die Treppe durch den Bodenverschlag, der verschlossen wird.

Zwei Herren, der Direktor Harro Hassenreuter und der Hofschauspieler Nathanael Jettel, erscheinen durch die Flurtür im Gange. Der Direktor ist mittelgroß, glattrasiert, fünfzig Jahre alt. Er pflegt große Schritte zu nehmen und bekundet ein lebhaftes Temperament. Sein Gesichtsschnitt ist edel, das Auge von kühnem Ausdruck. Sein Betragen ist laut. Sein Wesen überhaupt durchaus feurig. Er trägt einen hellen Sommerüberzieher, den Zylinder nach hinten gerückt und übrigens Frackanzug und Lackschuhe. Der leger geöffnete Paletot enthüllt eine mit Ordensternen überdeckte Brust. — Hofschauspieler Jettel trägt unter dem leichtesten Sommerüberzieher einen weißen Flanellanzug. Er hat einen Strohhut nebst elegantem Stock in der linken Hand, gelbe Schuhe an den Füßen. Er ist ebenfalls glattrasiert und über die fünfzig alt.

Direktor Hassenreuterruft.

John! — Frau John! — Ja, das sind nun hier meine Katakomben, lieber Jettel! Sic transit gloria mundi! Hier hab ich nun alles, mutatis mutandis, untergebracht, was von meiner ganzen Theaterherrlichkeit übrig geblieben ist: alte Scharteken! alte Lappen und Lumpen! — John! John! Sie ist hier gewesen, denn der Lampenzylinder ist heiß! — (Er zündet mit einem Streichholz die Lampe an.) —