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Großstadtdichtung der besonderen Art: Gerhart Hauptmanns Beitrag zum modernen Welttheater. Sein Drama "Die Ratten" wurde 1911 in Berlin uraufgeführt. Darin entführt er sein Publikum in das Berlin zum Ende des 19. Jahrhunderts. In einer von Ratten verseuchten ehemaligen Militärkaserne, die nun als Mietshaus dient, lebt Putzfrau Henriette John mit ihrem Mann. Nach dem Verlust ihres eigenen Kindes wünscht sie sich erneut ein Baby. Daher kauft sie dem im selben Hause lebenden Dienstmädchen ihr Kind ab und gibt es als ihr eigenes aus. Eine Geschichte voller unerwarteter Wendungen nimmt im Gewirr der stetig wachsenden Großstadt und vor der Kulisse sozialer Ungleichheit ihren Lauf.-
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Seitenzahl: 168
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Gerhart Hauptmann
Berliner Tragikomödie
Saga
Die Ratten
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1911, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726956900
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Im Dachgeschoß einer ehemaligen Kavalleriekaserne zu Berlin. Ein fensterloses Zimmer, das sein Licht von einer brennenden Lampe erhält, die von der Mitte der Decke über einen runden Tisch herunterhängt. In die Hinterwand mündet ein gerader Gang, der den Raum mit der Entreetür verbindet, einer eisenbeschlagenen Tür mit einer primitiven Schelle, die der Eintritt Begehrende von außen durch einen Drahtzug in Bewegung setzt. Eine Tür in der Wand links schließt ein Nebengemach ab. An der Wand rechts führt eine Treppe auf den Dachboden.
Auf diesem Dachboden, sowie in den sichtbaren Räumlichkeiten, hat der Extheaterdirektor Harro Hassenreuter seinen Theaterfundus untergebracht.
Man kann, bei dem ungewissen Licht, im Zweifel sein, ob man sich in der Rüstkammer eines alten Schlosses, in einem Antiquitätenmagazin oder bei einem Maskenverleiher befindet.
Zu beiden Seiten des Ganges sind auf Ständern Helme und Brustharnische Pappenheimscher Kürassiere aufgestellt, ebenso in je einer Reihe an der rechten und linken Wand des vorderen Raums. Die Dachbodentreppe steht zwischen zwei Geharnischten. Die Decke darüber schließt die übliche Bodenklappe ab.
Ein Stehpult ist vorn links an die Wand gerückt. Tinte, Federn, alte Geschäftsbücher und ein Kontorbock sowie einige Stühle mit hohen Lehnen um den runden Mitteltisch lassen erkennen, daß der Raum zu Bürozwecken dienen muß. Wasserflasche mit Gläsern auf dem Tisch und einige Photographien über dem Stehpult. Die Photographien zeigen Direktor Hassenreuter als Karl Moor sowie in verschiedenen anderen Rollen.
Einer der Pappenheimschen Kürassiere trägt einen ungeheuren Lorbeerkranz um den Nacken gehängt, mit einer Schleife, deren Enden in goldenen Lettern die Worte tragen: »Unserem genialen Direktor Hassenreuter! Die dankbaren Mitglieder.« Eine Serie mächtiger roter Schleifen trägt nur die Aufschriften: »Dem genialen Karl Moor« ... »Dem unvergleichlichen, unvergeßlichen Karl Moor« ... usw. usw.
Der Raum ist nach Möglichkeit zu Magazinzwecken ausgenutzt. Wo irgend angängig, hängen an Kleiderhaken deutsche, spanische und englische Kostümstücke aus verschiedenen Jahrhunderten. Man sieht schwedische Reiterstiefel, spanische Degen und deutsche Flamberge.
Die Tür links hat die Aufschrift: Bibliothek.
Das ganze Gemach zeigt eine malerische Unordnung. Alte Scharteken und Waffen, Pokale, Becher usw. liegen umher.
Es ist eines Sonntags, Ende Mai.
Frau John, über Mitte der Dreißig hinaus, und das blutjunge Dienstmädchen Piperkarcka sitzen am Mitteltisch. Die John, den Oberkörper weit über den Tisch gelehnt, redet lebhaft auf das Dienstmädchen ein. Die Piperkarcka, dienstmädchenhaft aufgedonnert, mit Jackett, Hut und Schirm, sitzt aufrecht. Ihr hübsches rundes Lärvchen ist verweint. Ihre Gestalt zeigt Spuren noch nicht vollendeter Mutterschaft. Sie malt mit der Schirmspitze auf der Diele.
Frau John. Na ja doch! Freilich! Ick sag't ja, Pauline.
Die Piperkarcka. Nu ja. Ick will nu also Schlachtensee oder Halensee. Muß jehn un muß nachsehn, ob ick ihm treffe! Sie trocknet ihre Tränen und will sich erheben.
Frau Johnverhindert die Piperkarcka am Aufstehen. Pauline! Um Jottes willen, bloß det nich! Det nich, um keenen Preis von de Welt. Det macht Skandal, kost Jeld und bringt nischt. Wat wolln Se woll, und wo Se noch in den Zustande sind, dem schlechten Halunken noch weiter nachloofen!?
Die Piperkarcka. Denn soll meine Wirtin heute soll warten umsonst verjeblich auf mir. Ick spring' im Landwehrkanal und versaufe.
Frau John. Pauline! Warum denn? warum denn, Pauline? Jeben Se Obacht, heeren Se jetzt bloß um Jottes willen 'n janz 'n eenziges ... bloß ma'n janzen kleenen Oochenblick uff mir, und passen Se dadruff uff, wat ick Ihn vorstelle! Det wissen Se doch, ick hab' et Ihn doch bei de Normaluhr, wo ick an Alexanderplatz aus de Marchthalle bin jekomm, jleich anjesehn und hab' et Ihn uff'n Kopp druff jesacht. Wat hab' ick jesacht? Jelt, hab' ick Ihn uff'n Kopp druff jefragt, jelt, kleenet Aas, er will nischt von wissen! – Det jeht hier vielen, det jeht hier allen, det jeht hier vielen Millionen Mächens so! Und denn hab' ick jesacht ... wat hab' ick jesacht? komm, hab' ick jesacht, ick will dir helfen.
Die Piperkarcka. Zu Hause darf ick mir nu janz natürlich nich blicken lassen, wie ick verändert bin. Mutter schreit doch auf'n ersten Blick! Vater haut mir Kopf an die Wand und schmeißt mir Straße. Jeld hab' ick nu ebenfalls ooch weiter nu weiter keens nich! als wie Stücker zwei Joldstücke, was ick mich Jackettfutter einjenäht. Hätte mich schlechter Mensch nich Mark nich Pfennig übriggelassen.
Frau John. Freilein, mein Mann ist Mauerpolier. Freilein: wenn Se bloß wollten Obacht jeb'n ... jeb'n Se doch um Jottes willen Obacht, wat ick Ihn for Vorschläge unterbreiten tu'. Freilein, denn is doch uns beede jeholfen. Ihn is jeholfen und so desselbijenjleichen ooch mir. Außerden is Pauln, wat mein Mann is, jeholfen, wo sterbensjerne een Kindeken will, weil det uns doch unser eenziget, unser Adelbertchen, an de Bräune jestorben is. Ihr Kind hat et jut wie'n eejnet Kind. Denn kenn Se jehn Ihrem Schatz wieder uffsuchen, kenn wieder in'n Dienst, kenn wieder bei Ihre Eltern jehn, det Kind hat et jut, und keen Mensch uff die janze Welt nich braucht wat von wissen.
Die Piperkarcka. I jrade! Ick stürze mir Landwehrkanal! Sie steht auf. Ick schreibe Zettel, ick lasse Zettel in mein Jackett zurück: du hast mit deine verfluchte Schlechtigkeit deine Pauline im Wasser jetrieben! dann setze vollen Namen Alois Theophil Brunner, Instrumentenmacher, zu. Denn soll er sehn, wie er mit sein Mord auf Jewissen man meinswegen fertig wird.
Frau John. Warten Se, Freilein, ick muß erst uffschließen. Frau John stellt sich, als wolle sie die Piperkarcka hinausbegleiten. Noch bevor beide Frauen den Gang erreichen, tritt Bruno Mechelke langsam forschend aus der Tür links und bleibt stehen. Bruno Mechelke ist eher klein als groß, hat einen kurzen Stiernacken und athletische Schultern. Niedrige, weichende Stirn, bürstenförmiges Haar, kleiner runder Schädel, brutales Gesicht mit eingerissenem und vernarbtem linkem Nasenflügel. Die Haltung des etwa neunzehnjährigen Menschen ist vornübergebeugt. Große, plumpe Hände hängen an langen, muskulösen Armen. Die Pupillen seiner Augen sind schwarz, klein und stechend. Er bastelt an einer Mausefalle herum.
Brunopfeift seiner Schwester wie einem Hunde.
Frau John. Ick komme jleich, Bruno. Wat wiste denn?
Bruno, scheinbar in die Falle vertieft. Ick denke, ick soll hier Fallen uffstellen.
Frau John. Haste dem Speck denn rinjemacht? Zur Piperkarcka. 't is bloß mein Bruder. Erschrecken sich nicht, Freilein.
Bruno, wie vorher. Ick ha heute dem Kaisa Willem jesehn, Jette. Ick war mit de Wachparade jejang.
Frau John, zur Piperkarcka, die durch Brunos Erscheinung angstvoll gebannt ist. Et is bloß mein Bruder, bleiben Se man. Zu Bruno. Junge, wie siehst du bloß wieder aus? Det Freilein muß sich ja von dich Angst kriejen.
Bruno, wie vorher. Ohne aufzublicken. Schuberle buberle, ick bin 'n Jespenst.
Frau John. Mach uff'n Boden und stell deine Mausefallen!
Bruno, wie vorher. Tritt langsam an den Tisch. Jawoll, det is ooch man wieder so'n Jeschäft zum Vahungern. Wenn ick mit Streichhölzer handeln du', denn ha ick wahrhaftig mehr Pinke von.
Die Piperkarcka. Atje, Frau John.
Frau John, wütend auf den Bruder los. Wiste woll jehn und wist mir in Frieden lassen!
Bruno, geduckt. Hab dir man nich. Ick jeh' ja schonn. Er zieht sich folgsam wieder in das anstoßende Zimmer zurück, dessen Tür Frau John resolut hinter ihm schließt.
Die Piperkarcka. Den mecht' ick Tierjarten, Jrunewald nicht bejejnen. Bei Nacht nich und nich ma bei Dage nich.
Frau John. Jnade Jott, wo ick Brunon hetze und der ma hinter een hinter is!
Die Piperkarcka. Atje. Hier jefällt mir nich. Wenn mich wieder sprechen wollen, lieber Bank bei Wasserkunst Kreuzberg, Frau John.
Frau John. Pauline, ick ha Brunon mit Sorje un Kummer Tag un Nacht jroßjebracht. Ihr Kindeken hat et noch zwanzigmal besser. Also, Pauline, wenn et jeboren is, nehm' ick det Kind, un bei meine in Jott vastorbene Eltern, wo ick an Totensonntag immer noch und keen Mensch mich zurückhält nach Rüdersdorf jeh' und Lichter uff beede Jräber ansteche: det kleene Wurm soll et madich jut hab'n, wie et besser keen jeborener Prinz und keene jeborene Prinzessin haben tut.
Die Piperkarcka. Ick jeh', mit meine letzten Pfennig kaufen mir Vitriol – trefft, wen trefft! – un jießen dem Weibsbild, wo mit ihm jeht – trefft, wen trefft! –, mitten in Jesicht! Trefft, wen trefft! Brennt ihm janze verfluchte hübsche Visage kaputt! Mir jleich! Brennt ihm Bart kaputt! Brennt ihm Augen kaputt! wenn er mit andres Frauenzimmer jeht. Trefft, wen trefft! Hat mir betrogen! zujrunde jerichtet! hat mir Jeld jeraubt! hat mich Ehre jeraubt! hat mich verfluchtiger Hund verführt, verlassen, belogen, betrogen, in Elend jestoßen! Trefft, wen trefft! Soll blind sein! Nase soll wegjefressen sein! Soll jar nich mehr überhaupt auf Erde sein!
Frau John. Freilein Pauline, bei meine ewige Seligkeit, von Stund an, wo det kleene Wurm erst ma uff de Welt is ... von den Augenblick an! ... det soll et haben, als wenn et, ick weeß nich wo! in Samt und Seide jeboren wär'. Bloß jutes Zutrauen! und, det Se ja sachen! – Ick habe mir allens ausjedacht. Et jeht zu machen, Pauline, et jeht, et jeht, sach' ick Ihn! Und weder'n Dokter noch Polizei noch Ihre Wirtin merkt wat von. – Und denn kriejen Se erst ma hundertunddreiundzwanzig Mark, wat ick mir von det Reinmachen hier beim Direkter Hassenreuter abjespart habe, ausjezahlt.
Die Piperkarcka. Denn lieber bei die Jeburt erwürgen! verkaufen nich!
Frau John. Wer redet denn von verkoofen, Pauline?
Die Piperkarcka. Wat hab' ick Oktober vorijen Jahr bis heutijen Tag for Himmelsangst ausjestanden. Bräutijam steeßt mir fort! Mietsfrau steeßt mir fort. Schlafbodenstelle is mir jekindigt. Wat du' ick denn, daß man mir so verachtet und von die Leute verflucht un ausstoßen muß?
Frau John. Det sach' ick ja, det kommt, weil der Deibel unsern Herrn Christus Heiland noch immer ieber is.
Ohne bemerkt zu werden, ist Bruno, bastelnd wie vorher, geräuschlos wiederum in die Tür getreten.
Brunosagt in eigentümlicher Weise, scharf, aber wie nebenbei. Lampen!
Die Piperkarcka. Der Mensch erschrickt mir. Lassen mir fort!
Frau Johngeht heftig auf Bruno los. Willst du woll jehn, wo de hinjeheerst! Ick ha dir jesacht, ick wer dir rufen.
Bruno, wie vorher. Na Jette, ick ha doch bloß »Lampen« jesacht.
Frau John. Biste verrickt? Wat heeßt denn det: Lampen? –
Bruno. Na, klinkt et denn nich an de Einjangstier?
Frau Johnerschrickt, horcht, hält die Piperkarcka zurück, die im Begriff ist davonzugehen. Pst, Freilein! Halt! Warten Se man noch'n Oochenblick.
Bruno schnitzelt weiter. Die beiden Frauen horchen.
Frau John, leise, angstvoll, zu Bruno. Ick heer' nischt.
Bruno. Du ollet vatrockentes Kichenspinde, denn schaff da man bessare Lauscha an.
Frau John. Det wär' in det janze Vierteljahr det erste Ma, det der Direkter kommt, wenn Sonntag is.
Bruno. Wenn der Theatafritze kommt, kann a mir meinswejen jleich angaschieren.
Frau John, heftig. Quatsch nich!
Bruno, grinsend zur Piperkarcka. Jlooben S'et, Freilein, ick ha bei Zirkus Schumann 'n dummen Aujust sein Esel dreimal rum die Manesche jebracht. Det mach' ick allens! Ick wer mir woll furchten.
Die Piperkarckascheint die phantastische Sonderbarkeit der Umgebung erst jetzt zu bemerken, erschrocken, stark beunruhigt. Josef Maria, wo bin ick denn?
Frau John. Wer kann denn det sind?
Bruno. Da Direkta nich, Jette. Det is eha 'ne Tülle, wo elejante Trittlinge hat.
Frau John. Freilein, jehn Se man zwee Minuten, sein so jut, hier uff'n Oberboden, 's kommt eener, kann sind, der bloß wat wissen will.
In ihrer zunehmenden Angst tut die Piperkarcka das Verlangte. Sie klettert über die Treppe auf den Oberboden, dessen Klappe geöffnet ist. Frau John hat sich so gestellt, daß im Notfalle die Piperkarcka gegen die Entreetür gedeckt ist. Die Piperkarcka verschwindet. Frau John und Bruno bleiben allein.
Bruno. Wat wiste denn mit die barmherzige Schwester?
Frau John. Det jeht dir nischt an, verstehste mich.
Bruno. Ick frage ja man, weil det de vor det Mächen so ängstlich 'ne Wand machen dust. Sonst is et mich doch wahaftig Pomade.
Frau John. Det soll dir ooch immer Pomade sind.
Bruno. Danke Komma, denn kann ick woll abtippeln.
Frau John. Lump, weeßt du woll, wat du mir schuldig bist?
Bruno, pomadig. Wat regste dir denn uff? Wo stoß' ick dir denn? Wat wiste? Ick muß jetzt zu meine Braut. Mir schläfert. Vorichte Nacht hab' ick unter Sträucher in Tierjarten plattjemacht. Und juterletzt is Kohlmarcht bei mich. Er kehrt seine Hosentaschen um. Folgedessen muß ick jehn 'n Stück Brot verdienen.
Frau John. Hierjeblieben! – und nich von de Stelle! – oder du krist, und wenn det de jaulst wie'n kleener Hund, kriste nimmermehr, wenn't bloß'n Pfennich is, krist de von mich! Bruno, du jehst uff schlechte Weje.
Bruno. Ick wer woll immer jejen de janze Welt ... noch wat! ... wer ick der Potsdamer sind. Soll ick etwa nich jehn, wo ick scheen bei Huldan zu leben krieje? Er zieht eine schmutzige Brieftasche. Nich ma'n dreckigen Pfandschein ha ick mehr in de Plattmullje drin. Wat wiste von mich, un denn laß mir abschrenken.
Frau John. Von dir? Wat ick will? For wat wärst du woll nitze? Du bist zu nischt weiter nitze, als det eene Schwester, wo nich richtig in Koppe is, mit so'n Lump un Tagedieb Mitleid hat.
Bruno. Kann sind, det de in Koppe manchmal nich richtig bist.
Frau John. Unser Vater hat oft zu mich jesacht, wo du schonn mit fünf, sechs Jahre alt schlechte Dinge jetrieben hast, det mit dir in Leben keen Staat weiter nich zu machen is un det ick dir sollte loofen lassen. Un mein Mann, wo richtig un orntlich is ... vor so'n juten Mann: du darfst dir nich blicken lassen.
Bruno. Jewiß doch, det weeß ick ja allens, Jette! Aber so eenfach schiebt sich det nu eemal nu eben nich. Wat wiste? Ick weeß, ick bin mit'n Ast uff'n Puckel, wenn det'n ooch det'n keener sieht, un nich in Zangzuzih uff de Welt jekomm. Ick muß sehn un mir mit mein Ast mangmang helfen. Na jut so! wat wiste? von wejen de Ratten brauchst du mir nich. Du wist bloß wat mit die Dohle vertussen.
Frau John, die Faust drohend unter Brunos Nase. Verrat du een eenziget kleenet Sterbenswort: denn mach' ick dir kalt. Denn bist du 'ne Leiche!
Bruno. Na weeßte, vastehste, ick mache mir dinne. Er steigt die Treppe hinauf. Womeeglich komm' ick, mir nischt dir nischt, noch ma in Schokoladenkasten rin. Er verschwindet durch die Bodenklappe. Frau John löscht eilig die Lampe und tappt sich zur Bibliothekstür. Sie geht in die Bibliothek, schließt aber die Tür hinter sich nicht ganz.
Die Geräusche eines verrosteten Schlosses und Schlüssels, der darin umgedreht wurde, sind vernehmlich gewesen. Ein leichter Schritt kommt nun den Gang herauf. Vorübergehend war der Berliner Straßenlärm, auch Kindergeschrei aus den Hausfluren vernehmlich geworden. Leierkastenmusik vom Hof herauf.
Mit scheuen Bewegungen erscheint Walburga Hassenreuter. Das Mädchen ist noch nicht sechzehn Jahre alt und sieht hübsch und unschuldig aus. Sonnenschirm, fußfreies helles Sommerkleidchen.
Walburgastutzt, horcht, sagt dann ängstlich. Papa! – Ist schon jemand hier oben? – Papa! Papa! Sie horcht lange gespannt und sagt dann. Es riecht ja hier so nach Petroleum! Sie findet Streichhölzer, entzündet eines davon, will die Lampe anstecken und verbrennt sich an dem noch heißen Zylinder. Au! – Donnerwetter, wer ist denn hier? Sie hat aufgeschrien und will fortlaufen. Frau John erscheint wieder.
Frau John. I, Freilein Walburga, wer wird denn jleich Lärm machen! Sein Se man friedlich! Det bin ja bloß ick.
Walburga. Gott, hab' ich aber einen ganz entsetzlichen Schreck bekommen, Frau John.
Frau John. Weshalb denn, Freilein? Wat suchen Se denn heit an Sonntag hier?
Walburga, Hand auf dem Herzen. Mir steht noch immer das Herz ganz still, Frau John.
Frau John. Wat hat's denn, Freilein Walburga? Wer ängstigt Se denn? Sie missen det doch von Ihren Herrn Vater wissen, det ick Sonntag und Wochentag hier oben mang die Kisten und Kasten zu tun habe, mit Staub-Abbürsten und Motten-Auskloppen. In drei, vier Wochen, wenn ick jlicklich mit die zwölf- oder achtzehnhundert Theaterlumpen eemal rum bin und fertig bin, fängt et doch immer wieder von frischen an.
Walburga. Ich hab' mich erschrocken, weil sich der Lampenzylinder noch ganz heiß anfaßte, Frau John.
Frau John. Nu ja, de Lampe hat ebent jebrannt, un ick hab' se vor eene halbe Minute ausjepustet. Sie hebt den Zylinder ab. Mir brennt et nich! Ick hab' harte Hände! Sie zündet das Docht auf. Na, nu wird Licht! Nu hab' ick se wieder anjestochen. Wat is nu Jefährliches los? Ick sehe nischt.
Walburga. Hu, Sie sehen ja aus wie ein Geist, Frau John.
Frau John. Wie soll ick aussehn?
Walburga. Das ist, wenn man so aus der prallen Sonne ins Finstere kommt ... in diese muffigen Kammern hinein, da ist man wie von Gespenstern umgeben.
Frau John. Na, kleenet Jespenst, weshalb kommen Se denn? – Sind Se alleene, oder is noch jemand? – Kommt am Ende Papa noch nach?
Walburga. Nein! Papa ist heute zu einer wichtigen Audienz nach Potsdam hinaus.
Frau John. Und wat suchen denn also Sie nu woll hier?
Walburga. Ich? Ich bin einfach spazieren gewesen.
Frau John. Na, denn sehn Se man wieder, det Se fortkomm. In Papan seine Rumpelkammer scheint keene Pfingstsonne nich.
Walburga. Sie sollten auch, so grau wie Sie aussehen, mal lieber raus an die Sonne gehn.
Frau John. I, Sonne is bloß for feine Leite! Wenn ick man alle Dache meine paar Pfund Staub und Dreck uff de Lunge krieje – jeh man, Kindken, ick muß an de Arbeet! –, mehr brauch' ick nich: ick lebe von Müllstoob und Mottenpulver. Sie hustet.
Walburga, ängstlich. Sie brauchen Papa nicht sagen, daß ich hier oben gewesen bin.
Frau John. Ick? Ick habe woll sonst nischt besseret zu tun.
Walburga, scheinbar leichthin. Und sollte Herr Spitta nach mir fragen ...
Frau John. Wer?
Walburga. Der junge Herr, der bei uns im Hause Privatstunde gibt ...
Frau John. Na, und?
Walburga. Sind Sie so freundlich und sagen Sie ihm, daß ich hier gewesen, aber gleich wieder gegangen bin.
Frau John. Also Herrn Spitta soll ick et sagen, Papan nich?
Walburga, unwillkürlich. Um Gottes willen nicht, liebste Frau John.
Frau John. Na wacht du, wacht! Jib du bloß man Obacht. Manch eene hat ausjesehn wie du und is aus die Jejend jekomm wie du, wo nachher in de Drajonerstraße in Rinnsteen oder jar in de Barnimstraße hinter schwed'sche Jardinen zujrunde jejangen is.
Walburga. Sie werden doch damit nicht sagen wollen, Frau John, oder glauben wollen, daß in meiner Beziehung zu Herrn Spitta etwas Unerlaubtes oder Ungehöriges ist?
Frau John, in höchstem Schreck. Mund zu! – Et hat jemand dem Schlüssel im Schloß jestochen.
Walburga. Auslöschen! Frau John bläst schnell die Lampe aus. Papa!
Frau John. – Freilein, ruff uff'n Oberboden! Sie und Walburga verschwinden über die Treppe durch den Bodenverschlag, der verschlossen wird.